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Andreas Freitäger

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ISBN: 978-3-940147-08-0<br />

73<br />

Dokumentationsziele und<br />

Aspekte der Bewertung in<br />

Hochschularchiven und Archiven<br />

wissenschaftlicher Institutionen UNIVERSITÄTSREDEN


Dokumentationsziele und Aspekte<br />

der Bewertung in Hochschularchiven und Archiven<br />

wissenschaftlicher Institutionen<br />

Beiträge zur Frühjahrstagung der Fachgruppe 8<br />

– Archivare an Hochschularchiven<br />

und Archiven wissenschaftlicher Institutionen –<br />

des Verbandes deutscher Archivarinnen und Archivare<br />

am 23. und 24. März 2006<br />

an der Universität des Saarlandes<br />

in Saarbrücken


Impressum<br />

Herausgeber Der Universitätspräsident<br />

Redaktion Presse- und Informationszentrum<br />

Universitätsarchiv<br />

der Universität des Saarlandes<br />

66123 Saarbrücken<br />

Satztechnik Evelyne Engel<br />

Universitätsdruckerei<br />

Druck Universitätsdruckerei 2007<br />

ISBN 978-3-940147-08-0<br />

Inhaltsverzeichnis<br />

Redaktionelle Einführung 7<br />

Universitätsarchivar Dr. Wolfgang Müller<br />

Begrüßung 9<br />

Prof. Dr. Patricia Oster-Stierle<br />

Vizepräsidentin für Planung und Strategie der Universität des Saarlandes<br />

Grußwort des Verbandes deutscher Archivarinnen und Archivare 13<br />

Archivdirektor Dr. Martin Dallmeier (Regensburg)<br />

Grußwort des Vorsitzenden der Fachgruppe 8 19<br />

Archivdirektor Dr. Dieter Speck (Universitätsarchiv Freiburg)<br />

Zwischen Nancy, AStA und ESG und im „Aktenurwald" – Aktuelle 23<br />

Aktivitäten und Annotationen aus dem Archiv der Universität des<br />

Saarlandes<br />

AOR Dr. Wolfgang Müller (Archiv der Universität des Saarlandes)<br />

Dokumentationsziele als Grundlage der Arbeit von 33<br />

Universitätsarchiven – Bewertung, Erschließung, Bestandserhaltung<br />

Bibliotheksrat Dr. Max Plassmann (Universitätsarchiv Heinrich Heine-<br />

Universität Düsseldorf)<br />

Integrierte Bewertung – 47<br />

Ansatz zu einem nachhaltigen Ressourceneinsatz im Archiv<br />

AR Dr. Klaus Nippert (Universitätsarchiv Karlsruhe – TH)<br />

Universitätsreden 73 3


Inhalt<br />

Dokumentationsziele und Aspekte der Bewertung aus der 55<br />

Perspektive des Archivs der Max-Planck-Gesellschaft<br />

Dr. Marion Kazemi (Archiv der Max-Planck-Gesellschaft Berlin)<br />

Archivische Bewertung aus der Sicht des Archivs der Berlin- 73<br />

Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften<br />

Dr. Vera Enke (Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie<br />

der Wissenschaften Berlin)<br />

Künstler-Archive – ein Sammlungsziel? 93<br />

Zur Sammlungsstrategie des Archivs der Universität der Künste Berlin<br />

AR Dr. Dietmar Schenk (Universitätsarchiv der Universität<br />

der Künste Berlin)<br />

Wo Kunst entsteht. Die Sammlung der Burg Giebichenstein 107<br />

Hochschule für Kunst und Design Halle<br />

Dr. Angela Dolgner (Kustodie und Archiv Burg Giebichenstein<br />

Hochschule für Kunst und Design Halle)<br />

Bestandsprofil des Archivs in der Bibliothek für 117<br />

Bildungsgeschichtliche Forschung<br />

Dr. Ursula Basikow (Archiv in der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche<br />

Forschung des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische<br />

Forschung Berlin)<br />

Archive im Wandel. Dokumentations- und Sammlungsstrategien 129<br />

bei kultureller Überlieferung<br />

Dr. Sabine Brenner-Wilczek (Stadtarchiv und Sammlungen Schloß<br />

Burgfarrnbach)<br />

Bestandsbildung im Archiv des Deutschen Museums 139<br />

Dr. Wilhelm Füßl (Archiv des Deutschen Museums München)<br />

4 Universitätsreden 73<br />

Inhalt<br />

Werkstattbericht: Der Nachlass des Soziologen und 151<br />

Universitätsplaners<br />

Helmut Schelsky im Universitätsarchiv Bielefeld<br />

Universitätsarchivar Martin Löning M.A. (Universitätsarchiv Bielefeld)<br />

Platzraubendes Ärgernis oder Wissenspool? 169<br />

Zur Bewertungspraxis von Prüfungsakten im Universitätsarchiv Köln<br />

AAss Dr. <strong>Andreas</strong> <strong>Freitäger</strong> (Universitätsarchiv Köln)<br />

Bewertung von Prüfungsarbeiten im Universitätsarchiv Augsburg 177<br />

AR Dr. Werner Lengger (Universitätsarchiv Augsburg)<br />

Studentenakten. Fluch oder Segen? 191<br />

Universitätsarchivar Stephan Luther (Archiv der<br />

Technischen Universität Chemnitz)<br />

Bewertung von Prüfungsakten der Prüfungsämter und 197<br />

Prüfungsausschüsse für akademische Fachprüfungen der Fakultäten<br />

und Fachbereiche der Universität Hamburg<br />

Dr. Heidelies Wittig (Staatsarchiv Hamburg)<br />

Bewertung bei der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des 201<br />

Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU)<br />

Dr. Gerhard Neumeier (Außenstelle Suhl der Bundesbeauftragten für die<br />

Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR)<br />

Universitätsgeschichtliche Forschung und archivische Vielfalt – 221<br />

mit einem besonderen Blick auf die Überlieferung des MfS<br />

Katharina Lenski (Thüringer Archiv für Zeitgeschichte Jena) /<br />

Dr. Tobias Kaiser (Friedrich-Schiller-Universität Jena)<br />

Universitätsreden 73 5


Redaktionelle Einführung<br />

Wolfgang Müller<br />

Diese Ausgabe der „Universitätsreden“ dokumentiert 17 Beiträge, die im<br />

Umfeld der Frühjahrstagung der Fachgruppe 8 – Archivare an Hochschularchiven<br />

und Archiven wissenschaftlicher Institutionen – des Verbandes<br />

deutscher Archivarinnen und Archivare am 23. und 24. März 2006 an der<br />

Universität des Saarlandes entstanden. Nach den Themen „Universitätsjubiläen“<br />

in Leipzig 2003, „Stadt und Universität“ in Frankfurt am Main<br />

2004 und „Nachlässe“ in Potsdam 2005 widmete sich die vom Archiv der<br />

Universität des Saarlandes organisierte Veranstaltung dem Arbeitsfeld<br />

„Dokumentationsziele und Aspekte der Bewertung in Hochschularchiven<br />

und Archiven wissenschaftlicher Institutionen“ und griff damit ein stets<br />

aktuelles und zentrales archivisches Kernthema auf, wie zahlreiche Publikationen,<br />

der Workshop der Archivschule Marburg 2004, die Beratungen<br />

des Arbeitskreises „Archivische Bewertung“ des Verbandes deutscher<br />

Archivarinnen und Archivare oder des Unterausschusses „Überlieferungsbildung“<br />

der Bundeskonferenz der Kommunalarchive zeigen.<br />

Bei der Saarbrücker Frühjahrstagung referierten Ursula Basikow, <strong>Andreas</strong><br />

<strong>Freitäger</strong>, Marion Kazemi, Werner Lengger, Martin Löning, Stephan<br />

Luther, Wolfgang Müller, Klaus Nippert, Max Plassmann und Dietmar<br />

Schenk. Angesichts anregender Diskussionen boten spontan etliche Kolleginnen<br />

und Kollegen an, das Tagungsthema durch eine Betrachtung aus<br />

dem jeweils eigenen archivischen Erfahrungsbereich weiter auszuleuchten<br />

und in diese Publikation einzubringen. So entstanden die Beiträge der<br />

Kolleginnen und Kollegen Sabine Brenner-Wilczek, Andrea Dolgner, Vera<br />

Enke, Wilhelm Füßl, Gerhard Neumaier und Heidelies Wittig sowie<br />

zuletzt Katharina Lenski und Tobias Kaiser.<br />

Universitätsreden 73 7


Wolfgang Müller<br />

Insgesamt bietet der Band nun eine interessante Positionsbestimmung und<br />

ein facettenreiches Panorama aus den Archiven der Universitäten, Hochschulen<br />

und wissenschaftlichen Institutionen und verdeutlicht dabei auch,<br />

wie wichtig diese oft unter schwierigen Bedingungen agierenden Archive<br />

für die adäquate Überlieferungsbildung und -sicherung und als „Speicher<br />

des kulturellen Gedächtnisses“ (um das Motto des Eröffnungsvortrages<br />

beim Deutschen Archivtag in Mannheim im September 2007 aufzunehmen)<br />

sind.<br />

Bei der Saarbrücker Frühjahrstagung haben schließlich die Kollegen<br />

Thomas Becker, Wolfgang Müller, Klaus Nippert und Max Plassmann<br />

eine Arbeitsgruppe gebildet, die zur Zeit als „Handreichung“ ein „Dokumentationsprofil<br />

für Universitäts- und andere Hochschularchive“ erstellt.<br />

Außerdem bemüht sich der Arbeitskreis der bayerischen Universitätsarchive<br />

im Rahmen der geplanten DMS-Einführung an bayerischen Universitäten<br />

gegenwärtig um die Formulierung eines Fristen- und Bewertungskatalogs<br />

auf der Basis eines Musteraktenplans für die Universitätsverwaltungen.<br />

Der archivwissenschaftliche Diskurs geht also – auch im<br />

Zeichen neuer archivischer Herausforderungen – weiter wie nicht zuletzt<br />

die von Sabine Brenner-Wilczek, Gertrude Cepl-Kaufmann und Max<br />

Plassmann präsentierte neue „Einführung in die moderne Archivarbeit“<br />

(2006) oder Dietmar Schenks Reflexionen „Kleine Theorie des Archivs“<br />

(2008) illustrieren.<br />

Schließlich bleibt der Dank des gastgebenden Archivars an alle Autorinnen<br />

und Autoren und an die Universität des Saarlandes, die diese Publikation,<br />

die viele interessierte Leserinnen und Leser finden möge, ermöglicht<br />

haben.<br />

8 Universitätsreden 73<br />

Sehr verehrte Anwesende,<br />

Begrüßung<br />

Patricia Oster-Stierle<br />

als Vizepräsidentin der Universität des Saarlandes darf ich Sie hier im<br />

Konferenzraum recht herzlich begrüßen und freue mich, dass Sie aus der<br />

gesamten Bundesrepublik und aus Salzburg der Einladung unseres Universitätsarchivs<br />

gefolgt sind und sich dem aktuellen archivwissenschaftlichen<br />

Thema „Dokumentationsziele und Bewertung“ zuwenden. Mein besonderer<br />

Gruß gilt Ihnen, sehr geehrter Herr Archivdirektor Dr. Dallmeier,<br />

als Vertreter des Vorstandes des Verbandes deutscher Archivarinnen<br />

und Archivare und Ihnen, sehr geehrter Herr Archivdirektor Dr. Speck, als<br />

Vorsitzendem der Fachgruppe sowie ihrem Stellvertreter Herrn Ralf<br />

Müller.<br />

Es wird Sie als Archivarinnen und Archivare sicherlich interessieren,<br />

dass unsere Universität des Saarlandes vor nunmehr 58 Jahren 1948 gegründet<br />

worden ist – mit europäischer Perspektive unter Verschmelzung<br />

deutscher und französischer Bildungstraditionen und unter der Ägide der<br />

Französischen Republik und unserer Mutteruniversität Nancy. Recht anschaulich<br />

informiert beispielsweise das noch recht schmale, erste Vorlesungsverzeichnis<br />

zum Wintersemester 1948/49 über die universitären<br />

Anfänge, den Aufbau aus dem Nichts. Und nicht uninteressant erscheint<br />

mir aus heutiger Sicht eine kleine Rückblende auf die damaligen programmatischen<br />

Äußerungen über die Aufgaben dieser neuen Hochschule:<br />

Während der französische Hochkommissar Gilbert Grandval die „Hilfe<br />

Frankreichs“, aber auch den „Geist internationaler Verständigung“, die<br />

„Bildung einer saarländischen Elite“ und die „Annäherung der Jugend<br />

über nationale Vorurteile hinaus“ beschwor, betrachtete der erste Rektor<br />

Universitätsreden 73 9


Patricia Oster-Stierle Begrüßung<br />

Jean Barriol die Universität als „Werkzeug einer wahrhaft europäischen<br />

Gesinnung“, und Ministerpräsident Johannes Hoffmann sprach von einer<br />

„Pflegestätte des Geistes, der die Enge zu überwinden sucht und nach<br />

europäischer Weite strebt“, von einer „Burg des Friedens“ und einem<br />

„Symbol neuen Werdens“, wobei von der Universität „Strahlen beglückender<br />

Arbeit in die europäische Zukunft leuchten“ sollten.<br />

Trotz mancher Wandlungen im Lauf der vergangenen Jahrzehnte bietet<br />

unsere Universität dank dieser Gründungsgeschichte in einigen Bereichen<br />

französische Studiengänge, besitzt unter anderem das in Deutschland einzigartige<br />

Centre juridique franco-allemand und das international renommierte<br />

Europa-Institut. Sie nimmt nicht nur wegen ihrer Kooperationen<br />

mit den Universitäten unseres westlichen Nachbarn und ihrer Frankreich-<br />

Kompetenz eine besondere Position im deutschen Hochschulwesen ein.<br />

Das Netz der Universitätspartnerschaften ist gleichwohl weltweit geknüpft,<br />

und es mag im Kreis der Archivarinnen und Archivare durchaus erwähnt<br />

werden, dass unsere Universität bereits vor 1989 wegweisende Partnerschaften<br />

mit ostmitteleuropäischen und osteuropäischen Universitäten geschlossen<br />

hat.<br />

Auch wenn die Universitas Saraviensis noch nicht auf eine lange Entwicklung<br />

zurückschauen kann, so wurde sie nichtsdestoweniger als erste<br />

linksrheinische Hochschule nach dem Zweiten Weltkrieg neu gegründet<br />

und besitzt nicht nur wegen der französischen Gründungstradition, sondern<br />

auch wegen der modernen Universitätsstrukturen in den späten 50er<br />

und frühen 60er Jahren und wegen ihres spezifischen wissenschaftlichen<br />

Profils eine reizvolle Geschichte, deren Erforschung sich lohnt. Um das<br />

Archivgut der Universität zu sichern und die Entwicklung der Universität<br />

kontinuierlich zu dokumentieren, fiel Ende der 80er Jahre die Entscheidung<br />

zur Gründung eines eigenen Universitätsarchivs, nachdem zuvor das<br />

Landesarchiv Saarbrücken gelegentlich bei der Registraturführung beraten<br />

und archivreife Personalakten übernommen hatte. Nachdem dann der<br />

1989 eingestellte Archivreferendar seine Ausbildung für den höheren<br />

Archivdienst absolviert hatte, wurde 1991 das Universitätsarchiv als Abteilung<br />

der Zentralen Verwaltung eingerichtet. Bald nach der Verabschiedung<br />

des Saarländischen Archivgesetzes hat der Senat unserer Universität<br />

1993 eine eigene Archivordnung erlassen. In den vergangenen 15 Jahren<br />

hat der Universitätsarchivar umfangreiche archivische Arbeit geleistet,<br />

zahlreiche Veröffentlichungen und Editionen zur Universitätsgeschichte<br />

vorgelegt und wirkt außerdem als „Gedächtnis der Universität“ in besonderem<br />

Maße an der aktuellen Öffentlichkeitsarbeit mit, wie seine ständige<br />

und intensive Mitarbeit in unserer Universitätszeitung „campus“, Ausstellungen<br />

und Internet-Präsentationen zeigen.<br />

Nach dieser kurzen Einführung wünsche ich Ihnen eine ertragreiche<br />

Tagung und einen angenehmen Aufenthalt in unserer Universität.<br />

10 Universitätsreden 73 Universitätsreden 73 11


Grußwort des<br />

Verbandes deutscher Archivarinnen und Archivare<br />

Martin Dallmeier<br />

Sehr geehrte Frau Vizepräsidentin der Universität des Saarlandes,<br />

Frau Prof. Dr. Patricia Oster-Stierle,<br />

sehr geehrter Herr Vorsitzender der Fachgruppe 8 und<br />

Vorstandskollege im Verband deutscher Archivarinnen und Archivare,<br />

lieber Herr Dr. Speck,<br />

liebe Kolleginnen und Kollegen im VdA,<br />

meine sehr verehrten Damen und Herren!<br />

Die Älteren unter uns können sich vielleicht noch erinnern, dass auf dem<br />

Deutschen Archivtag 1993 in Augsburg in den Arbeitssitzungen – Sektionen<br />

gab es damals noch nicht – eine große kontroverse Diskussion darüber<br />

entbrannt war, ob sich die Archivare aus ihrem beruflichen Selbstverständnis<br />

heraus künftig auf die drei archivischen Kernaufgaben beschränken<br />

sollten, nämlich auf Übernahme, Erschließung und Nutzung der<br />

Bestände, oder ob zu den Aufgaben der Archive auch eine größere Präsenz<br />

in der Öffentlichkeit gehöre, sei es durch Publikationen, Ausstellungen<br />

oder etwa in jüngster Zeit, durch eine Beteiligung am „Tag der Archive“<br />

oder durch archivpädagogische Projekte.<br />

Was in der damaligen Diskussion jedoch auf jeden Fall noch zu kurz<br />

kam, war ein klares Statement, dass man zunächst die Grundvoraussetzung<br />

schaffen müsste, um sich sowohl als ein ausschließlich archivischer Dienstleister<br />

bewusst auf die Kernaufgaben beschränken zu können, als sich auch<br />

als eine archivische Fachinstitution mit akzentuierter Selbstdarstellung in<br />

der Öffentlichkeit fachlich und inhaltlich korrekt präsentieren zu können.<br />

Denn die wesentlichen Voraussetzungen für eine fachgerechte Präsentation<br />

der Archive und ihrer Bestände ist die Auswahl = Bewertung des ange-<br />

Universitätsreden 73 13


Martin Dallmeier Grußw ort des Verbandes Deutscher Archiv arinnen und Archiv are<br />

botenen Registraturgutes bzw. dessen Prüfung auf Archivreife und Archivwürdigkeit,<br />

also eine fachgerechte, wissenschaftlich fundierte und nachvollziehbare<br />

Bewertung des potentiellen Archivgutes!<br />

Zur Verdeutlichung dieses Anspruches darf ich aus der Vorbemerkung<br />

des Positionspapiers des Arbeitskreises „Archivische Bewertung“ im VdA<br />

zitieren:<br />

„Durch den Bewertungsvorgang verwandeln Archivarinnen und Archivare<br />

Unterlagen des politischen Prozesses und gesellschaftlichen Lebens in<br />

historische Quellen. Sie formen damit eine unverzichtbare Basis der geschichtlichen<br />

Forschung und den Rahmen des künftigen historischen<br />

Wissens. ... Damit wird eine Kontrolle der demokratischen Organe ebenso<br />

ermöglicht wie die Erarbeitung von Darstellungen vergangener Zeiten.“<br />

Die Bewertung des Schriftgutes war und ist im Grunde genommen also<br />

der erste Fixpunkt für den Facharchivar beim Aufbau eines Archivs und<br />

dessen Archivtektonik. Die fachliche Bewertung, die damit verbundene Festlegung<br />

der Dokumentationsziele, ermöglicht uns Archivaren, die wesentlichen<br />

archivalischen Quellen für die zukünftige Forschung ins rechte<br />

Licht zu rücken, sozusagen die Spreu vom Weizen zu trennen. Erst durch<br />

die Trennung und Entsorgung des ineffizienten Materials ohne primären<br />

Informationswert, das nur räumlich und noch mehr inhaltlich belastet,<br />

sind wir befähigt, der Forschung und Öffentlichkeit das notwendige archivische<br />

Quellenmaterial in ausreichender Dichte und notwendiger Tiefe<br />

verfügbar zu machen.<br />

Zur diesjährigen Frühjahrstagung der Fachgruppe 8 mit dem Fachthema<br />

„Dokumentationsziele und Aspekte der Bewertung in Hochschularchiven<br />

und Archiven wissenschaftlicher Institutionen“ wäre deshalb besonders<br />

gerne der neue 1. Vorsitzende des VdA – des Verbandes deutscher Archivarinnen<br />

und Archivare e.V. – Herr Dr. Robert Kretzschmar, Präsident des<br />

Landesarchivs Baden-Württemberg, nach Saarbrücken gekommen. Denn<br />

sowohl innerhalb als auch außerhalb des VdA ist ihm die Bewertungsfrage<br />

in Theorie und Praxis ein großes Anliegen. Davon zeugen seine zahlreichen<br />

Publikationen zu diesem Themenkomplex und der Vorsitz im<br />

„Arbeitskreis Archivische Bewertung“, den er innerhalb des VdA vor fünf<br />

Jahren mitinitiiert hat und der auch künftig beim VdA seinen festen Platz<br />

haben wird.<br />

Da Dr. Kretzschmar jedoch aus terminlichen Gründen an dieser Fachgruppentagung<br />

nicht teilnehmen kann, darf ich ihn heute offiziell entschuldigen<br />

und Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen seine besten Wünsche<br />

für die Tagung übermitteln.<br />

Er hat mich deshalb gebeten, ob ich ihn als Schatzmeister des VdA und<br />

Mitglied des geschäftsführenden Vorstands hier in Saarbrücken anlässlich<br />

der Frühjahrstagung der Fachgruppe 8 an der Universität des Saarlandes<br />

vertreten könnte und möchte. Ich habe spontan und sehr schnell zugesagt:<br />

Die Gründe sind mehrschichtig, nämlich:<br />

1. Das Thema interessiert mich im allgemeinen und im besonderen.<br />

Bewertungsfragen betreffen alle Archivsparten, auch die Archivare an<br />

Privatarchiven, die ich als Fachgruppenvorsitzender der Fachgruppe 4<br />

im VdA vertrete.<br />

2. Durch persönliche Veränderungen in meinem Berufsleben gehöre ich<br />

sozusagen als „Zwitter“ zwar nicht offiziell, aber unter einer „inhaltlichen<br />

Ausrichtung“ der Fachgruppe 8 an.<br />

Denn seit Februar 2004 bemühe ich mich nämlich als Universitätsarchivar,<br />

das stark vernachlässige Archiv der Universität Regensburg aufzubauen.<br />

So sind mir spezifische Probleme der Fachgruppe 8 zwischenzeitlich<br />

nicht mehr zu fremd, auch bei Fragen der Bewertung von Registraturen<br />

und Aktenbeständen im Universitätsbereich. Positiv hat mich seitdem vor<br />

allem gestimmt, dass ich in den schon 2003 existierenden „Arbeitskreis<br />

bayerischer Universitätsarchivare“ nach meiner beruflichen Veränderung<br />

so offen aufgenommen wurde. Mein Dank – und der Dank des VdA – gilt<br />

hierbei vor allem Herrn Kollegen Dr. Lengger vom Universitätsarchiv<br />

Augsburg als Sprecher dieses Arbeitskreises und allen bayerischen Kolleginnen<br />

und Kollegen, die sich dort engagieren. Die Initiative des Arbeitskreises<br />

hat es ermöglicht, dass seit Ende 2005 alle bayerischen Universitätsarchive,<br />

auch die Bundeswehrhochschule in München-Neubiberg und die<br />

Akademie der Schönen Künste in München, im Arbeitskreis mitarbeiten.<br />

Eine tolle Leistung der bayerischen Universitätsarchivare – herzlichen<br />

Dank.<br />

In Vorbereitung auf diese Fachgruppentagung in Saarbrücken – und<br />

auch im Hinblick auf das Grußwort, das ich hier sprechen soll, – habe ich<br />

14 Universitätsreden 73 Universitätsreden 73 15


Martin Dallmeier Grußw ort des Verbandes Deutscher Archiv arinnen und Archiv are<br />

Herrn Kollegen Speck „ganz locker“ angeschrieben: Ich will für das VdA-<br />

Grußwort auf das Tagungsthema „Bewertung“ eingehen, bitte schicken Sie<br />

mir dafür die vorhandenen Bewertungsrichtlinien und Aussonderungsbestimmungen<br />

für Universitätsverwaltungen! Seine Antwort war ernüchternd:<br />

„Was die Bewertungsrichtlinien / Handreichungen oder ähnliches betrifft,<br />

so gibt es für die Unis meines Wissens noch nichts“. – Denn bisher<br />

war das auch immer bei Diskussionen als derart heterogen erschienen, dass<br />

es sich auch nicht lohnte, darüber nachzudenken. Außer Empfehlungen für<br />

die Verwaltung der Krankenakten und Prüfungsunterlagen (Dr. Lengger)<br />

gibt es nichts! Sorry !<br />

Daher begrüße ich als Vertreter des Fachverbandes VdA die Wahl gerade<br />

dieser Thematik „Bewertung“ bei der diesjährigen Frühjahrstagung der<br />

Fachgruppe 8 sehr. Es kann uns nur dem Ziel näher bringen, für möglichst<br />

viele Bereiche von Archiven, speziell der Universitätsarchive<br />

„Empfehlungen und Richtlinien“ zu erarbeiten, diese Empfehlungen in<br />

die allgemeine Bewertungsdiskussion einzubringen, unter den allgemeinen<br />

Bewertungsgrundsätzen, z. B. des Positionspapiers des Arbeitskreises<br />

„Archivische Bewertung“ zu überprüfen und somit die Kolleginnen und<br />

Kollegen bei der täglichen Arbeit fachlich besser zu unterstützen. Es ist<br />

dringend notwendig, dass den Kolleginnen und Kollegen, die bei ihrer<br />

Arbeit in den oft „ungeordneten“ Archiven der Universitäten und wissenschaftlichen<br />

Institutionen fast täglich mit Bewertungsproblemen zu tun<br />

haben, fachkundige Hilfe angeboten wird, und dies nicht nur bei den massenhaft<br />

gleichförmigen Fallakten wie Prüfungsakten, Personalakten,<br />

Studentenkanzlei, Krankenakten.<br />

Der VdA im allgemeinen und ich als Vorstandsmitglied und Schatzmeister<br />

des VdA erkennen selbstverständlich die Notwendigkeit, auch<br />

künftig der archivischen Bewertung für die fachkundige archivische Überlieferungsbildung<br />

große Aufmerksamkeit zu widmen. Dafür spricht auch,<br />

dass der Gesamtvorstand in seiner letzten Sitzung einstimmig beschlossen<br />

hat, den Arbeitskreis „Archivische Bewertung im VdA“ unverändert weiterzuführen.<br />

Dieser Arbeitskreis ist auch in der Zukunft notwendig!<br />

Somit bleibt mir am Ende meines Grußwortes nur noch übrig, Ihnen,<br />

den Mitgliedern und Gästen der Fachgruppe 8 im VdA, die besten<br />

Wünsche des gesamten VdA – des Verbandes deutscher Archivarinnen und<br />

Archivare e.V. – für diese Veranstaltung zu übermitteln sowie Ihnen und<br />

uns allen informative Vorträge, gute Gespräche, ertragreiche Diskussionen<br />

und nachhaltige Ergebnisse für unsere Arbeit zu wünschen. Dieses wichtige<br />

Thema „ Bewertung“ der Frühjahrstagung der Fachgruppe 8 in Saarbrücken<br />

lässt uns dies alles nicht nur erhoffen, sondern erwarten!<br />

Da die Präsidentin der Universität des Saarlandes leider aus terminlichen<br />

Gründen nicht an dieser Eröffnung teilnehmen kann, darf ich die<br />

hier anwesende Frau Vizepräsidentin bitten, ihr diesen meinen letzten Part<br />

des Grußwortes zu übermitteln:<br />

Ihnen, Frau Präsidentin Dr. Wintermantel, darf ich an dieser Stelle sehr<br />

herzlich gratulieren zur vor kurzem erfolgten Wahl zur Präsidentin der<br />

Hochschulrektorenkonferenz – oder wie es zumindest die Regensburger<br />

Lokalzeitung formuliert hat – zur Wahl an die Spitze des Lobbyistenverbandes<br />

der Universitäten. Sie werden also die berechtigten Forderungen<br />

der deutschen Universitäten an oberster Stelle gegenüber der Öffentlichkeit<br />

und der Politik vertreten. Unsere Bitte an Sie wäre, vertreten Sie dabei<br />

auch vehement die Belange der „dazugehörigen“ Universitätsarchive; denn<br />

die künftige Beurteilung der Arbeit und der Leistungen der deutschen<br />

Universitäten hängt auch zum großen Teil von ihren Archiven ab, wie<br />

diese fachkundig die ausufernde schriftliche Überlieferung durch fachgerechte<br />

Bewertung für die Zukunft gestalten. Und diese Aufgabe ist für die<br />

in der Regel sachlich und personell nur unbefriedigend ausgestatteten<br />

Universitätsarchive gewaltig!<br />

Herzlichen Dank!<br />

16 Universitätsreden 73 Universitätsreden 73 17


Grußwort des Vorsitzenden der Fachgruppe 8<br />

Dieter Speck<br />

Sehr geehrte Frau Vizepräsidentin Prof. Dr. Oster-Stierle,<br />

lieber Wolfgang Müller,<br />

liebe Kolleginnen und Kollegen!<br />

Zur Frühjahrstagung an der Universität des Saarlandes darf ich Sie ganz<br />

herzlich begrüßen. Dieses Jahr haben wir es wieder einmal geschafft, dass<br />

unsere traditionelle Tagung der Archive der Hochschulen und wissenschaftlichen<br />

Einrichtungen ihren Namen Frühjahrstagung zu Recht führt,<br />

zumindest wenn man die zeitliche Nähe von zwei Tagen nach Frühlingsbeginn<br />

betrachtet.<br />

Doch zuerst danken wir Frau Vizepräsidentin Prof. Dr. Oster-Stierle für<br />

die freundliche Aufnahme an ihrer Universität und unserem Kollegen<br />

Wolfgang Müller für die Organisation unserer Frühjahrstagung.<br />

Die mit knapp sechzig Jahren noch relativ junge Universität des Saarlandes<br />

hat sich bei ihrer Gründung auf die Fahnen geschrieben, eine europäische<br />

Universität, eine sprach- und grenzüberschreitende Hochschule zu<br />

sein. Die politischen und geographischen Umstände haben dem Saarland<br />

eine Mittlerrolle zwischen Frankreich und Deutschland eingebracht, von<br />

der und mit der das Saarland auch heute lebt, heute wahrscheinlich aber<br />

wesentlich besser als in der Vergangenheit.<br />

Dass man hier an der Universität in Saarbrücken mit Menschen verschiedener<br />

Sprachen zusammentreffen und kommunizieren kann – so die<br />

Beschwörungen aus der Gründerzeit der hiesigen Universität – lässt mich<br />

als Badener, der sich mit Hochdeutsch etwas schwertut, dann auch hoffen.<br />

Wie Sie aus der Werbung des Landes Baden-Württemberg wissen, sollen<br />

wir angeblich so ziemlich alles können, außer Hochdeutsch. Was die<br />

Universitätsreden 73 19


Dieter Speck<br />

sprachliche Problematik betrifft, können Sie sich schließlich an mir überzeugen.<br />

Aber der Universität des Saarlandes war neben der Kommunikationsfähigkeit<br />

noch ein anderer Aspekt bereits bei der Gründung sehr wichtig.<br />

Die Universität des Saarlandes suchte einen Platz inmitten der alten Universitäten<br />

zu finden und war deshalb selbst von Beginn an sehr offensiv<br />

auf die Zukunft ausgerichtet. Gerade diese Zukunftsoffensiven sind heute<br />

mehr denn je in aller Munde. So passt es ausgezeichnet, wenn unser<br />

Kollege Müller vom Universitätsarchiv Saarbrücken als Organisator unserer<br />

Fachtagung nicht allein auf die Funktion der Archivs als Gedächtnis<br />

einer Institution setzt. Vielmehr greift er im Sinne seiner Saar-Universität<br />

die Vorausschau in die Zukunft auf, indem er Dokumentationsziele und<br />

Bewertungsfragen als Themen unserer Tagung aufgreift. Wolfgang Müller,<br />

mit dem ich gemeinsam die Archivschule Marburg durchschritten habe,<br />

ist so gesehen eine treue und vorsorgende Seele, wenn er die Gründungsziele<br />

seiner Universität auf die Fachproblematik seines Universitätsarchivs<br />

und unserer Fachtagung übertragen hat.<br />

Die wichtigsten Aufgaben von uns Archivaren sind tatsächlich nicht<br />

nur, uns selbst an der Betrachtung alter Urkunden zu erfreuen oder ansonsten<br />

einen ruhigen Lebenswandel in den Kellern unserer Arbeitgeber,<br />

wo wir rücksichtsvollerweise meist untergebracht werden, zu führen. Ein<br />

aktives Archivarsleben bedeutet in meinem Verständnis immer eine janusköpfige<br />

Existenz: Traditionspflege einerseits und eine vorausschauende,<br />

zukunftsplanende Berufsausübung andererseits; das sind die beiden Säulen<br />

unserer beruflichen Existenz.<br />

Die Bestandsbildung, die wir heute als Tagungsthema angehen, prägt<br />

heute die Überlieferung, die den künftigen Generationen als Basis ihrer<br />

historischen Forschungen und Auswertungen zur Verfügung stehen werden.<br />

Archivare müssen daher in viel größerem Umfang sich selbst als<br />

zukunftsorientierte und zukunftsprägende Fachleute verstehen und sich<br />

vor allem auch als solche ins Gespräch bringen. Gerade diese Form der<br />

Zukunftsoffensive sollte ins Blickfeld unserer Dienstherren gebracht werden,<br />

und ich hoffe, dass diese Frühjahrstagung dazu ein Stück beträgt.<br />

In diesem Sinne wünsche ich uns allen eine gewinnbringende Tagung<br />

und danke noch einmal Frau Vizepräsidentin Prof. Dr. Oster-Stierle und<br />

20 Universitätsreden 73<br />

Grußw ort des Vorsitzenden der Fachgruppe 8<br />

unserem Kollegen Wolfgang Müller für die gastfreundliche Aufnahme in<br />

ihrer Universität.<br />

Universitätsreden 73 21


Zwischen Nancy, AStA und ESG und im<br />

„Aktenurwald“ –<br />

Aktuelle Aktivitäten und Annotationen aus dem<br />

Archiv der Universität des Saarlandes<br />

Wolfgang Müller<br />

Traditionsgemäß hat der gastgebende Archivar bei den Frühjahrstagungen<br />

die Möglichkeit und Ehre, den ersten Vortrag zu präsentieren und auch<br />

das jeweilige Archiv vorzustellen. Die Vizepräsidentin hat Ihnen bereits<br />

einen kleinen Einblick in die kurze universitäre Archivgeschichte vermittelt,<br />

und im Vortrag will ich Ihnen in einem ersten Teil einige aktuelle<br />

Publikationen und Vorhaben des Universitätsarchivs vorstellen und in<br />

einem zweiten Abschnitt mit einigen kursorischen Annotationen zum<br />

Tagungsthema beitragen.<br />

Die facettenreiche Gründungsgeschichte der Universität des Saarlandes,<br />

die 1948 in der Sondersituation des damals politisch teilautonomen und<br />

ökonomisch durch Wirtschafts- und Währungsunion mit der Französischen<br />

Republik verbundenen Saarlandes entstand, ist bereits mehrfach<br />

skizziert worden: der Weg von den Homburger Hochschulkursen für<br />

Studierende der Medizin 1946 über das unter dem Patronat der Universität<br />

Nancy stehende, am 8. März 1947 eröffnete „Centre d’Études Supérieures<br />

de Hombourg“, die am 9. April 1948 am Pariser Quai d’Orsay gefassten<br />

Beschlüsse zur Umwandlung dieses Homburger Instituts in eine<br />

„Université de la Sarre“ und die Eröffnung der neuen Universität im<br />

November 1948 mit dem französischen Außenminister Robert Schuman<br />

als erstem prominentem Gast im Dezember. Entscheidend war dafür die<br />

Unterstützung der Französischen Republik und der Universität Nancy, die<br />

nicht nur in den Anfängen mit personeller und logistischer Unterstützung<br />

die neue Hochschule an der Saar förderte, sondern auch den Gründungsrektor<br />

stellte, und deren Altrektor neben seinen Hauptaufgaben im Pariser<br />

Erziehungsministerium als Präsident des Verwaltungsrats der Universität<br />

des Saarlandes fungierte. 1 Bis heute verbinden uns zahlreiche Koopera-<br />

Universitätsreden 73 23


Wolfgang Müller<br />

tionen, und so überrascht es nicht, dass sich der Universitätsarchivar auf<br />

Spurensuche begab und in einem 2005 erschienenen Kongressband die<br />

Geschichte der heute im Verbund der Charte de coopération universitaire<br />

in der Region Saar-Lor-Lux fortdauernden Beziehungen zu unserer<br />

Mutteruniversität Nancy skizziert hat. 2 Dieser Beitrag bildet jetzt den<br />

Baustein für eine gemeinsam mit der Medizinischen Fakultät Nancy angestrebte<br />

neue Publikation, in deren Vorfeld auch weitere privat gesammelte<br />

Quellen und Fotos ans Tageslicht gekommen sind. 3 Ein anderer Aufsatz<br />

widmete sich in der 2004 dem Straßburger Historiker Bernard Vogler<br />

gewidmeten Festschrift den Verbindungen der Universitas Saraviensis zum<br />

Elsass 4 , die in den Bereichen Evangelische Theologie, Übersetzen und<br />

Dolmetschen, Chemie und nun wohl auch bald Mikrobiologie institutionalisiert<br />

ist und die ebenfalls in den frühen Jahren etliche Wissenschaftler<br />

nach Saarbrücken führte, darunter den Sohn des Nobelpreisträgers Daniel<br />

Kastler oder den Chirurgen Adolphe Michel Jung, dessen fesselnde Biographie<br />

als Projekt ebenfalls auf der Agenda des Universitätsarchivars<br />

steht. Forschungsreisen hatten diesen Schüler René Leriches bereits vor<br />

1 Vgl. zuletzt zusammenfassend mit weiteren Literaturhinweisen: Wolfgang Müller:<br />

„Eine Pflegestätte des Geistes, der die Enge zu überwinden sucht und nach europäischer<br />

Weite strebt“ – Impressionen zur Geschichte der Universität des Saarlandes, in:<br />

Bärbel Kuhn / Martina Pitz / <strong>Andreas</strong> Schorr (Hrsg.): Grenzen ohne Fächergrenzen.<br />

Interdisziplinäre Annäherungen. (Annales Universitatis Saraviensis Philosophische<br />

Fakultäten Bd. 26) St. Ingbert 2007, S. 265-302. Die Publikationen zur Universitätsgeschichte<br />

finden sich insgesamt unter http://www.uni-saarland.de/de/profil/geschichte/.<br />

2 Vgl. Wolfgang Müller: „Dieses Institut am Leben zu erhalten und zu entwickeln“ –<br />

Impressionen zur Kooperation der Medizinischen Fakultäten Homburg/Saar und<br />

Nancy, in: Manfred Schmeling / Michael Veith (Hrsg.): Universitäten in europäischen<br />

Grenzräumen. Konzepte und Problemfelder – Universités en frontières – concepts et<br />

practiques. (Frankreich-Forum. Jahrbuch des Frankreichzentrums der Universität des<br />

Saarlandes Bd. 5 2003/2004) Bielefeld 2005, S. 191-208.<br />

3 Vgl. jetzt Wolfgang Müller: Unter der Ägide der Universität Nancy – Streiflichter zur<br />

Gründung des Homburger Hochschulinstituts vor 60 Jahren. Saarbrücken 2007.<br />

4 „Dem verdienten Verständnis begegnen ... auf diesem Gebiet der kulturellen Beziehungen“.<br />

Impressionen zu Verbindungen der Universität des Saarlandes zur Universität<br />

Strasbourg und zum Elsaß, in: Terres d’Alsace, Chemins de l’Europe. Mélanges offerts<br />

à Bernard Vogler. Textes réunis par Dominique Dinet et François Igersheim. Strasbourg<br />

2003, S. 447-471.<br />

24 Universitätsreden 73<br />

Zw ischen Nancy, AStA und ESG und im „Aktenurw ald“<br />

dem Zweiten Weltkrieg nach Amerika und nach 1941 zu Ferdinand Sauerbruch<br />

an die Charité geführt, wo er tags als Chirurg und nachts für die<br />

westalliierten Nachrichtendienste tätig war, und hier in den 50er Jahren als<br />

