Überleben nach der Flut Überleben nach der Flut - rotkreuzmagazin
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Kontinent <strong>der</strong> kleinen Wun<strong>der</strong><br />
Afrika gebiert Chaos:<br />
Krieg. Hunger. Krankheiten.<br />
Überall werden Familien<br />
auseinan<strong>der</strong>gerissen. Für immer.<br />
Und doch gibt es Geschichten<br />
wie die von Nadschibu.<br />
TExT: Arne PerrAs<br />
FoTos: Arne PerrAs/sZ Photo<br />
ä<br />
Wir lernen Nadschibu kennen, als ihn die<br />
Aufregung fast zerreißt. Das ist im September<br />
2009. Der Junge ist zwölf Jahre alt und er soll<br />
endlich seine Mutter wie<strong>der</strong>sehen. Was wir über<br />
ihn wissen, ist bislang nicht viel, er wird davon<br />
noch erzählen. Die Mutter wird sprechen und<br />
natürlich auch die Helfer des Internationalen<br />
Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), ohne die<br />
man die Geschichte von Nadschibu gar nicht<br />
aufschreiben könnte.<br />
Nadschibu ist ein vertriebenes Kind. Im Osten<br />
des Kongo ist er zu Hause. Als dort im Herbst<br />
2008 Gefechte toben, flieht er <strong>nach</strong> Uganda. Er<br />
weiß nicht, was mit seiner Familie geschehen ist.<br />
Und seine Familie weiß nicht, wo ihr Nadschibu<br />
ist. Im Kriegschaos haben sie sich plötzlich verloren.<br />
Es ist <strong>der</strong> Moment, in dem ein zwölfjähriger<br />
Junge hinauskatapultiert wird in eine ferne,<br />
fremde Welt.<br />
Noch weiß Nadschibu nichts von all den<br />
Leuten, die bald seine Spur aufnehmen werden.<br />
Aber davon später. Man sollte Nadschibus Geschichte<br />
vielleicht mit den Büchern beginnen,<br />
denn sie sind sein größter Schatz. Mag sein,<br />
dass sie an<strong>der</strong>en Kin<strong>der</strong>n aus dem Dorf weniger<br />
bedeuten. Was zählt schon all <strong>der</strong> Schreibkram<br />
in Zeiten, da die Kalaschnikow über die Menschen<br />
herrscht. Aber Nadschibu saugt jede<br />
Zeile in sich hinein. Er ist seinen Lehrern schon<br />
seit Langem aufgefallen. Und seine Mutter ist<br />
Er lebt! Nach neun Monaten schließt Nadschibus Mutter ihren Sohn endlich wie<strong>der</strong> in die Arme<br />
so stolz auf ihn. Vielleicht wird er es ja mal<br />
schaffen, sich aus dem Elend zu ziehen.<br />
Auch später, im Flüchtlingscamp, wird er<br />
sich auf jedes Buch stürzen, das er finden kann.<br />
Wie ein Schiffbrüchiger, <strong>der</strong> <strong>nach</strong> einem Tropfen<br />
Wasser lechzt. Wenn er <strong>nach</strong> dem Unter-<br />
richt seine Bücher unter den Arm klemmt und<br />
zu seiner Hütte marschiert, sieht es so aus, als<br />
würde er sich an ihnen festhalten.<br />
Als Nadschibu neun Monate zuvor aus seinem<br />
Dorf flieht, hat er keine Zeit, irgendwelche Bücher<br />
zu retten. Es ist ein Tag im November, ein<br />
kühler Morgen. Um den Jungen herum fallen<br />
plötzlich Schüsse, und wenn er leben will, dann<br />
muss er jetzt laufen. Quer über die Fel<strong>der</strong> hastet<br />
er. Bloß nicht stolpern. Weiter, immer weiter.<br />
Raschida. Wo ist sie? Eben hat er seine ältere<br />