Direktor der Chirurgischen Universitätsklinik und letzter französischer<br />

Prorektor agierte. Da unsere Universität auch schon vor 1989 zahlreiche<br />

Kooperationen mit ost- und südosteuropäischen Universitäten pflegte –<br />

1987 wurde übrigens auch die erste deutsch-deutsche Universitätspartnerschaft<br />

mit der Karl-Marx-Universität Leipzig vereinbart, und zuvor waren<br />

bereits Kooperationsabkommen mit Warschau, Sofia oder Tbilissi<br />

geschlossen worden – ist auch gelegentlich anhand der Akten des<br />

Akademischen Auslandsamtes ein größeren Aufsatz über die Kooperation<br />

mit Bulgarien geplant. Kann man demnach von einem besonderen<br />

Dokumentationsziel „Auslandsverbindungen“ und „biographische<br />

Netzwerke“ sprechen?<br />

Da die Akten der studentischen Selbstverwaltung teilweise lückenhaft<br />

überliefert sind, überwiegend in der Mitte der 50er Jahre einsetzen und erst<br />

nach der Einrichtung des Universitätsarchivs seit Anfang der 90er Jahre<br />

kontinuierlich gesichert werden, wurden – durchaus zur Ergänzung der<br />

Überlieferung an Akten und Sammlungsgut – zahlreiche Zeitzeugen-Gespräche<br />

mit ehemaligen Repräsentanten der Selbstverwaltung geführt. Im<br />

Zentrum des Interesses standen dabei das jeweilige biographische Umfeld<br />

und der Weg zur Universität in einer Region ohne universitäre Tradition,<br />

die damaligen Studien-, Arbeits- und Lebensbedingungen, die vielfältigen<br />

Aktivitäten der studentischen Selbstverwaltung, Erinnerungen an prägende<br />

akademische Lehrer und besondere Ereignisse, das geistig-politische<br />

Klima jener Saarjahre und nicht zuletzt die Reflexion über das Umfeld der<br />

Volksabstimmung vom 23. Oktober 1955, die übrigens 50 Jahre danach<br />

immer noch im Zentrum tagesaktueller Kontroversen steht. Die Beiträge<br />

erschienen zunächst in loser Form im AStA-Magazin und konnten vor<br />

einem Monat – und damit auch rechtzeitig zu unserer Frühjahrstagung –<br />

in der Ihnen vorliegenden Broschüre präsentiert werden. 5 Sie sind außerdem<br />

ein nicht zu unterschätzender Impuls zur archivischen Öffentlich-<br />

5 Vgl. Wolfgang Müller: Studentische Impressionen aus den frühen Jahren der Universität<br />

des Saarlandes. Saarbrücken 2006.<br />

Universitätsreden 73 25


Wolfgang Müller<br />

keitsarbeit in diesem oft schwierigen Bereich, eröffnen Wege zur kontinuierlichen<br />

Sicherung der archivwürdigen Unterlagen der studentischen<br />

Selbstverwaltung und verdeutlichen den jeweiligen Repräsentanten den<br />

Nutzen des Archivs. Kann man demnach von einem universitären Dokumentationsziel<br />

„studentische Lebenswelt“ sprechen?<br />

In den studentischen Sektor gehören wohl auch die konfessionellen<br />

Studierendengemeinden. So hat das Universitätsarchiv 2003 das Jubiläum<br />

der Katholischen Hochschulgemeinde mit einer Ausstellung begleitet und<br />

bereitet inzwischen eine vergleichbare Präsentation mit der Evangelischen<br />

Studierendengemeinde für Oktober 2006 vor, verbunden mit einer Broschüre<br />

mit Zeitzeugenberichten 6 und einem Beitrag über den ersten hauptamtlichen<br />

Studentenpfarrer, der aus enger persönlicher Verbundenheit<br />

zum Genius loci, wo er schon 1940 exerzierte, und zur Universität, wo er<br />

vielfältige Aufgaben beim Aufbau der Theologenausbildung übernahm,<br />

seinen Saarbrücker Nachlass bewusst dem Universitätsarchiv übereignete.<br />

Da die Studentengemeinden lange – vielleicht heute nicht mehr so sehr –<br />

wichtige Seismographen des „Zeitgeistes“ waren und enge Vernetzungen<br />

zum AStA bestanden, lohnt gelegentlich auch ein Blick in kirchliche Provenienzen,<br />

wie ich bei der Bearbeitung des Themenfeldes „1968“ erkennen<br />

konnte. So bieten beispielsweise die Protokolle der rheinischen Studentenpfarrerkonferenzen<br />

jener bewegten Zeit 7 umfangreiche Hintergrundberichte<br />

über die jeweilige universitäre Situation, die Position der Universitätsspitze,<br />

aber auch des AStA und der ESG zu den universitären und poli-<br />

6 Vgl. Kai Horstmann / Wolfgang Müller: (Hrsg.): „Mit innerer Kraft und mit dem<br />

Segen Gottes wirksam sein“ – Betrachtungen zur Geschichte der Evangelischen Studierendengemeinde<br />

des Saarlandes zwischen gestern und heute. Saarbrücken 2006.<br />

7 Vgl. dazu Wolfgang Müller: Zwischen Gemeindeleben und Umbruch – die evangelischen<br />

Studentengemeinden in Bonn, Köln und Saarbrücken um 1968, in: Monatshefte<br />

für Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes 55 (2006), S. 123-140. Der<br />

zweite, der Situation der ESG Köln gewidmete Teil ist soeben in den Monatsheften für<br />

evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes 56 (2007) S. 89-106 erschienen. Der<br />

dritte Abschnitt zu Bonn und Saarbrücken folgt im Jahrgangsband 2008. Vgl. außerdem<br />

Wolfgang Müller: „Zukunft braucht Vergangenheit“. Archive als Informationsvermittler<br />

zwischen Vergangenheit und Zukunft, in: evangelische aspekte (15, 1)<br />

Februar 2005, S. 15-19.<br />

26 Universitätsreden 73<br />

Zw ischen Nancy, AStA und ESG und im „Aktenurw ald“<br />

tisch-kulturellen Veränderungen. Gelegentlich lohnt durchaus der grenzüberschreitende<br />

Blick auch in andere Archivgewölbe.<br />

Ein weiteres zentrales, mit seinen archivischen Kernaufgaben verbundenes<br />

Arbeitsfeld bieten dem Universitätsarchivar die allbekannten „Institutsgeschichten“.<br />

Da ja nach landläufiger Meinung im Archiv ohnehin alle<br />

Informationen „da sind“, wird der Universitätsarchivar sehr oft um kürzere<br />

oder längere Beiträge gebeten. So habe ich im vergangenen Herbst mit<br />

zahlreichen Miszellen und einem größeren Festschrift-Aufsatz das 50jährige<br />

Gründungsjubiläum der Universitäts-Augenklinik 8 begleitet und in<br />

enger Zusammenarbeit mit dem Musikwissenschaftlichen Institut eine<br />

demnächst erscheinende Institutschronik 9 erarbeitet, wobei diese „Aufträge“<br />

stets auch mit Recherchen nach noch in den Institutsregistraturen<br />

verborgenem Schriftgut, Handakten und Sammlungsgut verbunden waren<br />

und damit Lücken in der Überlieferungsbildung beseitigen halfen. In ähnlicher<br />

Weise habe ich in Zusammenarbeit mit einem kunsthistorischen<br />

Lehrstuhl jetzt unter dem Titel „Lebensbilder“ 10 eine größere Monographie<br />

mit autobiographischen Aufzeichnungen aus dem Kunstgeschichtlichen<br />

Institut und biographischen Skizzen aus dem Archiv abgeschlossen,<br />

die sich auch in die aktuelle wissenschaftsgeschichtliche Diskussion um<br />

die Wege der Einzelwissenschaften im Übergang von der NS-Diktatur zum<br />

vermeintlichen Neubeginn einbringt. Kann man demnach von einem Ziel<br />

„Dokumentation der Institutsgeschichten“ sprechen?<br />

8 Vgl. Wolfgang Müller: Die Geschichte der Augenheilkunde an der Universität des<br />

Saarlandes. Historischer Prolog: Von den Homburger Hochschulkursen über das<br />

„Institut d’Études Supérieures de l’Université de Nancy“ zur Universität des Saarlandes<br />

und zur Universitäts-Augenklinik, in: Klaus Wilhelm Ruprecht / Konrad Hille (Hrsg.):<br />

50 Jahre Augenheilkunde an der Universität des Saarlandes 1955–2005. Saarbrücken<br />

2005, S.1-22.<br />

9 Vgl. Wolfgang Müller: Zur Geschichte des Musikwissenschaftlichen Instituts an der<br />

Universität des Saarlandes, in: Herbert Schneider / Rainer Schmusch (Hrsg.): 50 Jahre<br />

Musikwissenschaftliches Institut der Universität des Saarlandes. Rückblicke, Perspektiven<br />

und eine Bibliographie. Saarbrücken 2006, S. 9-21.<br />

10 Vgl. Christa Lichtenstern / Wolfgang Müller (Hrsg.): Das Kunstgeschichtliche Institut<br />

der Universität des Saarlandes – Lebensbilder. (Annales Universitatis Saraviensis<br />

Philosophische Fakultäten Bd. 25) St. Ingbert 2006.<br />

Universitätsreden 73 27


Wolfgang Müller<br />

Mit einem biographischen Beitrag zu dem hier nahezu seit der Universitätsgründung<br />

wirkenden Mediävisten Eugen Meyer und früheren Staatsarchivdirektor<br />

in Münster knüpfe ich an das Forschungsfeld des 75. Deutschen<br />

Archivtages in Stuttgart 11 2005 an, da ich anhand seiner ausführlichen<br />

Briefe an seinen in der NS-Zeit verfolgten, in die USA emigrierten<br />

Freund Ernst Posner Meyers Berufung von Berlin nach Saarbrücken im<br />

Zeichen der damaligen Berliner Blockade beleuchtet habe und Ihnen daraus<br />

auch zwei prägnante Zitate nicht vorenthalten möchte: „Wir wissen<br />

zwar, daß ein Niederreißen von Bildungsgrenzen allein nicht genügt, um<br />

der Menschheit den Frieden zu bringen. Wir sind aber der Meinung, daß<br />

irgendwo angefangen werden muß, die Grenzzäune einzureißen, die ein<br />

verbohrter Nationalismus in den Gehirnen so vieler Menschen errichtet<br />

hat.“ Und an anderer Stelle: „Aber da unten ist eben die Heimat. Ich habe,<br />

wenn es sehr gut geht, noch etwa 20 Jahre zu leben, und diese Jahre möchte<br />

ich mit Ludwig dem Frommen und mit Reisen nach Paris an die<br />

Bibliothèque Nationale und nach Straßburg und Dijon ausfüllen, das ist<br />

sinnvoll – nach Magdeburg und Prenzlau zu reisen, hat keinen Sinn. Dazu<br />

kommt, daß das, was wir hier seit 1943 durchgemacht haben, so schwer ist,<br />

daß man nicht mehr daran erinnert sein möchte, dazu, wie gesagt, die heimatlichen<br />

Wiesen und Kartoffeläcker.“ 12<br />

Eine weitere Edition in Buchform werde ich hoffentlich in einiger Zeit<br />

abschließen können: Die Edition autobiographischer Aufzeichnungen<br />

und Texte zur Saarfrage aus dem Nachlass des belgischen Soziologen<br />

Georges Goriely, der 1921 in Berlin als Sohn einer polnischen Mutter und<br />

eines russischen Vaters geboren wurde und 1926 nach Brüssel kam, wo er<br />

an der Université Libre 1942 den „docteur en droit“ und 1949 den „docteur<br />

en philosophie“ erwarb, sich während der deutschen Besetzung in verschiedenen<br />

Wohnungen verbarg und sich im „Comité de Défense des Juifs“<br />

11 Vgl. inzwischen: Das deutsche Archivwesen und der Nationalsozialismus. 75. Deutscher<br />

Archivtag 2005 in Stuttgart. (Tagungsdokumentation zum Deutschen Archivtag<br />

Bd. 10) Essen 2007.<br />

12 Vgl. bislang Wolfgang Müller: „Eine Pflegestätte des Geistes“ (wie Anm.1), S. 287-299.<br />

Zitate S. 291 und 293. Eine weitere Publikation zum Briefwechsel Meyer – Posner ist<br />

geplant.<br />

28 Universitätsreden 73<br />

Zw ischen Nancy, AStA und ESG und im „Aktenurw ald“<br />

engagierte. Politisch zunächst in der linkssozialistisch-trotzkistisch inspirierten<br />

Bewegung beheimatet, wandte er sich ernüchtert durch Trotzkijs<br />

Schicksal, die Moskauer Schauprozesse und den Hitler-Stalin-Pakt ab und<br />

wurde auch als Mitherausgeber der Ende 1944 gegründeten „Cahiers socialistes“<br />

zum überzeugten europäischen Föderalisten, agierte als Publizist<br />

und nahm Ende August 1947 am wegweisenden Kongress der Union<br />

Européenne des Fédéralistes in Montreux teil. Von 1953 bis 1963 begründete<br />

er das hiesige Soziologische Institut, und zum Kreis seiner Schüler<br />

gehört der damalige Saarbrücker Habilitand Ralf Dahrendorf. 13 Kann<br />

man aufgrund der zuletzt beschriebenen Arbeiten von einem besonderen<br />

Dokumentationsziel „Sicherung von Unterlagen zu biographischen Netzwerken“<br />

sprechen?<br />

Nach diesem aktuellen Publikationsbericht wende ich mich im zweiten<br />

Teil konkreter dem Tagungsthema zu und erinnere in diesem Zusammenhang<br />

an die in einem Arbeitskreis unter anderem mit den Kollegen Speck<br />

und Wischnath erarbeiteten Registratur-, Bewertungs- und Erschließungsempfehlungen<br />

von Krankenakten 14 oder die Zusammenarbeit mit dem<br />

Kollegen Plassmann im archivübergreifenden VdA-Arbeitskreis „Archivische<br />

Bewertung“, der mit seinen „Positionen zur archivischen Überlieferungsbildung“<br />

gleichermaßen Bewährtes fixiert und neue Perspektiven<br />

eröffnet. 15 Neue Perspektiven vielleicht auch für uns, die wir uns meist<br />

unter dem Diktat enger Zeitpläne, überaus knapper personeller und materieller<br />

Ressourcen und im Spagat zwischen den eigentlichen Kernaufgaben,<br />

13 Vgl. ebd. S. 300-301.<br />

14 Vgl. Wolfgang Müller / Dieter Speck: Empfehlungen für die Schriftgutverwaltungen<br />

der Kliniken und Institute mit Aufgaben der Krankenversorgung, in: Der Archivar 50,<br />

Heft 3 (1997), S. 563-570; Michael Wischnath: Einführung zu den Bewertungs- und<br />

Erschließungsempfehlungen für Krankenakten, in: der Archivar 51, Heft 2 (1998),<br />

S. 233-244.<br />

15 Vgl. unter anderem bilanzierend Frank M. Bischoff / Robert Kretzschmar (Hrsg.):<br />

Neue Perspektiven archivischer Bewertung. Beiträge zu einem Workshop der Archivschule<br />

Marburg 15.November 2004. (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg –<br />

Institut für Archivwissenschaft Nr. 42) Marburg 2005.<br />

16 Vgl. Heinrich Otto Meisner: Schutz und Pflege des staatlichen Archivgutes unter besonderer<br />

Berücksichtigung des Kassationsproblems, in: Archivalische Zeitschrift 45<br />

(1939), S. 46.<br />

Universitätsreden 73 29


Wolfgang Müller<br />

der Betreuung der Benutzerinnen und Benutzer und den Erfordernissen<br />

der Öffentlichkeitsarbeit im Aktenurwald bewegen und nach dem klassischen<br />

Diktum Heinrich Otto Meisners den Aktenurwald roden müssen. 16<br />

Den Aktenurwald, mit seinen zahlreichen zentralen und dezentralen universitären<br />

Gremien und Räten, den sogenannten Zentralen Einrichtungen<br />

von der Universitätsbibliothek bis zum Frankreich- und Sprachenzentrum,<br />

den Akten der diversen Referate der Zentralen Verwaltung vom Präsidialbüro<br />

bis zum IT-Management (wobei die klassische Konzentration<br />

auf die vermeintlich federführende Stelle gelegentlich in der archivischen<br />

Sackgasse münden kann), den immer mehr standardisierten und historisch<br />

wenig ergiebigen Personalakten, den Registraturen der zahlreichen<br />

Institute und Arbeitsstellen, den gelegentlich auch noch auf das universitäre<br />

Dienst- und das häusliche Arbeitszimmer verteilten Handakten der<br />

Professorinnen und Professoren, aber auch der langjährigen akademischen<br />

Mitarbeiter, oder auch die variantenreich komponierten Nachlässe der<br />

Professoren und Professorinnen mit vielen Dubletten und doch auch garniert<br />

mit archivwürdiger persönlicher oder wissenschaftlicher Korrespondenz<br />

und autobiographischen Hintergrundinformationen, den diversen,<br />

gelegentlich auch kurzlebigen Referaten der Selbstverwaltung der Studierenden,<br />

– gäbe es da die Möglichkeit der Konzentration auf die Überlieferung<br />

einzelner Referate wie Zentralreferat oder Hochschulpolitik, aber<br />

sind die Unterlagen des Ausländer-, des Frauen-, des Kultur-, des Ökoreferats<br />

oder der „Zukunftswerkstatt Uni 2020“ weniger interessant oder nicht<br />

archivwürdig? – oder den Akten der universitären Fördergesellschaft und<br />

des Studentenwerks? Und was passiert eigentlich mit den zumindest oft für<br />

Versicherungsnachweise nachgefragten Immatrikulationsunterlagen und<br />

dem Meer der Prüfungsakten und natürlich auch der Prüfungsarbeiten? 17<br />

17 Für diesen Bereich sei vor allem auf die wegweisenden Überlegungen Klaus Grafs und<br />

Werner Lenggers verwiesen und die Beiträge von <strong>Andreas</strong> Freiträger, Werner Lengger,<br />

Stephan Luther und Heidelies Wittig in dieser Publikation. Vgl. auch meinen knappen<br />

Überblick im Ergebnisprotokoll der 2. Sitzung des Arbeitskreises Archivische<br />

Bewertung im VdA – Verband deutscher Archivarinnen und Archivare am 12. März<br />

2002 im Hauptstaatsarchiv Wiesbaden.<br />

30 Universitätsreden 73<br />

Zw ischen Nancy, AStA und ESG und im „Aktenurw ald“<br />

Als eine Erkenntnis aus meiner 15jährigen Berufspraxis beim Aufbau eines<br />

Archivs ex nihilo kann ich weitergeben, wie unerlässlich aus meiner Sicht<br />

die enge Verbindung des Archivars zu den Personen, Institutionen und<br />

Gremien ist, um vor einer Bewertung überhaupt auf potentielles Archivgut<br />

hinzuweisen, archivreife Unterlagen zu sichern, die Registraturen zu entlasten<br />

und angesichts steter personeller Fluktuationen Aktenverluste und<br />

Kassationen nach Möglichkeit zu vermeiden. 18 Gleichzeitig beschäftigt<br />

mich auch immer die Frage: Können in diesem sprichwörtlichen und für<br />

unsere Fachgruppe sicherlich typischen Aktenurwald mit seinen variantenreichen<br />

Registraturen und „Materialsammlungen“ die rationalen, stark<br />

von den Erfahrungen des staatlichen Archivwesens geprägten Bewertungsverfahren<br />

der ministeriellen Sachakten- oder kommunalen Massenaktenregistraturen,<br />

die Positionen der Überlieferungsbildung und die Erarbeitung<br />

eines universitären Dokumentationsprofils der Königsweg sein, um<br />

den Dschungel zu lichten oder sogar daraus herauszufinden? Kann man<br />

die neuen Anregungen aus der aktuellen Bewertungsdiskussion für<br />

manche Aktenserien doch anwenden und zu rationaleren und rationelleren<br />

Bewertungen gelangen oder bleibt trotz allem in den archivischen<br />

Niederungen des Alltags des Ein-Mann- oder Ein-Frau-Unternehmens<br />

Universitäts- / Wissenschaftsarchiv der situationsbedingte Zwang zum<br />

Pragmatismus? Ich freue mich auf die Tagung und spannende, uns bereichernde<br />

und wegweisende Diskussionen.<br />

18 Vgl. Wolfgang Müller: Bewertungen im Universitätsarchiv, in: Unsere Archive –<br />

Mitteilungen aus rheinland-pfälzischen und saarländischen Archiven Nr. 47, April<br />

2002, S. 4-11 mit seinerzeit aktuellen Literaturhinweisen.<br />

Universitätsreden 73 31


Dokumentationsziele als Grundlage der Arbeit<br />

von Universitätsarchiven: Bewertung, Erschließung,<br />

Bestandserhaltung<br />

Max Plassmann<br />

Das Positionspapier des Arbeitskreises Archivische Bewertung im VdA –<br />

Verband deutscher Archivarinnen und Archivare – zur archivischen Überlieferungsbildung<br />

vom 15. Oktober 2004 1 sieht als wesentliche Grundlage<br />

einer systematischen Bewertung die Definition von Dokumentationszielen<br />

an:<br />

„Vor der endgültigen Festlegung von Bewertungsentscheidungen und insbesondere<br />

von Bewertungsmodellen muss eine Festlegung der Dokumentationsziele<br />

erfolgen, die mit der Überlieferungsbildung im betroffenen<br />

Bereich verfolgt werden. Die Ziele sind auf der Grundlage einer eingehenden<br />

inhaltlichen Analyse zu definieren, bei der potentielle Auswertungsmöglichkeiten<br />

erfasst und bewertet werden. Dabei empfiehlt es sich, die berührten<br />

Lebensbereiche in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung zu gewichten.“<br />

Wenn dies schon allgemein für das Archivwesen gilt, so ist dies für<br />

Universitätsarchive mit ihrem hohen Anteil an unsystematisch gepflegtem<br />

Registraturgut und an Sammlungen um so mehr festzustellen. Denn eine<br />

allgemeine Definition, nach der Archive etwa Verwaltungshandeln abbilden<br />

sollten, wird weder den Fragestellungen von Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte<br />

gerecht, noch der Arbeitsweise der abgebenden Stellen,<br />

und erst recht trägt sie wenig zur Bewertung von Nachlässen bei. Es ist auch<br />

nur sehr eingeschränkt möglich, Bewertungsmodelle auf der Grundlage<br />

von Aktenplänen und Aktenzeichen auszuarbeiten, da diese in Universitäten<br />

oft nicht existieren oder nicht fachgerecht angewandt werden.<br />

1 URL: http://www.vda.archiv.net/arbeitskreise.htm#Bewertung; abgedruckt in: Der<br />

Archivar 58 (2005), S. 91-94, Zitat S. 91f.<br />

Universitätsreden 73 33


Max Plassmann<br />

Universitätsarchive sind daher gut beraten, sich selbst grundlegende Dokumentationsziele<br />

zu setzen, die im Zuge einzelner Bewertungen als Maßstab<br />

für die Archivwürdigkeit angelegt werden können. Es bleibt dann zwar im<br />

Einzelfall noch immer ein großer Ermessensspielraum, ob eine bestimmte<br />

Akte zu einem bestimmten Dokumentationsziel passt oder nicht, aber<br />

grundsätzlich erhält die Arbeit eine größere Stringenz und Transparenz,<br />

wenn die Ziele angegeben werden können, die verfolgt wurden. Das dient<br />

nicht allein dazu, die Überlieferung an sich von unnötigem Ballast zu befreien<br />

und besser handhabbar, d. h. benutzbar zu machen, sondern es hilft<br />

auch dabei, die Archivarbeit in Zeiten von Kosten-Leistungs-Rechnung<br />

und Globalhaushalt gegen etwaige Vorhaltungen abzusichern, man verschwende<br />

Mittel und könne auch mit weniger Personal und Geld auskommen.<br />

Schließlich können Dokumentationsprofile dazu beitragen, Entscheidungen<br />

über Prioritäten und Arbeitsweisen bei Erschließung und Bestandserhaltung<br />

zu erleichtern.<br />

Es ist jedoch wesentlich einfacher, die Forderung nach der Formulierung<br />

von Dokumentationszielen zu erheben, als sie umzusetzen. Beispiele für<br />

erfolgreiche Dokumentationszieldefinitionen sind rar, wenn es sie denn<br />

überhaupt gibt. Der Beitrag soll daher zunächst aufzeigen, welchen Nutzen<br />

Dokumentationsziele versprechen, und wie man die Arbeit mit ihnen<br />

erleichtern könnte. Er kann und will aber keine abschließende Lösung präsentieren<br />

oder gar mit einem fertigen Dokumentationsprofil aufwarten.<br />

Ein weiteres vorweg: Der Begriff „Dokumentationsprofil“ oder „-ziel“<br />

soll hier unideologisch verwandt werden, weil er mir einfach passend für<br />

das erscheint, worum es geht. Mir ist bewusst, dass in der Vergangenheit<br />

aufgeregte Debatten um ihn tobten, die ich hier jedoch nicht wieder aufnehmen<br />

will. 2 Wer etwa aus standespolitischen Erwägungen heraus Unbehagen<br />

verspürt, den Begriff „Dokumentation“ zu nutzen, der mag auch<br />

auf „Festlegung inhaltlicher Ziele der Überlieferungsbildung“ oder etwas<br />

anderes ausweichen.<br />

2 Vgl. Robert Kretzschmar: Die „neue archivische Bewertungsdiskussion“ und ihre Fußnoten.<br />

Zur Standortbestimmung einer fast zehnjährigen Kontroverse, in: Archivalische<br />

Zeitschrift 82 (1999), S. 7-40, hier u. a. S. 18.<br />

34 Universitätsreden 73<br />

Dokumentationsziele als Grundlage der Arbeit v on Univ ersitätsarchiv en<br />

Dokumentationsziele bezeichnen unabhängig von den tatsächlich verfügbaren<br />

Unterlagen, welche Themen, Informationen, gesellschaftliche Phänomene<br />

oder kulturelle Ereignisse in dem jeweiligen Archiv vordringlich<br />

und welche nur oberflächig oder gar nicht dokumentiert sein sollen. Sie<br />

lassen sich als Hilfsmittel der klassischen Bewertung in Bewertungsmodelle<br />

umformen. Sie zeigen dann aber auch auf, welche Bereiche nicht<br />

über Verwaltungsakten abbildbar sind, wo also eine aktive Sammlungstätigkeit<br />

einsetzen sollte – sei es auf Nachlässe, sei es auf andere Gebiete<br />

bezogen –, um drohende blinde Stellen in der Überlieferung zu schließen.<br />

Eine Sammlungsstrategie folgt dann aus dem Dokumentationsprofil –<br />

jedenfalls bei öffentlichen Archiven mit einem gesetzlichen Auftrag. Bei<br />

anderen ist oft die Sammlungsstrategie mit dem Dokumentationsprofil<br />

identisch.<br />

Eine Definition von Dokumentationszielen umfasst also viel mehr als<br />

die in den 1990er Jahren in der archivwissenschaftlichen Diskussion so<br />

prominenten Bewertungsmodelle und -kataloge. Dass letztere auch auf<br />

einem inhaltlich definierten Dokumentationsprofil beruhen sollten und<br />

nicht bloß auf einer schematischen Ermittlung der Zuständigkeit einer<br />

bestimmten Stelle für eine bestimmte Aufgabe, hat – wie das Eingangszitat<br />

zeigte – mittlerweile eine breite Zustimmung gefunden. Dokumentationsprofile<br />

und Bewertungsmodelle bilden so keinen Gegensatz, sondern gehören<br />

eng zusammen. Das Profil setzt jedoch auf einer höheren Ebene an<br />

und kann auch dort genutzt werden, wo die Modelle zwangsläufig versagen:<br />

im Bereich der Sammlungstätigkeit.<br />

Dokumentationsziele sollten darüber hinaus auch eine inhaltliche Priorisierung<br />

umfassen. Zwar gibt es in einer idealen Welt nur archivwürdiges<br />

und nichtarchivwürdiges Schriftgut, und das archivwürdige ist unbedingt<br />

zu erhalten. In der Praxis der meisten Universitätsarchive (und wohl der<br />

meisten anderen Archivtypen auch) reichen jedoch die Ressourcen niemals<br />

aus, um eine gleichmäßige Überlieferung aller archivwürdigen Unterlagen<br />

anzustreben. Es ist oft schlicht nicht möglich, mit großem Zeitaufwand<br />

ständig alle potentiell abgebenden Stellen darauf zu drängen, nun doch<br />

endlich einmal etwas abzugeben. Ein Dokumentationsprofil sollte deshalb<br />

eine Gewichtung vornehmen: Welche Unterlagen werden mit hohem<br />

Universitätsreden 73 35


Max Plassmann<br />

Aufwand aktiv eingeworben, wo ist geringerer Aufwand am Platze, und wo<br />

kann man es bei einem passiven Warten auf ein Angebot belassen?<br />

Die Priorisierung umfasst dann aber auch die Frage, welche Bereiche<br />

dicht oder selbst dann weniger dicht überliefert werden sollen, wenn es<br />

möglich wäre, die entsprechenden Akten in großem Umfang zu übernehmen.<br />

Beispielsweise lassen sich über Patientenakten aus den Universitätskliniken<br />

theoretisch umfassende Forschungen über soziale und wirtschaftliche<br />

Probleme der Bevölkerung im Einzugsgebiet anstellen. Dazu wäre<br />

selbst bei strenger repräsentativer Auswahl eine umfassende Überlieferungsbildung<br />

notwendig, die diese Aspekte berücksichtigt. Darauf verzichten<br />

kann man jedoch, wenn das Universitätsarchiv sich als nicht zuständig<br />

erklärt und die Dokumentation des Gesundheitszustandes beispielsweise<br />

den Kommunalarchiven anhand der Akten kommunaler Krankenhäuser<br />

überlässt.<br />

Was also dann von den Patientenakten archivieren? 3 Wenn das Universitätsarchiv<br />

als wesentliches Ziel vor Augen hat, die Forschung zu dokumentieren,<br />

dann wird man eher solche Akten suchen, die medizinische<br />

Sonderfälle, die Anwendung neuer, an der eigenen Universität entwickelter<br />

Methoden und ähnliches enthalten. Der Bewertungsansatz verschiebt<br />

3 Der Aspekt, zu welchem Zweck denn Patientenakten genau aufbewahrt werden sollen,<br />

wird bei den „Empfehlungen für die Bewertung und Erschließung von Krankenakten“<br />

von 1997 nicht ausreichend gewürdigt. Statt dessen wird für eine schematische Anwendung<br />

von Auswahlverfahren plädiert, die zu der immens hohen Aufbewahrungsquote<br />

von 5-10 Prozent führen. Allein im Universitätsarchiv Düsseldorf müssten bei<br />

Befolgung der Empfehlung aus den 40 Jahren von 1960 bis 2000 selbst bei günstiger<br />

Schätzung 2 bis 3 Regalkilometer Patientenakten archiviert werden. Dabei handelt es<br />

sich nur um eines von mehreren Krankenhäusern in der Stadt Düsseldorf und nur um<br />

40 Jahre. Bundesweit würden so schnell Aktenberge anwachsen, die in die Tausende<br />

von Regalkilometern gingen. Schon mittelfristig würden daher Quellenmengen überliefert,<br />

die kein noch so gut finanziertes Forschungsprojekt mehr handhaben könnte.<br />

Es ist also nicht allein ein Gebot des aktuellen Finanzmangels, sondern auch im Interesse<br />

der Forschung, die überlieferten Aktenmengen auf das tatsächlich Notwendige<br />

zu beschränken. Diese Beschränkung erfolgt über individuelle Dokumentationsprofile,<br />

die Besonderheiten der eigenen Kliniken erfassen, kann aber niemals über allgemeine<br />

Empfehlungen gesteuert werden. Abdruck der Empfehlungen in: Der Archivar 51<br />

(1998), S. 234-244.<br />

36 Universitätsreden 73<br />

Dokumentationsziele als Grundlage der Arbeit v on Univ ersitätsarchiv en<br />

sich also völlig; die Archivwürdigkeit hängt von anderen Faktoren ab, so<br />

dass hier nun ganz andere Akten aufbewahrt würden als im ersten Fall. Die<br />

Überlieferung wird dadurch jedoch auf die Bedürfnisse des Archivs und<br />

seiner Regelbenutzer (Ausnahmen gibt es immer) zugeschnitten und umfasst<br />

das wirklich Notwendige. Eine schematische Regel „wenn Massenakten<br />

vorkommen, muss ein repräsentativer Sample gezogen werden“<br />

würde demgegenüber zu einer zwar verwertbaren Überlieferung führen.<br />

Aber sie könnte an den Bedürfnissen der Wissenschaftsgeschichte tendenziell<br />

vorbeigehen, und mit ihr oder für sie würde ein erheblicher Aufwand<br />

betrieben, der nicht zu den Kernaufgaben eines Universitätsarchivs gehören<br />

muss.<br />

Theoretisch ist daher die Erarbeitung von Dokumentationszielen eine<br />

vielversprechende Möglichkeit, die Überlieferungsbildung stringenter und<br />

systematischer anzugehen, die Abgrenzung zu den Beständen anderer<br />

Archive deutlicher zu machen und sich selbst Klarheit darüber zu verschaffen,<br />

was man denn eigentlich will und tut. Bei all den vielversprechenden<br />

Vorteilen mag sich der Betrachter darüber wundern, dass ihre<br />

Formulierung nicht schon lange zum Standardrepertoire der Archive<br />

gehört.<br />

Dass dem nicht so ist, liegt an den Schwierigkeiten der Umsetzung dieses<br />

an sich richtigen Gedankens. Es ist nun einmal wesentlich leichter,<br />

anhand eines konkreten Aktenplans durch A- und V-Kennzeichnungen ein<br />

Bewertungsmodell ins Leben zu rufen, als abstrakt anzugeben, was man<br />

denn eigentlich archivieren will.<br />

Einige allgemeine, grobe Definitionen von Zielen der Überlieferungsbildung<br />

dürften zwar unstrittig sein. Wenn Universitätsarchivare davon<br />

reden, Forschung und Lehre dokumentieren zu wollen, wird ihnen jedenfalls<br />

kaum jemand widersprechen. Schwieriger wird es allerdings, diese allgemeinen<br />

Ziele zu konkretisieren und für Bewertungsentscheidungen nutzbar<br />

zu machen. Denn die Frage, ob denn eine bestimmte Akte dazu dient,<br />

Forschung und / oder Lehre zu dokumentieren oder nicht, geht nicht aus<br />

ihnen hervor. Dokumentationsziele müssen also ausgehend von solchen<br />

allgemeinen Definitionen wesentlich verfeinert werden, um handhabbar<br />

zu sein. Auf der anderen Seite ist es nicht sinnvoll, sie zu stark zu verfeinern,<br />

denn dann steigt zum einen der Arbeitsaufwand für ihre Erstellung<br />

Universitätsreden 73 37


Max Plassmann Dokumentationsziele als Grundlage der Arbeit v on Univ ersitätsarchiv en<br />

und Pflege unverhältnismäßig an, und zum anderen besteht das Problem<br />

der konkreten Zuordnung zu einer bestimmten Akte. Während nämlich<br />

in Staatsarchiven anhand landeseinheitlicher Aktenpläne Bewertungsmodelle<br />

bis hinunter zur Ebene der einzelnen Akte formuliert werden können<br />

und diese einzelne Akte dann auch tatsächlich sicher aus einer<br />

Anbietung von mehreren 1.000 Akten ermittelt werden kann, erlaubt die<br />

größtenteils unsystematische Schriftgutverwaltung in Universitäten zumeist<br />

keine allzu feine vorausschauende Definition.<br />

Die Dokumentationsziele bzw. die aus ihnen abgeleiteten Bewertungsrichtlinien<br />

müssen sich daher auf einem mittleren Niveau bewegen und<br />

bestimmte Aktengruppen bzw. besser noch Unterlagengruppen definieren,<br />

die aufbewahrt, teilweise aufbewahrt oder nicht aufbewahrt werden sollen.<br />

Im Verlaufe einer Bewertungsaktion muss dann eine vorgefundene Akte<br />

einer solchen Unterlagengruppe zugeordnet und entsprechend bewertet<br />

werden.<br />

Die Autopsie, zumindest aber die grobe Durchsicht der angebotenen<br />

Akten, bleibt dabei in jedem Fall notwendig, da von außen angebrachte<br />

Aktentitel oder auch die Angaben des Registraturpersonals – wenn man<br />

den Schlüsselverwalter eines Institutskellers überhaupt so nennen kann –<br />

oft nicht verlässlich sind.<br />

Eine Vereinfachung und Systematisierung der Arbeit ergibt sich daraus,<br />

dass nicht in dem praktisch unendlichen Pool möglicher Forschungsthemen<br />

gesucht wird, bis ein Thema gefunden ist, für das ein Historiker<br />

vielleicht einmal diese spezielle Akte benötigen könnte. D. h., die Frage<br />

lautet nicht (mehr): „Gibt es irgendein Thema, das ein Historiker in<br />

Zukunft mit dieser Akte oder dieser Gruppe von Akten bearbeiten könnte?“<br />

Bei einer solchen Herangehensweise wäre nämlich strenggenommen<br />

fast jede Akte archivwürdig, da fast immer ein mögliches, wenn z. T. auch<br />

abseitiges Forschungsthema gefunden werden kann, wenn man nur lange<br />

genug danach sucht. Jede studentische Hilfskraft könnte einmal Nobelpreisträger<br />

oder Bundeskanzler werden, was aber kein Grund zur Aufbewahrung<br />

aller Akten studentischer Hilfskräfte sein kann. Auch die Beschaffung<br />

von Büromaterial könnte zum Gegenstand wirtschaftshistorischer<br />

Untersuchungen werden, jedoch auch das kann kein Grund zur breiten<br />

Überlieferung von Beschaffungsvorgängen sein. Diese Beispiele mögen<br />

weit hergeholt erscheinen. Aber in der Praxis hat sich sicher jeder schon<br />

einmal eine solche Frage gestellt: „Gibt es ein Forschungsthema, das sich<br />

auf diese Akte stützen könnte?“ Im Zweifel führen solche Fragestellungen<br />

dann zu einer Aufbewahrung „sicherheitshalber“, die je nach den<br />

Umständen bedeutende Anteile des Magazinplatzes ausmachen kann.<br />

Ein Dokumentationsprofil kehrt hingegen die Beweislast um. Es wird<br />

nicht gefragt, ob überhaupt ein Thema anhand der Akte bearbeitet werden<br />

kann, sondern danach, ob eines der als für die eigene Überlieferung als<br />

wesentlich definierten Themen damit bearbeitet werden kann. Die Zahl der<br />

zu prüfenden Möglichkeiten reduziert sich dadurch gewaltig, der Bewertungsvorgang<br />

wird so beschleunigt, systematischer und transparenter. Dazu<br />

ist natürlich zu bemerken, dass hier Euphorie nicht am Platz ist, denn<br />

nach wie vor ist es Teil der Sorgfaltspflicht, in Zweifelsfällen und Bereichen,<br />

die ein Dokumentationsprofil seiner Natur nach nur unscharf abdecken<br />

kann, genau nachzudenken und vielleicht sogar einmal etwas zu übernehmen,<br />

was nicht durch das Profil gedeckt ist, aber aus davon unabhängigen<br />

Erwägungen für bedeutend gehalten wird. Das Profil muss auch immer<br />

wieder überprüft, angepasst und verbessert werden. Es ist also nicht als<br />

Geheimwaffe zu verstehen, die dem Archivar die Arbeit vollkommen abnimmt<br />

oder ihn gar überflüssig machen könnte, sondern nur als Hilfsmittel,<br />

das die Arbeit stark erleichtert, jedoch nicht verabsolutiert werden<br />

sollte.<br />

Wie konkret Dokumentationsziele definiert werden, hängt stark vom<br />

einzelnen Archiv bzw. seinem Träger ab. Die Vorstellung, es gebe einen<br />

gleichsam objektiven Tatbestand der Archivwürdigkeit, den der Archivar<br />

unabhängig von Herkunft und Arbeitsweise festzustellen habe, ist bekanntlich<br />

als Chimäre zurückzuweisen. Den (historischen, kulturellen,<br />

inhaltlichen, juristischen, etc.) „Wert“ von Schriftgut kann man nur im<br />

Hinblick auf ein bestimmtes Ziel ermitteln, das mit seiner Aufbewahrung<br />

erreicht werden soll, nicht aber absolut. Ein Handschreiben des Ministerpräsidenten<br />

an den Rektor einer Universität über hochschulpolitische<br />

Fragen ist für den wertlos, der die Qualität der medizinischen Versorgung<br />

im Universitätsklinikum erforschen will, während der Historiker der<br />

Hochschulpolitik nichts mit einem repräsentativen Sample von Patientenakten<br />

anfangen kann. Solche an sich recht banalen Erkenntnisse auf das<br />

38 Universitätsreden 73 Universitätsreden 73 39


Max Plassmann Dokumentationsziele als Grundlage der Arbeit v on Univ ersitätsarchiv en<br />

Geschäft der Bewertung zu übertragen, ist ein Zweck der Definition von<br />

Dokumentationszielen.<br />

Wiederum genügt es dabei nicht, es etwa bei allgemeinen Aussagen zu<br />

belassen wie: „Zu archivieren sind alle hochschulpolitischen Unterlagen<br />

und Patientenakten in Auswahl“. Denn die entscheidende Frage ist doch,<br />

in welchem Umfang, in welcher Dichte eine bestimmte Quellengruppe<br />

überliefert werden soll. Und dieser Umfang kann auch auf Null festgesetzt<br />

werden, selbst wenn es theoretisch historische Fragestellungen geben könnte,<br />

die mit diesen Unterlagen sinnvoll zu bearbeiten wären.<br />

Ein Beispiel: Im Universitätsarchiv Düsseldorf stand eine größere Abgabe<br />

aus der Verwaltung des Universitätsklinikums an, darunter ca. zwei<br />

laufende Meter Akten zum Abschleppen von Falschparkern auf dem<br />

Klinikgelände (Einzelfälle). Bei kursorischer Durchsicht ergab sich, dass in<br />

durchaus hoher Anzahl Vorgänge enthalten waren, anhand derer eine<br />

Mentalitätsgeschichte des Falschparkens hätte geschrieben werden können,<br />

also umfassende Beschwerden mit entsprechenden Antworten und Gegenantworten.<br />

Sicher gehört das Problem des Falschparkens auch zu den<br />

Themen, die im ausgehenden 20. Jahrhundert einen großen Prozentsatz<br />

von Bundesbürgern aktiv oder passiv betrafen und die von allgemeinem<br />

Interesse waren. Und die schiere Menge der Vorgänge zeigt, dass das<br />

Thema auch für die Klinikverwaltung eine wenigstens quantitativ ernstzunehmende<br />

Aufgabe war. Das alles aber kann kein Grund dafür sein, diese<br />

Akten im Universitätsarchiv Düsseldorf zu verwahren. Denn das Ziel eines<br />

Universitätsarchivs kann es nicht sein, mentalitäts- und kulturgeschichtlich<br />

interessante Akten zu Themen vorzuhalten, die nicht spezifisch universitär<br />

sind (wie das Thema Falschparken). Dabei kann auch die Überlegung<br />

keine Rolle spielen, ob denn an anderer Stelle eine Überlieferung zu<br />

diesem Thema gebildet wird, ob also z. B. in Stadtarchiven Falschparkerakten<br />

mit historischer Relevanz archiviert werden. Denn das liefe darauf<br />

hinaus, sich selbst zum Ersatzüberlieferungsarchiv für alle anderen Sparten<br />

zu erklären und auf Verdacht alles mögliche aufzubewahren, das man<br />

eigentlich kassiert hätte.<br />

Es kommt vielmehr darauf an, positive Ziele der eigenen Überlieferungsbildung<br />

zu definieren und zu kommunizieren, so dass im Idealfall<br />

für andere Archive die Möglichkeit besteht zu erkennen, welche Bereiche<br />

der Überlieferung wo abgedeckt sind, was wiederum die eigenen Kassationsentscheidungen<br />

erleichtert. 4<br />

Die Schwierigkeit liegt jedoch darin, diese Forderung nach einer positiven<br />

Definition in einer Weise umzusetzen, die sowohl verständlich und<br />

eindeutig als auch wirtschaftlich, umsetz- und handhabbar ist. Am einfachsten<br />

ist selbstverständlich die rein gedankliche Festlegung der Ziele,<br />

die der Archivar im Kopf hat und mehr oder weniger bewusst anwendet.<br />

Dies ist eine Minimalforderung an jeden Archivar, und es muss auch damit<br />

genug sein, falls Zeit und Personalkapazität nicht für eine Verschriftlichung<br />

der Gedanken reichen. Es ist ohnehin so, dass ein mehrere 100<br />

Seiten umfassendes, alle Eventualitäten berücksichtigendes Dokumentationsprofil<br />

so gut wie wertlos sein kann, wenn es die Archivare nicht<br />

wenigstens in Grundzügen im Kopf haben und es in der Regel ohne erneute<br />

Lektüre anwenden können. Denn ständiges Nachschlagen und Blättern<br />

im Aktenkeller vor einer Wand von angebotenen Unterlagen ist sicher<br />

wenig hilfreich.<br />

Daher ist ein hierarchischer Aufbau vom Allgemeinen zum Speziellen<br />

hin vorzunehmen. Wie speziell man dabei wird, ist dem einzelnen Archiv<br />

zu überlassen. Es ist nicht zuletzt eine Frage der Zeit, die man in ein<br />

Dokumentationsprofil investieren will oder kann.<br />

Doch der Aufwand kann sich lohnen, da ein Dokumentationsprofil<br />

nicht alleine auf dem Feld der Bewertung einzusetzen ist. Auch bei der<br />

nachfolgenden archivischen Arbeit erleichtert es Entscheidungen und die<br />

Entwicklung von Konzepten. Da ist zunächst die Erschließung, die ihrerseits<br />

sowohl inhaltlich als auch personell geplant werden muss, um sowohl<br />

den Bedürfnissen der Benutzung zu dienen als auch die personellen<br />

Ressourcen des Archivs nicht über Gebühr zu beanspruchen. Dabei habe<br />

ich nicht nur die Frage der Erschließungstiefe im Auge, die über ein<br />

Dokumentationsprofil gesteuert werden kann.<br />

Sinnvoll einsetzbar ist es auch bei der Beantwortung der Frage nach dem<br />

Erschließungsansatz. Ein Beispiel mag das verdeutlichen: Bei der Bewer-<br />

4 Dies mit dem langfristigen Ziel einer „Überlieferungsbildung im Verbund“ aller<br />

Archivsparten und -typen, siehe Kretzschmar: Die „neue archivische Bewertungsdiskussion“<br />

(wie Anm. 2), S. 39.<br />

40 Universitätsreden 73 Universitätsreden 73 41


Max Plassmann<br />

tung von Prüfungsakten aus den 1970er Jahren wurden im Universitätsarchiv<br />

Düsseldorf mehrere Dokumentationsziele gleichzeitig verfolgt. Neben<br />

einer exemplarischen Überlieferung, die dazu dient, einen Überblick<br />

über Tendenzen, Gebräuche und die Bandbreite von Themen und Benotungen<br />

zu verschaffen, trat eine Auswahl besonderer Fälle, nämlich von<br />

Prozessen um Benotungen, von prominenten oder besonderen Personen<br />

und von Akten, die ein Düsseldorfer Spezifikum darstellen, da sie Dokumente<br />

enthalten, die im Rahmen des bekannten jahrzehntelangen Streits<br />

um die Benennung unserer Universität nach Heinrich Heine 5 von studentischer<br />

Seite als Protestmittel eingesetzt wurden. Sie benutzten trotz mehrfacher<br />

Versuche der Universitätsleitung, dies zu unterbinden, auch in<br />

solch offiziellen Dokumenten wie Anmeldungen zur Prüfung schon vor<br />

der Umbenennung den gewünschten Namen „Heinrich-Heine-Universität“.<br />

Einige dieser Fälle, die zufällig ermittelt wurden, wurden nicht<br />

wegen der Prüfungsunterlagen archiviert, sondern als Beispiele für diese<br />

Form des Namensstreits, also mit ganz anderen Zielen.<br />

Es liegt auf der Hand, dass Akten, die aus unterschiedlichen inhaltlichen<br />

Gründen übernommen wurden, auch unterschiedlich zu erschließen sind.<br />

Wenn etwa exemplarisch Fälle mit sehr guten oder sehr schlechten Noten<br />

ausgewählt wurden, dann ist es wichtiger, dem Benutzer diesen Archivierungsgrund<br />

und die Benotung mitzuteilen, als den Namen des Prüflings.<br />

Bei einer Akte, die wegen der Prominenz der betroffenen Person archiviert<br />

wurde, steht bei der Erschließung demgegenüber der Personenname im<br />

Vordergrund, während eine Akte, die wegen der Besonderheit des Düsseldorfer<br />

Namensstreits archiviert wurde, die Erschließung verdeutlichen<br />

muss, dass es sich um eine in dieser Hinsicht interessante Akte handelt.<br />

Dergleichen Beispiele lassen sich noch vielfach finden. Sowohl quantitativ<br />

als auch im Hinblick auf die zu erbringende Arbeitsleistung spielt in<br />

Nachlässen und Institutsbeständen immer wieder die Korrespondenzserie<br />

5 Vgl. Max Plassmann / Karoline Riener: Die ersten Jahre der Universität Düsseldorf<br />

(1965-1970). Von der „schleichenden“ Gründung bis zum Namensstreit, in: Gert Kaiser<br />

(Hrsg.): Jahrbuch der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf 2002. Düsseldorf 2003, S.<br />

503-512; Karoline Riener: Der Streit um die Benennung der Universität Düsseldorf<br />

nach Heinrich Heine, in: Düsseldorfer Jahrbuch 76 (2006), S. 251-290.<br />

42 Universitätsreden 73<br />

Dokumentationsziele als Grundlage der Arbeit v on Univ ersitätsarchiv en<br />

A-Z eine wichtige Rolle. Hier steht immer wieder die Entscheidung an, ob<br />

man sie überhaupt oder nur teilweise archiviert, aber es stellt sich auch<br />

immer wieder die Frage der Erschließungstiefe. Es liegt auf der Hand, dass<br />

es sehr wenig Arbeit bereitet, die Akten mit dem bloßen Titel „Korrespondenz<br />

A, B, C“ usw. zu erschließen, doch genauso ist bekannt, dass Benutzer<br />

häufig nach Personen fragen, also etwa danach, ob in einem Professorennachlass<br />

ein Briefwechsel mit dem Kollegen X zu finden ist. Um solche<br />

Anfragen ohne Gang ins Magazin beantworten zu können, wäre eine<br />

aufwendige bibliothekarische Einzelblatterschließung erforderlich, die<br />

aber nur im Ausnahmefall leistbar ist.<br />

Ein Dokumentationsprofil unterstützt nun die Entscheidung, welche<br />

Art der Erschließung anzuwenden ist. Denn es schafft Klarheit darüber,<br />

warum diese Korrespondenzserie eigentlich überliefert wurde. Wegen der<br />

wissenschaftlichen Briefwechsel mit anderen Großen des Fachs? Dann<br />

wären deren Namen vordringlich zu erschließen. Wegen der inneruniversitären<br />

Schreiben um bestimmte Problemkreise der Universitätsgeschichte?<br />

Dann wäre die Erfassung dieser wichtigen Themen bedeutender als die<br />

Nennung der Namen der Kollegen, die als Hochschulangehörige ohnehin<br />

in zahlreichen Akten zu finden sind, so dass ihre Nennung an sich keine<br />

spezifische Aussage und kein zielgerichtetes Suchen ermöglichen würde.<br />

Vielleicht handelt es sich aber auch um Korrespondenz mit Studierenden,<br />

etwa eines Vertrauensdozenten einer Stiftung, die Auslandsaufenthalte<br />

ermöglicht. Dann sind die einzelnen Namen kaum von Interesse, sondern<br />

es muss nur der Zweck vermittelt werden, um den es sich bei der<br />

Korrespondenz dreht.<br />

Zum guten Schluss sind Dokumentationsprofile auch im Bereich der<br />

Bestandserhaltung einsetzbar. Hier löst der Gedanke daran, dass man<br />

einige Bestände anderen vorziehen muss, zwar regelmäßig Unbehagen aus;<br />

handelt es sich doch in jedem Fall um Kulturgut, das auf dem Wege einer<br />

regulären Bewertung zu solchem geworden ist. Und Kulturgut ist unbedingt<br />

zu erhalten und zu schützen. Jedoch zwingen in der Praxis die nur<br />

beschränkt zur Verfügung stehenden Mittel dazu, die Maßnahmen zu<br />

priorisieren, was eben nicht nur heißt, einen Bestand vordringlich zu bearbeiten,<br />

sondern auch, andere mehr oder weniger bewusst zu vernachlässigen.<br />

Bei diesen Fragen spielen natürlich die Art und der Umfang der<br />

Universitätsreden 73 43


Max Plassmann<br />

Schadensbilder eine gewichtige Rolle, jedoch steht der Archivar immer wieder<br />

vor der Entscheidung, von zwei in etwa gleich gefährdeten Beständen<br />

nur einen etwa verfilmen zu können. Es bedarf keiner großen Ausführungen,<br />

um darzulegen, dass auch hier Dokumentationsprofile eine wertvolle<br />

Hilfestellung geben können.<br />

Ich fasse zusammen: In Anbetracht der Tatsache, dass die neuere Bewertungsdiskussion<br />

zu recht den inhaltlichen Aspekt aus dem Abseits herausholt,<br />

in das er während der 1990er Jahre geraten ist (ohne ihn jedoch zu<br />

verabsolutieren), ist es notwendig, inhaltliche Kriterien und Gewichtungen<br />

für die Bewertung zu entwickeln, die diese systematischer, transparenter<br />

und wirtschaftlicher machen. 6 Ich habe sie hier Dokumentationsprofil<br />

genannt, es mag jedoch auch ein beliebiger anderer Name dafür gefunden<br />

werden. Entscheidend ist dabei, dass diese Kriterien bewusst entwickelt<br />

und wenn möglich verschriftlicht werden, um auch über personelle<br />

Brüche hinaus systematisch angewendet werden zu können. Entscheidend<br />

ist weiterhin, diese Profile in der Praxis ständig zu prüfen und zu aktualisieren<br />

und sich im Einzelfall nicht zu ihrem Sklaven zu machen, sondern<br />

sich auch einmal souverän über sie hinwegzusetzen. Dies ist im übrigen<br />

eine wichtige Begründung dafür, dass gerade auf einem so unübersichtlichen<br />

Feld wie einer universitären Überlieferung ein wissenschaftlicher<br />

Archivar mit fundierter historischer und archivischer Ausbildung eingesetzt<br />

werden muss. Die Vorstellung, ein Dokumentationsprofil einmal<br />

etwa im Rahmen eines Werkvertrages ausarbeiten zu lassen, um es später<br />

von schlechtbezahlten Hilfskräften umsetzen zu lassen, ist deutlich<br />

zurückzuweisen, auch wenn sie in Zeiten von Sparzwängen verlockend zu<br />

sein scheint.<br />

Ein sekundärer, aber nicht zu unterschätzender Nutzen von Dokumentationsprofilen<br />

ist die Vereinfachung der Planung von Erschließung und<br />

Bestandserhaltung, die ebenfalls den hier fixierten Grundsätzen folgen<br />

können. Gerade Universitätsarchive mit ihrer eher schlechten personellen<br />

Ausstattung können so deutlich von ihnen profitieren.<br />

6 Vgl. <strong>Andreas</strong> Pilger / Kathrin Pilger: Die Bewertung von Verwaltungsschriftgut als Beobachtung<br />

zweiter Ordnung, in: Der Archivar 56 (2003), S. 111-118, hier v.a. S. 117.<br />

44 Universitätsreden 73<br />

Dokumentationsziele als Grundlage der Arbeit v on Univ ersitätsarchiv en<br />

Und schließlich sorgen sie auch für Argumentationshilfe bei Auseinandersetzungen<br />

um die Personal- und Sachmittelausstattung. Denn mit einem<br />

Dokumentationsprofil ist das Archiv gerüstet zu sagen, dass bestimmte,<br />

benennbare Bereiche nicht oder unzureichend überliefert werden können,<br />

wenn die Ausstattung zu schlecht ist. Das aber ist wesentlich überzeugender,<br />

als allgemein über Personalmangel zu klagen.<br />

Was jetzt fehlt, sind Formen, Verfahrensweisen und Ansätze für die Formulierung<br />

funktionstüchtiger Dokumentationsprofile. Der alte<br />

Booms´sche Ansatz, dazu einen runden Tisch mit verschiedenen gesellschaftlichen<br />

Gruppen zu bilden, ist sicher nicht praktikabel, auch wenn<br />

der Dialog mit Benutzern und abgebenden Stellen gesucht werden sollte. 7<br />

Es wird eine zukünftige Aufgabe sein, ihn durch ein besseres Konzept zu<br />

ersetzen. Die Frühjahrstagung 2006 der Fachgruppe 8 hat dazu interessante<br />

Ansätze geboten, auf denen die weitere Arbeit aufbauen kann.<br />

7 Hans Booms: Gesellschaftsordnung und Überlieferungsbildung. Zur Problematik<br />

archivischer Quellenbewertung, in: Archivalische Zeitschrift 68 (1972), S. 3-40.<br />

Universitätsreden 73 45


Integrierte Bewertung – Ansatz zu einem<br />

nachhaltigen Ressourceneinsatz im Archiv<br />

Klaus Nippert<br />

Wie mein Vor-Referent Max Plassmann für unser Arbeitsgebiet dargestellt<br />

hat, ist in der aktuellen Bewertungsdiskussion eine Wende hin zu einer<br />

inhaltsorientierten und auf vorformulierte Ziele gerichteten Überlieferungsbildung<br />

zu beobachten. Die mit dieser Wende verbundene Problematik<br />

der Positivliste soll hier nicht breiter aufgerollt werden. Die wechselvolle<br />

und deutsch-deutsche Diskussion dieses Konzepts lässt die Problempunkte<br />

deutlich hervortreten: 1. die Gefahr einer Überlieferungsbildung<br />

quasi als Siegerjustiz zur Vorherrschaft gekommener Ideologeme, 2. die<br />

Problematik der Normenauslese in der wertepluralistischen Gesellschaft<br />

und 3. die Verluste, die mit einer ausschließlich auf die Abbildung von<br />

Behördenhandeln zielenden Bewertungspraxis einhergehen. Die Diskussion<br />

seit Booms hat hier für Problembewusstsein gesorgt.<br />

Mein Statement läuft darauf hinaus, dass wir im Bewusstsein der Problematik<br />

von Positivlisten ein Konzept zu überliefernder Inhalte entwerfen<br />

sollten, gleich ob das Kind nun Dokumentationsziel, Dokumentationsprofil<br />

oder anders benannt wird. Neben der zeitüblichen Erwägung,<br />

dass wir unseren Trägern und der Öffentlichkeit, deren Mittel wir verwenden,<br />

Rechenschaft schulden, scheinen mir vor allem die materiellen Koordinaten<br />

des Archivbetriebs für die Formulierung von Dokumentationszielen<br />

zu sprechen.<br />

Ich meine, dass wir mit Priorisierungen verbundene Dokumentationsziele<br />

brauchen, weil die künftige Überlieferungsbildung nicht mehr durch<br />

die Archivierung aller als ARCHIVWÜRDIG oder KASSABEL betrachteten<br />

Unterlagen geprägt sein dürfte, sondern durch die Auswahl eines<br />

womöglich kleinen Teils des als archivwürdig eingeschätzten Materials.<br />

Den Grund, weshalb die Alternative ARCHIVWÜRDIG / KASSABEL<br />

Universitätsreden 73 47


Klaus Nippert<br />

durch die Einordnung in eine Dringlichkeitsskala abgelöst wird, sehe ich<br />

in den für die nahe und mittlere Zukunft absehbaren materiellen Koordinaten<br />

des Archivbetriebs. Sie werden es nötig machen, innerhalb des als<br />

archivwürdig erkannten Materials einen Schnitt an der Machbarkeitsgrenze<br />

zu setzen.<br />

Worin und in welchem Maß die Enge unserer betrieblichen Koordinaten<br />

besteht, möchte ich in drei knappen Hinweisen vor Augen führen.<br />

An erster Stelle ist die Bestandserhaltung zu nennen. Allgegenwärtig ist<br />

das Problem des Papierzerfalls – so gegenwärtig, dass man angesichts der<br />

materiellen Aufdringlichkeit ganzer Regalkilometer voller papierner Akten<br />

im Berufsalltag schon wieder geneigt sein könnte, das Problem auszublenden,<br />

um nicht in Depressionen zu verfallen. Auch wenn das Grundproblem<br />

hinreichend bekannt ist, möchte ich anhand einer knappen überschlägigen<br />

Rechnung seine Dimensionen in Erinnerung rufen und damit<br />

zeigen, dass die Bestandserhaltung eine, wenn nicht die Engstelle des<br />

Archivbetriebs ist.<br />

Gesetzt dem Fall, dass ein Archiv über vom Papierzerfall bedrohtes, also<br />

in der Regel nach etwa 1840 entstandenes Archivgut in dem für Hochschularchive<br />

typischen Umfang von 1.000 Regalmetern verfügt. Es ist<br />

durchaus nicht hysterisch, wenn ich annehme, dass diese 1.000 Regalmeter<br />

ohne bestandserhaltende Maßnahmen innerhalb von 100 Jahren einen Zustand<br />

erreichen, der keine normale Benutzung mehr erlaubt. Die Rettungsmaßnahmen<br />

wären also innerhalb der nächsten 100 Jahre zu realisieren.<br />

Nun kostet die Entsäuerung von Archivgut heute rund 2.000 € pro<br />

Regalmeter, wenn ein Massenverfahren gewählt wird. Bei einer Konservierung<br />

im Einzelblattverfahren kann sich der Meterpreis leicht auf über<br />

3.500 € belaufen, den archivseitigen Aufwand für Vor- und Nachbereitung<br />

nicht eingerechnet.<br />

Eine Verfilmung ist etwas kostengünstiger. Aber auch hier müssen um<br />

1.500 € je Regalmeter kalkuliert werden. Auch sind hier Folgekosten zu<br />

berücksichtigen, sei es für den Betrieb von Filmlesegeräten oder für Digitalformen<br />

der Verfilmung.<br />

Je nachdem, ob man nun einen Meterpreis von 1.500, 2.000 oder 3.500 €<br />

für den langfristigen Erhalt von 1.000 Regalmetern säurehaltigen Papiers<br />

zugrundelegt, wäre über 100 Jahre ein jährlicher Aufwand von 15.000,<br />

48 Universitätsreden 73<br />

Integrierte Bew ertung<br />

20.000 oder 35.000 € zu erbringen. Selbst wenn man alle bekannten und<br />

populären Wege zur Beschaffung von Finanzmitteln abgeschritten hat,<br />

wird ein Hochschularchiv kaum darauf setzen können, regelmäßig die<br />

genannten Summen aufzubringen.<br />

Nach diesem vielleicht etwas schulmeisterlichen Rechenexempel komme<br />

ich zu meinem zweiten Punkt: Auch die Bemessenheit des Magazinraums<br />

wird uns vermehrt zur Prioritätensetzung bei der Bewertung zwingen. Mit<br />

Übernahmeraten fortzufahren, wie sie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts<br />

das Bild zumal der staatlichen Archivierungspraxis geprägt<br />

haben, dürfte für fast alle Kollegen angesichts ihrer aktuellen Aussichten<br />

auf Einrichtung neuer Magazine ausgeschlossen sein.<br />

Jedes Archiv bräuchte eine Vorstellung, welche Übernahmemengen langfristig<br />

vertretbar sind. Können wir es uns leisten, auf Dauer ohne die<br />

Einschätzung eines langfristigen Maximums zu wirtschaften? Ich meine<br />

hier kein hartes jährliches Budget, nach dessen Ausschöpfung vor Jahresschluss<br />

ein prominenter Nachlass dem Reißwolf überantwortet wird. Ich<br />

denke eher an ein Bewusstsein für das Übernahmevolumen, das in langfristig<br />

erhaltbares und gut zugängliches Archivgut umgesetzt werden kann.<br />

Natürlich lässt sich so etwas nicht standardisieren. Ein mit Übernahmerückständen<br />

konfrontiertes Archiv in der Aufbauphase wird hier über<br />

viele Jahre anders rechnen als eine etablierte Institution.<br />

Vielleicht täten wir ganz gut daran, uns Argumente zu überlegen, warum<br />

ein Hochschularchiv sich nicht darauf beschränken könne, wie nun das<br />

Landesarchiv Nordrhein-Westfalen jährlich ein Prozent der angebotenen<br />

Unterlagen zu archivieren. Das Argument, mit Universitätsverwaltung und<br />

Fakultäten seien wir für viele Schriftgutbildner mit einem besonders<br />

hohen Anteil archivwürdiger Unterlagen zuständig, könnte sich leicht als<br />

zu abstrakt erweisen. Wer Forderungen nach einer starken Einschränkung<br />

der Übernahmequoten begegnen möchte, hat vielleicht bessere Aussicht<br />

auf Erfolg, wenn er den Archivträger vor die Entscheidung stellen kann,<br />

auch in dessen Augen unverzichtbare, ihm in einer Aufzählung vor Augen<br />

geführte Informationen zu erhalten.<br />

Als dritte ressourcenbindende Engstelle des Archivbetriebs möchte ich<br />

auf die Problematik der Erschließungsrückstände und die Verfügbarkeit<br />

von Erschließungsdaten eingehen. Wir wissen alle, aus welch’ unterschied-<br />

Universitätsreden 73 49


Klaus Nippert<br />

lichen Gründen Zugänge über viele Jahre nur durch eine provisorische<br />

Abgabeliste erschlossen verbleiben. Wir dürfen aber auch nicht verkennen,<br />

dass sich gegenwärtig mit der Digitalisierung der Findmittel auf der Ebene<br />

der Titelaufnahmen und ihrer bald stark ausgedehnten Online-<br />

Präsentation eine Entwicklung vollzieht, die ,ungehobene Schätze‘ fragwürdiger<br />

macht als bisher. Wenn gerade anspruchsvolle und daher besonders<br />

willkommene Archivbenutzer dazu übergehen, ihre Forschungsprojekte<br />

danach zu konzipieren, wo geeignetes Archivgut online nachweisbar<br />

ist, werden Archive, deren Findmittel den Weg auf fremde<br />

Bildschirme nicht gefunden haben, ein Nachsehen haben. Gut denkbar,<br />

dass sich die Benutzer auf Archive mit online erreichbaren Findmitteln<br />

konzentrieren und in einer – im Bibliothekswesen schon geläufigen –<br />

,Now-or-never-Mentalität‘ dasjenige außen vor lassen, was nicht frühzeitig<br />

in die Projektplanung Eingang findet. Man kann deshalb fragen, ob ein<br />

großer Anteil unerschlossener Bestände nicht als Malus wirksam wird.<br />

Natürlich ist es zu früh, um einzuschätzen, wieviel nicht online erschlossenes<br />

Material sich ein Archiv wird leisten können. Dass wir uns immer<br />

weiter von Verhältnissen wegbewegen, in denen es vielleicht genügt, wenn<br />

Archivare das Wissen um ihre Bestände im Kopf und in provisorischen<br />

Listen speichern, scheint mir aber ebenso überzeugend wie der Gedanke,<br />

dass auch die Erschließungskapazität eine Archivs ein legitimes<br />

Bewertungskriterium sein kann.<br />

Papierzerfall, knapper Magazinraum und eine wohl zunehmende Problematik<br />

von Erschließungsrückständen könnten als Stichworte eigentlich<br />

genügen, um zu begründen, weshalb archivische Bewertung nicht nur als<br />

die nach absoluten Wertkriterien gefällte Entscheidung zwischen ARCHIV-<br />

WÜRDIG und KASSABEL zu denken ist, sondern auch als ein Prozess,<br />

der integriert ist in das materielle Koordinatensystem des Archivs – eben<br />

in Ansehung der Mittel für Bestandserhaltung, Magazinraum und Bearbeitungskapazitäten.<br />

Natürlich findet und fand diese Integration schon immer in irgendeiner<br />

Weise statt – oft wohl mit der Präzision des Augenmaßes, mal mehr, mal<br />

weniger genau. Man kann hier eine Parallele zu dem sprichwörtlichen<br />

,Fingerspitzengefühl‘ in der Bewertungsdiskussion seit der ersten Hälfte<br />

des 20. Jahrhunderts ziehen. Gegen Forderungen nach Methodik und<br />

50 Universitätsreden 73<br />

Integrierte Bew ertung<br />

Nachvollziehbarkeit der Einzelentscheidung hat sich das Schlagwort des<br />

Fingerspitzengefühls nicht behauptet. Und für die Fortführung einer<br />

durch Augenmaß integrierten Bewertungspraxis spricht nicht eben die Tatsache,<br />

dass in den zurückliegenden Jahrzehnten – so erfreulich der Zuwachs<br />

an Planstellen im Archivwesen auch gewesen ist – mancher Wechsel<br />

auf eine Zukunft gezogen wurde, die sich für Archive weniger komfortabel<br />

als bisher zu gestalten scheint.<br />

Wenn wir gegenüber einem Archivträger, der eine Präzisierung unseres<br />

Betriebskonzepts erwartet, darauf bestehen, die Bewertungsentscheidung<br />

nach wie vor durch Augenmaß in unsere materiellen Gegebenheiten einzupassen,<br />

werden wir mindestens Punkte vergeben, uns vielleicht sogar im<br />

Korsett einer vorgeschriebenen Übernahmequote wiederfinden. Wie sehr<br />

der bereits angesprochene Präzedenzfall einer einprozentigen Quote für<br />

das Landesarchiv Nordrhein-Westfalen als Muster für Archive der Fachgruppe<br />

8 geeignet ist, mag eine jede und ein jeder bei sich ermessen. Ich<br />

glaube, wir wären gut beraten, wenn wir uns die Vorteile einer selbständigen<br />

Besetzung des Themas sicherten.<br />

Die Bestimmung eines nach Prioritäten gewichtenden Dokumentationsziels<br />

kann hier schon deshalb helfen, weil so eine genauere Übersicht über<br />

die Arbeitsstrecke entstünde und die Einschätzung erleichtert würde, in<br />

welchem Grad die gesteckten Ziele mit den verfügbaren Mitteln zu erreichen<br />

sind. Gegenüber Bestrebungen zur Mittelkürzung könnte ein solches<br />

Instrument eingesetzt werden, um einsichtig zu machen, dass schon die<br />

bisher verfügbaren Mittel kaum für den langfristigen Erhalt unverzichtbarer<br />

Informationen ausreichen und welche Einschnitte bei der Umsetzung<br />

von Sparmaßnahmen unumgänglich wären.<br />

Welche Funktion können Dokumentationsziele haben? Sicherlich geht<br />

es hier zu einem großen Teil darum, den unausgesprochenen Konsens bewusst<br />

und reflektierbar zu machen, ohne aber Unvorhergesehenes auszuschließen<br />

und ohne individuelle Prioritätensetzungen zu diskreditieren.<br />

Auf keinen Fall aber sollte ein Dokumentationsziel die Reduktion auf ein<br />

Minimalprogramm legitimieren.<br />

Unverzichtbare Bestandteile eines Überlieferungsplans wären sicherlich<br />

vollständige Informationen über:<br />

Universitätsreden 73 51


Klaus Nippert<br />

– die Entwicklung der Organisationsstruktur einer Hochschule und<br />

ihrer Einheiten wie Fakultäten und Institute<br />

– den Personalbestand des Lehrkörpers und die Besetzung der wichtigsten<br />

Ämter wie Rektorat und Dekanate<br />

– die Stammdaten der Studierenden<br />

– die abgelegten Abschlussprüfungen<br />

– die verliehenen akademischen Grade, Lehrerlaubnisse und Ehrungen<br />

– die Studiengänge und die dafür geltenden Bestimmungen<br />

Hier dürfte außer Diskussion stehen, dass ein vollständiger Informationserhalt<br />

höchste Priorität hat. Jedoch ist schon bei den genannten Gegenständen<br />

mit unterschiedlichen Ansichten über die angestrebte Informationstiefe<br />

zu rechnen.<br />

So wäre vielleicht zu diskutieren:<br />

– Sollen über die Studierenden neben den Matrikeldaten weitere Daten,<br />

etwa zu den Studienverläufen überliefert werden?<br />

– Wie sind Informationen zum Ablauf von Prüfungen zu überliefern?<br />

Spätestens bei der Frage, ob auch die Prüfungsarbeiten zu überliefern<br />

sind, besteht hier wohl Gelegenheit zu Diskussion.<br />

– Bei welchen Gruppen des Hochschulpersonals ist die vollständige<br />

Überlieferung des Personalbestands verzichtbar?<br />

(Natürlich ließe sich die Reihe fortsetzen.)<br />

Neben der Auswahl zu dokumentierender Gegenstände und der Orientierungshilfe<br />

hinsichtlich der Dokumentationstiefe erscheint mir auch die<br />

Aufgabenverteilung zwischen verschiedenen Archiven als sinnvoller Gegenstand<br />

von Dokumentationszielen. Durch die Vermeidung von Doppelüberlieferungen<br />

etwa zu Fakultätentagen oder zu an mehreren Hochschulen<br />

angesiedelten Forschungsprojekten ließen sich Ressourcen sparen. Auch<br />

würde sich wohl manche Kollegin und mancher Kollege freuen, wenn sie<br />

oder er wüßte, an welcher Stelle für die Überlieferung von Forschungsprojekten<br />

gesorgt werden soll, die von einer der großen Fördereinrichtungen<br />

getragen wurden. Und schließlich könnte bei der Arbeit an einem<br />

Dokumentationsziel darüber nachgedacht werden, ob – vor allem im Hinblick<br />

auf die Überlieferung von Forschungsergebnissen – nicht auch die de<br />

52 Universitätsreden 73<br />

Integrierte Bew ertung<br />

facto bestehende Aufgabenverteilung zwischen Achiven als den Trägern<br />

einer vor allem unikalen Überlieferung einerseits und den Bibliotheken als<br />

den vorrangigen Überlieferungsträgern für publizierte Informationen<br />

andererseits zu betrachten ist, um daraus Leitlinien für eine ressourcensparende<br />

Archivierung abzuleiten. Gerade im Hinblick auf die sogenannte<br />

,Graue Literatur‘ dürfte die Frage erlaubt sein, ob unser Arbeitsfeld<br />

bereits deutlich genug umrissen ist.<br />

Es erscheint mir nun gut möglich, dass sich die Vorstellungen meiner<br />

Kollegen von einem Dokumentationsziel deutlich von dem unterscheiden,<br />

was ich hier in wenigen Worten angedeutet habe. Das Interesse an einem<br />

Arbeitsinstrument, das uns einen nach Prioritäten gewichtenden Überblick<br />

über unser Arbeitsgebiet verschafft, erscheint mir aber wegen der<br />

skizzierten Engstellen so groß, dass die möglichen Unterschiede nicht<br />

abschrecken sollten, die Arbeit aufzunehmen.<br />

Universitätsreden 73 53


Dokumentationsziele und Aspekte der Bewertung<br />

im Archiv der Max-Planck-Gesellschaft<br />

Marion Kazemi<br />

Die seit den 90er Jahren in Deutschland geführte Bewertungsdiskussion 1<br />

bewirkte zunächst eine Polarisierung zwischen Verfechtern des Evidenzprinzips<br />

2 , das bei der Bewertung der Akten auf die mehr formale Dokumentation<br />

der Aufgaben einer Behörde abstellt, und denen, die die inhaltliche<br />

bzw. funktionale Bewertung der Akten als die wichtigere Aufgabe<br />

ansehen. Letztere zielt stärker auf den Informationsgehalt, der beispielsweise<br />

für die Lokalgeschichte unabdingbar ist, weil sie vorrangig Personen,<br />

Orte und Ereignisse zum Gegenstand hat. 3 Diese Sicht kommt meines<br />

Erachtens den meisten Historikern entgegen, die eher inhaltliche als strukturelle<br />

Fragen an das überlieferte Schriftgut stellen. Die unterschiedliche<br />

Prioritätensetzung mag sich zum Teil aus der Art des übernommenen<br />

Archivguts erklären; insgesamt scheint mir aber eine Annäherung der<br />

Standpunkte zu erfolgen bzw. sich die Einsicht durchzusetzen, dass die<br />

Wahrheit etwa in der Mitte liegt und beide Gesichtspunkte bei der Bewertung<br />

zu beachten sind.<br />

Welches sind nun die vorrangigen Dokumentationsziele unseres Archivs,<br />

welche Aspekte sind für die Bewertung unseres Archivguts relevant? Um<br />

dies abzuklären, muss man sich zunächst einmal den Zw eck und die Struktur<br />

der Max-Planck-Gesellschaft vergegenwärtigen.<br />

1 Robert Kretzschmar: Die neue „archivische Bewertungsdiskussion“ und ihre Fußnoten.<br />

Zur Standortbestimmung einer fast zehnjährigen Kontroverse, in: Archivalische Zeitschrift<br />

82 (1999), S. 7-40.<br />

2 Theodor Schellenberg: Die Bewertung modernen Verwaltungsschriftguts. Übers. u. hrsg.<br />

v. A. Menne-Haritz. (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg Bd. 17) Marburg<br />

1990, S. 27ff.<br />

3 Peter K. Weber: Dokumentationsziele lokaler Überlieferungsbildung, in: Der Archivar<br />

54 (2001), S. 206-212, hier: 210f.<br />

Universitätsreden 73 55


Marion Kazemi Dokumentationsziele und Aspekte<br />

Die Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften – so ihr<br />

voller Name, kurz: MPG – wurde 1946/1948 als eingetragener Verein gegründet,<br />

um die Wissenschaften vor allem durch Unterhaltung von Forschungsinstituten<br />

zu fördern, in denen wissenschaftliche Forschung frei<br />

und unabhängig betrieben wird. Bis heute ist dies vor allem Grundlagen-,<br />

aber keine Auftragsforschung. Die MPG setzt die Tradition der bereits<br />

1911 zu demselben Zweck und ebenfalls privatrechtlich gegründeten<br />

Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften – kurz:<br />

KWG – fort, die nach dem 2. Weltkrieg liquidiert wurde. Während sich die<br />

KWG zunächst rein privat aus Aufnahme- und Mitgliedsbeiträgen sowie<br />

aus Spendengeldern finanzierte und erst seit der Inflation 1923 auf Zuschüsse<br />

von Reich und Ländern angewiesen war, wurde und wird die Max-<br />

Planck-Gesellschaft überwiegend (ca. 85 Prozent) von Bund und Ländern<br />

finanziert. Der Etat – 2005: 1,33 Milliarden € – entspricht etwa dem einer<br />

großen deutschen Universität wie der Ludwig-Maximilians-Universität<br />

München. Sie besitzt daneben weiterhin privates Vermögen, das in den<br />

Haushalt einfließt und eine gewisse Flexibilität z. B. bei Berufungsverhandlungen<br />

bietet; außerdem erhält sie Forschungsdrittmittel.<br />

An der Spitze der Max-Planck-Gesellschaft steht der Präsident, der die<br />

Grundzüge der Wissenschaftspolitik bestimmt. Er wird unterstützt vom<br />

Vereinsvorstand, dem Verwaltungsrat, der Entscheidungen vorbereitet und<br />

vor allem den Haushaltsplan aufstellt. Das eigentliche Entscheidungsgremium<br />

ist jedoch der Senat, der den Präsidenten und den Verwaltungsrat<br />

wählt, aber vor allem über die Gründung und Schließung von Instituten<br />

oder Abteilungen beschließt sowie die Berufung von Direktoren bzw. Wissenschaftlichen<br />

Mitgliedern. Wie jeder Verein hält auch die MPG jährlich<br />

eine Mitgliederversammlung ab, die u. a. Satzungsänderungen beschließen<br />

kann und den Senat wählt. Ein weiteres Gremium ist der Wissenschaftliche<br />

Rat, in dem alle Direktoren und Wissenschaftlichen Mitglieder vertreten<br />

sind, die wiederum drei fachlich gegliederten Sektionen zugeordnet<br />

sind. Hier werden die wissenschaftlichen Angelegenheiten der Gesellschaft<br />

erörtert, z. B. Berufungen. Die laufenden Geschäfte der Gesellschaft werden<br />

von der Generalverwaltung geführt, die die genannten Organe der<br />

Gesellschaft und die Institute bei ihren Verwaltungsaufgaben unterstützt.<br />

Abb. 1: Organogramm der MPG.<br />

56 Universitätsreden 73 Universitätsreden 73 57


Marion Kazemi Dokumentationsziele und Aspekte<br />

Abb. 2: Verteilung der Max-Planck-Institute.<br />

Die den drei Sektionen zugeordneten Institute und Forschungseinrichtungen<br />

der MPG arbeiten im Bereich der Biowissenschaften und Medizin, der<br />

Mathematik, Chemie, Physik, z. T. auch in technischer – insbesondere<br />

materialwissenschaftlicher – Ausrichtung, sowie auf geistes-, human-, sozialund<br />

rechtswissenschaftlichem Gebiet, wobei sie bevorzugt interdisziplinär<br />

arbeiten und gern neue Forschungsgebiete aufgreifen, die an den Hochschulen<br />

noch nicht etabliert oder von den Apparaturen her zu aufwendig<br />

sind. Die derzeit 78 Institute sind über ganz Deutschland verteilt, meist an<br />