Schwester noch gesehen, aber nun ist sie weg.<br />
Wie vom Erdboden verschluckt. Er möchte<br />
weinen, er möchte sie suchen, aber er hat keine<br />
Zeit, weil hinter ihm die Männer mit den Kalaschnikows<br />
sind. Soldaten. O<strong>der</strong> Rebellen.<br />
O<strong>der</strong> wer auch immer. Nadschibu muss weiter<br />
über die Hügel. Dahinter liegt die Grenze.<br />
Uganda, dort ist er sicher.<br />
Als die Kämpfe beginnen, ist Nadschibus<br />
Mutter gerade unterwegs. Essen holen. Auch<br />
sie muss um ihr Leben laufen. Später findet sie<br />
ihre Tochter Raschida wie<strong>der</strong>. Nur Nadschibu<br />
ist nirgendwo zu sehen. Die Mutter glaubt, <strong>der</strong><br />
Junge sei tot. Sie hat jetzt ständig sein Gesicht<br />
vor Augen, er sieht aus wie ihr Vater. Die frechen<br />
Augen, die manchmal trotzig schauen,<br />
wenn er mit ihr aufs Feld gehen soll, wo er viel<br />
lieber Fußball spielt.<br />
Der Junge läuft zwei Tage lang, immer Richtung<br />
Osten. Er hat sich an einem Ast das Bein<br />
aufgerissen. Jetzt, da er keine Schüsse mehr<br />
hört, fährt ihm <strong>der</strong> brennende Schmerz durch<br />
die Wade. Die Kälte kriecht ihm unter die kurze<br />
Hose und das zerschlissene Hemd. Er trägt<br />
Sandalen, sonst nichts.<br />
Aber er hat es bis an die Grenze geschafft. Er<br />
sieht jetzt Leute in weißen Toyotas mit schwarzen<br />
Lettern „UN“. Sie laden ihn ein, endlich<br />
kann er wie<strong>der</strong> essen. Drei Tage später fahren<br />
sie ihn <strong>nach</strong> Nakivale. Das ist Ugandas größtes<br />
Flüchtlingscamp, sechs Stunden von <strong>der</strong> kongolesischen<br />
Grenze entfernt.<br />
Jedes Jahr sprengen Kriege und Konflikte<br />
Hun<strong>der</strong>ttausende Familien auseinan<strong>der</strong>. Überall<br />
irren Kin<strong>der</strong> wie Nadschibu allein umher<br />
und suchen <strong>nach</strong> ihren Eltern. Wenn sie auf ein<br />
Rotes Kreuz stoßen, haben sie großes Glück.<br />
Denn dann schaffen sie es, in die Liste des<br />
globalen Suchdienstes,<br />
den das IKRK betreibt.<br />
Wer in Afrika reist,<br />
stößt oft auf dessen<br />
Helfer. Sie fallen nicht<br />
beson<strong>der</strong>s auf, aber<br />
sie sind überall. Das<br />
Genfer Komitee hat ein<br />
internationales Mandat, Opfern von Kriegen<br />
beizustehen. Sie klären Kriegsparteien über das<br />
humanitäre Völkerrecht auf. Und sie helfen, zer-<br />
rissene Familien wie<strong>der</strong> zu vereinen. Der Schrift-<br />
steller Hans Magnus Enzensberger hat diesen<br />
Leuten ein Buch gewidmet: „Krieger ohne Waf-<br />
fen“ hat er es genannt. Sie haben das internati-<br />
onale Recht im Rücken, sonst nichts.<br />
IKRK-Stützpunkt Goma, Ostkongo: Hier, in<br />
schlichten Bungalows unter hohen Bäumen, lau-<br />
fen die Fäden <strong>der</strong> <strong>der</strong>zeit größten Suchmission<br />
zusammen. Nirgendwo sonst auf <strong>der</strong> Welt haben<br />
kriegerische Konflikte so viele Menschen ausei-<br />
nan<strong>der</strong>gerissen. Im Jahr 2008 hat das Rote Kreuz<br />