Universitätsstandorten, außerdem gibt es ein Institut in den Niederlanden<br />

und zwei kunstwissenschaftliche in Italien. Die Direktoren und Wissenschaftlichen<br />

Mitglieder, deren Status etwa dem von C4- bzw. W3-Professoren<br />

entspricht, werden bis heute mehr oder weniger nach dem sogenannten<br />

Harnack-Prinzip ausgewählt, benannt nach dem ersten Präsidenten<br />

der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, dem Theologen und Wissenschaftspolitiker<br />

Adolf von Harnack. Dieses Prinzip besagt, dass man ein Institut<br />

oder eine Abteilung um einen hervorragenden Forscher ganz nach dessen<br />

Geschmack und Bedürfnissen quasi „um ihn herumbaut“, also: erst der<br />

Forscher, dann das Institut. Und wenn man keine geeignete Persönlichkeit<br />

findet, wird das geplante Institut gar nicht erst gegründet, oder – wie derzeit<br />

das Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen – geschlossen<br />

bzw. inhaltlich umgewidmet. Das heute allerorten gern gebrauchte Wort<br />

Exzellenz hat also in der Kaiser-Wilhelm- / Max-Planck-Gesellschaft schon<br />

eine lange Tradition. Berühmte Forscher haben in ihr gearbeitet, eine Vielzahl<br />

von Nobelpreisträgern ist aus beiden Gesellschaften hervorgegangen:<br />

So waren bzw. sind insgesamt neunundzwanzig Wissenschaftliche<br />

Mitglieder und vier Präsidenten Nobelpreisträger, zwanzig weitere wurden<br />

als wissenschaftliche Mitarbeiter oder Postdoktoranden an Instituten der<br />

Gesellschaft ausgebildet.<br />

Die Aufgabe unseres erst 1976 gegründeten Archivs zur Geschichte der<br />

Max-Planck-Gesellschaft ist es, alle Archivalien, ungedrucktes, aber auch<br />

gedrucktes Material sowie audiovisuelle und nun auch elektronische<br />

Dokumente zu ermitteln, zu übernehmen und zu sichern, die für die Geschichte<br />

der Kaiser-Wilhelm- / Max-Planck-Gesellschaft von Bedeutung<br />

sind, und sie sowohl intern für die Gesellschaft zur Wahrnehmung ihrer<br />

58 Universitätsreden 73 Universitätsreden 73 59


Marion Kazemi<br />

Aufgaben als auch für die historische Forschung zu erschließen. 4 Das allgemein<br />

und umfassend formulierte Dokumentationsziel unseres Archivs ist<br />

es also, alles zu erfassen, was für die Geschichte von KWG und MPG<br />

Bedeutung hat. Was dies im einzelnen ist oder sein sollte und wie sich dieses<br />

Ziel erreichen lässt, gilt es hier näher zu erörtern.<br />

Fast zeitgleich mit dem Aufbau des mit 30 Jahren noch sehr jungen<br />

Archivs der Max-Planck-Gesellschaft begann seine Benutzung durch Wissenschaftshistoriker;<br />

daher konnten nicht nur die von der Max-Planck-<br />

Gesellschaft selbst an die Aufbewahrung ihrer Unterlagen geknüpften Anforderungen,<br />

sondern auch die von der Forschung an unser Archivgut gestellten<br />

Fragen nahezu von Anfang an bei der Formulierung der Dokumentations-<br />

und Bewertungsziele berücksichtigt werden.<br />

Für die Max-Planck-Gesellschaft selbst, also ihre Organe und Institute,<br />

fungiert das Archiv zunächst als Gedächtnis. Neben rechtlich relevantem<br />

Schriftgut wie Verträgen oder Behörden- und Gerichtsentscheidungen sollten<br />

daher alle wichtigen Ereignisse und Entwicklungen dokumentiert sein,<br />

um einzelne Vorgänge, die Entstehung interner Strukturen und Handlungsinstrumente,<br />

Kooperationen, bi- und internationale Beziehungen<br />

datieren bzw. analysieren zu können, um Entwicklungen wie z. B. die umstrittene<br />

Einführung der Mitbestimmung Ende der 60er Jahre oder der<br />

Betriebsräte 1970, aber auch der elektronischen Datenverarbeitung innerhalb<br />

der MPG nachzeichnen und ihre Anreger, Befürworter oder Gegner<br />

aufzeigen zu können. Derartige Fragen tauchen nicht nur anlässlich von<br />

Jubiläen auf, sondern werden beispielsweise auch für Stellungnahmen oder<br />

für Vorträge von Präsidiumsmitgliedern benötigt. Die Arbeitsweise und<br />

Besonderheiten der einzelnen Institute oder ihre Strukturgeschichte (=<br />

Behördengeschichte) sollte sich ebenso nachvollziehen lassen wie die ihrer<br />

wissenschaftlichen Leistungen bzw. die von einzelnen Wissenschaftlern.<br />

Weiter interessieren Entdeckungen und Erfindungen, die Entstehung und<br />

4 Führer durch das Archiv zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft. Anläßlich des<br />

25jährigen Jubiläums 1978-2003 unter Beteiligung aller Mitarbeiter neu hrsg. von<br />

Eckart Henning. (Veröffentlichungen aus dem Archiv zur Geschichte der Max-Planck-<br />

Gesellschaft Bd. 17) Berlin 2003, S. 47ff.<br />

60 Universitätsreden 73<br />

Dokumentationsziele und Aspekte<br />

Entwicklung neuer Forschungsgebiete, aber auch die einzelner Geräte und<br />

Methoden, die möglicherweise die Weiterentwicklung einer Disziplin revolutionieren<br />

– man denke nur an die Sequenzanalyzer zur Protein- und<br />

Desoxyribonukleinsäure-Bestimmung bzw. in ihrer Folge die entsprechenden<br />

Synthesizer, die für die Aufklärung von Genomen und die daraus<br />

resultierende Medikamentenentwicklung von größter Bedeutung sind.<br />

Prototypen solcher Geräte wurden an Max-Planck-Instituten entwickelt.<br />

Die Wissenschaftshistoriker, die unser Archiv benutzen, arbeiten vorrangig<br />

biographisch, institutionen- oder disziplingeschichtlich, wobei ihre<br />

Fragestellungen heute weiter gefasst sind, d. h. dass sie Personen und<br />

Institutionen im Kontext ihres sozialen und politischen Umfelds oder ihr<br />

Verhalten in bestimmten Zeitabschnitten oder politischen Systemen erforschen<br />

wie z. B. in den beiden Weltkriegen – Thema militärische Geheimforschung<br />

oder kriegswichtige Forschung –, in der Zeit des Nationalsozialismus<br />

bzw. in der Nachkriegszeit – Themen: Vergangenheitsbewältigung<br />

und forschungspolitische Neuausrichtung in der Bundesrepublik. Auch die<br />

Entwicklung von Netzwerken, seien es persönliche oder institutionelle,<br />

wird zunehmend zum Gegenstand historischer Forschung. Und last but<br />

not least sind forschungspolitische und wissenschaftsethische Fragen ein<br />

wichtiger Themenbereich innerhalb der MPG, die seitens des Archivs dokumentiert<br />

werden müssen. Sie liegen oft eng beieinander – man denke<br />

nur an die Kernenergiedebatte seit den 50er Jahren, an die Tierschutzgesetzgebung<br />

oder in jüngster Zeit an die Gentechnik- und die Stammzelldebatte,<br />

in die die MPG wie auch andere Forschungsorganisationen in<br />

ihrem Interesse gestaltend einzugreifen versuchen, um den Anschluss an<br />

die internationale Forschung nicht zu verlieren.<br />

Sie sehen, dass ein umfassender Bereich zu dokumentieren ist, und Sie<br />

werden vielleicht fragen, wie sich das in der Archivpraxis bewerkstelligen<br />

lässt. Neben einer möglichst guten Kenntnis des Archivguts sollte der<br />

MPG-Archivar erstens selbstverständlich auch die Geschichte und die<br />

Struktur der KWG und der MPG gut kennen; zweitens sollte er die aktuelle<br />

Entwicklung seiner Gesellschaft verfolgen. Um ersteres zu erreichen,<br />

haben wir, Prof. Henning, der bis zu Beginn dieses Jahres das Archiv leitete,<br />

und ich Chroniken der Kaiser-Wilhelm- und der Max-Planck-Gesellschaft<br />

mit Quellennachweisen erarbeitet, die laufend weitergeführt und<br />

Universitätsreden 73 61


Marion Kazemi<br />

aktualisiert werden – das nächste Jubiläum steht 2011 an. Diese Chroniken<br />

entsprechen der von Hans Booms 1999 vorgeschlagenen Erstellung einer<br />

Zeitchronik anstelle eines Dokumentationsplans 5 und beinhalten in gewissem<br />

Maße die Kenntnis der Strukturen und Aufgaben der abgebenden<br />

Stelle. Durch diese quellenkundlichen Arbeiten haben wir einen guten<br />

Einblick in die Bestände und in die Geschichte beider Gesellschaften<br />

erhalten, haben aber auch erkannt, wo Überlieferungs- und Forschungslücken<br />

bestehen. Die laufende Entwicklung verfolgen wir anhand der<br />

Protokolle der verschiedenen Organe der Max-Planck-Gesellschaft, die wir<br />

nicht erst im Rahmen von Aktenabgaben erhalten, sondern mit denen wir<br />

regelmäßig und aktuell versorgt werden. So erkennen wir relativ schnell<br />

neue Entwicklungen, deren Kenntnis z. B. bei der Bewertung von Nachbzw.<br />

Vorlässen wichtig ist. Anhand der aktuellen Pressemitteilungen verfolgen<br />

wir, welche Forschungsergebnisse besonders bemerkenswert sind.<br />

Presseberichte und Personalnachrichten über Auszeichnungen und Preise<br />

sind ein Mittel, um herausragende Forscher zu erkennen, um deren Papiere<br />

wir uns einmal besonders bemühen sollten.<br />

Als nützlich erweist sich auch unser Archivbeirat, in dem neben Archivaren<br />

und Historikern auch ein Forschungsmanager und Wissenschaftliche<br />

Mitglieder aus allen drei Sektionen der MPG vertreten sind. Letztere können<br />

uns sowohl Hinweise auf wichtige Entwicklungen geben als auch<br />

Einschätzungen von Mentalitäten ihrer Kollegen hinsichtlich ihres historischen<br />

Bewusstseins. Von ihnen ging z. B. die Anregung aus, sich um die<br />

Erfassung von Geräteprototypen zu kümmern, die innerhalb der Max-<br />

Planck-Institute entwickelt wurden, wobei offengelassen wurde, wo diese<br />

später einmal aufbewahrt werden sollten. Zu den Aufgaben der Wissenschaftlichen<br />

Mitglieder im Beirat gehört auch die Beratung oder Vermittlung<br />

von Experten, wenn bei der Bewertung oder Erschließung wissen-<br />

5 Hans Booms: Überlieferungsbildung. Archivierung als eine soziale und politische<br />

Tätigkeit, in: Friedrich Beck / Wolfgang Hempel / Eckart Henning (Hrsg.): Archivistica<br />

docet. Beiträge zur Archivwissenschaft und ihres disziplinären Umfelds. (Potsdamer<br />

Studien Bd. 9) Potsdam 1999, S. 77-89, hier S. 86.<br />

62 Universitätsreden 73<br />

Dokumentationsziele und Aspekte<br />

schaftlicher Unterlagen in Nachlässen Probleme auftauchen, die wir nicht<br />

selbst lösen können.<br />

Ehe ich mich nun Fragen der Bewertung zuwende, lassen Sie mich zum<br />

besseren Verständnis skizzieren, w elche Art v on Archiv gut in das Archiv<br />

gelangt und woher es kommt. Robert Kretzschmar bezeichnet Archivgut<br />

frei nach J. G. Droysen als „Überreste“ 6 , was auf die Überlieferung in der<br />

Max-Planck-Gesellschaft recht gut zutrifft.<br />

Als zentrales Archiv der Gesellschaft übernimmt das Archiv die Akten<br />

der Generalverwaltung und der Leitungsorgane, sobald sie dort nicht mehr<br />

laufend benötigt werden. Hier hat unser Archiv also auch die Funktion<br />

eines Zwischenarchivs, dessen Schriftgut großenteils erst zu einem späteren<br />

Zeitpunkt bewertet wird. Hierzu rechnen auch die Handakten des<br />

Präsidiums und der leitenden Mitarbeiter, in denen sich häufig wichtige<br />

Vorgänge befinden, die eigentlich in die Registratur gehören. Aus den<br />

Instituten selbst bzw. einzelnen Abteilungen, aus den Forschungsstellen<br />

oder Arbeitsgruppen gelangen die Akten dagegen meist erst dann in das<br />

Archiv, wenn diese geschlossen werden, seltener bei Platzmangel.<br />

Neben der Übernahme von Altregistraturen liegt der Schwerpunkt der<br />

Erwerbungen auf den Nachlässen hervorragender Persönlichkeiten, vor<br />

allem der Wissenschaftlichen Mitglieder und Direktoren, die in der Kaiser-<br />

Wilhelm- bzw. in der Max-Planck-Gesellschaft tätig waren. Inzwischen bewahren<br />

wir die Nachlässe von 220 Personen, darunter die von 11 Nobelpreisträgern.<br />

7 Mehr als ein Viertel der Nachlasser lebt noch, daher sprechen<br />

wir bei diesen von „Vorlässen“. In Ergänzung und als privates Korrektiv<br />

der Sachakten der Institute legt das Archiv größten Wert auf die<br />

Nachlässe, da sie nicht nur häufig lebendiger als die Dienstakten sind, sondern<br />

sich aus ihnen der Prozess der persönlichen Willensbildung und Ent-<br />

6 Robert Kretzschmar: Tabu oder Rettungsanker? Dokumentationspläne als Instrument<br />

archivischer Überlieferungsbildung, in: Der Archivar 55 (2002), S. 301-306, hier S. 301.<br />

7 Marion Kazemi: Gelehrten-Nachlässe im Archiv zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft<br />

und ihre Bedeutung für die Forschung, in: Archive in Thüringen. Sonderheft<br />

2004: Nachlässe in Archiven, S. 24-29.<br />

Universitätsreden 73 63


Marion Kazemi<br />

scheidungsfindung, das forschungspolitische und organisatorische Wirken,<br />

das Aufgreifen neuer Forschungsrichtungen und die dabei angewandten<br />

Methoden, aber auch Fehlschläge und Irrwege rekonstruieren lassen, deren<br />

Dokumentation ebenfalls von Interesse ist, will man nicht nur eine reine<br />

Erfolgsgeschichte überliefern. Hinzu kommt bei uns die Bedeutung des<br />

Nachlass-Schriftgutes als Ersatzüberlieferung zu verlorenen Institutsakten.<br />

8 Außerdem gelangen in den Instituten zuweilen Geschäftsführungsoder<br />

sogar Verwaltungsakten in die Nachlässe, wie umgekehrt Nachlässe<br />

manchmal in den Institutsakten enthalten sind; die Übergänge sind<br />

fließend. Da die Max-Planck-Gesellschaft aber privatrechtlich organisiert<br />

ist und sowohl ihre Institute als auch die Direktoren eine außerordentliche<br />

Eigenständigkeit besitzen, ist hier eine Reglementierung nicht durchsetzbar.<br />

Schon die im Direktorenhandbuch der MPG 9 abgedruckte Anweisung,<br />

nicht mehr benötigte Akten und Nachlässe dem Archiv anzubieten<br />

bzw. nicht ohne seine Hinzuziehung auszusondern, wird nicht immer<br />

befolgt.<br />

Außer den schriftlichen Zeugnissen gehört zu den Provenienzbeständen<br />

des Archivs eine Planabteilung, in der die Bauzeichnungen der Kaiser-<br />

Wilhelm-Institute aufbewahrt werden, aber auch die von Max-Planck-<br />

Instituten, sobald sie von der Bauabteilung der Generalverwaltung nicht<br />

mehr benötigt werden. Außerdem gibt es eine umfangreiche Fotosammlung<br />

sowie ein Film- und Schallarchiv, die beide aus lagerungs- und klimatechnischen<br />

Gründen getrennt von den Provenienzbeständen aufbewahrt<br />

werden und insgesamt eine Mischung aus mit den Akten oder Nachlässen<br />

übernommenem Archivgut und hinzuerworbenem Sammlungsgut sind,<br />

wie z. B. Belegexemplare von Filmen.<br />

Das Archivgut wird ergänzt durch Sammlungen und Dokumentationen<br />

im engeren Sinne. Die archivischen Sammlungen und Selekte enthalten<br />

8 Eckart Henning: Wissen, Wissenschaft und Wissenschaftsgeschichte. Aus der Sicht des<br />

zentralen Archivs zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft, in: ders: Beiträge zur<br />

Wissenschaftsgeschichte Dahlems. (Veröffentlichungen aus dem Archiv zur Geschichte<br />

der Max-Planck-Gesellschaft Bd. 13) 2., erw. Aufl. Berlin 2004, S. 199-219, hier S. 214f.<br />

9 Max-Planck-Gesellschaft (Hrsg.): Direktorenhandbuch. 2. Aufl. [München 2000],<br />

S. 85f.<br />

64 Universitätsreden 73<br />

Dokumentationsziele und Aspekte<br />

zum einen Stücke aus Provenienzbeständen, die – ähnlich wie die AV-<br />

Medien – aus lagerungstechnischen Gründen getrennt von den Beständen<br />

aufbewahrt werden. Dies sind z. B. Urkunden, Plakate, Medaillen, Orden<br />

und Ehrenzeichen, aber auch Realia oder Musealia, die mangels eines eigenen<br />

Museums und zur Bestückung von Ausstellungen in kleinem Umfang<br />

übernommen werden. Hinzu kommen Einzelstücke wie Autographen oder<br />

Manuskripte, die ihren Funktionszusammenhang verloren haben, aber<br />

auch personenbezogene Sammlungen zu Wissenschaftlern, deren Nachlässe<br />

in anderen Archiven liegen, wie z. B. der von Albert Einstein in der<br />

Hebrew University Jerusalem, oder deren Nachlässe weitgehend verlorengegangen<br />

sind, wie die des Physiknobelpreisträgers Max Planck oder des<br />

Chemienobelpreisträgers und „Vaters des Gaskriegs“ Fritz Haber. Von letzterem<br />

sind Nachlass-Splitter in der – ursprünglich für eine Biographie<br />

zusammengetragenen – Sammlung enthalten, die seitens des Archivs kontinuierlich<br />

durch Haber-Autographen angereichert wird.<br />

Um die Geschichte der Gesellschaft und ihrer Institute, aber auch das<br />

Leben und Wirken der in ihr forschenden Wissenschaftler und leitenden<br />

Verwaltungsmitarbeiter umfassend dokumentieren zu können, hat es sich<br />

als nützlich erwiesen, gedrucktes Material ergänzend zu sammeln. Dies<br />

sind vor allem Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, aber auch die Publikationen<br />

der Institute selbst bzw. der Wissenschaftler. Die älteren Zeitungsausschnitte<br />

stammen aus Akten und Nachlässen, aus denen sie herausgelöst<br />

oder kopiert wurden und werden, schon um sie unabhängig von<br />

Schutzfristen für die Benutzung leichter zugänglich zu machen. Sie erweisen<br />

sich immer wieder als ein unentbehrliches Hilfsmittel für Datierungen.<br />

Da es bei der Vielzahl der Max-Planck-Institute und der in ihr arbeitenden<br />

Wissenschaftler (z. Zt. ca. 4.100 Wissenschaftler sowie mehr als<br />

10.000 Diplomanden, Doktoranden, Postdocs und wissenschaftliche Gäste)<br />

nicht mehr möglich ist, alle wissenschaftlichen Publikationen im Archiv<br />

zu sammeln, beschränkt sich das Archiv heute auf die Erfassung der<br />

gedruckten oder vervielfältigten Selbstdarstellungen und Tätigkeitsberichte<br />

der Institute, zumal erwartet wird, dass die Institutsbibliotheken die in<br />

ihren Instituten publizierten wissenschaftlichen Veröffentlichungen selbst<br />

sammeln, was aber leider nicht durchgängig geschieht. Dagegen werden<br />

nach Möglichkeit alle Publikationen aus den Kaiser-Wilhelm-Instituten<br />

Universitätsreden 73 65


Marion Kazemi<br />

gesammelt, da diese durch die Kriegsverluste oft nicht mehr oder nur<br />

schwer greifbar sind. Die Publikationen der Wissenschaftlichen Mitglieder<br />

der Max-Planck-Gesellschaft werden auch heute noch aktiv gesammelt,<br />

d. h. nach Möglichkeit zusammen mit den Vor- und Nachlässen in das<br />

Archiv übernommen, da sie ja die endgültige Form der Forschungsergebnisse<br />

darstellen, die vor allem Naturwissenschaftler häufig nicht in<br />

Manuskriptform aufheben und überliefern.<br />

In den ersten Jahren seines Bestehens übernahm das Archiv zusammen<br />

mit Nachlässen auch die Sonderdrucksammlungen der Wissenschaftler, da<br />

diese Sammlungen ergänzend zu der in den Nachlässen enthaltenen Korrespondenz<br />

das individuelle Netzwerk abbilden. Aus Kapazitätsgründen<br />

ist die Übernahme von Sonderdrucksammlungen heute aber nur noch in<br />

Ausnahmefällen möglich.<br />

Die Bew ertung des in das Archiv gelangten Schriftguts gehört zu den<br />

wichtigsten, zugleich aber mit zu den schwierigsten Aufgaben, entscheidet<br />

sich hier doch, was als archivwürdig erachtet und dauernd aufbewahrt<br />

bzw. was vernichtet und damit zukünftiger Forschung unwiderruflich entzogen<br />

wird. 10 Hierbei wird auch entschieden, wie tief ein Bestand erschlossen<br />

werden und damit, wie gut recherchierbar er sein soll. Auch wenn die<br />

Dokumentationsziele im wesentlichen festgelegt sind, wenn inhaltliche<br />

und methodische Eckpunkte für die Überlieferungsbildung beachtet werden<br />

in der Art, wie sie der Arbeitskreis Archivische Bewertung im Verband<br />

deutscher Archivarinnen und Archivare unlängst zusammengestellt hat 11 ,<br />

10 Eckart Henning: Wahrheit u. Wert eines wissenschaftshistorischen Archivs, in: ders.:<br />

Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte Dahlems. 2., erw. Aufl. Berlin 2004 (Veröffentlichungen<br />

aus dem Archiv zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft Bd. 13), S. 181-<br />

198, hier S. 189ff. – Robert Kretzschmar: Regeln und standardisierte Verfahren zur<br />

Überlieferungsbildung? Zur Komplexität des Bewertungsvorgangs, in: Karsten Uhde<br />

(Hrsg.): Qualitätssicherung und Rationalisierungspotentiale in der Archivarbeit. Beiträge<br />

des 2. Archivwissenschaftl. Kolloquiums der Archivschule Marburg. (Veröffentlichungen<br />

der Archivschule Marburg Bd. 27) Marburg 1997, S. 181-194.<br />

11 Positionen des Arbeitskreises Archivische Bewertung im VdA – Verband deutscher<br />

Archivarinnen und Archivare zur archivischen Überlieferungsbildung. Stand: 15.10.<br />

2004, in: Frank M. Bischoff u. Robert Kretzschmar (Hrsg.): Neue Perspektiven archivischer<br />

Bewertung. (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg 42) Marburg 2005,<br />

S. 195-206; desgl. in: Der Archivar 58 (2005), S. 91-94.<br />

66 Universitätsreden 73<br />

Dokumentationsziele und Aspekte<br />

wird man immer wieder mit Beständen konfrontiert sein, denen man mit<br />

einer schematischen Bewertung kaum gerecht wird. Dies gilt besonders für<br />

Nachlässe. Es sei angemerkt, dass eine erste Bewertung durch das Archiv<br />

bereits erfolgt, ehe die Unterlagen in das Archiv übernommen werden,<br />

nämlich dann, wenn wir die Institute besuchen und vor Ort eine meist<br />

grobe Entscheidung über das archivwürdige bzw. das auf keinen Fall zu<br />

übernehmende Schriftgut treffen.<br />

Bei Arbeitsaufnahme des Archivs vor 30 Jahren war die Bewertungsfrage<br />

zunächst nachrangig, da die Ermittlung überlieferten Schriftguts in den<br />

Instituten und seine Sicherung erst einmal Priorität hatten. Weder bei der<br />

Übernahme noch bei der Erschließung fand eine nennenswerte Bewertung<br />

statt, denn die Akten stammten zu einem Großteil aus der KWG-Zeit und<br />

wiesen ohnehin Überlieferungslücken auf, hatten daher also wirklich den<br />

Charakter von Überresten, und die ersten Nachlässe, um deren Sicherung<br />

sich das Archiv gekümmert hatte, stammten überwiegend von Nobelpreisträgern,<br />

waren also quasi heilig. Die anfangs knappen Magazinkapazitäten<br />

wurden schon nach wenigen Jahren erweitert. So ergab sich die Notwendigkeit<br />

einer Bewertung und damit Reduzierung des übernommenen<br />

Archivguts erst, als kontinuierlich mehr und neuere Bestände in unser<br />

Archiv gelangten. Für uns hatte das den Vorteil, dass wir bereits einen<br />

recht guten Überblick über die Geschichte von KWG und MPG hatten,<br />

mit den Fragen der wissenschaftshistorischen Forschung etwas vertraut<br />

waren und daher besser beurteilen konnten, welche Akten und Unterlagen<br />

das Prädikat „archivwürdig“ verdienten, und welche für die Dokumentation<br />

der Doppelgesellschaft von geringem oder keinem Wert waren.<br />

Die Akten der Präsidenten und Generalsekretäre sowie der übrigen<br />

Organe mit Entscheidungs- oder Beratungskompetenz, also die von Senat,<br />

Verwaltungsrat, Hauptversammlung, Wissenschaftlichem Rat und seinen<br />

Sektionen sind nahezu uneingeschränkt von bleibendem Wert, insbesondere<br />

die Sitzungsunterlagen und -protokolle, da hier alle wichtigen, die<br />

MPG betreffenden Entscheidungen gefällt bzw. vorbereitet werden. Auf sie<br />

wird regelmäßig zurückgegriffen. Die Sektionsakten enthalten die in Kommissionen<br />

erarbeiteten Evaluierungen und Empfehlungen für die zukünftige<br />

Ausrichtung und Weiterentwicklung der Institute sowie für Neuberufungen<br />

und sind damit forschungspolitisch hochinteressant. Die Hand-<br />

Universitätsreden 73 67


Marion Kazemi Dokumentationsziele und Aspekte<br />

akten der Sektionsvorsitzenden – leider nicht alle vollständig erhalten –<br />

ergänzen diese für die Überlieferung der MPG zentralen Unterlagen.<br />

Ein wesentlicher Aspekt bei der Bewertung ist die Vermeidung von<br />

Redundanz. Bedingt durch die Struktur der Gesellschaft finden sich vervielfältigte<br />

Unterlagen wie Rundschreiben der Generalverwaltung in den<br />

Akten der meisten Institute, Protokolle und Sitzungsunterlagen der Gesellschaftsorgane<br />

nicht nur in deren Akten, sondern auch in einer Vielzahl<br />

von Nachlässen. Hier wird jeweils ein Satz bei den Akten der Organe aufbewahrt,<br />

in denen sie entstanden sind, alle Mehrfachstücke werden nach<br />

Prüfung kassiert, sofern sie keine wichtigen Notizen aufweisen.<br />

Im übrigen werden Aktenübernahmen aus der Generalverwaltung zunächst<br />

nur vorsichtig bewertet, da es sich bei ihnen zu einem Großteil<br />

noch um Altregistratur handelt und das Archiv als Zwischenarchiv fungiert.<br />

Die Bewertung wird dadurch erschwert, dass es seit Anfang der 70er<br />

Jahre keinen alle Abteilungen umfassenden Aktenplan mehr gibt und einige<br />

der Abteilungen bis heute keinen erstellt haben, obwohl er seitens des<br />

Archivs schon lange angemahnt wird – von Kassationsrichtlinien ganz zu<br />

schweigen. Das gleiche Dilemma dürfte auf uns mit der geplanten Einführung<br />

eines Dokumentenmanagementsystems zukommen, bei dessen Planung<br />

uns bislang ebenfalls kein Mitspracherecht zugestanden wurde.<br />

Bisher wurden die Akten von zwei Abteilungen unter deren Beteiligung<br />

abschließend bewertet. Von der Internen Revision wurden nur wenige<br />

Akten aufbewahrt, um die Arbeitsweise dieser Abteilung dokumentieren<br />

zu können, von den internen Prüfungen selbst aber nur einzelne Beispiele<br />

aufgehoben, da die eigentlichen Schlussprüfungen von einem externen<br />

Wirtschaftsprüfungsunternehmen durchgeführt werden, deren Ergebnisse<br />

in den Akten der Finanzabteilung festgehalten werden. Besonders umfangreich<br />

und für uns besonders schwierig zu bewerten waren die Haushaltsakten.<br />

Daher haben wir einen erfahrenen Mitarbeiter der Abteilung zu<br />

Rate gezogen, der uns zunächst bei Begriffsbestimmungen half und<br />

gemeinsam mit uns die Entscheidung über das aufbewahrenswerte<br />

Schriftgut traf. Von kassierten Aktengruppen wie Haushaltsanforderungen,<br />

Monats- oder Halbjahresabschlüssen und Zwischenbilanzen<br />

wurden Beispiele aufgehoben. Die Erfahrung aus dieser gemeinsamen<br />

Bewertung kam uns bei der Beurteilung der Haushaltsakten der drei jüngst<br />

geschlossenen Institute zugute. Hier haben wir – anders als bei den<br />

Personalakten z. B. – sofort bei der Übernahme eine endgültige Bewertung<br />

dieser Aktengruppe vorgenommen, um den knappen Magazinraum zu<br />

schonen. Da ein Teil der kassablen Akten noch den steuerlichen Aufbewahrungsfristen<br />

unterliegt und gelegentlich auf sie zurückgegriffen wird,<br />

werden sie verpackt und gekennzeichnet bis zum Fristablauf aufbewahrt.<br />

Die Personalakten der Wissenschaftlichen Mitglieder und Direktoren<br />

sowie der Forschungsgruppenleiter werden nicht in den Instituten, sondern<br />

in der Generalverwaltung geführt und von dieser an uns abgegeben,<br />

meist bereits von Beihilfe- und ähnlichen Angelegenheiten bereinigt, so<br />

dass eine weitere Bewertung in der Regel überflüssig ist. Sie werden dauernd<br />

aufbewahrt. Alle übrigen Personalakten werden in den Max-Planck-<br />

Instituten selbst geführt, wo ihre Aufbewahrung unterschiedlich gehandhabt<br />

wird: Einige heben sie nur befristet auf, andere sogar sämtliche<br />

Bewerbungen. Wir tendieren dazu, Personalakten bei der Übernahme zunächst<br />

nur sehr vorsichtig zu bewerten, d. h. wir kassieren Bewerbungen<br />

und Akten von Zeit- und Aushilfskräften, sofern keine Aufbewahrungsfristen<br />

mehr bestehen, während die endgültige Bewertung bei der Feinerschließung<br />

vorgenommen werden soll. Bis dahin können wir dem einen<br />

oder anderen noch zu ein paar Euro Rente mehr verhelfen, wenn wir<br />

Versicherungs- oder Gehaltsnachweise ermitteln können, und verringern<br />

die Gefahr, später bekannt gewordene Forscher als Postdocs zu übersehen.<br />

Wie wichtig auch die Unterlagen von Lohnarbeitern werden können, die<br />

normalerweise der Bewertung zum Opfer fallen, zeigte sich kürzlich, als<br />

die Kommission zur Aufarbeitung der Geschichte der Kaiser-Wilhelm-<br />

Gesellschaft im Nationalsozialismus untersuchte, in welchem Umfang in<br />

der KWG Zwangsarbeiter beschäftigt wurden. Während entsprechende<br />

Hinweise in der Regel nur mühsam aus allgemeinen Aktenvermerken zu<br />

entnehmen sind, waren in einer Zweigstelle eines landwirtschaftlichen<br />

KWI die Akten der ausländischen Lohnarbeiter komplett erhalten, an<br />

denen gezeigt werden konnte, dass die meisten von ihnen seit Jahren freiwillig<br />

zur Ernte gekommen waren und ihre Tätigkeit erst mit Kriegsbeginn<br />

„Zwangscharakter“ angenommen hatte. Da man in der Regel nicht davon<br />

ausgehen kann, dass solche Akten später einmal von Wert für die<br />

Forschung sind, werden wir sie wohl auch in Zukunft bis auf Beispiele kas-<br />

68 Universitätsreden 73 Universitätsreden 73 69


Marion Kazemi Dokumentationsziele und Aspekte<br />

sieren, da sich das Archiv der MPG vorrangig als Archiv für Wissenschaftsgeschichte<br />

versteht, was nicht heißt, dass nicht auch soziale Aspekte dokumentiert<br />

werden. Unterlagen von Institutsfeiern wie Gedichte, Fotos oder<br />

zuweilen auch musikalische Aufzeichnungen gehören ebenso in unsere<br />

Bestände wie die Unterlagen der Schwerbehindertenvertretung, des Gesamtbetriebsrats<br />

und eines Institutsbetriebsrats.<br />

Eine Besonderheit in der Max-Planck-Gesellschaft sind vermutlich die<br />

sogen. Institutsbetreuer-Akten der Generalverwaltung, die die Institute verwaltungsmäßig<br />

unterstützt. Sie sind großenteils eine Parallel- oder Doppelüberlieferung<br />

der Institutsakten selbst, werden aber in der Generalverwaltung<br />

zuverlässiger und geschlossener aufbewahrt als in den Instituten,<br />

wo sie sich zum Teil in den Akten der Verwaltung, zum Teil in den Akten<br />

der Direktoren befinden. Für die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft bilden sie<br />

angesichts größerer Aktenverluste bei den Instituten eine willkommene<br />

Ersatzüberlieferung. Die Bewertung dieser MPG-Akten wird bei der später<br />

erfolgenden Feinerschließung vorgenommen werden und mit einer Prüfung<br />

der bereits im Archiv vorhandenen Institutsreposituren einhergehen,<br />

um Doppelüberlieferungen zu vermeiden.<br />

Am schwierigsten scheint mir die Bewertung der Nachlässe zu sein.<br />

Während von kleinen Teil- oder gar Splitternachlässen kaum etwas kassiert<br />

wird, da wir froh sind, überhaupt etwas überliefern zu können und das<br />

wenige Verbliebene eigentlich immer überliefernswert erscheint, stellt sich<br />

die Bewertungsfrage vor allem bei umfangreichen Beständen. Bei den sogenannten<br />

Vorlässen wird in der Regel vorsichtig verfahren, da der abgebende<br />

Wissenschaftler das, was er ins Archiv gibt, meist für aufbewahrenswert<br />

hält, es sei denn, er autorisiert uns, seine nicht für archivwürdig befundenen<br />

Unterlagen zu kassieren, was wir dann im Benehmen mit ihm<br />

tun. Ausgesondert werden, wie bereits erwähnt, alle vervielfältigten und<br />

nicht annotierten Unterlagen der MPG-Organe, um Redundanz zu vermeiden.<br />

Wenn die Korrespondenz nicht untergliedert ist, wird sie zunächst<br />

komplett aufgehoben, ansonsten werden z. B. Glückwünsche zu<br />

runden oder halbrunden Geburtstagen kassiert, sofern sie nicht „gehaltvoll“<br />

sind oder Autographenwert besitzen. Die Unterlagen von gleichförmigen<br />

Aufgaben wie Schriftleitertätigkeiten oder die Herausgabe von<br />

Enzyklopädien und Sammelwerken sollte man ebenfalls einer Bewertung<br />

unterziehen und prüfen, ob der komplette Schriftverkehr mit den Autoren<br />

und sämtliche Manuskriptfassungen aufgehoben werden sollten oder nur<br />

Beispiele, um die Tätigkeit abzubilden.<br />

Was macht man mit in den Nachlässen enthaltenen Personalia, die in<br />

der Regel zwar nur Stufenakten der Abteilung, aber oft gemischt mit<br />

Schriftverkehr sind? Sofern es sich um die Diplomanden, Doktoranden,<br />

Postdocs, festen wissenschaftlichen Mitarbeiter und Gäste handelt, ist dieser<br />

Personenkreis letztlich die „Schule“ des Gelehrten und von daher wahrscheinlich<br />

von bleibendem Wert, zumal in der Max-Planck-Gesellschaft<br />

nicht sicher ist, dass die eigentlichen Personalakten später überhaupt von<br />

der Institutsverwaltung abgegeben werden.<br />

Häufig sind in den Nachlässen Tagungsunterlagen zu finden, zuweilen<br />

bis hin zu Stadtplänen, Hotelprospekten, Tickets. Wir prüfen, ob der<br />

Nachlasser an der Tagung teilgenommen und auch einen Vortrag gehalten<br />

hat. In diesem Fall werden die Unterlagen zunächst aufgehoben, sollten<br />

aber bei der Feinerschließung noch einmal bewertet werden.<br />

Besonders schwierig ist jedoch die Bewertung der wissenschaftlichen<br />

Unterlagen von Naturwissenschaftlern. Häufig werden ungeordnete Konvolute<br />

von Materialsammlungen hinterlassen, die aus Notizen, Messdaten<br />

in tabellarischer oder graphischer Form oder als EDV-Ausdrucke, Publikationen,<br />

Manuskriptfassungen und dergleichen bestehen. Lohnt es z. B.<br />

Messergebnisse aufzuheben, die nicht oder nur ungenügend beschriftet<br />

sind, von denen man nicht feststellen kann, wann sie erhoben wurden, um<br />

was für Proben es sich handelt, mit welchen Methoden und Geräten sie<br />

gemessen wurden? Sollten wirklich alle Notizzettel aufgehoben werden?<br />

Als Biologin bin ich zwar selbst in der Lage, manches besser zuordnen<br />

oder bestimmen zu können, als ein Historiker dies vermag, aber oft stammen<br />

die Unterlagen aus einer anderen Disziplin oder sind derart speziell,<br />

dass auch ich überfordert bin. Ich hatte schon erwähnt, dass wir für solche<br />

Fälle die Möglichkeit haben und sie zuweilen nutzen, Wissenschaftler<br />

aus den Instituten zu konsultieren, die mit dem Betreffenden zusammengearbeitet<br />

oder zumindest auf ähnlichem Gebiet geforscht haben; doch<br />

mussten wir feststellen, dass auch sie nicht immer in der Lage sind, die<br />

Daten, Fotos oder Notizen ihrer Kollegen oder ehemaligen Chefs zu identifizieren<br />

und zu bewerten. In solchen Fällen muss man überlegen, ob es<br />

70 Universitätsreden 73 Universitätsreden 73 71


Marion Kazemi<br />

Sinn hat, solche Dinge aufzuheben, wird aber bei einem Spitzenwissenschaftler<br />

eher dazu geneigt sein, nicht zu stark zu kassieren, da jeder Zettel<br />

oder Brief einen gewissen Autographenwert besitzt, auch wenn der Betreffende<br />

kein zweiter Einstein war. Es würde mich interessieren, wie Sie mit<br />

solchen Nachlässen umgehen.<br />

72 Universitätsreden 73<br />

Archivische Bewertung aus der Sicht des Archivs<br />

der Berlin-Brandenburgischen Akademie der<br />

Wissenschaften<br />

Vera Enke<br />

1. Bestände des Akademiearchivs<br />

Das Akademiearchiv wurde schon bald nach der Gründung der Kurfürstlich-Brandenburgischen<br />

Sozietät der Wissenschaften am 11. Juli 1700 eingerichtet<br />

und zählt daher zu den ältesten Einrichtungen der Berliner Akademie<br />

der Wissenschaften. Es ist – wie das Ordentliche Mitglied der Akademie<br />

und der Nestor der Archivwissenschaft, Heinrich Otto Meisner,<br />

1960 treffend formulierte – „die Schatzkammer des amtlichen und privaten<br />

Schriftguts der Akademie“. 1<br />

Der Gesamtbestand des Akademiearchivs aus über 300 Jahren Akademiegeschichte<br />

umfasst gegenwärtig 6.000 lfm dienstliche Akten und Nachlässe,<br />

über 2.000 Objekte des Kunstbesitzes, ca. 40.000 Fotos zur Akademiegeschichte,<br />

über 500 Tonbänder, 270 Filme und Videokassetten sowie eine<br />

Sammlung von ca. 30.000 Zeitungsausschnitten. Die Bestände verteilen<br />

sich auf die Historische Abteilung, die Abteilung Akademiebestände nach<br />

1945, die Abteilung Nachlässe sowie die Abteilung Sammlungen. 2<br />

1 Heinrich Otto Meisner: Das Archiv als wissenschaftliche Dokumentationsstelle, in:<br />

Mitteilungsblatt für die Mitarbeiter der DAW zu Berlin 6 (1960), Heft 1, S. 15.<br />

2 Detaillierte Angaben zu den Beständen der einzelnen Abteilungen, die in den folgenden<br />

Abschnitten nur kurz umrissen werden, sind enthalten in: „Quod non est in actis,<br />

non est in mundo“ – Das Akademiearchiv und seine Bestände, hrsg. von der Berlin-<br />

Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften mit Texten von Wolfgang<br />

Knobloch, Vera Enke und Wiebke Witzel. Berlin 2000.<br />

Universitätsreden 73 73


Vera Enke<br />

Die Historische Abteilung umfasst das dienstliche Schriftgut der Akademie<br />

von der Gründung bis zum Jahr 1945. Sie gliedert sich in eine Reihe<br />

von Einzelbeständen. Die akademische Zentralregistratur besteht aus zwei<br />

Aktenbeständen, die die Zeiträume 1700 bis 1811 und 1812 bis 1945<br />

umfassen. Zu ihr gehören ferner über 270 Manuskripte von Akademievorträgen,<br />

über 700 Preisbewerbungsschriften zu akademischen Preisaufgaben<br />

sowie über 200 sonstige an die Akademie eingesandte Abhandlungen.<br />

Die Historische Abteilung umfasst des weiteren die Bestände von<br />

über 20 Arbeitsstellen der wissenschaftlichen Unternehmungen der<br />

Akademie, einzelne Bestände bzw. Teilbestände wissenschaftlicher<br />

Gesellschaften und die historischen Aktenbestände einiger wissenschaftlicher<br />

Institutionen, die nach dem Zweiten Weltkrieg der Akademie angegliedert<br />

worden waren. 3<br />

Die umfangreichste Abteilung des Akademiearchivs, die Abteilung Akademiebestände<br />

nach 1945, verwahrt die dienstliche Aktenüberlieferung der<br />

Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin bzw. der Akademie der<br />

Wissenschaften der DDR, einzelne Bestände bzw. Teilbestände wissenschaftlicher<br />

Gesellschaften, Teilbestände der Nationalkomitees 4 und den<br />

Archivbestand des Akademie-Verlages, der seit 1946 für die Akademiepublikationen<br />

zuständig war. Zur Abteilung gehören ferner die Bestände<br />

der Koordinierungs- und Abwicklungsstelle der Institute und Einrichtungen<br />

der ehemaligen Akademie der Wissenschaften der DDR (KAI-AdW)<br />

sowie der Koordinierungs- und Aufbau-Initiative für die Forschung in den<br />

Ländern Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen,<br />

Sachsen-Anhalt und Thüringen e. V. (KAI e.V.), der Bestand der Akademie<br />

der Wissenschaften zu Berlin (West) sowie das dem Archiv inzwischen<br />

übergebene Schriftgut und Arbeitsmaterial der Berlin-Brandenburgischen<br />

Akademie der Wissenschaften. Bestandteil dieser Abteilung sind auch die<br />

Akten der vom letzten Direktor der Preußischen Akademie der Wissen-<br />

3 Die Bestandsübersicht der Historischen Abteilung findet sich im Internet unter:<br />

http://www.bbaw.de/archivbbaw/archivbestaende/abthistorische.html.<br />

4 Die Nationalkomitees hatten die Vertretung der DDR-Wissenschaft in den internationalen<br />

Organisationen inne.<br />

74 Universitätsreden 73<br />

Archiv ische Bew ertung<br />

schaften nach 1945 in der Bundesrepublik fortgeführten Preußischen<br />

Akademie der Wissenschaften. 5<br />

Die Abteilung Nachlässe gehört mit ihren über 200 Nachlässen zu den<br />

wichtigen Fundstätten von Gelehrtennachlässen im deutschsprachigen<br />

Raum. Den Grundstock der Abteilung Nachlässe bilden die Erwerbungen<br />

der Preußischen Akademie der Wissenschaften, die in der zweiten Hälfte<br />

des 19. Jahrhunderts einsetzten. Als 1944 die Literaturarchiv-Gesellschaft 6<br />

aufgelöst wurde, übernahm die Akademie deren wertvolle Nachlassbestände.<br />

Sie gelangten 1968 in das Akademiearchiv, das seit dieser Zeit zusätzlich<br />

die Funktion eines Literaturarchivs ausübt. In den 1960er Jahren<br />

wurden Nachlassbestände von Instituten, die der Akademie angegliedert<br />

worden waren, übernommen. Die Bestandsergänzung der Abteilung erfolgt<br />

durch Schenkung, testamentarische Verfügung, Ersteigerung und Ankauf.<br />

In Ausnahmefällen betreut das Akademiearchiv auch Nachlässe auf<br />

der Grundlage von Depositalverträgen. 7<br />

Die Abteilung Sammlungen des Akademiearchivs umfasst das kulturhistorisch<br />

wertvolle Sammlungsgut der Berliner Akademie der Wissenschaften.<br />

Zur Abteilung gehören 12 Sammlungsbestände: der Gesamtbestand<br />

des Kunstbesitzes, die Fotosammlung, die Wissenschaftshistorische<br />

Gerätesammlung, die Tonbandsammlung, die Filmsammlung, die Zeitungsausschnittsammlung,<br />

die Ausstellungssammlung, die Geschenksammlung,<br />

die Faksimilesammlung, die Videofilmsammlung, die Plakatsammlung<br />

und die Biographisch-Bibliographische Sammlung. 8<br />

5 Die Bestandsübersicht der Abteilung Akademiebestände nach 1945 findet sich im Internet<br />

unter: http://www.bbaw.de/archivbbaw/archivbestaende/abtbestand1945.html.<br />

6 Die Literaturarchiv-Gesellschaft wurde 1891 auf Initiative von Wilhelm Dilthey zum<br />

Zwecke der Sammlung, Bewahrung und Auswertung von Nachlässen bedeutender Persönlichkeiten<br />

aus Literatur, Wissenschaft und Kunst gegründet.<br />

7 Die Bestandsübersicht der Abteilung Nachlässe findet sich im Internet unter:<br />

http://www.bbaw.de/archivbbaw /archivbestaende/abtnachlaesse.html.<br />

8 Die Bestandsübersicht der Abteilung Sammlungen findet sich im Internet unter:<br />

http://www.bbaw.de/archivbbaw/archivbestaende/abtsammlungen.html.<br />

Universitätsreden 73 75


Vera Enke<br />

2. Zuständigkeit des Akademiearchivs<br />

Bereits in der Generalinstruktion vom 11. Juli 1700, neben dem Stiftungsbrief<br />

das Hauptgründungsdokument der Berliner Akademie der Wissenschaften,<br />

hatte Gottfried Wilhelm Leibniz, Begründer und erster Präsident<br />

der Akademie, darauf hingewiesen, dass die schriftliche Überlieferung der<br />

Akademie bewahrt werden muss. 9 Im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts<br />

betreute der Sekretar der Akademie das Archiv. Die Aufgaben des Archivars<br />

wurden 1765 erstmalig in einem Reglement festgelegt. Er sollte an den<br />

Sitzungen der Akademie teilnehmen, sich Notizen über die eingegangenen<br />

Schreiben und Manuskripte machen und sie dann zu gegebener Zeit für<br />

das Archiv anfordern. Die Protokolle und Akten des Beständigen Sekretars<br />

der Akademie hatte er alljährlich abzufordern und ins Archiv zu überführen.<br />

Im Zuge der Neueinrichtung des Archivs waren auch die älteren,<br />

sich noch im Besitz der Akademiedirektoren und des Beständigen Sekretars<br />

befindlichen Protokolle, Manuskripte und Korrespondenzen an das<br />

Archiv zu übergeben. Die Bemühungen zur Sicherung des Archivgutes<br />

konnten jedoch schon damals Verluste in der Überlieferung nicht verhindern.<br />

Sie resultierten vor allem aus der Tatsache, dass die leitenden Akademiemitglieder<br />

nicht auf eine Trennung zwischen der im Auftrag der Akademie<br />

geführten dienstlichen Korrespondenz und ihrer privaten<br />

Korrespondenz achteten. Die dienstliche Korrespondenz gelangte so in<br />

der Folgezeit oft als Teil der Nachlässe an Aufbewahrungsorte außerhalb<br />

der Akademie. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden die Aufgaben des<br />

Archivars erweitert. Er war nun auch für die Bibliothek, für den Druck der<br />

akademischen Schriften und für die Verwaltung und Inventarisierung des<br />

Kunstbesitzes der Akademie zuständig.<br />

Während des Zweiten Weltkrieges waren die Archivbestände ausgelagert.<br />

Sie kehrten nach Kriegsende ohne große Verluste in die Obhut der<br />

Akademie zurück. Am 1. März 1952 wurde das Archiv als selbständige wis-<br />

9 Vgl. Konzept der Generalinstruktion in: ABBAW, Bestand PAW 1700-1811, I-I-2,<br />

Bl. 19ff.<br />

76 Universitätsreden 73<br />

Archiv ische Bew ertung<br />

senschaftliche Einrichtung wieder eröffnet. Es hatte – in Abstimmung mit<br />

der Staatlichen Archivverwaltung der DDR – „von Anfang an den Charakter<br />

eines Endarchivs mit der alleinigen Zuständigkeit für das aus der<br />

Tätigkeit der Akademie seit 1700 bereits erwachsene bzw. noch entstehende<br />

Schrift-, Bild- und Tonschriftgut“. 10 Es war ferner für die schriftlichen<br />

Nachlässe von Akademiemitgliedern und anderen bedeutenden Wissenschaftlern,<br />

die der Akademie durch Schenkung, als Depositum oder auf<br />

andere Weise übergeben wurden, zuständig. 11 Neben dieser Endarchivfunktion<br />

war es für die zentralen Leitungs- und Funktionalorgane der<br />

Akademie zugleich ein Verwaltungsarchiv.<br />

Die im Jahr 1946 mit der Wiedereröffnung der Akademie beginnende<br />

Umwandlung der Akademie von einer Gelehrtengesellschaft zur zentralen<br />

Forschungsinstitution der DDR beeinflusste die weitere Tätigkeit des<br />

Akademiearchivs. Die Angliederung und Neugründung von Instituten<br />

und Einrichtungen, die sich über das gesamte Territorium der DDR erstreckten,<br />

stellte die Archivare des Akademiearchivs vor völlig neue Aufgaben.<br />

Da eine zentrale Aufbewahrung des archivwürdigen Schriftgutes<br />

der Akademie im Akademiearchiv aufgrund der beschränkten Magazinund<br />

Personalkapazitäten nicht möglich war, wurde Ende der 1950er Jahre<br />

mit dem Aufbau eines Archivnetzes nach dem Territorialprinzip begonnen.<br />

In den Ballungszentren der Akademieforschung wurden zentrale<br />

Institutsarchive gebildet, die für mehrere in einem bestimmten Sprengel<br />

gelegene Registraturbildner – unabhängig von ihrer Forschungsrichtung –<br />

zuständig waren und diese archivisch betreuten. In größeren Akademieinstituten<br />

bestanden daneben gesonderte Archive. Bereits 1964 gab es insgesamt<br />

25 solcher Zwischenarchive, ca. 65 ehrenamtlich und vier hauptamtlich<br />

tätige Archivbeauftragte der Akademie. Fünf Institutsarchive<br />

10 Vgl. „Vorschläge zum Aufbau des Akademie-Archivs“ vom 6.11.1952, die die mit der<br />

Hauptabteilung Archivwesen im Ministerium des Innern getroffenen Absprachen wiedergeben,<br />

in: ABBAW, Bestand Akademieleitung, Nr. 213. Vgl. ferner: Wolfgang Knobloch:<br />

Das Akademiearchiv – Grundzüge seiner Entwicklung, in: Berlin-Brandenburgische<br />

Akademie der Wissenschaften, Jahrbuch 1995, S. 435-436.<br />

11 Vgl. Wolfgang Knobloch: Das Zentrale Archiv der Akademie der Wissenschaften der<br />

DDR, in: Archivmitteilungen 39 (1989), Heft 4, S. 132.<br />

Universitätsreden 73 77


Vera Enke<br />

waren für Institutskomplexe zuständig. 12 Dem Akademiearchiv oblag – als<br />

einzig zuständigem Endarchiv – die fachliche Anleitung und Kontrolle der<br />

in den Institutsarchiven eingesetzten Archivbeauftragten. Die Kassationen<br />

waren grundsätzlich genehmigungspflichtig. Der Aufbau funktionsfähiger<br />

Institutsarchive gestaltete sich sehr schwierig. Es waren vor allem fehlende<br />

Räumlichkeiten, fehlende Fachkräfte und ein mangelndes Verständnis der<br />

Institutsdirektoren für Fragen der Archivarbeit, die den Bemühungen des<br />

Akademiearchivs beim Aufbau und der Erweiterung funktionsfähiger<br />

Institutsarchive Grenzen setzten. 13<br />

3. Abwicklung der DDR-Akademie – Sicherungsaufgaben des<br />

Akademiearchivs<br />

Die Regelungen des Einigungsvertrages vom 31. August 1990 und die sich<br />

infolgedessen abzeichnende Auflösung der zentralen Leitungsorgane, Verwaltungsabteilungen<br />

und des Institutsverbundes der Akademie sowie erste<br />

Anzeichen von eigenmächtigen Aktenvernichtungen veranlassten das Akademiearchiv,<br />

den Direktor der Administration zu bitten, für den Erhalt<br />

des in den jeweiligen Struktureinheiten vorhandenen dienstlichen<br />

Schriftgutes Sorge zu tragen. Er forderte daraufhin in einem Schreiben die<br />

Leiter der Struktureinheiten und Direktoren der Institute und Einrichtungen<br />

der Akademie auf, das in ihrem Verantwortungsbereich vorhandene<br />

archivwürdige Schriftgut dem Akademiearchiv zu übergeben. Die Entscheidung<br />

über eine Archivierung oder Vernichtung des Schriftgutes lag<br />

nun jedoch bei den jeweiligen Struktureinheiten, so dass das Akademiearchiv<br />

wiederum Handlungsbedarf sah. Es wurde umgehend eine „Richtlinie<br />

für die Auswahl von historisch wertvollem Schriftgut aus den Instituten<br />

und Einrichtungen der ehemaligen AdW der DDR zum Zwecke der<br />

12 Vgl. Bericht „Tätigkeit des Akademie-Archivs vom Juli 1963 bis 31. Mai 1964“, in:<br />

ABBAW, VA 9288, und Konzept eines Vortrages der Archivdirektorin, Christa Kirsten,<br />

den sie 1965 vor Archivbeauftragten der Akademie hielt, in: ABBAW, Dienstregistratur.<br />

13 Vgl. Vera Enke: Sonderregistraturen an der Akademie der Wissenschaften der DDR<br />

1945-1991. Untersuchungen und Analysen zur Überlieferungslage, Band 1, S. 59/60,<br />

Dissertation. Berlin 2000.<br />

78 Universitätsreden 73<br />

Archiv ische Bew ertung<br />

Archivierung“ erarbeitet. Das Akademiearchiv bot zudem seine Hilfe und<br />

Unterstützung in allen die Archivierung und Aussonderung des Schriftgutes<br />

betreffenden Fragen an. 14<br />

Der im Einigungsvertrag festgelegte Übergang der Institute und Einrichtungen<br />

der Akademie in die Hoheit der Sitzländer führte dazu, dass das<br />

Akademiearchiv am 3. Oktober 1990 die Funktion eines Endarchivs für<br />

den Gesamtbereich der Akademie verlor. Es ging mit seinen bis zu diesem<br />

Zeitpunkt übernommenen Beständen in die Zuständigkeit des Landes Berlin<br />

über und unterstand verwaltungsmäßig einer Interimsadministration.<br />

In Abstimmung mit dem Landesarchiv Berlin, der Senatsverwaltung für<br />

Wissenschaft und Forschung und der Interimsadministration wurde dem<br />

Akademiearchiv 1991 die Aufgabe übertragen, die aktenmäßige Hinterlassenschaft<br />

der über 40 Berliner Institute und Einrichtungen der ehemaligen<br />

Akademie der Wissenschaften der DDR zu sichern. Im Herbst des<br />

Jahres bemühte sich das Akademiearchiv, eine zentrale Zusammenführung<br />

des Archivgutes aller, d. h. auch der außerhalb Berlins gelegenen Institute<br />

und Einrichtungen, zu erreichen. Das Bemühen resultierte aus der Kenntnis<br />

„des starken inhaltlichen Zusammenhangs zwischen der zentralen Akademieüberlieferung<br />

im Akademiearchiv und den Institutsüberlieferungen“.<br />

15 Obwohl auch das Bundesarchiv dies für die günstigste Lösung<br />

hielt, scheiterten die Bemühungen am Widerstand einiger Landesregierungen<br />

(Sachsen, Thüringen, Brandenburg), die die regionalen Bezüge höher<br />

bewerteten und auf dem Verbleib des in den jeweiligen Ländern entstandenen<br />

Schriftgutes bestanden. Keine Landesregierung war zudem bereit,<br />

sich an einer zentralen Lösung finanziell zu beteiligen. 16 Die Bestände der<br />

außerhalb Berlins gelegenen Institute und Einrichtungen bilden heute eine<br />

Lücke im Dokumentationsprofil des Akademiearchivs.<br />

14 Detaillierte Ausführungen ebd., S. 60.<br />

15 Wolfgang Knobloch: Vom Zentralen Archiv der Akademie der Wissenschaften der<br />

DDR zum Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, in:<br />

Friedrich Beck / Wolfgang Hempel / Eckart Henning (Hrsg.): Archivistica docet: Beiträge<br />

zur Archivwissenschaft und ihres interdisziplinären Umfelds. (Potsdamer Studien<br />

Bd. 9) Potsdam 1999, S. 265.<br />

16 In: ABBAW, Dienstregistratur.<br />

Universitätsreden 73 79


Vera Enke<br />

In den Jahren 1990 bis 1993 übernahm das Akademiearchiv im Zuge der<br />

Abwicklung der DDR-Akademie nahezu 2.500 lfm. Trotz der großen Anstrengungen<br />

der Mitarbeiter des Akademiearchivs, die schriftliche Überlieferung<br />

aus dem Berliner Raum zu sichern, sind Verluste, die Überlieferungslücken<br />

hinterlassen werden, eingetreten. „Den Tausenden von Mitarbeitern,<br />

die mit dem Ende der DDR-Akademie ihre Arbeit verloren, war<br />

– wenn überhaupt – nur schwer der Wert der schriftlichen Überlieferung<br />

ihrer Institute und Einrichtungen zu vermitteln. Nahezu 700 lfm völlig<br />

ungeordnetes, oft auch als lose Blattsammlung übernommenes dienstliches<br />

Schriftgut zeugten vom Desinteresse und der Frustration ehemaliger<br />

Akademiemitarbeiter. Die Abgabeverzeichnisse waren häufig unzureichend<br />

oder fehlten völlig. Die in den Instituten eingesetzten Abwicklungsteams,<br />

die unter anderem auch für eine ordnungsgemäße Archivierung Sorge zu<br />

tragen hatten, waren in der Regel durch die Vielzahl ihrer Aufgaben hoffnungslos<br />

überfordert oder fanden bereits nach eigenmächtigen Kassationen<br />

leere Aktenschränke vor.“ 17 In den zurückliegenden Jahren stand<br />

für die Mitarbeiter des Akademiearchivs die Überarbeitung der unzureichenden<br />

Ablieferungsverzeichnisse und die provisorische Ordnung und<br />

Verzeichnung des ungeordneten Schriftgutes im Vordergrund.<br />

Seit dem 1. Januar 1994 ist das Akademiearchiv eine wissenschaftliche<br />

Einrichtung der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.<br />

Es hat die bereits in ihrem Besitz befindlichen Bestände zu ergänzen, zu<br />

erschließen und für die Forschung zugänglich zu machen. Das Akademiearchiv<br />

hat ferner die Aufgabe, das historisch wertvolle Schriftgut der Berlin-Brandenburgischen<br />

Akademie der Wissenschaften, wissenschaftlich<br />

bedeutsame Nachlässe von Mitgliedern und für die Geschichte der Aka-<br />

17 Vera Enke: Sonderregistraturen an der Akademie der Wissenschaften der DDR 1945–<br />

1991. Untersuchungen und Analysen zur Überlieferungslage, Band 1, S. 62, Dissertation.<br />

Berlin 2000.<br />

18 Vgl. Ordnung für das Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften<br />

vom 17.12.1993, § 3.<br />

80 Universitätsreden 73<br />

demie bedeutsames Sammlungsgut zu übernehmen, zu erschließen und<br />

der Nutzung zugänglich zu machen. 18<br />

4. Aspekte der Bewertung in der Vergangenheit<br />

Archiv ische Bew ertung<br />

Im folgenden sollen einige Seiten der Bewertungspraxis des Akademiearchivs<br />

erläutert werden. Die gesamte – alle Abteilungen umfassende – Bewertungstätigkeit<br />

des Akademiearchivs darzulegen würde den Rahmen des<br />

Beitrages sprengen. Da die Bestandsergänzung sich in der DDR-Zeit vor<br />

allem auf die Abteilung Akademiebestände nach 1945 19 konzentrierte, die<br />

die größten Aktenzugänge zu verzeichnen hatte, wird die Bewertung des<br />

neueren Schriftgutes der Akademie im Vordergrund stehen.<br />

Umfasst der Umfang des im Akademiearchiv aufbewahrten dienstlichen<br />

Aktenschriftgutes der Zentralregistratur aus nahezu 250 Jahren Akademietätigkeit<br />

(1700-1945) 80 lfm, so entsprach diese Aktenmenge seit den<br />

1960er Jahren bis zur Abwicklung der Akademie dem durchschnittlichen<br />

jährlichen Aktenzugang. Aufgrund des vergleichsweise geringen Umfangs<br />

der Überlieferung aus der Zeit vor 1945 beschränkten sich die Kassationen<br />

in der Historischen Abteilung auf Mehrfachüberlieferungen, Finanzschriftgut<br />

und in geringem Umfang auch auf Arbeitsmaterialien. Das trifft auch<br />

– mit Ausnahme des hier nicht vorhandenen Finanzschriftgutes – auf die<br />

Abteilung Nachlässe zu, sofern bei den Nachlässen nicht depositarische<br />

Einschränkungen auferlegt wurden. Bei den Arbeitsmaterialien, die in beiden<br />

Abteilungen überliefert sind, erfolgten Kassationen nur dann, wenn es<br />

sich um Fragmente handelte, die von den entsprechenden Fachleuten als<br />

nicht mehr verwertbar und somit wertlos eingeschätzt wurden. Die Arbeitsergebnisse<br />

lagen hier zudem meist in Form von Veröffentlichungen vor.<br />

Bei der Bestandsergänzung der Abteilung Nachlässe, d. h. der Erwerbung<br />

von Nachlässen, spielten die Zuständigkeit des Akademiearchivs, das<br />

Dokumentationsprofil und die Einhaltung des Prinzips der positiven<br />

Wertauslese eine große Rolle. Die in anderen Archiven der DDR übliche<br />

19 Ehem. Abteilung III bzw. Abteilung Sozialismus.<br />

Universitätsreden 73 81


Vera Enke<br />

Praxis bei der Bewertung von Nachlässen (z. B. Einstufung in Wertkategorien,<br />

Möglichkeit der Kassation des hand- bzw. maschinenschriftlichen<br />

Originals, wenn die gedruckte Publikation vorliegt) 20 wurde im Akademiearchiv<br />

so nicht gehandhabt.<br />

In der Abteilung Akademiebestände nach 1945 stellten sich die Bewertungsfragen<br />

in besonderer Schärfe. Die Ausdehnung der Aufgabengebiete<br />

sowie der Mitarbeiterzahl der DDR-Akademie – von 1965 bis 1989 stieg<br />

die Mitarbeiterzahl von 11.000 auf nahezu 25.000 an – brachte eine stetig<br />

steigende Schriftgutflut. Da nur einem geringen Prozentsatz des dienstlichen<br />

Schriftgutes ein langfristiger historischer Wert zukommt, standen die<br />

Mitarbeiter des Akademiearchivs vor der Aufgabe, „im Zuge einer umfassenden<br />

Bewertung eine solche Auswahl von Dokumenten für die ständige<br />

archivische Aufbewahrung vorzunehmen, mit der eine ausreichende archivalische<br />

Quellenbasis für die Akademie- und Wissenschaftsgeschichte gesichert<br />

wird“. 21<br />

Bei der Ermittlung des historisch wertvollen Schriftgutes fanden solche<br />

Bewertungskriterien wie Funktion der Registraturbildner, Art und Charakter<br />

des Schriftgutes und Überlieferungslage Anwendung. Die Bewertung des<br />

Schriftgutes wurde durch die komplizierte verwaltungsstrukturelle Entwicklung<br />

der Akademie nach 1945 erschwert. „Häufige Strukturänderungen,<br />

begleitet von zahlreichen, vielfach personengebundenen Verlagerungen<br />

von fachlichen Aufgaben, haben im Leitungs- und Verwaltungsapparat der<br />

Akademie zu einer Diskrepanz von Aufgaben- und Verwaltungsgliederung<br />

und folglich in der Schriftgutüberlieferung der einzelnen aktenführenden<br />

Stellen zu beträchtlichen inhaltlichen Überschneidungen geführt.“ 22<br />

Um die Auswahl des dauernd aufzubewahrenden Schriftgutes aus der<br />

Masse des anfallenden Schriftgutes zu erleichtern, wurde 1969 eine Einteilung<br />

der Registraturbildner in verschiedene Wertkategorien vorgenom-<br />

20 Vgl. beispielhaft Erhard Hartstock: Nachlässe als ergänzende Bestandteile im Staatlichen<br />

Archivfonds der DDR, in: Archivmitteilungen 38 (1988). Heft 2, S. 50-52.<br />

21 Wolfgang Knobloch: Das Zentrale Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR,<br />

in: Archivmitteilungen 39 (1989), Heft 4, S. 133.<br />

22 Klaus Mlynek: Grundsätze für die weitere Arbeit der Abteilung Sozialismus, November<br />

1973, in: ABBAW, Dienstregistratur.<br />

82 Universitätsreden 73<br />

Archiv ische Bew ertung<br />

men. Der Registraturbildnertyp Akademieleitung erhielt die Wertkategorie<br />

I. Das bedeutete, dass das gesamte archivwürdige Registraturgut der Akademieleitung<br />

in das Akademiearchiv übernommen wurde. Der Registraturbildnertyp<br />

Forschungseinrichtungen (94 Registraturbildner) wurde der<br />

Wertkategorie III, zum Teil (42 Registraturbildner) aber auch der Wertkategorie<br />

I zugeordnet. Die Zuordnung zur Wertkategorie III resultierte<br />

aus der Erkenntnis, dass sich die wissenschaftsorganisatorische Tätigkeit<br />

der Forschungseinrichtungen in der Regel im Schriftgut der übergeordneten<br />

Registraturbildner in genügendem Maße widerspiegelt und daher kein<br />

Schriftgut in das zuständige Endarchiv übernommen werden muss. Es<br />

sollte in den jeweiligen Institutsarchiven (Zwischenarchiven) aufbewahrt<br />

werden. In einem nicht unbeträchtlichen Umfang erfolgte aber auch – wie<br />

die Einstufung von 42 Registraturbildnern in die Wertkategorie I zeigt –<br />

eine Übernahme des archivwürdigen Registraturgutes von Forschungseinrichtungen<br />

in das Akademiearchiv. Das betraf vor allem die Institute und<br />

Einrichtungen, die bis 1957 (Gründung der Forschungsgemeinschaft der<br />

naturwissenschaftlichen, technischen und medizinischen Institute) bzw.<br />

1963 (Gründung der Arbeitsgemeinschaft der gesellschaftswissenschaftlichen<br />

Institute und Einrichtungen) 23 gegründet oder der Akademie angeschlossen<br />

worden waren, da es bis zu diesem Zeitpunkt keine diese Forschungseinrichtungen<br />

betreffende zentrale Überlieferung gegeben hat. Der<br />

Registraturbildnertyp Wissenschaftliche Gesellschaften (9 Registraturbildner)<br />

erhielt die Wertkategorie III und der Registraturbildnertyp Nationalkomitees<br />

(21 Registraturbildner) die Wertkategorie II. Für das dienstliche<br />

Schriftgut der Wissenschaftlichen Gesellschaften und Nationalkomitees<br />

gab es eine Zuständigkeit „ex officio“ bis zur Abwicklung der DDR-Akademie<br />

nicht. Das Akademiearchiv konnte nur die Empfehlung aussprechen,<br />

das archivwürdige Schriftgut dem Akademiearchiv zu übergeben.<br />

Dem wurde zum Teil auch Folge geleistet. Der Registraturbildnertyp<br />

23 Diese Institutsgemeinschaften hatten Leitungsfunktionen inne und verfügten über<br />

einen sehr differenzierten großen Verwaltungsapparat.<br />

24 Vgl. Vorschlag für eine Registraturbildner-Musterliste Deutsche Akademie der Wissenschaften<br />

zu Berlin, August 1969, in: ABBAW, Dienstregistratur.<br />

Universitätsreden 73 83


Vera Enke<br />

Dienstleistungseinrichtungen und Druckereibetriebe (4 Registraturbildner)<br />

wurde der Wertkategorie III zugeordnet. 24 Das Schriftgut dieser Registraturbildner<br />

gelangte – mit Ausnahme der in Berlin gelegenen Dienstleistungseinrichtungen,<br />

deren Schriftgut im Zuge der Abwicklung der<br />

DDR-Akademie übernommen wurde – nicht ins Akademiearchiv. Als organisatorisches<br />

und methodisches Hilfsmittel wurde eine Registraturbildnerkartei,<br />

die zugleich als Aktennachweiskartei diente, für alle im Zuständigkeitsbereich<br />

des Akademiearchivs vorhandenen Registraturbildner erarbeitet.<br />

Die spätere strukturelle Entwicklung der Akademie zeigte, dass die<br />

überwiegende Einstufung der Forschungseinrichtungen in die Wertkategorie<br />

III nicht aufrechterhalten werden konnte. Das Akademiearchiv hatte<br />

daher schon vor der Abwicklung der DDR-Akademie archivwürdiges<br />

Schriftgut aus mehreren Instituten und Einrichtungen der Akademie in<br />

seine Obhut übernommen.<br />

Der größte Teil des dienstlichen Schriftgutes im Zuständigkeitsbereich<br />

des Akademiearchivs erwuchs in der Zeit von 1945 bis 1991 aus der Tätigkeit<br />

der Institute und Einrichtungen der Akademie, so dass sich die Bewertungstätigkeit<br />

auf diese Überlieferung konzentrierte. Da möglichst nur<br />

dauernd aufzubewahrendes Registraturgut in die Institutsarchive und in<br />

das Akademiearchiv übernommen werden sollte, standen die Aufgaben der<br />

positiven Wertauslese im Vordergrund. Die Erfassungstätigkeit hatte sich<br />

in den Instituten und Einrichtungen vorrangig auf das Schriftgut der<br />

Institutsleitungen zu konzentrieren, das wesentliche Sachverhalte aus der<br />

Tätigkeit der Institute optimal dokumentiert. 25 Die Erkenntnis, dass die<br />

Überlieferungssicherung bereits im Prozess der Schriftgutentstehung beginnen<br />

muss und eine positive Wertauslese durch eine funktionierende<br />

Schriftgutverwaltung erheblich erleichtert wird, veranlasste die Archivare<br />

des Akademiearchivs darüber hinaus, Aktenordnungen und Anfang der<br />

1970er Jahre einen Rahmenaktenplan für die Forschungseinrichtungen<br />

25 Vgl. Klaus Mlynek: Grundsätze für die weitere Arbeit der Abteilung Sozialismus,<br />

November 1973, in: ABBAW, Dienstregistratur.<br />

26 Vgl. Zentrales Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR: Materialien zur<br />

Verbesserung der Schriftgutverwaltung in den Forschungseinrichtungen der AdW der<br />

DDR, 1973, S. 3ff.<br />

84 Universitätsreden 73<br />

Archiv ische Bew ertung<br />

der Akademie zu erarbeiten. 26 Das Akademiearchiv half darüber hinaus<br />

bei der Erstellung von Aktenplänen.<br />

Das im Akademiearchiv und in den Institutsarchiven verwahrte dienstliche<br />

Schriftgut lässt sich in zwei große Schriftgutkomplexe, den wissenschaftsorganisatorischen<br />

und den wissenschaftlichen Dokumentenkomplex,<br />

einteilen. Während man in den Beständen der Institute und Einrichtungen<br />

beide Dokumentenkomplexe vorfindet, handelt es sich bei der<br />

aktenmäßigen Überlieferung der Leitungsorgane und Querschnittsabteilungen<br />

der Akademie ebenso wie bei den Aktenbeständen der wissenschaftlichen<br />

Gesellschaften und Nationalkomitees fast ausschließlich um<br />

wissenschaftsorganisatorisches Schriftgut. Der wissenschaftliche Dokumentenkomplex<br />

wurde in den Jahren 1979 bis 1985 von den Mitgliedern<br />

einer Arbeitsgruppe der Akademiearchive sozialistischer Länder zu Fragen<br />

der archivwissenschaftlichen Bewertung der verschiedenen Schriftgutarten<br />

wissenschaftlicher Dokumentation eingehend untersucht.<br />

Die Kooperationsbeziehungen des Berliner Akademiearchivs mit den<br />

Akademiearchiven in Mittel- und Osteuropa reichen bis zur Mitte der<br />

1960er Jahre zurück. In den Ländern Mittel- und Osteuropas war die<br />

Akademieentwicklung ähnlich wie in der DDR verlaufen. Die Gelehrtengesellschaften<br />

wurden nach sowjetischem Vorbild in Akademien mit eigenen<br />

Forschungseinrichtungen umgewandelt. 27 Die Archive dieser Akademien<br />

standen somit vor den gleichen Aufgaben und Problemen, was den<br />

Erfahrungsaustausch nicht nur begünstigte, sondern geradezu herausforderte.<br />

Eine erste Konferenz der Akademiearchive sozialistischer Länder<br />

fand 1965 in Warschau statt. Man vereinbarte eine wechselseitige Entsendung<br />

von Mitarbeitern zu Studienreisen in die Partnerarchive und die<br />

gemeinsame Bearbeitung archivischer Arbeitsthemen. In den folgenden<br />

Jahren fanden sechs Konferenzen statt. Die behandelten Themen reichten<br />

von Fragen der Schriftgutverwaltung über Probleme der Bestandsergänzung,<br />

Bewertung, Erschließung und Auswertung bis zu archivtechnischen<br />

27 Im Hinblick auf die Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin (ab 1972<br />

Akademie der Wissenschaften der DDR) muss erwähnt werden, dass die Preußische<br />

Akademie der Wissenschaften bereits 1930 in einer Denkschrift vom preußischen Staat<br />

die Bildung von geistes- und naturwissenschaftlichen Instituten an der Akademie gefordert<br />

hatte.<br />

Universitätsreden 73 85


Vera Enke<br />

Fragen. Für die gemeinsame Beratung wichtiger archivwissenschaftlicher<br />

Fragestellungen schuf man Arbeitsgruppen, die zwischen den Konferenzen<br />

spezielle Arbeitstreffen durchführten. 28<br />

Die Arbeitsgruppe zu Fragen der archivwissenschaftlichen Bewertung<br />

der verschiedenen Schriftgutarten wissenschaftlicher Dokumentation<br />

unterzog unter Anwendung der Bewertungskriterien „die verschiedenen<br />

wissenschaftlichen Dokumentenarten, wie Primär- 29 , Zwischen- 30 und<br />

Ergebnisdokumente 31 , einer archivwissenschaftlichen Bewertung“. 32 „Die<br />

Besonderheit bei der Dokumentierung von Forschungsprozessen zeigt sich<br />

in ganz bestimmten stabilen Dokumentenarten und in einer speziellen<br />

wechselseitigen Verbindung und Bedingtheit dieser Dokumente, die dem<br />

28 Vgl. Wolfgang Knobloch: Die Beziehungen des Archivs der Berliner Akademie der<br />

Wissenschaften zu den Archiven der Akademien der Wissenschaften in Mittel- und<br />

Osteuropa. Vortrag, gehalten am 17.9.1996 auf dem 67. Deutschen Archivtag in<br />

Darmstadt in der Sitzung der Fachgruppe 8.<br />

29 Primärdokumente sind alle schriftlichen, graphischen, maschinenlesbaren und sonstigen<br />

Aufzeichnungen, die als erste Ergebnisse auf der niedrigsten Stufe des Forschungsprozesses<br />

anfallen (z. B. Versuchsprotokolle, Laborhefte, Versuchstabellen etc.). Vgl.<br />

Wolfgang Knobloch: Probleme der Bewertung wissenschaftlicher Dokumentation aus<br />

den Einrichtungen der Akademie der Wissenschaften der DDR als Voraussetzung für<br />

die Bestandsergänzung des Akademie-Archivs, in: Archivmitteilungen 35 (1985),<br />

Heft 4, S. 116.<br />

30 Eine Zwischenstellung nehmen wissenschaftliche Dokumentenarten, wie z. B. Laborberichte<br />

und -mitteilungen ein. „Einerseits übernehmen die Laborberichte die in den<br />

Versuchsprotokollen, Laborbüchern und anderen Primärdokumenten enthaltenen<br />

Primärdaten und werten die erzielten Ergebnisse unter Einbeziehung der zu dieser<br />

Thematik erschienenen Literatur aus. … Andererseits wird der Informationsgehalt eines<br />

Großteils der Laborberichte wiederum mehr oder weniger vollständig in die Forschungsberichte<br />

übernommen. Entsteht kein Forschungsbericht und stellt der Laborbericht<br />

schon das eigentliche Abschlußdokument dar, so verliert er seinen Charakter<br />

als Zwischendokument und wird zum Ergebnisdokument.“ Ebd.<br />

31 „Die Wiedergabe und analytisch-synthetische Verarbeitung der in den einzelnen Stadien<br />

des Forschungsprozesses gewonnenen Primärdaten führt zur Entstehung von wissenschaftlichen<br />

Ergebnisdokumenten, die die Resultate von abgeschlossenen Forschungsprozessen<br />

widerspiegeln.“ Zu den wichtigsten Arten gehören Forschungs- und<br />

Entwicklungsberichte, Patente, Vorträge für Tagungen und Kongresse, Artikel und<br />

Monographien in Manuskriptform. Ebd., S. 116 und 118.<br />

32 Wolfgang Knobloch: Das Zentrale Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR,<br />

in: Archivmitteilungen 39 (1989), Heft 4, S. 133.<br />

86 Universitätsreden 73<br />

Archiv ische Bew ertung<br />

stufenweisen Prozess der Gewinnung wissenschaftlicher Erkenntnisse entsprechen<br />

und jeweils bestimmte Etappen und Seiten des einheitlichen Forschungsprozesses<br />

widerspiegeln. Im Zusammenhang damit entsteht eine<br />

umfangreiche Informationswiederholung unter den im Ergebnis der wissenschaftlichen<br />

Forschungstätigkeit anfallenden Dokumentenarten.“ 33 Auf<br />

der Grundlage eines vom sowjetischen Akademiearchiv ausgearbeiteten<br />

Fragebogens wurden von den Mitarbeitern der Akademiearchive in einer<br />

Reihe von Akademieinstituten Erhebungen mit dem Ziel angestellt, den<br />

Entstehungsprozess von wissenschaftlichen Dokumenten von der Primärbis<br />

zur Ergebnisdokumentation zu verfolgen und dabei zu ermitteln, inwieweit<br />

der Informationsgehalt von Dokumentenarten der Primärdokumentation<br />

von der wissenschaftlichen Ergebnisdokumentation absorbiert<br />

wird und welche Formen der Doppelüberlieferung von wissenschaftlichen<br />

Dokumenten auftreten. 34<br />

Die Ergebnisse der Untersuchungsarbeit fanden ihren Niederschlag in<br />

der 1985 ausgearbeiteten „Richtlinie für die Bewertung der wissenschaftlichen<br />

Dokumentation im Zuständigkeitsbereich des Akademie-Archivs“. 35<br />

Für die Bestandsergänzung des Akademiearchivs kam demnach nur ein<br />

begrenzter Teil der wissenschaftlichen Primär- und Zwischendokumente in<br />

Frage. Als archivwürdig wurden z. B. die Primär- und Zwischendokumente<br />

bei herausragenden wissenschaftlichen Entdeckungen und einmaligen<br />

Erscheinungen in der Natur eingestuft oder wenn sie das Wirken herausragender<br />