im Kongo 88 955 Botschaften eingesammelt und<br />
zwischen Eltern und Kin-<br />
<strong>der</strong>n, Brü<strong>der</strong>n und Schwes-<br />
tern, Ehemännern und<br />
Frauen, Gefangenen und<br />
<strong>der</strong>en Familien verschickt.<br />
Dieses Netzwerk hat viele Gesichter: Freiwillige<br />
in den Dörfern, Suchprofis vom IKRK,<br />
Schreibkräfte, Fahrer, Mechaniker, Radiotechniker<br />
– und Menschen, die das alles überblicken<br />
und leiten. In Goma ist das die Schwedin Emilie<br />
Welam. Sie ist Juristin und hat im Gazastreifen<br />
gearbeitet, bevor sie in den Kongo kam.<br />
Verlorene aufzuspüren, ist mühsame Kleinarbeit,<br />
von <strong>der</strong> man nicht weiß, wohin sie führt.<br />
Aber Emilie hat miterlebt, wenn Kin<strong>der</strong> ihre<br />
Eltern <strong>nach</strong> langer Zeit wie<strong>der</strong>finden. Das sind<br />
Bil<strong>der</strong>, die hängenbleiben. Dann weiß sie wie<strong>der</strong>,<br />
wofür sie arbeitet.<br />
Die Suche <strong>nach</strong> Nadschibu beginnt mit einem<br />
Bild. Der Junge wird am 21. Januar 2009<br />
gesellschaft drk<br />
Nadschibu im<br />
ugandischen Flüchtlingscamp<br />
Nakivale. Er trägt<br />
Schuluniform<br />
im Camp Nakivale von einem<br />
Rotkreuz-Team fotografiert<br />
und registriert. Er ist nun schon<br />
zwei Monate hier, er hat es<br />
schwer, sich einzugewöhnen. Anfangs, erzählt<br />
er, habe er allein in einer Hütte gewohnt. Das<br />
sind schlimme Nächte gewesen. Jeden Abend<br />
drücken ihn die Gedanken. Sind seine Geschwister<br />
und seine Mutter noch am Leben? Vor<br />
Jahren schon hat er seinen Vater verloren, da<strong>nach</strong><br />
hat er sich ganz nah bei <strong>der</strong> Mutter gehalten.<br />
Im Camp kennt er niemanden. Tausende<br />
kongolesische Flüchtlinge leben hier, aber keiner,<br />
den Nadschibu schon mal gesehen hätte.<br />
Außer einer kurzen Hose, dem T-Shirt und<br />
einem Paar zerrissenen Sandalen hat er nichts.<br />
Er besitzt keinen Cent. Er zieht über die Hügel,<br />
Nakivale ist groß, irgendwo muss es doch Arbeit<br />
Überall irren Kin<strong>der</strong> umher – stoßen sie auf<br />
ein Rotes Kreuz, haben sie großes Glück.<br />
für ihn geben. Er trifft ugandische Bauern mit<br />
ihrem Vieh. „Ich bin Meister im Ziegenhüten“,<br />
prahlt er. Wollt ihr es sehen? Die Bauern lachen,<br />
aber ein paar Tage später hütet er ihre Ziegen.<br />
Das IKRK-Büro in Uganda übermittelt das<br />
Foto Nadschibus an die Kollegen in Goma,<br />
Kongo. Sie wissen aus seinen Erzählungen, dass<br />
<strong>der</strong> Junge aus dem Dorf Kinyandonyi geflohen<br />
ist, dort suchen sie <strong>nach</strong> seiner Mutter. Sie hängen<br />
Fotos an Bäumen und Tafeln aus, sie fragen<br />
<strong>nach</strong> Namen und Adressen von Verwandten.<br />
Wer kennt Nadschibu? Solange Milizen und<br />
Armee kämpfen, können sie wenig ausrichten.<br />
Aber es gibt immer wie<strong>der</strong> ruhigere Phasen,<br />
dann schwärmen die Helfer aus.<br />
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