Wissenschaftler von nationalem und internationalem Rang<br />

dokumentieren. Möglich war auch eine repräsentative Auswahl für die<br />

ständige archivische Aufbewahrung, um an einigen ausgewählten Institutsüberlieferungen<br />

den Forschungsprozess allseitig dokumentieren zu können.<br />

Die wissenschaftliche Ergebnisdokumentation wurde als die wichtigste<br />

archivalische Informationsquelle für die Geschichte der Wissenschaft<br />

und des wissenschaftlich-technischen Fortschritts eingestuft, innerhalb<br />

33 Richtlinie für die Bewertung der wissenschaftlichen Dokumentation im Zuständigkeitsbereich<br />

des Akademie-Archivs, Sonderdruck, S. 2.<br />

34 Vgl. Christa Kirsten: Das Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR, in:<br />

Archivmitteilungen 29 (1979), Heft 5, S. 191.<br />

35 Sonderdruck.<br />

Universitätsreden 73 87


Vera Enke<br />

derer die Forschungs- und Entwicklungsberichte die wichtigste Quellenkategorie<br />

bilden. „Sie fixieren die Ergebnisse der Forschungsarbeit zum<br />

jeweiligen Forschungsthema, enthalten Ausführungen zur Zielsetzung der<br />

F/E-Aufgabe, zu den angewandten Forschungsmethoden, zum Verlauf und<br />

zu den Lösungsvarianten der Forschungsarbeit sowie Schlußfolgerungen<br />

für die praktische Anwendung der erzielten Ergebnisse.“ 36 Ihr Informationsgehalt<br />

wird nur zu 10 bis 15 Prozent durch die entsprechende wissenschaftliche<br />

Fachliteratur abgedeckt. 37 Das Akademiearchiv legte daher<br />

größtes Augenmerk auf eine geschlossene Forschungs- und Entwicklungsberichtsüberlieferung<br />

im Bereich der Akademie. 38 Mit einer Anordnung<br />

des Ministers für Wissenschaft und Technik waren die Institute und<br />

Einrichtungen bereits 1979 verpflichtet worden, die in ihrer Forschungseinrichtung<br />

entstehenden Forschungs- und Entwicklungsberichte aufzubewahren<br />

und auf Anforderung zur Verfügung zu stellen. 39<br />

In der Folgezeit konzentrierte sich die Bewertungstätigkeit auf den<br />

Schriftgutkomplex wissenschaftsorganisatorisches Schriftgut. Es sollte ein<br />

Schriftgutbewertungsverzeichnis erarbeitet werden, in dem die dauernd<br />

aufzubewahrenden Schriftgutkategorien sowie diejenigen mit befristetem<br />

Wert unter Angabe ihrer Aufbewahrungsfristen aufgeführt sind. Aufgrund<br />

der gesellschaftlichen Umbruchszeit in der DDR und den übrigen Ländern<br />

Mittel- und Osteuropas seit 1989 kam es dazu nicht mehr.<br />

Bei der Ausscheidung der Masse des kurzfristig aufzubewahrenden<br />

Schriftgutes im Bereich der Akademie war das 1973 von der Staatlichen<br />

Archivverwaltung der DDR herausgegebene „Rahmenverzeichnis für die<br />

36 Richtlinie für die Bewertung der wissenschaftlichen Dokumentation im Zuständigkeitsbereich<br />

des Akademie-Archivs, Sonderdruck, S. 8/9.<br />

37 Ebd., S. 9.<br />

38 Die detaillierten Untersuchungsergebnisse des Akademiearchivs finden sich in:<br />

Wolfgang Knobloch: Probleme der Bewertung wissenschaftlicher Dokumentation aus<br />

den Einrichtungen der Akademie der Wissenschaften der DDR als Voraussetzung für<br />

die Bestandsergänzung des Akademie-Archivs, in: Archivmitteilungen 35 (1985),<br />

Heft 4, S. 115-119.<br />

39 Vgl. „Anordnung zur Bereitstellung von Informationen über wissenschaftlich-technische<br />

Ergebnisse“ vom 20. Juni 1979, in: Gesetzblatt der DDR, Teil I, Nr. 19 (1979),<br />

S. 164 f.<br />

88 Universitätsreden 73<br />

vereinfachte Kassation typischer Schriftgutkategorien“ ein wichtiges<br />

Hilfsmittel.<br />

5. Aspekte der Bewertung in der Gegenwart<br />

Archiv ische Bew ertung<br />

Die Überlieferungslücken in der Abteilung Akademiebestände nach 1945,<br />

die vor allem im Zuge der Abwicklung der Akademie der Wissenschaften<br />

der DDR entstanden sind, zwingen die Archivare des Akademiearchivs, die<br />

Fragen der Bewertung des dienstlichen Schriftgutes zum Teil völlig neu zu<br />

stellen. Es kann heute z. B. nicht mehr davon ausgegangen werden, dass<br />

sich die wissenschaftsorganisatorische Tätigkeit der Forschungseinrichtungen<br />

in der Regel im Schriftgut der übergeordneten Registraturbildner<br />

in genügendem Maße widerspiegelt. Da die aktenführenden Stellen nicht<br />

mehr existieren, ist es darüber hinaus nicht möglich, sie – wie in früheren<br />

Jahren üblich – in die Bewertungsentscheidung einzubeziehen, indem man<br />

sie nach dem Informationsgehalt und der Aussagekraft der verschiedenen<br />

Quellenkategorien ihrer Überlieferung befragt.<br />

In der Wendezeit hatten die Mitarbeiter des Akademiearchivs – wie bereits<br />

erwähnt – eine „Richtlinie für die Auswahl von historisch wertvollem<br />

Schriftgut aus den Instituten und Einrichtungen der ehemaligen AdW der<br />

DDR zum Zwecke der Archivierung“ erarbeitet, die 1991 auch dem „Abwicklungsleitfaden“<br />

für die Institute und Einrichtungen beigefügt worden<br />

war. 40 Sie enthält alle aus der Sicht des Akademiearchivs archivwürdigen<br />

Schriftgutkategorien und bietet daher eine gute Orientierung für die Mitte<br />

der 1990er Jahre eingeleiteten Untersuchungen zur Quellensituation. Diese<br />

Untersuchungen sind unerlässlich, da erst die Kenntnis der vorhandenen<br />

Überlieferungslücken fundierte Bewertungsentscheidungen ermöglicht. Sie<br />

werden begleitet von einer systematischen Befragung der Archivnutzer<br />

nach dem Ergebnis der Recherche, dem Informationsgehalt und der Aus-<br />

40 Vera Enke: Sonderregistraturen an der Akademie der Wissenschaften der DDR 1945–<br />

1991. Untersuchungen und Analysen zur Überlieferungslage, Band 2 (Anlagen), S. 67-<br />

69, Dissertation. Berlin 2000.<br />

41 Die Abteilung I koordinierte Forschungsaufgaben militärischen Charakters und Forschungsaufgaben,<br />

die Schlüsseltechnologien betrafen.<br />

Universitätsreden 73 89


Vera Enke<br />

sagekraft der verschiedenen Überlieferungen. Die Untersuchungen zur<br />

Überlieferungslage konzentrierten sich zunächst auf die Sonderregistraturen<br />

(v. a. Verschlusssachen, SED-Parteischriftgut, Abteilung I 41 ), da es<br />

sich hier um einen elitären Teil des dienstlichen Schriftgutes der Akademie<br />

handelt, und die Frage, ob sich diese Verluste kompensieren lassen. Die<br />

Untersuchungsergebnisse wurden im Rahmen einer Dissertationsschrift<br />

vorgestellt. 42 Sie schlossen bei den Verschlusssachen unter anderem Untersuchungen<br />

zu folgenden Quellenkomplexen ein: Dokumente zur Landesverteidigung<br />

43 , Dissertationen 44 , Kaderstatistiken 45 und Reiseberichte. 46<br />

Im folgenden soll beispielhaft auf die Reiseberichte eingegangen werden.<br />

Innerhalb der Reiseberichtsdokumentation wurden nur bestimmte<br />

Dokumentenkategorien als archivwürdig eingestuft. Dazu gehörten der<br />

Reiseantrag, die Reisedirektive und der Reisebericht, dem insbesondere in<br />

den 1980er Jahren vielfach ein Sofortbericht vorausging. Alle Akademiemitarbeiter<br />

hatten ihre Berichte der Hauptabteilung Internationale Beziehungen<br />

– einem der größten Aktenproduzenten der DDR-Akademie –<br />

in mehreren Exemplaren zu übergeben. Die Reiseberichte des Teilbestandes<br />

Hauptabteilung Internationale Beziehungen liegen für den Zeitraum<br />

bis 1986 bereits erschlossen vor und umfassen insgesamt 133 lfm. Reiseberichte<br />

finden sich aber auch in den Überlieferungen der Leitungsorgane,<br />

der Forschungseinrichtungen, wissenschaftlichen Gesellschaften und<br />

Nationalkomitees. Bei den Mitarbeitern des Akademiearchivs gab es in<br />

früheren Jahren hinsichtlich der Archivwürdigkeit der Reiseberichte unterschiedliche<br />

Auffassungen. Glücklicherweise konnten sich die Archivare,<br />

die eine dauernde Aufbewahrung befürworteten, durchsetzen, da der<br />

Quellenkomplex Reiseberichte heute einen wichtigen Platz unter den wissenschaftshistorischen<br />

Quellen einnimmt. Die Untersuchungen ergaben,<br />

42 Vera Enke: Sonderregistraturen an der Akademie der Wissenschaften der DDR 1945–<br />

1991. Untersuchungen und Analysen zur Überlieferungslage, Band 1 und 2, Dissertation.<br />

Berlin 2000.<br />

43 Ebd., Band 1, S. 162-169.<br />

44 Ebd., Band 1, S. 169-177.<br />

45 Ebd., Band 1, S. 177-182.<br />

46 Ebd., Band 1, S. 182-188.<br />

90 Universitätsreden 73<br />

Archiv ische Bew ertung<br />

dass nur ca. 80 Prozent der Reiseberichte in der Überlieferung der Hauptabteilung<br />

Internationale Beziehungen enthalten sind. Es ist daher nicht<br />

möglich, entsprechende Überlieferungen bei anderen Registraturbildnern<br />

komplett zu kassieren. Bei der Erschließung der Forschungsbereiche z. B.,<br />

die in den letzten Jahren erfolgte, musste bei jedem einzelnen Reisebericht<br />

geprüft werden, ob es sich um Mehrfachüberlieferung handelt. Die Mehrzahl<br />

der Reiseberichte konnte hier kassiert werden, andere kompensierten<br />

die Überlieferungslücken im Teilbestand Hauptabteilung Internationale<br />

Beziehungen.<br />

In der Abteilung Akademiebestände nach 1945 muss heute in der Regel<br />

im Vorfeld der Erschließung von Beständen die Überlieferungslage analysiert<br />

werden. So konnte beispielsweise bei der gegenwärtigen Erschließung<br />

der Sitzungsprotokolle der Akademie (Plenum, Präsidium, Kollegium,<br />

Senat, Klassen etc.) aus dem Zeitraum 1969 bis 1991 festgestellt werden,<br />

dass sie in den Überlieferungen des Präsidenten, der zahlreichen Vizepräsidenten,<br />

des Generalsekretärs und des Justitiars vorhanden sind. Da es sich<br />

eindeutig um Mehrfachüberlieferungen im zusammengefassten Bestand<br />

Akademieleitung 1969-1991 handelt, können diese kassiert werden.<br />

Verlorengegangene Akten können vielfach in der Vertikale partiell durch<br />

die Gegenüberlieferung höherer und nachgeordneter Stellen rekonstruiert<br />

werden. Aber auch auf der horizontalen Ebene bieten sich Möglichkeiten<br />

zur Substitution von Verlusten. Die Bewertungsdiskussion über den Quellenwert<br />

einzelner Bestände wird daher im Akademiearchiv im Einklang<br />

mit der Erschließung der einzelnen Bestände erfolgen. Man wird unter<br />

anderem gezwungen sein, Bestände, die man bei einer vollständigen Überlieferung<br />

durchkassiert hätte, als Ersatzüberlieferung komplett aufzubewahren.<br />

Als Ersatzdokumentation für verlorengegangenes Aktenmaterial<br />

kommt im Akademiearchiv auch Sammlungsgut (z. B. Zeitungsausschnitte)<br />

in Frage. Eine besondere Bedeutung haben Erinnerungsberichte,<br />

die nicht nur nicht mehr vorhandene Akten teilweise ersetzen können,<br />

sondern darüber hinaus vieles, was innerhalb der Akademie geschah und<br />

im allgemeinen nicht aktenkundig wurde, überliefern. Eine weitere Möglichkeit,<br />

Überlieferungslücken zu schließen, stellt die Überprüfung der im<br />

Akademiearchiv vorhandenen Nachlässe dar, da sich in ihnen oft dienstliches<br />

Schriftgut befindet, das in den jeweiligen Beständen fehlt. Das Aka-<br />

Universitätsreden 73 91


Vera Enke<br />

demiearchiv wird in Zukunft auch – wenn entsprechende Angebote erfolgen<br />

– sogenannte private Archive übernehmen. Nach der Wende wurden<br />

vielfach dienstliche Unterlagen aus den Registraturen oder Institutsarchiven<br />

entnommen und von ehemaligen Akademiemitarbeitern oder<br />

fremden Personen widerrechtlich in Besitz genommen.<br />

92 Universitätsreden 73<br />

Künstler-Archive – ein Sammlungsziel?<br />

Zur Strategie des Archivs der Universität der Künste<br />

Berlin<br />

Dietmar Schenk<br />

Vor wenigen Tagen, am 8. März 2006, nahmen wir aus der Schweiz neben<br />

historischem Mobiliar, Graphiken und Teilen der Privatbibliothek des<br />

Geigers und Violinpädagogen Max Rostal auch die Zimelien seines Archivs<br />

in Empfang: an ihn gerichtete Briefe von Béla Bartók, Pablo Casals,<br />

Vaughan Williams, George Enescu und anderen. Erwähnt sei ein ausführliches<br />

Schreiben Bartóks aus dem Jahre 1931 über sein 1. Streichquartett<br />

(1908), in dem er ältere Metronomangaben widerruft. 1 Ferner gehören<br />

Autographe dazu, die Rostal selbst gesammelt hat: etwa von Paganini und<br />

Debussy. 2 Den Hauptteil des Archivs – Manuskripte, Korrespondenzen,<br />

Fotografien, Tonaufnahmen, Musikalien – besitzen wir seit mehreren<br />

Jahren; die Erschließung im Rahmen eines DFG-Projekts ist abgeschlossen,<br />

das zweibändige Inventar wurde im vergangenen Jahr publiziert. 3 Beim<br />

kommenden Max-Rostal-Wettbewerb werden wir die kostbaren Neuzugänge<br />

vorstellen und demnächst Rostals Autobiographie Violin-Schlüssel-<br />

Erlebnisse. Achtzig Jahre mit v ier Saiten im Verlag Ries & Erler, Berlin, herausgeben.<br />

4<br />

1 Die Anfrage Rostals, auf die Bartók reagiert, ist bereits publiziert bei Deniys Dille<br />

(Hrsg. im Auftrag der Ungarischen Akademie der Wissenschaften – Bartók Archivum,<br />

Budapest): documenta bartókiana. Mainz 1968, S. 164 (Nr. 108).<br />

2 Diese Sammlung werde ich an anderer Stelle noch genauer beschreiben.<br />

3 Antje Kalcher (Bearb.): Nachlass Max Rostal. Inventar. (Schriften aus dem Archiv der<br />

Universität der Künste Berlin, hrsg. v. Dietmar Schenk. Inventare Bd. 2.1 und 2.2) Berlin<br />

2005.<br />

4 Hrsg. und bearbeitet von Dietmar Schenk und Antje Kalcher, Berlin 2007. Es handelt<br />

sich, genau genommen, um eine ‚Doppelbiographie‘: um die Autobiographie von Max<br />

Rostal und die seines Bruders Leo, eines Cellisten, der in die USA emigrierte, und die<br />

wir aus dem Englischen übersetzen.<br />

Universitätsreden 73 93


Dietmar Schenk<br />

Dieser erfreuliche Abschluss der schrittweise erfolgten Übergabe eines<br />

bedeutenden Musikernachlasses ist das Ergebnis eines über Jahre gewachsenen<br />

Vertrauens von Rostals Witwe Marion Rostal-Busato, Bern, zur Universität<br />

der Künste (UdK) und ihrem Archiv. Auf dem Weg liegen zahlreiche<br />

Aktivitäten: die mehrmalige Austragung des Wettbewerbs in Berlin<br />

und – seitens des Archivs – etwa die Publikation des Briefwechsels von<br />

Max Rostal mit seinem Lehrer Carl Flesch. 5 Max Rostal musste Deutschland<br />

als Jude nach der nationalsozialistischen Usurpation der Macht verlassen;<br />

1931 berufen, bekleidete er kaum zwei Jahre seine Professur an der<br />

Berliner Hochschule für Musik, einer Vorgängerinstitution der UdK, und<br />

fühlte sich ihr doch zeitlebens verbunden, so dass sein Nachlass zu uns<br />

kam.<br />

Dieses ganz aktuelle Beispiel mag hier als Beleg dafür stehen, dass unser<br />

Archiv auf dem Gebiet des Erwerbs von Künstler-Archiven, seien es Voroder<br />

Nachlässe, überraschend erfolgreich ist. Zugänge wie diese stellten<br />

sich gerade in jüngster Zeit so zahlreich ein, dass sie das Profil des Archivs<br />

verändert haben.<br />

Als erstes möchte ich die hervorhebenswerten unter den Vor- und Nachlässen<br />

sowie den Sammlungen privater Provenienz aufführen, mit deren<br />

Übernahme wir seit 2004/05 begonnen haben:<br />

– das Archiv Hardt-Waltherr Hämer,<br />

– als weitere architekturbezogene Bestände die Archive von Bruno Flierl<br />

und Jonas Geist,<br />

– das Archiv des Schreker-Schülers Kurt Fiebig,<br />

– die Sammlung der Friedrich-Kiel-Gesellschaft e.V. über Friedrich Kiel<br />

und seinen internationalen Schülerkreis, von Paderewski bis Nordraak<br />

6 ,<br />

– die fotografiegeschichtliche Sammlung Diethart Kerbs<br />

sowie<br />

5 Dietmar Schenk / Wolfgang Rathert (Hrsg.): Carl Flesch und Max Rostal. Aspekte der<br />

Berliner Streichertradition. (Schriften aus dem Archiv der Universität der Künste<br />

Berlin Bd. 4) Berlin 2002.<br />

94 Universitätsreden 73<br />

Künstler-Archiv e – ein Sammlungsziel?<br />

– Sammlungen und Teilarchive aus dem Gebiet der visuellen Kommunikation,<br />

der Graphik und des Designs: von Ludwig Thürmer, Herbert<br />

W. Kapitzki und Christian Gellner.<br />

Als weiterer Erfolg sei der Erwerb der Schreker-Bibliothek genannt, der im<br />

Neubau der Universitätsbibliothek aufgestellt worden ist. 7 Ich trete den<br />

Kollegen in der Bibliothek nicht zu nahe, wenn ich konstatiere, dass diese<br />

Übernahme ausschließlich dank der Archivarbeit möglich wurde und jetzt<br />

dem nüchternen Bibliotheksneubau in der Charlottenburger Fasanenstraße<br />

die Aura einer beinahe noch großbürgerlichen Epoche, jedenfalls<br />

der Tradition, verleiht.<br />

Zunächst eine sehr allgemeine Bemerkung zu den Sammlungszielen des<br />

UdK-Archivs: Für Archive ist es zweifellos ein Ausnahmefall, dass potentielles<br />

Archivgut nicht durch die fest definierte Zuständigkeit für bestimmte<br />

Registraturbildner geregelt ist; die Konkurrenzsituation, die gerade auf<br />

dem Gebiet der Künstler-Archive und innerhalb einer so stark ausdifferenzierten<br />

Archivlandschaft wie in Berlin besteht, ist eher ungewöhnlich.<br />

Die Archive von Künstlern, die an der UdK gelehrt haben, sind für das<br />

Universitätsarchiv selbstverständlich von Interesse, da anhand der in ihnen<br />

enthaltenen Dokumente die künstlerische Lehre in ganz anderer, nicht<br />

weniger inhaltsreicher Perspektive in den Blick rückt als in den behördlichen<br />

Dokumenten. Papiere privater Provenienz gewähren oft Einblicke<br />

ins ‚Innere‘ des Unterrichts, das mit Hilfe von Verwaltungsunterlagen oft<br />

nicht greifbar ist. 8<br />

Manche Geber entscheiden sich aufgrund ihres Verständnisses vom Profil<br />

eines Universitätsarchivs für eine themenbezogene Abgabe und vertrauen<br />

6 Die Feier zur Übergabe des Archivs ist dokumentiert in: Peter Pfeil (Hrsg.): Mitteilungen<br />

der Friedrich-Kiel-Gesellschaft e.V. Nr. 30, 15. Dezember 2005. Coppenbrügge<br />

2005.<br />

7 Vgl. Dietmar Schenk (Hrsg.): Franz Schrekers Bibliothek / The Schreker Library.<br />

(Schriften aus dem Archiv der Universität der Künste Berlin Bd. 9) Berlin 2005. Die<br />

Übergabe der Schreker-Bibliothek erfolgte, nachdem im Oktober 2003 ein von mir<br />

angeregtes Internationales Symposium „Franz Schreker und seine Schüler“ die<br />

atmosphärischen Voraussetzungen geschaffen hatte.<br />

8 In einem Buch über die Kompositionsklasse Franz Schrekers haben wir einen solchen<br />

Einblick zu gewinnen versucht – und festgestellt, wie schwierig das ist: Dietmar Schenk /<br />

Universitätsreden 73 95


Dietmar Schenk<br />

dem UdK-Archiv einen Teil ihres Vorlasses bzw. einen Teilnachlass an.<br />

Das älteste Beispiel für diese Vorgehensweise ist der Teilnachlass des<br />

‚Gründers‘ der Berliner Hochschule für Musik, Joseph Joachim, dessen<br />

Sohn im Gefolge der Feiern zum 100. Geburtstag 1931 die Betreffe übergab,<br />

die sich auf die Hochschule bezogen. 9 Die Teilung von Nachlässen<br />

raten Archivare freilich nicht an. In anderen Fällen sieht der Geber die<br />

ungeteilte Übertragung des gesamten persönlichen Archivs vor: so Hardt-<br />

Waltherr Hämer, auf dessen Archiv ich exemplarisch eingehen möchte.<br />

Der 1922 geborene Architekt und Stadtplaner Hardt-Waltherr Hämer<br />

hat sich durch das Konzept der behutsamen Stadterneuerung einen Namen<br />

erworben. 10 Er studierte an der Hochschule für Bildende Künste (HBK)<br />

Berlin, ebenfalls eine Vorgängerinstitution der UdK, baute noch als<br />

Student die Schifferkirche im Ostseebad Ahrenshoop, erwarb sich dann als<br />

Theaterarchitekt einen Namen 11 und nahm 1967 den Ruf auf eine Professur<br />

an der HBK an. Angeregt und herausgefordert durch die Studentenbewegung<br />

und seine Arbeit mit Studenten an der HBK wandte er sich früh<br />

gegen die großflächigen Abrisse von Altbausubstanz in West-Berlin und<br />

führte weithin beachtete, modellhafte Sanierungsvorhaben durch. Zu nennen<br />

sind der Block 118 am Klausener Platz in Berlin-Charlottenburg (1974-<br />

1980) und die „IBA-Alt“, das heißt die Erneuerung ganzer Stadtquartiere<br />

in der Luisenstadt und im südöstlichen Kreuzberg (SO 36) im Rahmen der<br />

Internationalen Bauausstellung 1984/1987. 12 Das Hämer-Archiv umfasst<br />

Markus Böggemann / Rainer Cadenbach (Hrsg.): Franz Schrekers Schüler in Berlin.<br />

Biographische Beiträge und Dokumente. (Schriften aus dem Archiv der Universität der<br />

Künste Berlin Bd. 8) Berlin 2005.<br />

9 Er wurde inzwischen im Rahmen eines DFG-Projekts erschlossen. Vgl. Antje Kalcher<br />

(Bearb.): Teilnachlass Joseph Joachim. (Schriften aus dem Archiv der Universität der<br />

Künste Berlin, Inventare Bd. 1) Berlin 2004.<br />

10 Vgl. allgemein: Manfred Sack (Hrsg.): Stadt im Kopf. Hardt-Waltherr Hämer. Berlin<br />

2002. Inzwischen ist erschienen: Michael Bollé (Hrsg.) / Karl-Robert Schütze (Bearb.):<br />

Hardt-Waltherr Hämer. Architekt HBK: Behutsame Stadterneuerung (Schriften aus<br />

dem Archiv der Universität der Künste Berlin Bd.12) Berlin 2007.<br />

11 Über Hämer als Theaterarchitekten fand in diesem Frühjahr eine – vom Archiv konzipierte<br />

– Ausstellung an der UdK statt. Das Museum für Konkrete Kunst Ingolstadt hat<br />

diese Ausstellung übernommen. Vgl. die Begleitpublikation Michael Bollé (Hrsg.) /<br />

96 Universitätsreden 73<br />

Künstler-Archiv e – ein Sammlungsziel?<br />

Pläne, Akten und Fotografien über alldies und geht damit über eine streng<br />

hochschulbezogene Dokumentation sehr weit hinaus; sein Umfang ist<br />

beträchtlich.<br />

Sollte ein Universitätsarchiv einen solchen Fonds annehmen, der zwar von<br />

einem der Professoren stammt, dessen sachliche Bedeutung und thematische<br />

Reichweite aber den Umkreis der Hochschule sprengt? Wenn es dies<br />

nicht wollte und könnte, müsste es auf wesentliche Hochschulbetreffe verzichten.<br />

Überdies ist es schlicht attraktiv, besonders für die Architekturhistoriker<br />

des Hauses, ein solches Archiv zu beheimaten – sofern die erforderlichen<br />

räumlichen und personellen Kapazitäten bereitgestellt werden<br />

können. Für die UdK ergibt sich die Möglichkeit, durch dieses Archiv ihre<br />

Beteiligung an einem zentralen Aspekt der Stadtentwicklung West-Berlins<br />

öffentlich herauszustellen: ein von Hämer initiierter Forschungsschw erpunkt<br />

Stadterneuerung an der damaligen Hochschule der Künste (HdK) ging der<br />

IBA-Alt voraus.<br />

So waren hochschulpolitische, Forschungs- und Archivinteressen bei der<br />

Entscheidung für die Übernahme des Hämer-Archivs gleichermaßen wirksam.<br />

Für die Archiventwicklung innerhalb der UdK ist die Übernahme<br />

eines solchen Archivs vorteilhaft, weil es den internen Stellenwert des<br />

Archivs unterstreicht. Was die Bearbeitung angeht, so wird ein Präzedenzfall<br />

geschaffen für die Integration von archivischer Erschließung und<br />

architekturhistorischer Auswertung in der Kooperation des Universitätsarchivs<br />

mit einer Fakultät, hier der Fakultät Gestaltung. 13<br />

Überraschend ist die eingetretene Entwicklung gemessen an der Ausgangslage,<br />

in der das Archiv 1991 gegründet wurde und in der ich meine<br />

Tätigkeit aufnahm. Dass der Bereich der Nachlässe und Sammlungen in<br />

einigen Jahren ein wesentliches Aufgabengebiet sein würde, konnte ich in<br />

den neunziger Jahren nicht annehmen, und zwar aus zwei Gründen: Ich<br />

Karl-Robert Schütze (Bearb.): Hardt-Waltherr Hämer. Architekt HBK. Theaterbau.<br />

(Schriften aus dem Archiv der Universität der Künste Berlin Bd. 11) Berlin 2006. –<br />

Weitere Veranstaltungen und Publikationen sind geplant.<br />

12 Vgl. zum Beispiel Wolfgang Pehnt: Deutsche Architektur seit 1900. Ludwigsburg, München<br />

2005, S. 359, 389 und 399.<br />

Universitätsreden 73 97


Dietmar Schenk<br />

fand einen gänzlich unbearbeiteten, umfangreichen Altbestand aus dem<br />

19. und frühen 20. Jahrhundert vor, dessen archivische Sicherung und Erschließung<br />

vorrangig sein musste. Um die Einwerbung von Vor- und Nachlässen<br />

konnte ich mich deshalb nicht intensiv kümmern. Zum anderen<br />

gibt es in Berlin benachbarte Archive, die einem ‚kleinen‘ Universitätsarchiv<br />

haushoch überlegen zu sein schienen. Hierzu einige Bemerkungen.<br />

Die an der UdK lehrenden renommierten Künstler besitzen, was ihre<br />

institutionellen Zugehörigkeiten und Loyalitäten angeht, in aller Regel<br />

mehr als ein Standbein, und das wirkt sich auf ihre Präferenzen in archivischer<br />

Hinsicht aus. Es gibt die – mit der UdK geschichtlich verwobene 14 –<br />

Akademie der Künste, der eine ganze Reihe von Professoren angehören, mit<br />

ihrem auf Künstler-Nachlässe des 20. Jahrhunderts spezialisierten, großen<br />

Archiv. Die Berlinische Galerie sammelt als Landesmuseum für Moderne Kunst,<br />

Fotografie und Architektur speziell zeitgenössische Berliner Kunst und unterhält<br />

auch ein Archiv. Hinzu kommen die Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer<br />

Kulturbesitz mit ihrer Handschriften- und ihrer Musikabteilung, die<br />

Kunstbibliothek der Staatlichen Museen zu Berlin Preußischer Kulturbesitz und<br />

andere Einrichtungen mehr, denen das UdK-Archiv in der finanziellen<br />

Potenz und in der personellen wie sächlichen Ausstattung unterlegen ist.<br />

Manche Künstler-Nachlässe aus der Hauptstadt bleiben nicht einmal in<br />

Berlin: das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg besitzt ein namhaftes<br />

Archiv für Bildende Kunst mit zahlreichen schriftlichen Nachlässen von<br />

Künstlern, Architekten, Kunsthistorikern und Galeristen; die Paul-Sacher-<br />

Stiftung in Basel sammelt als Internationales Forschungsarchiv und -bibliothek<br />

zur Musik des 20. und 21. Jahrhunderts Musiker-Nachlässe in großem Umfang.<br />

Wie aber gelingt es einem kleinen Universitätsarchiv, in diesem Markt<br />

der Künstler-Archive, in dem es um viel Prestige und oft auch um viel<br />

Geld geht, überhaupt hineinzukommen? Und welche Bedeutung haben<br />

13 Seit 2005 besteht ein auf drei Jahre veranschlagtes Forschungsprojekt, in dem die archivische<br />

Erschließung, Zeitzeugengespräche und eine erste wissenschaftliche<br />

Aufarbeitung in Verbindung mit Ausstellungen Hand in Hand gehen.<br />

14 Vgl. Akademie der Künste / Hochschule der Künste Berlin (Hrsg.): „Die Kunst hat nie<br />

ein Mensch allein besessen“. 300 Jahre Akademie der Künste und Hochschule der<br />

Künste Berlin, 1696-1996. (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, 9. Juni bis 15. Sep-<br />

98 Universitätsreden 73<br />

Künstler-Archiv e – ein Sammlungsziel?<br />

Nachlässe und Sammlungen für die Archiventwicklung? Zu diesen Fragen<br />

möchte ich einige Überlegungen anstellen, die sich aus der Erfahrung<br />

beim Aufbau des UdK-Archivs in den letzten fünfzehn Jahren ergeben.<br />

Wie erwähnt, gehörte es nicht zu den Sammlungszielen, die ich mir realistischerweise<br />

anfangs stecken konnte, wichtige Künstler-Archive zu erlangen.<br />

Wie kam es dennoch dazu? Zur Beantwortung dieser Frage und zum<br />

Nutzen solcher Zugänge möchte ich einige Thesen formulieren, die den<br />

indirekten Weg zu den skizzierten Sammlungserfolgen verständlich<br />

machen.<br />

Erstens: Die nicht unbedeutenden Künstler-Archive, die das UdK-Archiv<br />

gewonnen hat, sind dank eines Netzwerks persönlicher Kontakte zu uns<br />

gekommen. Das Ereignis einer interessanten Übernahme tritt ein, wenn<br />

das Archiv in der Welt der Kunst und der Wissenschaft als eine Art historisches<br />

Kompetenzzentrum wahrgenommen wird. Das lässt sich vor allem<br />

durch die Mitwirkung an Projekten und Veranstaltungen erreichen: durch<br />

Editionen, Ausstellungen, Vorträge, Führungen, also durch alles das, was<br />

über die Erschließung im engeren Sinn und eine formalistische Auffassung<br />

des Archivarsberufs hinausgeht. Die Strategie, die ich einschlug,<br />

war nicht eigentlich eine Sammlungsstrategie, sondern eine Strategie des<br />

Sichtbar-Machens des Archivs im umfassenden Sinn. Die Angebote attraktiver<br />

Vor- und Nachlässe, die wir entgegennehmen konnten, beruhen fast<br />

ausschließlich auf persönlichen Begegnungen und Empfehlungen und setzen<br />

in jedem Fall eine ganz persönlich gefärbte Vertrauensbasis voraus. Das<br />

Moment des persönlichen Vertrauens relativiert meiner Erfahrung nach<br />

selbst den Aspekt des Renommees, den ein Archiv als Institution und<br />

durch die Institution des Archivträgers besitzt.<br />

Zweitens: Was ein Universitätsarchiv wie das der UdK zu bieten hat, ist<br />

gerade das Übergewicht des ‚Nicht-Archivischen‘ innerhalb der Träger-<br />

Institution, der Universität – also die atmosphärische Gegenwärtigkeit einer<br />

Ausbildungsstätte, die Ansehen genießt, die in gewisser Weise Jugendlichkeit<br />

verkörpert und in die sich das Archiv als eine mit ‚Altertümern‘ befasste<br />

Einrichtung als ein gewisser Kontrapunkt einfügt. Das Archiv soll<br />

und kann in diesem Kontext ein Ort unbefangenen Forschens und Arbeitens<br />

sein, unkompliziert in den Benutzungsvorgängen, jederzeit bereit zur<br />

Mitarbeit in der Ausbildungs- und Veranstaltungspraxis der künstlerischen<br />

Universitätsreden 73 99


Dietmar Schenk<br />

Hochschule, der es angehört. Oder wie es die Tochter und Erbin des Komponisten<br />

Justus Hermann Wetzel, dessen Nachlass sich bei uns befindet,<br />

Frau Ruth Ruiz-Pipó, Paris, schrieb: als ein Ort, an dem historische<br />

Dokumente eben nicht durch Archivierung „wie begraben“ sind. 15 Das<br />

Moment des Anti-Musealen, das ein solches Universitätsarchiv zur Geltung<br />

bringen kann, ist für manche Archivgeber gerade reizvoll. Kein Pantheon,<br />

sondern eine Werkstatt!<br />

Drittens: Künstler-Archive sind – auch im Vergleich zu behördlichen<br />

Unterlagen – in besonderem Maße geeignet, der Integration zwischen<br />

Archiv, künstlerischer Praxis und wissenschaftlicher Forschung an einer<br />

Kunst-Universität dienlich zu sein. Sie sind farbenreich genug und besitzen<br />

eine hinreichende Gegenwartsnähe, um auch für historisch wenig<br />

geschulte Personen, wie es die meisten Künstler sind, eindrucksvoll zu<br />

sein. Die Chancen, die für den Erwerb solcher Archive bestehen, sind vom<br />

historischen Gewicht der Hochschule und ihrer Leistungsfähigkeit in der<br />

Gegenwart mit abhängig, nicht nur von der Attraktivität des Archivs.<br />

In diesen drei Thesen ist, wenn man so will, auch eine Sammlungsstrategie<br />

enthalten. Von Strategie spricht man heute gern, ohne dass immer<br />

präzise bestimmt wäre, was damit gemeint ist. Meist versteht man unter<br />

Strategie schlicht ein über einen längeren Zeitraum hinweg durchgehaltenes,<br />

zielgerichtetes und reflektiertes Handeln. Bekanntlich wird der Ausdruck<br />

in der militärischen Sphäre gebraucht. Um den älteren Moltke zu<br />

zitieren: „Die Strategie ist ein System von Aushülfen. Sie ist mehr als Wissenschaft,<br />

ist die Uebertragung des Wissens auf das praktische Leben, die<br />

Fortbildung des ursprünglich leitenden Gedankens entsprechend den sich<br />

ändernden Verhältnissen, ist die Kunst des Handelns unter dem Druck der<br />

tember 1996) Berlin 1996. – Die Hochschule der Künste erhielt 2001 den Namen<br />

Univ ersität der Künste Berlin.<br />

15 So formuliert in einem privaten Brief anlässlich der Archivübergabe. – Vgl. Nancy Rudloff<br />

[Tanneberger] / Klaus Martin Kopitz / Dietmar Schenk (Hrsg.): Justus Hermann<br />

Wetzel. Komponist, Schriftsteller und Lehrer. (Schriften aus dem Archiv der Universität<br />

der Künste Berlin Bd. 7) Berlin 2004. Diese Publikation begleitete eine gleichnamige<br />

Ausstellung im Museum Mitte von Berlin, Palais am Festungsgraben (2004)<br />

und im Stadtmuseum Überlingen (2005/06). – In Verbindung mit der Fakultät Musik<br />

sind jetzt Liedkompositionen Wetzels ediert worden: Klaus Martin Kopitz (Hrsg.):<br />

Justus Hermann Wetzel. Lieder nach Gedichten von Hermann Hesse. Berlin 2006.<br />

100 Universitätsreden 73<br />

Künstler-Archiv e – ein Sammlungsziel?<br />

schwierigsten Bedingungen.“ 16 Geschicktes strategisches Handeln besteht<br />

also gerade darin, ein auf Erfolg hin angelegtes Agieren in einer unübersichtlichen,<br />

aber der Analyse von Faktoren zugänglichen Situation zu gewährleisten.<br />

Hierfür ist das UdK-Archiv, über den Einzelfall hinaus, ein gutes Beispiel,<br />

weil es mit einer Situation zu tun hatte, die in der Tat durch eine hohe<br />

Komplexität und durch Verwicklungen mit unbekanntem Ausgang<br />

gekennzeichnet war. Es war mir nicht möglich, eine auf bestimmte Inhalte<br />

und Personengruppen bezogene Sammlungsstrategie, die – wie rudimentär<br />

auch immer – eine Vorstellung von Dokumentationszielen voraussetzt,<br />

gleichsam auf dem Reißbrett zu konzipieren, ohne dass zugleich an eine<br />

Strategie der Archivarbeit insgesamt gedacht war. Was ich als ‚Gründungsarchivar‘<br />

tat, diente ganz unmittelbar wie auch vorausschauend der<br />

Selbstbehauptung des Archivs. Dieses Vorgehen ist auch aus übergeordneter<br />

Sicht gerechtfertigt, schon weil die Erhaltung möglichst vieler Archive<br />

zu einer differenzierten Geschichtskultur beiträgt, die durch zentralistische<br />

Modelle der Archivierung beeinträchtigt würde. Das strategische Handeln,<br />

von dem ich spreche, impliziert auch, dass die Prioritäten archivarischer<br />

Arbeit durch Notwendigkeiten der Selbstbehauptung, durch das<br />

äußere Zur-Geltung-Bringen des Archivs mit definiert sind. Ich hatte nicht<br />

das Glück, in eine stabile Institution zu geraten, aber auch vermeintliche<br />

Stabilität kann sich als trügerisch erweisen: das Beharrungsvermögen der<br />

Institution kann mit der Zeit aufgebraucht werden, wenn nicht ständig ein<br />

Zufluss an Legitimität erfolgt. Dann wird ein Archiv vielleicht sang- und<br />

klanglos geschlossen, wenn der dort tätige Archivar in Pension geht.<br />

Angesichts der angedeuteten Voraussetzungen überrascht es mich selbst,<br />

welchen Stellenwert der Bereich Nachlässe und Sammlungen binnen kurzem<br />

angenommen hat, und dass es gelungen ist, in ein Werkstatt-Archiv –<br />

wie ich das von mir betreute Archiv bezeichnen möchte – auf diesem<br />

Gebiet eine Schwelle an Prominenz und Bedeutung zu überschreiten, die<br />

für unüberwindbar gehalten werden musste.<br />

Die erzielten Resultate sprechen für eine Strategie der Archivarbeit, die<br />

im Grunde nur einen Leitsatz kannte: das Archiv nicht nur als ein ordnungsgemäß<br />

verwaltetes Depot zu betrachten, sondern als ein ‚Geschichtsforum‘<br />

mit möglichst weiter Ausstrahlung. Die für ein Hochschularchiv<br />

Universitätsreden 73 101


Dietmar Schenk<br />

besonders relevante Personengruppe ist die Professorenschaft, mit der<br />

intensive Gespräche und ein gegenseitiger geistiger Austausch stattfinden<br />

müssen. Für den Archivar ist es in diesem Zusammenhang hilfreich, wenn<br />

er auch als Wissenschaftler ausgewiesen ist.<br />

Die vorgetragenen Thesen möchte ich durch eine Skizze des Archivaufbaus<br />

und seines Kontextes illustrieren. 17 Als ich 1991 nach Berlin an die<br />

damalige Hochschule der Künste (HdK) kam, stellte sich bald heraus, dass<br />

die Archivgründung in doppelter Hinsicht prekär war. Das erst noch aufzubauende<br />

Archiv, aber auch die HdK insgesamt gerieten in den Sog der<br />

Strukturveränderungen, die im Zuge der Vereinigung der beiden Stadthälften<br />

anstanden und die durch die Haushaltsmisere Berlins nach dem<br />

abrupten Abzug von Fördermitteln des Bundes forciert wurden. Ich hatte<br />

gewissermaßen Pech, dass ich nach der sogenannten „Wende“, der Öffnung<br />

der Berliner Mauer und der Auflösung der DDR, eine Stelle antrat, die v or<br />

der „Wende“ geplant und eingerichtet worden war. Gerade etwas neu<br />

Geschaffenes war einem rauen Wind ausgesetzt.<br />

Ich schildere die Konstellation in aller Kürze. Zunächst zur Entwicklung<br />

der Hochschule der Künste unter geschichtspolitischem Aspekt. Sie entstand<br />

in einer Zeit, in der Organisationsreformen en vogue waren, nämlich<br />

1975, aus der Vereinigung der damaligen Hochschule für Bildende Künste<br />

und der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst. Diese Gründung war<br />

umstritten. Zwar konnte mit der HdK-Gründung das abstruse Vorhaben<br />

einer Fusion beider künstlerischer Hochschulen mit der Technischen<br />

Universität verhindert werden. Doch geschah die Vereinigung gegen den<br />

Willen großer Teile der Hochschule für Musik. 18 Der Abschied von dem<br />

herkömmlichen institutionellen Typus der Akademie beziehungsweise der<br />

Musikhochschule war nicht nur von Hoffnungen begleitet, sondern auch<br />

16 Stig Förster (Hrsg.): [Helmuth Graf von] Moltke. Vom Kabinettskrieg zum Volkskrieg.<br />

Eine Werkauswahl. Bonn 1992, S. 632. Es handelt sich um den Schlusspassus des<br />

Aufsatzes „Über Strategie“ aus dem Jahr 1871.<br />

17 Einen ganz anderen Aspekt des Archivaufbaus an der UdK habe ich erst vor kurzem<br />

beleuchtet: Dietmar Schenk: Ein Knotenpunkt der Berliner Musikgeschichte. Das<br />

Archiv der Universität der Künste als Musikarchiv, in: Forum Musikbibliothek 4<br />

(2005), S. 396-404.<br />

18 Ein Vierteljahrhundert später war ich an der Umbenennung des Freundeskreises der<br />

Hochschule für Musik, dessen anachronistischer Name sich demonstrativ auf eine<br />

102 Universitätsreden 73<br />

Künstler-Archiv e – ein Sammlungsziel?<br />

schmerzvoll. Die Umbenennung und Statusverbesserung von HdK zu<br />

UdK – Universität der Künste – entspricht vor diesem Hintergrund einer<br />

politischen Flucht nach vorne.<br />

Pointiert und mit Bezug auf Geschichtsarbeit ausgedrückt: Nach dem<br />

institutionellen Kontinuitätsbruch bot sich die Möglichkeit einer ins<br />

Neue immer weiter vorstoßenden Politik. Was die Vergangenheit betraf, so<br />

bestand jenes Vakuum, das für die kriegs- und nachkriegszerstörte Stadt<br />

Berlin überhaupt kennzeichnend und schon im Stadtbild abzulesen ist:<br />

vieles von dem, was der Krieg verschonte, wurde in der Nachkriegszeit aus<br />

Achtlosigkeit und Geschichtsvergessenheit zerstört. Auch die paradoxe<br />

Modernitätsnostalgie der achtziger Jahre – die Reminiszenz der ‚goldenen‘<br />

zwanziger Jahre – kann mit einer soliden historischen Identität nicht verwechselt<br />

werden. Doch gibt es in der Geschichte der UdK sehr beachtenswerte<br />

Kapitel, gerade in der Kaiserzeit und in der Zeit der Weimarer<br />

Republik.<br />

Mit der Öffnung der Mauer entstand eine völlig neue Situation. In Ost-<br />

Berlin gab es nämlich gleich drei künstlerische Spartenhochschulen, die<br />

nun vom maroden Gesamt-Berlin zu tragen waren: der Größe nach geordnet,<br />

die Hochschule für Musik „Hanns Eisler“, die Kunsthochschule Berlin in<br />

Weißensee und die Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“. Mit Blick<br />

auf die Geschichte muss festgehalten werden, dass sich die Berliner Kulturpolitik<br />

in der Konkurrenz der ehemals westlichen und der ehemals östlichen<br />

Institutionen – in Anbetracht jener Doppelung, die als Erbe der Teilung<br />

zu bewältigen ist – überwiegend für die Standorte in der alten Mitte,<br />

also im ehemaligen Ost-Berlin entschied; im Falle der künstlerischen<br />

Hochschulen sprach die Anciennität aber für die HdK. Um die Entwicklung<br />

zusammenzufassen: Schließungen ganzer Hochschulen gab es nicht.<br />

Die HdK büßte aber im Zuge mehrerer Sparauflagen in den neunziger<br />

Jahren ungefähr ein Drittel ihres Haushalts und ihrer Personalstellen ein.<br />

Unter diesen Zwängen verordnete sie sich radikale Strukturreformen,<br />

durch die eine deutliche Konsolidierung erreicht wurde.<br />

Von Anfang an habe ich das – erst noch aufzubauende – Archiv, für das<br />

ich die fachliche Verantwortung übernahm, im Lichte der geschichtspolitischen<br />

Situation der HdK betrachtet. Das Verhältnis zur Geschichte war<br />

Universitätsreden 73 103


Dietmar Schenk<br />

an HdK bzw. UdK durch zwei Faktoren geprägt: den Verlust des Rückhalts<br />

an einer Tradition durch die geschichtlichen Katastrophen des 20. Jahrhunderts,<br />

den die West-Berliner Konstituierung der neuartigen HdK noch<br />

vertiefte, und das Potential einer Betonung historischer Bezüge angesichts<br />

einer verhältnismäßig langen, bemerkenswerten Geschichte mit manchen<br />

Höhepunkten. Es ist völlig klar: das Schicksal einer Hochschule entscheidet<br />

sich nicht an der Bedeutung ihrer Vergangenheit. Diese aber in die<br />

Gegenwart einzubringen, ist eine Aufgabe, die im günstigen Fall zu mehr<br />

führt als lediglich zu Sonntagsreden. 19<br />

Um nun – zweitens – auf die Situation des HdK-Archivs zu kommen. Seit<br />

den achtziger Jahren gab es an der HdK ein Forschungsprojekt über die<br />

Vorgängerinstitutionen in der Zeit des Nationalsozialismus, das dann<br />

durch eine Studie zur Nachkriegszeit fortgesetzt wurde. 20 Aus dieser historischen<br />

Arbeit entstand der Gedanke eines HdK-Archivs; problematisch<br />

nicht mehr bestehende Einrichtung bezog, mit einem Gutachten beteiligt. Daran mag<br />

man ermessen, wie tief die Vorbehalte verankert waren. Heute heißt der sehr rege gewordene<br />

Freundeskreis Paul-Hindemith-Gesellschaft in Berlin.<br />

19 In meinem Buch über die Hochschule für Musik habe ich eines der glanzvollsten<br />

Kapitel der verzweigten Hochschulgeschichte behandelt. Vgl. Dietmar Schenk: Die<br />

Hochschule für Musik zu Berlin. Preußens Konservatorium zwischen romantischem<br />

Klassizismus und Neuer Musik. (Pallas Athene. Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte<br />

Bd. 8) Stuttgart 2004. Und es zeigt sich gerade in diesen Tagen, dass<br />

es an der Zeit war, dieses geschichtliche Kapitel in den Blick zu rücken: Einer der<br />

Konzertsäle der UdK wird am 24. Mai 2006 als Carl-Flesch-Saal benannt. Es ist zu vermuten,<br />

dass weitere Schritte einer symbolischen ‚Geschichtsnutzung‘ folgen werden.<br />

Ein instruktives Beispiel für Geschichtspolitik unter Mitwirkung des UdK-Archivs ist<br />

das folgende: Das erfolgreiche Julius-Stern-Institut für musikalische Nachw uchsförderung der<br />

UdK besitzt, unterstützt durch einen Freundeskreis, eine große Präsenz in der Öffentlichkeit.<br />

Die geschichtliche Herkunft des Instituts aus dem – schon 1850 gegründeten,<br />

international ausstrahlenden – Stern’schen Konserv atorium der Musik, einem Privatkonservatorium<br />

in jüdischem Besitz, ist so interessant und erinnernswert, dass sich immer<br />

wieder Gelegenheiten für historisch-musikalische Interdependenzen ergeben, zuletzt<br />

mit einer Festschrift: Ottokar Hahn (Hrsg.): Das Julius-Stern-Institut. Gegenwart und<br />

Geschichte. (Schriften aus dem Archiv der Universität der Künste Berlin Bd. 10) Berlin<br />

2005. – Vgl. auch Dietmar Schenk: Das Stern’sche Konservatorium der Musik in Berlin<br />

1850-1915, in: Michael Fend / Michel Noiray (Hrsg.): Musical Education in Europe<br />

(1770-1914). Compositional, Institutional, and Political Challenges. Bd. 1. Berlin 2005,<br />

S. 275-297.<br />

104 Universitätsreden 73<br />

Künstler-Archiv e – ein Sammlungsziel?<br />

war natürlich, dass eine durch die Hochschule privilegierte Einzelnutzung<br />

wichtiger Bestände der archivischen Sicherung vorausging. Die elementare<br />

Voraussetzung für ein Archiv: das Vorhandensein von Archivalien, war<br />

aber in hohem Maße gegeben. Seit die „Unterrichtsanstalten“ der 1696 gestifteten<br />

Berliner Akademie der Künste einen halbselbständigen Status erhielten,<br />

das heißt seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, gab es eine<br />

von der Gesamtakademie (oder ‚Rest-Akademie‘) separate Aktenüberlieferung,<br />

die sich ohne allzu große Kriegsverluste an der UdK bewahrt hat.<br />

Die Unterlagen der verschiedenen Vorgängerinstitutionen waren über die<br />

Häuser verteilt. Die Archivgründung hatte dann das Handicap, dass sie<br />

mit nur geringer Verankerung in der Hochschule und in einem ungeklärten<br />

Verhältnis zu dem genannten Forschungsprojekt aus der Initiative der<br />

Hochschulbibliothek erfolgte.<br />

Für die Strategie des Sichtbar-Machens des Archivs hat glücklicherweise<br />

die geringe Zeit, die zur Verfügung stand, ausgereicht. Das Archiv wurde<br />

mit der fachlich benachbarten Sammlung für Graphik und Fotografie zusammengelegt;<br />

sie besteht in ihrem Kern aus Bildvorlagen (Reproduktionsgraphik<br />

und Fotografien) der Vorgängereinrichtungen und weist als Relikt<br />

einer älteren Praxis von Kunstlehre archivische Strukturen auf. 21 Diese<br />

Vereinigung veränderte das Profil des Universitätsarchivs und nähert es<br />

jenem an den Kunsthochschulen geläufigen Typus an, der Archiv und<br />

Kustodie zusammenfasst. 22 Worüber ich eingangs summarisch berichtete,<br />

die Hinzufügung eines dritten Schwerpunkts Vor- und Nachlässe, Samm-<br />

20 Vgl. Christine Fischer-Defoy: Kunst, Macht, Politik. Die Nazifizierung der Kunst- und<br />

Musikhochschulen in Berlin. Berlin 1988, und dies.: „Kunst, im Aufbau ein Stein“. Die<br />

Westberliner Kunst- und Musikhochschulen im Spannungsfeld der Nachkriegszeit.<br />

Berlin 2001.<br />

21 Vgl. zu diesen Beständen: Dietmar Schenk: Vorlagensammlungen für den Unterricht<br />

gewerblicher und akademischer Künstler. Zu den Beständen an Fotografien und Druckgraphik<br />

im Archiv der Berliner Universität der Künste, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte<br />

6 (2003), S. 234-250, und ders.: „Hilfsmittel … in ausgiebigster Weise“. Fotografien<br />

in den Sammlungen der Berliner Kunstakademie und Kunstgewerbeschule, in:<br />

Ulrich Pohlmann / Johann Georg Prinz von Hohenzollern (Hrsg.): Eine neue Kunst?<br />

Eine andere Natur! Fotografie und Malerei im 19. Jahrhundert. (Publikation zur gleichnamigen<br />

Ausstellung in der Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung München, 1. Mai bis<br />

Universitätsreden 73 105


Dietmar Schenk<br />

lungen hat das UdK-Archiv arrondiert und in den Augen der Universität<br />

noch einmal gestärkt.<br />

Um zum Schluss zu kommen: Meine Ausführungen sind in eine kursorische<br />

Archivgeschichte eingemündet, in einen Abriss der bewegten Jahre<br />

des Archivaufbaus an der UdK. Doch zeigt sich heute: Was eine Verteidigungsstrategie<br />

des Archivs an sich war, entwickelte eine erfreuliche Eigendynamik;<br />

sie erwies sich plötzlich und entgegen meinen Erwartungen als<br />

eine veritable Sammlungsstrategie 23 .<br />

23 An diese kursorische Geschichte eines Archivaufbaus ließen sich weitere Reflexionen,<br />

auch sehr allgemeiner Art, anknüpfen. Ich habe sie in eine Studie aufgenommen, die<br />

zur Jahreswende im Franz Steiner-Verlag, Stuttgart, unter dem Titel „Kleine Theorie des<br />

Archivs“ erscheinen wird; dort ist ein „Bericht aus der Werkstatt“ enthalten (S. 89-99),<br />

106 Universitätsreden 73<br />

Wo Kunst entsteht.<br />

Die Sammlung der Burg Giebichenstein<br />

Hochschule für Kunst und Design Halle<br />

Angela Dolgner<br />

Die Geschichte der Burg Giebichenstein – Hochschule für Kunst und<br />

Design Halle – und ihrer Vorgängereinrichtungen reicht zurück bis in das<br />

Jahr 1879, als die Provinzial-Gewerbeschule (seit 1852) mit der gewerblichen<br />

Zeichenschule (seit 1870) zur gewerblichen Zeichen- und Handwerkerschule<br />

zusammengeschlossen wurde. Im Grunde wird jedoch erst<br />

der Amtsantritt des Münchner Architekten Paul Thiersch (1879–1928) als<br />

Ausgangspunkt für die heutige Hochschule angesehen. Er übernahm 1915<br />

die hallesche Handwerkerschule und profilierte sie in den folgenden Jahren<br />

nach modernsten pädagogischen Gesichtspunkten zu einer seit 1918 staatlich<br />

anerkannten Handwerker- und Kunstgewerbeschule um. Von den Reformbestrebungen<br />

des Deutschen Werkbundes angeregt, ließ sich Thiersch<br />

bei der Umstrukturierung der Schule von ähnlichen Gedanken leiten, wie<br />

sie vier Jahre später Walter Gropius in seinem Bauhausprogramm formulierte.<br />

1 Die Unterburg Giebichenstein bot seit 1921/22 die notwendigen<br />

räumlichen Voraussetzungen und wurde zugleich zum Synonym für die<br />

Schule, die seither in der Umgangssprache kurz die „Burg“ genannt wird.<br />

Die Burg galt in den 1920er Jahren als eine der bedeutendsten und fortschrittlichsten<br />

deutschen Kunstschulen neben dem Bauhaus und gehörte<br />

auf Ausstellungen und Messen zu den wichtigsten Ausstellern. Sie zählt zu<br />

den wenigen künstlerischen Bildungseinrichtungen, die am angestammten<br />

Ort die wechselvolle deutsche Geschichte überdauerten. Ihr Status wandel-<br />

1 Wilhelm Nauhaus: Die Burg Giebichenstein. Geschichte einer deutschen Kunstschule<br />

1915-1933. Leipzig 1981; Katja Schneider: Burg Giebichenstein. Die Kunstgewerbeschule<br />

unter Leitung von Paul Thiersch und Gerhard Marcks 1915 bis 1933. Weinheim<br />

1992.<br />

Universitätsreden 73 107


Angela Dolgner Wo Kunst entsteht<br />

Erwin Hahs, Bleischnitt, 1923, Erwerbung 1988 (Druck) und 2004 (Druckplatte). Dargestellt<br />

ist die Unterburg Giebichenstein, die die hallesche Kunstschule 1921/22 beziehen konnte.<br />

Foto: Angela Dolgner<br />

te sich im Laufe der Jahre allerdings mehrfach: Handwerker- und Kunstgewerbeschule,<br />

Meisterschule des Deutschen Handwerks, Fachschule, Institut,<br />

Hochschule. Die hallesche Schule avancierte nach dem Zweiten Weltkrieg<br />

zur wichtigsten Designerschmiede der DDR und hat sich auch heute<br />

wieder einen festen Platz in der deutschen Kunsthochschullandschaft<br />

erobert. Sie stellt aber mit ihrem Ausbildungsprofil, mit der Verknüpfung<br />

von Kunst und Design, von freien und angewandten Disziplinen sowie in<br />

der Versammlung einer Vielzahl von künstlerischen Bereichen durchaus<br />

etwas Besonderes in Deutschland dar.<br />

Die Vielfalt der Ausbildungsrichtungen, wie sie von Paul Thiersch in<br />

den frühen Jahren bereits angelegt wurde, hat sich – von vorübergehenden<br />

Einschränkungen während der Zeit des Nationalsozialismus abgesehen –<br />

bis in die heutige Zeit erhalten. Unter den verschiedenen politischen Ver-<br />

hältnissen entfaltete die Burg ein jeweils zeittypisches Gesicht. 2 Charakteristisch<br />

ist vor allem das Miteinander, das Hinüber und Herüber zwischen<br />

freien und angewandten Gattungen – ein Standpunkt, den die Schule noch<br />

heute weiterhin behauptet. Die heutige Hochschule für Kunst und Design<br />

bietet ihren Studenten Ausbildungsmöglichkeiten an zwei Fachbereichen<br />

mit insgesamt 21 Studienrichtungen. Der Fachbereich Kunst umfasst die<br />

Fachrichtungen Malerei, Grafik, Textil, Glas, Buch, Bildhauerei, Keramik,<br />

Metall, Schmuck, Medienkunst sowie die Studiengänge Kunstpädagogik<br />

und Kunsterziehung (Lehramt), letzterer in Kooperation mit der Martin-<br />

Luther-Universität Halle-Wittenberg. Im Fachbereich Design gibt es die<br />

Ausbildungsrichtungen Industriedesign, Keramik-/Glasdesign, Kommunikationsdesign,<br />

Mode, Textildesign, Spiel- und Lernmitteldesign, Innenarchitektur,<br />

Multimedia/Virtual Reality-Design sowie Multimedia/Virtual<br />

Reality-Conception. Im Archiv der Hochschule und insbesondere in der<br />

angegliederten Kunst- und Designsammlung spiegelt sich diese Vielfalt<br />

wider.<br />

„Die Gegenwart ist in diesem Augenblicke das Wichtigste ...“, schrieb<br />

einst Heinrich Heine. 3 Ähnlich empfand es wohl auch der Schulgründer<br />

Paul Thiersch, denn ein Archiv oder gar eine Sammlung gab es zunächst<br />

nicht. Doch in den folgenden Jahrzehnten wurde die Einrichtung einer<br />

solchen Dokumentationsstelle mehrfach erwogen. Von ersten Anfängen<br />

zeugt die von Hans Finsler – er hatte ab 1926 eine Klasse für Fotografie aufgebaut<br />

– und seinen Schülern Ende der zwanziger Jahre begonnene Fotodokumentation<br />

der einzelnen Erzeugnisse der Werkstätten. Heute wird<br />

längst nicht mehr nur der geschichtliche Wert dieser Fotografien geschätzt,<br />

sondern es wird ihnen inzwischen vielfach zugleich der Rang eines<br />

Kunstwerkes beigemessen. 1944, mitten im Krieg, kam sogar der Gedanke<br />

auf, die Dachböden in der Unterburg für Sammlungszwecke auszubauen.<br />

Doch erst 1958 wurde Professor Wilhelm Nauhaus, der von 1945 bis zu<br />

ihrer Schließung 1958 die Klasse für Buchgestaltung geleitet hatte, mit<br />

dem Aufbau eines Archivs betraut. Mitte der sechziger Jahre war das<br />

2 Zur Geschichte der Schule siehe: Burg Giebichenstein – Die hallesche Kunstschule von<br />

den Anfängen bis zur Gegenwart. Halle und Karlsruhe 1993.<br />

3 Zit. nach Hermann Kant: Das Impressum, 6. Aufl. Berlin 1975, S. 5.<br />

108 Universitätsreden 73 Universitätsreden 73 109


Angela Dolgner Wo Kunst entsteht<br />

Interesse der inzwischen erneuerten Hochschulleitung an der eigenen Geschichte<br />

offenbar erloschen. Das Archiv ging wieder ein. Den von Nauhaus<br />

nach seiner Pensionierung privat gehüteten und ständig ergänzten<br />

Teil des Materials übergab er schließlich dem Stadtarchiv.<br />

1974 begann die damalige Sektion Bildende und angewandte Kunst, ein<br />

Archiv einzurichten (Archiv der Forschungsgruppe Kunsthandwerk). Gesammelt<br />

wurden neben Fotos und Dias der aktuellen Studienarbeiten<br />

Zeitungsartikel, Kataloge, Künstlerbiographien und anderes mehr. 4 Das<br />

heutige Burgarchiv existiert erst seit 1984. 5 Nach zögerlichen Anfängen<br />

wurden seit 1988 neben zahlreichen Akten, Dokumenten, Druckerzeugnissen<br />

und Fotos nun endlich auch Sachzeugen zusammengetragen. In den<br />

einzelnen Fachbereichen lagerten noch immer unzählige Dokumente und<br />

künstlerische Arbeiten aus vergangenen Jahrzehnten, und die Böden der<br />

Unterburg Giebichenstein gaben so manche Schätze frei. Der Kontakt zu<br />

ehemaligen Lehrern und Schülern erbrachte wie schon zu Nauhaus’ Zeiten<br />

weitere wertvolle Fakten und Dokumente sowie Kunst- und Design-<br />

Objekte. Inzwischen hat sich der Bestand vervielfacht.<br />

Während der Vorbereitung der Ausstellung zum 75jährigen Schuljubiläum<br />

1990 wurde deutlich, wie viele Exponate noch in den eigenen Werkstätten<br />

vorhanden waren. 1992 kam es schließlich zur Gründung einer<br />

eigenständigen hochschuleigenen Kunst- und Designsammlung (Kustodie),<br />

die heute dem Archiv angegliedert ist. Zwar lagert eine Vielzahl von<br />

Exponaten inzwischen in einem zentralen Depot, aber auch in den einzelnen<br />

Werkstätten werden Werke vergangener und gegenwärtiger Zeit aufbewahrt,<br />

die der Anschauung und Unterweisung dienen und die künstlerisch-schöpferische<br />

Atmosphäre prägen. In der DDR blieben die Diplomund<br />

Studienarbeiten Eigentum der Schule, und so wuchs der Bestand jähr-<br />

4 In loser Folge gab die Schule eine Reihe von sogenannten Fachbereichskatalogen mit<br />

historischer Einleitung heraus. Metall-Email (1983), Handeinband (1987), Schmuck<br />

(1989), Plastik (1990). Auch für die jüngeren Designbereiche edierte die Schule Kataloge.<br />

5 Zu den Beständen des Hochschularchivs siehe: http://www.burg-halle.de/kustodiearchiv.html.<br />

Zu Geschichte und Beständen des Hochschularchivs siehe außerdem:<br />

Burg Giebichenstein – Hochschule für Kunst und Design Halle. Geschichte und<br />

Geschichtsdokumentation einer Kunstschule, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 6<br />

(2003), S. 251-261.<br />

lich beträchtlich an. Der Umgang mit diesem Potential und dessen Wertschätzung<br />

war in den einzelnen Werkstätten jedoch sehr unterschiedlich,<br />

so dass es verschiedentlich größere Überlieferungslücken gibt. Manche<br />

Arbeit wurde verschenkt, an Mitarbeiter zu besonderen Anlässen oder an<br />

Funktionäre. Andere Werke wurden verkauft. Was aber vor allem fehlte,<br />

waren die Arbeiten vor 1958. Mit kriminalistischem Spürsinn konnten<br />

diverse Werke aufgefunden werden. Manche Lücke in der Sammlung<br />

wurde inzwischen durch großzügige Geschenke ehemaliger Absolventen<br />

oder mit Hilfe von privaten Spendern geschlossen. Dauerleihgaben ergänzen<br />

den heutigen Bestand (Land Sachsen-Anhalt, Stadt- und Saalkreissparkasse<br />

Halle, Privatpersonen). Der in den 90er Jahren eingerichtete Ankaufsfonds,<br />

der denkbar knapp bemessen war, bot die Möglichkeit, wichtige<br />

Arbeiten für die Schule zu erwerben. Einen solchen Fonds gibt es<br />

inzwischen nicht mehr, und die Sammlung ist ausschließlich auf Spenden<br />

und Sponsoren angewiesen. Doch wo Kunst entsteht, kommen auch ständig<br />

neue Arbeiten hinzu, wenngleich diese Art der Bestandserweiterung<br />

heute schwieriger ist als vor 1989, da sich die rechtlichen und finanziellen<br />

Grundlagen verändert haben.<br />

Die Kunst- und Designsammlung setzt sich aus Arbeiten aller Werkstätten<br />

bzw. Fachgebiete und aller Zeitabschnitte künstlerischen Schaffens<br />

an der Burg zusammen. Zum Kunstgut der Hochschule zählen Kunst- und<br />

Designobjekte, Sachgegenstände, Originale, Modelle, Pläne, Zeichnungen<br />

und Entwürfe, die im wesentlichen während des Aufenthaltes von Lehrkräften,<br />

Studenten und Schülern an der Schule entstanden sind. Dazu<br />

gehören auch Kunst- und Designobjekte aus ehemals angegliederten<br />

Betrieben und Werkstätten der Hochschule.<br />

Die werbegrafische Sammlung umfasst heute 1500 verschiedene Plakate<br />

und andere gebrauchsgrafische Arbeiten. Mitte der zwanziger Jahre hatten<br />

Erwin Hahs und Hans Finsler eine Werbeklasse gegründet. In der Zeit des<br />

Nationalsozialismus wurden Werbeentwürfe und Akzidenzen in der<br />

Druckwerkstatt unter der Leitung von Herbert Post entworfen. 1946 eröffnete<br />

der ehemalige Bauhäusler Walter Funkat eine Klasse für Gebrauchsgrafik,<br />

später übernahmen seine Schüler Gerhard Voigt und Helmut Brade,<br />

letzterer bis 2003, die Leitung. Die Sammlung beinhaltet Künstlerplakate<br />

und solche, die eher nur dokumentarischen Charakter haben. Es handelt<br />

110 Universitätsreden 73 Universitätsreden 73 111


Angela Dolgner Wo Kunst entsteht<br />

sich um Plakate von Burglehrern und Burgstudenten, aber auch um<br />

Plakate, die inhaltlich auf die Hochschule Bezug nehmen und von anderen<br />

Künstlern entworfen wurden. Die meisten Plakate werben für Ausstellungen<br />

und mancherlei andere Veranstaltungen oder Theateraufführungen.<br />

Zu den größten Konvoluten zählen Gerhard Voigts Plakate für die<br />

Händelfestspiele in Halle, Dietrich Kaufmanns Schöpfungen für die<br />

Komische Oper in Berlin, Karl Heinz Dreschers Arbeiten für das Berliner<br />

Ensemble und Helmut Brades Ausstellungs- und Theaterplakate für die<br />

unterschiedlichsten Häuser im In- und Ausland.<br />

Die Kustodie der Burg beherbergt rund 600 Grafiken und Gemälde,<br />

ebenso über 100 Holzstöcke und Druckplatten verschiedener Art. Dabei<br />

sind nahezu alle malerischen und grafischen Techniken vertreten. Zu den<br />

frühesten grafischen Blättern gehören Modezeichnungen der Wiener Werkstätten,<br />

die durch die aus Wien stammende Leiterin der Fachklasse für<br />

Kunstgewerbliche Frauenarbeiten Maria Likarz an die Burg kamen. Die<br />

stilistische Vielfalt der zwanziger Jahre zeigt sich in den Bildern von Erwin<br />

Hahs, Charles Crodel und deren Schülern. In der Zeit des Nationalsozialismus<br />

waren die freien Klassen geschlossen worden. Doch nach 1945 gelangten<br />

Malerei und Grafik zu neuer Blüte, wovon die Sammlung der<br />

Burg ein eindrucksvolles Zeugnis abzulegen vermag. Hierfür stehen<br />

Namen wie Hahs und Crodel, aber auch die ihrer Schüler Ulrich Knispel,<br />

Kurt Bunge, Hannes H. Wagner und Otto Möhwald, die die Ausbildung<br />

mitbestimmten. Zu den Lehrenden gehörten ebenso Willi Sitte, Dieter Rex<br />

und Frank Ruddigkeit.<br />

Von ähnlichem Umfang, es sind rund 600 Exponate, ist der Bestand an<br />

Arbeiten aus den Bereichen Schrift, Buchdruck und Bucheinband. Vertreten<br />

sind mit ihren Werken Johanna Schütz-Wolff, Otto Pfaff, Friedel<br />

Thomas, Dorothea Freise, Herbert Post, Wilhelm Nauhaus und Ingrid<br />

Schultheiß, um nur die wichtigsten Lehrer zu nennen. Es handelt sich um<br />

handgeschriebene Blätter und Bücher, Schriftentwürfe, Akzidenzen, Einblattdrucke,<br />

gedruckte Bücher und Broschüren, Einbände und Papierobjekte.<br />

Zu den jüngsten Erwerbungen zählt der künstlerische Nachlass<br />

des Schriftgestalters Günter Gnauck mit weiteren 700 Exponaten.<br />

Die Textilsammlung verfügt über etwa 500 Wandteppiche, Stoffe, Proben,<br />

Musterbücher und Entwürfe. Erste Arbeiten entstanden in der Fach-<br />

klasse für Kunstgewerbliche Frauenarbeiten unter Maria Likarz, aus der<br />

später die Weberei hervorging, der zunächst Johanna Schütz-Wolf vorstand.<br />

Es folgten Benita Koch-Otte, Edith Eberhard und Hedwig Fischer<br />

in der Leitung. Mit Irmgard Glauche und Willi Sitte gewann die Hochweberei<br />

an Bedeutung. Im Mittelpunkt stand die Gobelinweberei. Die<br />

Bildteppichgestaltung wurde bis 2004 unter Inge Götze fortgeführt. Die<br />

Belegstücke aus dem 1968 abgekoppelten designorientierten Fachgebiet<br />

Flächengestaltung, derzeit noch in einem eigenen kleinen Archiv verwaltet,<br />

werden in Kürze in den zentralen Fundus übernommen werden.<br />

Das Spektrum im Metall, über Jahrzehnte von Karl Müller und bis 2002<br />

durch Irmtraud Ohme bestimmt, reicht vom Gefäß über die figürliche<br />

Plastik bis zu freiplastischen Arbeiten. Eine ähnliche Vielfalt weisen die<br />

Emailarbeiten auf: Bildplatten, Gefäße und Gerät, plastische Figuren, Einrichtungsgegenstände,<br />

Industrieemailarbeiten. Als erste hatte Klara Kuthe<br />

der Werkstatt vorgestanden, Lili Schultz bestimmte die Ausbildung zwischen<br />

1925 und 1958. 1965 übernahm Irmtraud Ohme die Werkstattleitung.<br />

Über viele Jahrzehnte entstanden in der Email- wie in der Metallwerkstatt<br />

Schmuckstücke. Seit 1968 gibt es Schmuck als eigenständige Ausbildungsrichtung.<br />

Schmuck ist inzwischen zur Kleinkunst geworden. Die<br />

Kette ist nicht unbedingt nur noch Kette, sondern zugleich Objektkunst.<br />

Ebenso gehören heute kleinplastische Arbeiten und Installationen zum<br />

Repertoire der Ausbildung. Die Sammlung beinhaltet über 300 Metall-,<br />

Email- und Schmuckarbeiten.<br />

Zwar beherbergt die Kustodie nur etwa 100 Gefäße, Vasen, Services aus<br />

keramischem Material oder Porzellan, doch handelt es sich hierbei nahezu<br />

ausnahmslos um Stücke, die vor 1970 entstanden sind. Ihre Autoren<br />

sind Gustav Weidanz, Marguerite Friedlaender-Wildenhain, Hubert<br />

Griemert, Erika Gravenstein, Hans Merz, Hubert Petras, Ilse Decho und<br />

deren Schüler. Jüngere Arbeiten werden als Lehrsammlung vom Fachgebiet<br />

Keramik-/Glasdesign eigenständig betreut.<br />

Eher unterrepräsentiert ist in der Hochschulsammlung die Bildhauerkunst.<br />

Dennoch reicht die Spanne von der Medaille bis zur Großplastik<br />

im Freiraum. Der künstlerische Nachlass von Gustav Weidanz wird laut<br />

testamentarischer Verfügung in der Stiftung Moritzburg – Kunstmuseum<br />

112 Universitätsreden 73 Universitätsreden 73 113


Angela Dolgner Wo Kunst entsteht<br />

des Landes Sachsen-Anhalt – verwahrt. Die Plastiken von Gerhard Marcks<br />

wurden 1953 in den Westen abtransportiert und zählen heute zum Bestand<br />

des Gerhard-Marcks-Hauses in Bremen. So sind es vor allem Schülerarbeiten,<br />

die den Sammlungsinhalt der Burg heute bestimmen.<br />

Aus der schon 1915 gegründeten Fachklasse für Architektur und Raumausstattung<br />

haben sich nur einige Möbel und Holzarbeiten im Bestand der<br />

Hochschule erhalten, unter anderem Ausstattungsteile für die zwei<br />

Wohnungen im Haus von Peter Behrens in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung,<br />

der Werkbundausstellung von 1927. Bis 1933 bestimmten neben<br />

dem Schulgründer Paul Thiersch vor allem Johannes Niemeyer, Hans<br />

Wittwer, Friedrich Brunner und Erich Dieckmann die Ausbildung. Nach<br />

1946 begann Hanns Hopp gemeinsam mit Friedrich Engemann die<br />

Architektenausbildung neu zu beleben. In den 1960er Jahren verlagerte<br />

sich das Schwergewicht mehr und mehr auf die Möbel- und Ausbaugestaltung.<br />

Erhalten haben sich Entwürfe, Modelle und Möbel.<br />

Nachdem bereits 1957 an der Burg ein Institut für Entwurf und Entwicklung<br />

gegründet und 1959 ein Studiengang für technische Formgestaltung<br />

eingerichtet worden war, entwickelte sich die Schule zum wichtigsten<br />

Ausbildungszentrum für Designer der DDR. Die Sammlung umfasst zahlreiche<br />

Objekte, Modelle, Entwurfszeichnungen zu Objekten des täglichen<br />

Bedarfs bis hin zu Fahrzeugen, Arbeitsmitteln, Maschinen und Werkseinrichtungen,<br />

ja bis zu Umweltgestaltungsprojekten.<br />

Der Fundus wird bis heute größtenteils noch vom Fachgebiet selbst verwaltet<br />

und als Lehrsammlung genutzt.<br />

Da die Sammlung im Grunde nicht kontinuierlich gewachsen ist, sondern<br />

erst in den letzten Jahren durch intensive Arbeit und in Abhängigkeit<br />

vom Glück des Entdeckers und von den zur Verfügung stehenden finanziellen<br />

Möglichkeiten zusammengetragen wurde, haben sich die einzelnen<br />

Sammlungsgebiete unterschiedlich entwickelt. Während Malerei und Grafik<br />

verhältnismäßig gut dokumentiert sind, klaffen in anderen Bereichen<br />

noch erhebliche Lücken, so beispielsweise in der Plastik und im Design.<br />

Ziel ist es, die Kunst- und Designsammlung in den kommenden Jahren so<br />

zu vervollständigen, dass sie einen der Schulentwicklung adäquaten, repräsentativen<br />

Querschnitt des künstlerischen und gestalterischen Schaffens<br />

bietet. Um Aktualität zu wahren, wurden die Professoren gebeten, neue<br />

Blick in die Ausstellung „Ans Licht gebracht – Aus den Beständen des Hochschularchivs.<br />

Erwerbungen eines Jahrzehnts“, Halle 2001. Foto: Angela Dolgner<br />

Studienarbeiten und eigene Werke der Sammlung zu übergeben. Die zu<br />

übernehmenden Objekte sollen möglichst nicht nur künstlerischen<br />

Ansprüchen genügen, wichtige Lehrer- und Studentenpersönlichkeiten vertreten,<br />

sondern auch Lehrinhalte und -methoden transportieren sowie<br />

typische Merkmale der einzelnen Zeitabschnitte und Stilrichtungen aufweisen.<br />

Dabei unterliegen die Bewertungskriterien weit stärker als bei<br />

Archivalien durchaus auch subjektiven Faktoren.<br />

Eine wertvolle Hilfestellung für die Ergänzung der Kunst- und Designsammlung<br />

leistet die Fotosammlung. Mit ihren 35.000 Positiven, 23.000<br />

Ektachromen und Negativen und 16.000 Kleinbilddias, liefert sie ein anschauliches<br />

Bild bisher an der Burg entstandener künstlerischer Werke.<br />

Zudem wird der Kontakt zu ehemaligen Lehrern und Studenten systematisch<br />

ausgebaut, um weitere Sekundärquellen zu erschließen und Objekte,<br />

die ihren Ursprung an der Burg haben, zu dokumentieren.<br />

114 Universitätsreden 73 Universitätsreden 73 115


Angela Dolgner<br />

Der Sammlungsbestand bot in den vergangenen Jahren eine wichtige<br />

Grundlage für eine Reihe von Ausstellungsvorhaben der Burg, vielfach<br />

auch in Zusammenarbeit mit anderen wissenschaftlichen, musealen und<br />

künstlerischen Institutionen. 6 Durch diese Projekte gelang es gleichzeitig,<br />

weitere Werke für die Sammlung zu erhalten. Viele der im Katalog zur<br />

Ausstellung „Burg-Giebichenstein – Die hallesche Kunstschule von den<br />

Anfängen bis zur Gegenwart“ 1993 in Halle und Karlsruhe noch als Privatbesitz<br />

aufgeführten Arbeiten sind heute Eigentum der Hochschulsammlung.<br />

Weitere Vorhaben sind in Vorbereitung, unter anderem auch ein<br />

Sammlungskatalog, der die bedeutendsten Stücke aus dem Bestand vorstellen<br />

und zugleich einen komprimierten historischen Überblick zur<br />

Schulgeschichte leisten soll.<br />

Archiv und Sammlung stehen allen Professoren, Mitarbeitern und Studenten<br />

der Hochschule, aber ebenso allen anderen Benutzern mit einem<br />

wissenschaftlichen oder künstlerischen Anliegen offen. Immer häufiger<br />

bitten renommierte Museen um Leihgaben für die verschiedensten Ausstellungen<br />

(Stiftung Moritzburg Halle, Grassimuseum Leipzig, Apeldoorns<br />

Museum (NL), Kestner-Museum Hannover, Pinakothek der Moderne<br />

München, Schmuckmuseum Pforzheim, Galerie der Stadt Stuttgart, Vitra<br />

Design Museum Weilheim a. R., Galerie am Ringturm in Wien u. a.m.).<br />

6 Erich Dieckmann. Praktiker der Avantgarde (1990 Vitra Design Museum in Weil a. R.);<br />

Johannes Niemeyer. Architekt und Maler (1990 Berlinische Galerie und 1995 Hallescher<br />

Kunstverein); Hans Wittwer (1894–1952). Architekt des Neuen Bauens (1990<br />

ETH Zürich, gta-Institut und Staatliche Galerie Moritzburg Halle); Burg Giebichenstein.<br />

Die hallesche Kunstschule von den Anfängen bis zur Gegenwart (1993 Staatliche<br />

Galerie Moritzburg Halle und Badisches Landesmuseum Karlsruhe); Gertraud Herzger<br />

von Harlessem. Malerei und Grafik (1995 Universitätsmuseum Halle); Herbert Post.<br />

Schrift – Typographie – Grafik (1997–2006, Wanderausstellung Halle, München, Karlsruhe,<br />

Frankfurt am Main, Oldenburg, Eutin, Hamburg, Leipzig,<br />

Pettenbach/Österreich); Wilhelm Nauhaus. Bucheinbände (2000 Staatliche Galerie<br />

Moritzburg Halle); Walter Herzger. Zeichnungen und Druckgrafik (2001 Hallescher<br />

Kunstverein); Paul Zilling. Malerei und Zeichnungen (2004 Galerie Marktschlößchen<br />

und Hallescher Kunstverein); Hans Sperschneider. Malerei und Grafik (2005<br />

Hallescher Kunstverein); Erwin Hahs / Doris Keetman. Die frühen Jahre (2005/06<br />

Kunstverein „Talstraße“ Halle, Potsdamer Kunstverein, Bergische Kunstgenossenschaft<br />

Wuppertal); Johanna Jura. Plastik und Zeichnungen (Galerie Marktschlößchen Halle<br />

und Hallescher Kunstverein).<br />

116 Universitätsreden 73<br />

Bestandsprofil des Archivs in der Bibliothek für<br />

Bildungsgeschichtliche Forschung des Deutschen<br />

Instituts für Internationale Pädagogische Forschung<br />

Ursula Basikow<br />

1. Zur historischen Entwicklung der Einrichtung<br />

Der 1.1. 1876 war der offizielle Gründungstag jener Bibliothek, die, zunächst<br />

unter dem Namen Deutsches Schulmuseum und 1908 in Deutsche<br />

Lehrerbücherei umbenannt, nicht nur unter Pädagogen bekannt wurde.<br />

Ihre Gründungsväter waren die Volksschullehrer Hermann Gallee (1834-<br />

1918) und Adolf Rebhuhn (1854-1924). Rebhuhn beschrieb sein Wirken<br />

mit den Worten: „Nicht ich ergriff den Gedanken der Bücherei, sondern<br />

die Idee packte mich und ließ mich nicht wieder los. Die Deutsche Lehrerbücherei<br />

wurde mein Schicksal.“ 1<br />

Bis 1943 wuchs die Deutsche Lehrerbücherei mit knapp 200.000 Bänden<br />

zur zweitgrößten pädagogischen Bibliothek Deutschlands heran. Dies ist<br />

um so bemerkenswerter, als sie sich lange Zeit nahezu ausschließlich durch<br />

Beiträge der Mitglieder des Berliner und des Deutschen Lehrervereins<br />

finanzierte.<br />

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde die Bibliothek nach<br />

einer Zeit der Treuhänderschaft 1951 in die Pädagogische Zentralbibliothek<br />

integriert und unterstand zunächst dem Ministerium für Volksbildung, ab<br />

1971 der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der DDR. Nach der<br />

Abwicklung der Akademie fand die Bibliothek 1992 einen neuen Träger<br />

im Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung.<br />

1 Max Laesch / Adolf Rebhuhn (Hrsg.): Pädagogisches Druckgut vergangener Jahrhunderte:<br />

ein erziehungsgeschichtlicher Quellennachweis aus den Beständen der Deutschen<br />

Lehrer-Bücherei anläßlich ihres 50jährigen Bestehens. Berlin 1925, S. XII.<br />

Universitätsreden 73 117


Ursula Basikow Bestandsprofil des Archiv s in der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung<br />

Im Verlauf ihrer 130jährigen Geschichte gab es Brüche und Gefährdungen.<br />

Die Bibliothek wechselte im Zuge gesellschaftspolitischer Wandlungen<br />

nicht nur ihren Namen, sondern auch ihr Profil und ihre Aufgaben. Seit<br />

nunmehr vierzehn Jahren führt sie ihren heutigen Namen. Mit ihrer Umbenennung<br />

1992 hat sich das Aufgabenspektrum und das Sammlungsprofil<br />

der Bibliothek geändert. Sie ist nicht mehr vornehmlich eine Bibliothek<br />

für Lehrer und Pädagogikstudenten, die die neueste pädagogische Literatur<br />

benötigen, sondern ist mit rund 700.000 Bänden die umfangreichste pädagogische<br />

Spezialbibliothek in Deutschland und gehört neben der<br />

Uschinskij-Bibliothek in Moskau und der Danmarks Pædagogiske Bibliothek<br />

in Kopenhagen zu den größten in Europa. Die Neuerwerbungen werden<br />

seit 1998 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft bezuschusst<br />

und beziehen sich auf Bildungsgeschichte in einem weiten Rahmen.<br />

Seit Januar 1992 gehört wieder ein bildungsgeschichtliches Archiv zur<br />

Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung. Sein Ursprung war eng<br />

mit der Bibliothek verbunden, denn eine wichtige Zielsetzung der Gründer<br />

des Deutschen Schulmuseums war es, neben der pädagogischen Bibliothek<br />

auch ein Archiv aufzubauen. So wurden von Anfang an handschriftliche<br />

Quellen, vor allem Briefe von Lehrern und pädagogischen Schriftstellern,<br />

Berichte von Schulinspektoren, Zeugnisse und Arbeiten von Schülern,<br />

Urkunden für Lehrer, Nachlässe bekannter Pädagogen sowie Bestände<br />

pädagogischer Organisationen zusammengetragen. 1943 besaß die Deutsche<br />

Lehrerbücherei eine Handschriftensammlung mit ca. 8.000 Dokumenten<br />

sowie eine umfangreiche Bilder- und Münzsammlung.<br />

Als während des Zweiten Weltkrieges die Bombenangriffe auf Berlin zunahmen,<br />

entschloss sich der damalige Leiter der Deutschen Lehrerbücherei,<br />

besonders wertvolle Teile des Bestandes auszulagern. Dazu gehörten<br />

der Archivbestand sowie 72.000 Bücher, darunter die Sammlung „Alte<br />

Drucke“. Nach dem Krieg kehrten die Bücher und ein Teil der Handschriftensammlung<br />

nach Berlin zurück, während der größere Teil der<br />

Handschriften sowie die Bild- und Münzsammlungen bis heute als verschollen<br />

gelten. Lediglich 1.200 Stücke der Handschriftensammlung sind<br />

jetzt noch im Archiv vorhanden, darunter der (unechte) Nachlass von<br />

Adolph Diesterweg.<br />

Es ist ein neues Verzeichnis in Arbeit, das den tatsächlichen Bestand an<br />

noch vorhandenen Stücken aus der Handschriftensammlung der<br />

Deutschen Lehrerbücherei wiedergibt.<br />

Eine weit größere Bestandsgruppe des heutigen Archivs geht auf das<br />

Verwaltungsarchiv des 1949 gegründeten Deutschen Pädagogischen Zentralinstituts<br />

und seiner Nachfolgeeinrichtung, der 1970 gegründeten Akademie<br />

der Pädagogischen Wissenschaften der DDR zurück. Als diese Einrichtung<br />

am 31.12.1990 geschlossen wurde, ging der Archivbestand in den<br />

Besitz des Bundesarchivs über, blieb aber als Depositum zunächst bei der<br />

weiterbestehenden und vom Berliner Senat zwischenfinanzierten Pädagogischen<br />

Zentralbibliothek und nach endgültiger Regelung über den<br />

Verbleib der Bestände in der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche<br />

Forschung.<br />

Das ehemalige Akademiearchiv umfasst heute ca. 16.500 erschlossene<br />

Akten, davon ca. 7.000 aus der Zeit des Deutschen Pädagogischen Zentralinstituts<br />

und ca. 9.500 aus der Zeit der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften.<br />

Somit kann für die Forschung zur Bildungsgeschichte der<br />

DDR umfangreiches Material zur Verfügung gestellt werden, das häufig<br />

benutzt wird.<br />

Ergänzt wird diese Überlieferung durch 66 Nachlässe von Pädagogen,<br />

darunter 30, die in der DDR gewirkt haben. Auch der sogenannte Berliner<br />

Nachlass des wohl bekanntesten deutschen Pädagogen, Friedrich Fröbel,<br />

gehört zum Bestand des ehemaligen Akademiearchivs.<br />

2. Zum Profil des Archivs<br />

Zum Profil der archivischen Sammlungen der Deutschen Lehrerbücherei<br />

Ziel zunächst des Deutschen Schulmuseums und dann der Deutschen<br />

Lehrerbücherei war es, die Bildungssituation der Volksschullehrer zu verbessern,<br />

die von der universitären Ausbildung und von der Benutzung der<br />

Universitätsbibliotheken ausgeschlossen waren. Die Lehrer wollten sich<br />

über neue Lehrmittel informieren und Bücher für ihre Weiterbildung erhalten.<br />

Die Unterstützung durch die Stadt Berlin und durch den Staat<br />

118 Universitätsreden 73 Universitätsreden 73 119


Ursula Basikow<br />

blieb über Jahrzehnte instabil, denn dem wachsenden Selbstbewusstsein<br />

und dem professionellen Begehren der Berliner Lehrer wurde von seiten<br />

der Obrigkeit mit Misstrauen begegnet. So war die Deutsche Lehrerbücherei<br />

über lange Zeit eine Laienbibliothek, in der zumindest in den<br />

ersten Jahrzehnten ihrer Existenz alle Arbeit ehrenamtlich geleistet wurde<br />

und in der der von der Stadt und dem Staat gewährte geringe Etat zum<br />

Erwerb von Büchern, Handschriften und anderen Beständen aus Mitteln<br />

des Berliner Lehrervereins aufgestockt wurde. Seit 1901 wurden der Bücherei<br />

von den Beiträgen je Mitglied jährlich 50 Pfennig zugeführt.<br />

Welches Konzept verfolgten nun die Gründungsväter beim Aufbau des<br />

Bestandes?<br />

Zwei Forderungen waren zu bedienen: zum einen die Bildung für die<br />

gegenwärtigen Aufgaben des Berufs und zum anderen die Dokumentation<br />

der Geschichte der Schule und des Lehrerberufs. Damit hatte die Bücherei<br />

neben der aktuellen auch eine historische Orientierung, die die Lehrer als<br />

Forscher und Sammler im Blick hatte, die eine Dokumentationsstätte von<br />

alten und seltenen Büchern, Handschriften, Bildnissen und Gedenkmünzen<br />

wurde und mit diesen Sammlungen auch einen gewissen Stolz auf den<br />

Berufsstand zum Ausdruck brachte.<br />

Rebhuhn rechtfertigte den „starken geschichtlichen Einschlag“ der Deutschen<br />

Lehrerbücherei: „Ist das geschichtliche Forschen notwendig, so müssen<br />

Stellen da sein, die das notwendige Quellengut möglichst vollständig<br />

bereitstellen. Für die Erziehungswissenschaft bemühen sich darum außer<br />

uns die Schwesternanstalten in Leipzig (die Comenius Bücherei U. B.) und<br />

München (die Süddeutsche Lehrerbücherei U. B.). Nur haben wir den Begriff<br />

des Quellenmaterials weit gefaßt, – und das drückt unserer Anstalt<br />

ihren Eigenstempel auf –, indem wir alten Druckschriften eine Sammlung<br />

von pädagogischen Handschriften und Bildwerken (einschließlich Schulmedaillen)<br />

angliederten.“ 2<br />

2 Ebd., S. XIV f.<br />

120 Universitätsreden 73<br />

Bestandsprofil des Archiv s in der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung<br />

Die Abteilung der Deutschen Lehrerbücherei, die den Grundstock für das<br />

heutige Archiv bildet, beschreibt Rebhuhn 1922 in dem von ihm herausgegebenen<br />

Quellenverzeichnis „Handschrift und Bild als pädagogische<br />

Geschichtsquelle“: „Zum ersten: sie (die Sammlung U. B.) ist in reichlich<br />

drei Jahrzehnten mit ganz bescheidenen Aufwendungen zustande gekommen,<br />

– und zum andern: wesentlich pädagogische Beziehungen der einzelnen<br />

Stücke entschieden (mit wenigen Ausnahmen) über ihre Einreihung.<br />

... Der Begriff Pädagogik ist ... nicht eng gefaßt; denn auch Jugendschriftsteller,<br />

Hochschullehrer, Unterrichtsminister und Schulfreunde von Verdienst<br />

haben Aufnahme gefunden. Ein auch nur flüchtiges Durchmustern<br />

der Namenreihe lehrt außerdem, daß nicht bloß die anerkannten Größen<br />

im Bereiche der theoretischen und praktischen Pädagogik, sondern auch<br />

Leute vertreten sind, die nur in engeren Fachkreisen genannt werden.“ 3<br />

Rebhuhn spricht in seinem Verzeichnis nicht von Handschriften, sondern<br />

er bringt „Handschriftliches“ im, wie er sagt, „landläufigen Wortsinne“<br />

und will in Briefen und sonstigen Schriftstücken „von Männern<br />

der Schule“... „einen Hauch des Geistes ihrer Urheber verspüren lassen oder<br />

wenigstens einen Beitrag zur Kenntnis ihrer Lebensumstände liefern.“ 4<br />

Mit den einzelnen Handschriften begnügten sich die Gründerväter des<br />

heutigen Archivs der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung<br />

aber keineswegs, sondern sie trugen zu bestimmten Anlässen wie runden<br />

Geburtstagen bedeutender Pädagogen mit Hilfe von Aufrufen in der pädagogischen<br />

Presse regelrechte unechte Nachlässe zusammen wie den von<br />

Adolph Diesterweg anlässlich seines 100. Geburtstages im Jahre 1886. Die<br />

hauptsächlich auf seine Initiative zusammengekommenen Briefe hat Rebhuhn<br />

1907 herausgegeben. In diesem Büchlein spricht er von 159 unter<br />

der deutschen Lehrerschaft verstreuten Briefen Diesterwegs, die in der<br />

Deutschen Lehrerbücherei eingegangen sind. Um den Wert dieser Briefsammlung<br />

hervorzuheben, charakterisiert Rebhuhn Diesterweg als eine<br />

„keck zugreifende, langen Erwägungen abholde, sich ungeschminkt geben-<br />

3 Adolf Rebhuhn (Hrsg.): Handschrift und Bild als pädagogische Geschichtsquelle; ein<br />

Nachweis von Quellen aus der Deutschen Lehrer-Bücherei. Berlin 1922, Zum Geleit,<br />

S. 1.<br />

4 Ebd.<br />

Universitätsreden 73 121


Ursula Basikow<br />

de Natur, ... die sich bereits in seinen zahlreichen Aufsätzen und Gelegenheitsschriften<br />

offenbart, in den Briefen aber noch deutlicher zum Ausdruck<br />

kommt. ... Reich sind seine Briefe an intimen Zügen, die zur Abrundung<br />

seines Bildes nicht unwesentlich beitragen. Auf seine Charaktereigenschaften<br />

wird vielfach ein verstärktes Licht geworfen. Sein lebhaftes<br />

Interesse für sozial- und schulpolitische Fragen tritt überall hervor ... Urteile<br />

über bekannte Persönlichkeiten werden in unverblümter Form gefällt.<br />

Die Lehrer des Volks, die er gern herausheben wollte aus der Bildungsnot,<br />

bekommen keine Schmeicheleien zu hören. Ihre Unfreiheit, die innere<br />

und äußere macht ihm Sorge. Ihren Zusammenschluß zu Lehrer- und<br />

Pestalozzivereinen sucht er kräftig zu fördern.“ 5<br />

Mit der Gleichschaltung der Lehrerverbände im Nationalsozialistischen<br />

Lehrerbund 1933 wurde in einem längeren Prozess 1937 die Deutsche<br />

Lehrerbücherei dem NSLB zugeschlagen. 1942 wurde der Nationalsozialist<br />

Hanns Beckmann Leiter der Bibliothek, der fortan seine Spuren in den<br />

Beständen der Bücherei und des Archivs hinterließ. Er kümmerte sich besonders<br />

um die Handschriftensammlung und ergänzte sie um Schriftstücke<br />

deutschnational und nationalsozialistisch gesinnter Autoren wie<br />

dem Dichter des Sturmliedes der NSDAP „Deutschland erwache“, Dietrich<br />

Eckart.<br />

Abgerundet werden soll der Ausflug in die frühe Geschichte der Deutschen<br />

Lehrerbücherei und ihres Archivs mit einem Auszug aus dem Neuköllner<br />

Tageblatt vom 30. 5. 1943, in dem unter der Überschrift „8000<br />

Handschriften berühmter Männer. Einmaligkeiten in der Bücherei der<br />

Lehrer“ über das Archiv berichtet wurde: „Das historische Archiv der deutschen<br />

Erzieher, das in einem besonderen Saal untergebracht ist, enthält<br />

allerlei einmalige Kostbarkeiten. In großen Glaskästen sind hier rund 8000<br />

Original-Handschriften bedeutender deutscher Männer ... ausgestellt.<br />

Künstlerische Schriftproben sogenannter Schreibmeister aus vergangenen<br />

Jahrhunderten bilden eine weitere Sehenswürdigkeit. Einmalig in der Welt<br />

ist die Sammlung pädagogischer Schaumünzen.“ 6<br />

5 Adolf Rebhuhn (Hrsg.): Briefe Adolf Diesterwegs. Leipzig 1907, S. IV.<br />

122 Universitätsreden 73<br />

Bestandsprofil des Archiv s in der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung<br />

Schicksal und Profil der archivischen Sammlungen in der DDR<br />

Über lange Jahre führte das noch aus Zeiten der Deutschen Lehrerbücherei<br />

vorhandene Archivgut in der Pädagogischen Zentralbibliothek ein Schattendasein,<br />

wenn auch einer ihrer Leiter, Leo Regener, dafür sorgte, dass der<br />

eine und andere Nachlass oder Teilnachlass in die Bibliothek überführt<br />

wurde. Für die Bearbeitung und sachgerechte Lagerung der Archivbestände<br />

fühlte sich jedoch niemand verantwortlich.<br />

Das änderte sich 1976, als das bisher als Verwaltungsarchiv geführte<br />

Archiv der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der DDR den<br />

Status eines Endarchivs erhielt. In diesem Zusammenhang wurden die in<br />

der Pädagogischen Zentralbibliothek vorhandenen älteren und neueren<br />

Archivbestände in das Akademiearchiv überführt. Erschlossen und in Findbüchern<br />

verzeichnet wurden der schon kurz nach der Gründung der<br />

Akademie der Pädagogischen Wissenschaften aus dem Archiv der Akademie<br />

der Wissenschaften in das Archiv der Pädagogischen Akademie gelangte<br />

Berliner Nachlass Friedrich Fröbels und der von der Deutschen Lehrerbücherei<br />

zusammengetragene Nachlass Adolph Diesterwegs sowie der des<br />

Thüringer Reformpädagogen und Verfechters des Arbeitsschulgedankens<br />

Carl Rössger.<br />

In einer 1982 erschienenen Selbstdarstellung des Archivs wird das nunmehr<br />

angestrebte Profil umrissen: „Die Zuständigkeit des Akademiearchivs<br />

erstreckt sich seit seiner Bestätigung als Endarchiv im Jahre 1976 auf das<br />

Archivgut der Leitungsorgane, Institute, Arbeitsstellen, zentralen Arbeitsgemeinschaften<br />

und sonstigen Einrichtungen der Akademie der Pädagogischen<br />

Wissenschaften, auf Archivgut pädagogischer Gesellschaften, Vereinigungen<br />

und Stiftungen und – soweit es ihm übergeben wird – auf persönliches<br />

Archivgut von Akademiemitgliedern (Nachlässe) und anderen<br />

bedeutenden Pädagogen der Vergangenheit und Gegenwart. Aufgrund dieser<br />

Funktion wurde die Zusammenführung der im Besitz von Einrichtungen<br />

der Akademie befindlichen Archivalien ins Akademiearchiv und das<br />

Bemühen um Bestandsergänzung durch erziehungsgeschichtlich aussagekräftige<br />

Quellen, insbesondere durch persönliche Archivbestände und<br />

Einzelquellen, intendiert.“ 7<br />

Universitätsreden 73 123


Ursula Basikow<br />

Ein weiteres Eingreifen in die archivischen Altbestände geschah im Zusammenhang<br />

mit der Gründung des Schulmuseums der Akademie der<br />

Pädagogischen Wissenschaften, das 1987 eröffnet wurde. Jetzt wurden die<br />

noch vorhandenen Stücke der Handschriftensammlung der Deutschen<br />

Lehrerbücherei gewaltsam auseinandergerissen und zusammen mit den<br />

Resten ihrer einstigen Bildsammlung in das Museum überführt. Es ging<br />

hierbei besonders um Dokumente mit einem gewissen Schauwert für die<br />

Ausstellungen des Museums. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des<br />

künftigen Schulmuseums stützten sich bei ihrer Sammlungstätigkeit auf<br />

eine Mitteilung des Ministeriums für Volksbildung, in der es hieß: „Alle<br />

Volksbildungseinrichtungen werden ersucht, den Aufbau des Schulmuseums<br />

durch Bereitstellung und Überlassung von geeignetem Sammlungsgut<br />

zu unterstützen ... Mitarbeiter der Ständigen Ausstellung des Volksbildungswesens<br />

sind befugt, geeignetes Sammlungsgut von Volksbildungseinrichtungen<br />

gegen einen durch den zuständigen Vizepräsidenten der Akademie<br />

der Pädagogischen Wissenschaften der DDR gezeichneten Beleg entgegenzunehmen.“<br />

8<br />

Bestrebungen, die Bestände wenigstens virtuell wieder zusammenzuführen,<br />

haben bis heute zu keinem Ergebnis geführt.<br />

Schicksal und Profil der Bestände im wiedervereinigten Deutschland seit<br />

1990<br />

Im wiedervereinigten Deutschland hatte die Akademie der Pädagogischen<br />

Wissenschaften der DDR als Vertreterin und Produzentin sozialistischer<br />

bzw. kommunistischer Vorstellungen von Bildung und Erziehung keinen<br />

Platz mehr und wurde demzufolge als eine der ersten Einrichtungen überhaupt<br />

geschlossen. Etwa ein Jahr vor der Schließung gab es bereits Überlegungen<br />

darüber, was mit den in der Pädagogischen Zentralbibliothek, im<br />

6 Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung des Deutschen Instituts für Internationale<br />

Pädagogische Forschung / Archiv, Bestand Deutsche Lehrerbücherei, Signatur:<br />

DLB 67.<br />

7 Roswitha Wollkopf: Das Archiv der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der<br />

DDR. Berlin 1982, S. 3f.<br />

124 Universitätsreden 73<br />

Bestandsprofil des Archiv s in der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung<br />

Archiv und im Schulmuseum befindlichen kulturell und wissenschaftsgeschichtlich<br />

bedeutsamen Sammlungen geschehen soll. Dazu wurden viele<br />

Ideen entwickelt, darunter die einer Stiftung Pädagogisches Kulturgut.<br />

Letztlich setzten sich alle Vorschläge für eine autarke Lösung überwiegend<br />

aus Gründen der Finanzierbarkeit nicht durch.<br />

Die schließlich gefundene Lösung, die Bereiche Pädagogische Zentralbibliothek<br />

und Akademiearchiv an das Deutsche Institut für Internationale<br />

Pädagogische Forschung anzugliedern und somit eine Außenstelle des<br />

in Frankfurt am Main beheimateten Instituts in Berlin zu schaffen,<br />

besteht bis heute. 9<br />

Während die Bibliothek noch um ein neues Profil ringen musste, war<br />

das Profil des Archivs von vornherein deutlich. Es bot und bietet als<br />

Dienstleistung die Übernahme von Beständen nicht abgabepflichtiger bildungsgeschichtlich<br />

relevanter Institutionen, Vereine, Gesellschaften und<br />

Verbände sowie von Personennachlässen an und ergänzt bereits vorhandene<br />

Bestände durch gezieltes Ansprechen von Bestandsbildnern. Dabei<br />

galt von Anfang an das Ziel, auf der Grundlage der Bestände mehr und<br />

mehr die Sicht auf die gesamtdeutsche Bildungsgeschichte zu ermöglichen.<br />

Das geschieht zunehmend durch die Übernahme von Beständen aus den<br />

alten Bundesländern.<br />

Bestandsübernahme und Bestandsabgrenzung sowie auch Bestandsbereinigung<br />

erfolgen in enger Zusammenarbeit mit dem Bundesarchiv und<br />

dem Berliner Landesarchiv. So ist das Archiv der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche<br />

Forschung z. B. nicht in der Lage, die Schularchive der<br />

Berliner Schulen zu übernehmen. Das regelt nach wie vor das Berliner<br />

Landesarchiv.<br />

8 Mitteilung über die Einrichtung einer Ständigen Ausstellung des Volksbildungswesens<br />

der DDR (Schulmuseum) vom 2. Mai 1986 in: Verfügungen und Mitteilungen des<br />

Ministeriums für Volksbildung XXXIV(1986)5, S. 72.<br />

9 Die wesentlichen Stationen der Entscheidungsfindung sind in der zweiten Auflage des<br />

Buches: Wege des Wissens. 125 Jahre Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung.<br />

Berlin 2003 nachzulesen, die um ein Zeitzeugeninterview zu eben diesen Vorgängen ergänzt<br />

wurde. Das Schulmuseum hatte sich während dieser Entscheidungsprozesse abge-<br />

Universitätsreden 73 125


Ursula Basikow<br />

Erstmalig in der hier skizzierten wechselvollen Geschichte des Archivs gibt<br />

ein 2004 erschienenes Bestandsverzeichnis Auskunft über die vorhandenen<br />

Bestände. 10 Die aktualisierten Zahlen sprechen von 66 Personennachlässen,<br />

41 Körperschaftsnachlässen und 17 Sammlungen. Ein großer<br />

Teil dieser Bestände ist, ebenfalls erstmalig, in der allegrobasierten Datenbank<br />

HANS verzeichnet und über das Internet zu recherchieren.<br />

Die vorhandenen Nachlässe werden an die Zentrale Nachlassdatenbank<br />

des Bundesarchivs gemeldet. Darüber hinaus erfolgt seit einiger Zeit eine<br />

Zusammenarbeit mit der von der Staatsbibliothek zu Berlin betriebenen<br />

Datenbank Kalliope, in die die konventionellen Findbücher zu den Nachlässen<br />

Friedrich Fröbels und Adolph Diesterwegs im Rahmen eines dort<br />

angesiedelten DFG-Projekts übertragen werden.<br />

Gegenwärtig laufende Projekte:<br />

Gerade abgeschlossen wurden die Arbeiten an einem Inventar zu den im<br />

Archiv überlieferten Nachlässen der Schwestern Adelheid (1884-1968) und<br />

Marie (1888-1989) Torhorst, das mit Mitteln des „Berliner Programms zur<br />

Förderung der Chancengleichheit für Frauen in Forschung und Lehre“<br />

finanziert wurde. Gegenwärtig wird an zwei von der DFG geförderten<br />

Hybrideditionen gearbeitet, nämlich an einer Werkausgabe der Schriften<br />

Adolf Reichweins und einer Briefausgabe sämtlicher Briefe Friedrich<br />

Fröbels, deren Grundlage die entsprechenden Archivbestände bilden.<br />

Zur Zeit laufen zwei große Digitalisierungsprojekte, die mit Hilfe von<br />

Vergabe ABM realisiert werden. Sie betreffen umfangreiche Sammlungen<br />

von Personaldaten der Lehrer und Lehrerinnen Preußens. Es handelt sich<br />

zum einen um die sogenannte Volksschullehrerkartei, die ca. 138.000 einseitig<br />

beschriebene Karteikarten im Format A5 enthält, die alle gescannt<br />

und von denen bereits ca. 90 Prozent über die Archivdatenbank auffindbar<br />

sind: http://www.bbf.dipf.de/VLK/.<br />

spalten und gehört heute als Museum für Kindheit und Jugend zur Museumslandschaft<br />

Berlins.<br />

10 Nachlässe, Autographen und Sammlungen als Quellen für die bildungsgeschichtliche<br />

Forschung. Bestandsverzeichnis des Archivs der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche<br />

126 Universitätsreden 73<br />

Bestandsprofil des Archiv s in der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung<br />

Der Rest wird in einem sich unmittelbar anschließenden Folgeprojekt in<br />

die Datenbank eingearbeitet.<br />

Zum anderen geht es um die Sammlung der Personalbögen der Lehrer und<br />

Lehrerinnen der höheren Schulen Preußens. Sie besteht aus ca. 85.000,<br />

meist vierseitigen Bögen in Folioformat. Auch hiervon ist bereits der größte<br />

Teil gescannt. Die Eingabe in die Datenbank hat begonnen und wird im<br />

Folgeprojekt zum Abschluss gebracht werden: (http://www.bbf.<br />

dipf.de/peb/).<br />

Forschung / bearb. von: Ursula Basikow und Ilka Lenze. (Bestandsverzeichnisse zur<br />

Bildungsgeschichte Bd. 11) Berlin 2004.<br />

Universitätsreden 73 127


Archive im Wandel.<br />

Dokumentations- und Sammlungsstrategien<br />

bei kultureller Überlieferung<br />

Sabine Brenner-Wilczek<br />

Beim Thema Bewertung muss man der gewandelten Funktion von Archiven<br />

allgemein und speziell von Literatur- und Kulturarchiven Rechnung<br />

tragen. Bevor ich auf die Genese des Heinrich-Heine-Instituts in Düsseldorf<br />

und die Bewertungspraxis in unserem Archiv eingehe, möchte ich zu<br />

Beginn in zugespitzter Form fünf Grundaxiome herausstellen. Diese wirken<br />

sich letztlich auch auf die konkrete Arbeit in Düsseldorf aus.<br />

1. Die modernen Vervielfältigungstechniken führten zu einer Überlieferungsflut.<br />

Während der Kassationsanteil bei Massenakten oft bei über 90<br />

Prozent liegt, wird bei Nachlässen und Sammlungen nur höchst selten in<br />

einem solchen Umfang kassiert. Bei (Literatur-) Nachlässen geht es nicht<br />

um das Herausfiltern der Unikatüberlieferung aus der Masse von redundantem<br />

Mehrfachschriftgut. Ein quantitatives Sampleverfahren führt zu<br />

keinem Ergebnis und auch andere Bewertungsmodelle greifen hier nicht<br />

in ausreichendem Maße. 1<br />

2. Robert Kretzschmar und viele andere Archivare mit ihm weisen zu<br />

Recht auf die erhöhte Bedeutung von nichtstaatlicher Überlieferung und<br />

die damit verbundene Bewertungsproblematik hin. 2 Insbesondere seit der<br />

1 Auch die von Robert Kretzschmar entwickelte „Grundstruktur einer Checkliste für die<br />

Bewertung“ ist für den Bereich der (Literatur-) Nachlässe nur schwierig übertragbar.<br />

Vgl. Robert Kretzschmar: Spuren zukünftiger Vergangenheit. Archivische Überlieferungsbildung<br />

im Jahr 2000 und die Möglichkeiten einer Beteiligung der Forschung, in:<br />

Der Archivar 53, Heft 3 (2000), S. 215-222.<br />

2 Vgl. ebd.<br />

Universitätsreden 73 129


Sabine Brenner-Wilczek Archiv e im Wandel<br />

elektronischen Revolution werden von Einzelpersönlichkeiten strukturierte<br />

Nachlässe immer wichtiger für die kulturhistorische Forschung. Aufgrund<br />

ihres Quellenwerts sollten Nachlässe und Sammlungen nicht mehr<br />

nur als Ersatzüberlieferung angesehen werden. Diese unglückliche Bezeichnung<br />

legt den Schluss nahe, es handle sich lediglich um eine Überlieferung<br />

zweiter Wahl. Eine Umbenennung zugunsten einer positiven fachspezifischen<br />

wie öffentlichen Wahrnehmung wäre daher vonnöten.<br />

3. Bei Nachlässen und Sammlungen ist ein aktives Archivmarketing zu<br />

betreiben. Schließlich existiert bei (Literatur-) Nachlässen keine Anbietungspflicht<br />

an das zuständige Archiv. Daher ist es wichtig, Nachlässe aktiv aufzuspüren<br />

und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Um die Bestände<br />

eines Archivs zu präsentieren, stehen neben den traditionell gedruckten<br />

Findmitteln mittlerweile auch Online-Findbücher, Mailinglisten, Portale<br />

und elektronische Zeitschriften zur Verfügung. Arbeitsprozesse innerhalb<br />

eines Archivs können aber erst dann der Öffentlichkeit vermittelt werden,<br />

wenn Sammlungsziele abgesteckt worden sind. Zu einem neuen, nach<br />

außen kommunizierten Archivbegriff gehören daher auch Dokumentationsprofile<br />

und -strategien, die eine erhöhte Transparenz gewährleisten.<br />

4. Nicht nur die Arbeits- und Kommunikationsmittel des Archivars haben<br />

sich verändert. Gleichsam haben sich mit den Möglichkeiten der neuen<br />

Speichermedien auch die Profile der Kulturschaffenden gewandelt. In<br />

Fragen der Bewertung müssen daher Festplatten, CDs, Disketten und<br />

E-mail Accounts genauso berücksichtigt werden wie die herkömmliche<br />

Papierüberlieferung. Im Unterschied zur Verwaltungsüberlieferung ist die<br />

(mediale) Überlieferungsbildung von Einzelpersonen jedoch individueller<br />

und vielgestaltiger. Während in Verwaltungen standardisiert jeweils dieselben<br />

Programme benutzt werden und die Rechner über das Intranet verbunden<br />

sind, nutzt ein Kulturschaffender im Laufe seines Lebens die<br />

unterschiedlichsten Hersteller, Programme und Rechner.<br />

5. Mit den neuen Medien hat sich auch der Werkbegriff verändert und<br />

damit die Bandbreite dessen, was in Kulturarchiven gesammelt werden<br />

könnte und sollte. Der äußerst schnelllebige Bereich der Pop-Kultur bei-<br />

spielsweise ist mit einer traditionellen Herangehensweise nicht abzudecken.<br />

Hörbücher, Songtexte und Performances sind zentrale Bestandteile<br />

der Gegenwartsliteratur geworden, die in Literaturarchiven dokumentiert<br />

werden sollten. Eine Neuorientierung im Hinblick auf die Dokumentationsprofile<br />

und -strategien von (Literatur-) Archiven ist daher dringend<br />

geboten.<br />

Diese kurz skizzierten, allgemeinen Faktoren schlagen sich auch auf die<br />

Arbeit des Düsseldorfer Heinrich-Heine-Instituts nieder. Das Heinrich-<br />

Heine-Institut ist aus der Neueren Handschriftenabteilung der alten Landes-<br />

und Stadtbibliothek Düsseldorf hervorgegangen. Bereits 1970 konnte<br />

die Landes- und Stadtbibliothek auf eine 200jährige Geschichte zurückblicken.<br />

Gegründet wurde die älteste Vorgängereinrichtung als öffentliche<br />

Bibliothèque durch den Kurfürsten Carl Theodor von der Pfalz-Sulzbach,<br />

der ihr hauptsächlich Dubletten aus seinem Privatbestand zur Verfügung<br />

stellte. 3 Anfang des 19. Jahrhunderts avancierte die bis dato eher unbedeutende<br />

Bibliothek „im Zuge der Säkularisation zum Sammelbecken der<br />

Stifts- und Klosterbibliotheken aus der niederrheinisch-bergischen<br />

Region“. 4 Zu den Benutzern dieser wertvollen Bestände zählten unter<br />

anderen Heinrich Heine und Robert Schumann. Als 1965 in Düsseldorf<br />

eine Hochschule gegründet wurde, die aus der Medizinischen Akademie<br />

hervorging, übertrug die alte Landes- und Stadtbibliothek der neu gegründeten<br />

Universitätsbibliothek wenige Jahre später ihre Buchbestände. Auch<br />

die Inkunabeln und Wiegendrucke wurden, allerdings als Dauerleihgabe,<br />

von der Stadt- an die Universitätsbibliothek übergeben. Aus der Neueren<br />

Handschriftenabteilung der Landes- und Stadtbibliothek ging das Heinrich-Heine-Institut<br />

hervor: „Die Quellen zur Literatur, Kunst, Musik und<br />

Wissenschaft der niederrheinisch-bergischen Region sind so seit 1970 in<br />

3 Vgl. hierzu Sabine Brenner-Wilczek: Die öffentliche Bibliothèque in Düsseldorf und ihre<br />

Beiträger. Denkmodelle zwischen Ancien Régime und Aufklärung, in: Anke Hufschmidt<br />

(Hrsg.): Planspiele. Stadtleben und Stadtentwicklung im 18. Jahrhundert.<br />

Düsseldorf 2006, S. 47-59.<br />

4 Bernd Kortländer / Joseph A. Kruse: Das Archiv des Heinrich-Heine-Instituts. Geschichte<br />

und Bestand, in: Heine-Jahrbuch 32 (1993), S. 158-171, hier: S. 158.<br />

130 Universitätsreden 73 Universitätsreden 73 131


Sabine Brenner-Wilczek<br />

einem verselbständigten Literaturarchiv dokumentiert, das durch eine<br />

Spezialbibliothek und ein Museum zusätzlich vielfältige Möglichkeiten<br />

der Forschung und Vermittlung bietet.“ 5<br />

Aus dieser grob umrissenen Genese des Instituts haben sich drei Säulen<br />

entwickelt: Das Archiv mit seinen ca. 150 Nachlässen, Teilnachlässen und<br />

Sammlungen, die Bibliothek mit ihren speziellen Sammlungen, vor allem<br />

der Heine-Sammlung und ihren Zeitungs- und Programmdokumentationen,<br />

sowie das Museum mit seinem graphischen Bestand. Zu den Kernaufgaben<br />

des Instituts zählt die Sammlungstätigkeit im Bereich des Heine-<br />

Archivs. Bislang liegen im Institut über 4.000 Werkmanuskriptseiten, ca.<br />

300 Briefe von Heinrich Heine, ca. 900 Briefe an ihn sowie zahlreiche<br />

Widmungsexemplare und die Bücher aus seiner Nachlassbibliothek. Damit<br />

bewahrt das Institut über 60 Prozent der heute bekannten Heine-<br />

Handschriften auf, ca. 25 Prozent liegen in der Pariser Bibliothèque nationale<br />

de France, und die restlichen Autographen befinden sich in öffentlichen<br />

wie privaten Sammlungen in den USA.<br />

Ergänzt wird der Heine-Bestand des Instituts zumeist durch Ankäufe, sei<br />

es auf Auktionen im Autographenhandel, vermittelt durch Händler oder<br />

direkt von Privatpersonen. Ein eigenes Dokumentationsprofil für diese<br />

Abteilung zu erstellen, erübrigt sich, da von Heinrich Heine grundsätzlich<br />

alles archivwürdig ist bzw. gesammelt wird, auch im gegenständlichen<br />

Bereich. So konnte beispielsweise vor wenigen Jahren eine Schreibfeder<br />

Heines aus Privatbesitz erworben werden. Hier sieht sich das Heine-Institut<br />

nicht zuletzt dem Reliquiencharakter der Gegenstände verpflichtet. Die<br />

Aura, die von solchen Originalen ausgeht, lässt sich insbesondere bei Ausstellungen<br />

nutzen, zumal das Institut auch über ein eigenes Museum verfügt.<br />

Ergänzt wird das Heine-Archiv in optimaler Weise durch weitere<br />

Sammlungen zu Autoren des Vormärz bzw. des Jungen Deutschland.<br />

Die Nachlässe aus dem 19. und 20. Jahrhundert weisen regionale Bezüge<br />

auf, so beispielsweise der Teilnachlass des gebürtigen Düsseldorfers Heinrich<br />

Spoerl (Die Feuerzangenbow le) oder der Nachlass von Herbert Eulenberg,<br />

den Thomas Mann einst „Ehrenbürger der Welt“ nannte. Das Insti-<br />

5 Ebd. S. 159.<br />

132 Universitätsreden 73<br />

Archiv e im Wandel<br />

tut hat seinen regionalen Sammelschwerpunkt in den letzten Jahren erfolgreich<br />

ausgebaut. Im Rheinischen Literaturarchiv des Heinrich-Heine-Instituts<br />

wurde ein eigener Lesesaal mit einem speziellen Buchbestand zur<br />

rheinischen Literatur-, Kultur- und Sozialgeschichte eingerichtet, Arbeitsplätze<br />

für Benutzer zur Verfügung gestellt und die Zusammenarbeit mit<br />

verschiedenen Partnern gesucht. 6 Insbesondere der Landschaftsverband<br />

Rheinland fördert die Aktivitäten des Rheinischen Literaturarchivs, das<br />

sich auch als Service- und Beratungsstelle versteht.<br />

Die Themen Bewertung und Dokumentationsstrategien werden in erster<br />

Linie für die Arbeit des Rheinischen Literaturarchivs virulent. Was aber<br />

bedeutet in diesem Zusammenhang die magische Vokabel rheinisch? Die<br />

naheliegende Antwort, dass im Rheinischen Literaturarchiv rheinische<br />

Autoren gesammelt werden, löst das Problem nur scheinbar. Schließlich<br />

bleibt immer noch zu klären, was sich hinter dem Begriff rheinisch verbirgt.<br />

Ist ein rheinischer Autor jemand, der über den Rhein als Thema geschrieben<br />

haben muss? Diese Kategorie erweist sich als sehr problematisch. Hier<br />

bliebe ja die Frage offen, ob nicht einfach alles andere aus einem Nachlass,<br />

das nicht das Thema Rhein betrifft, kassiert werden kann. Außerdem gelangt<br />

man, führt man diesen Gedanken zu Ende, zu weiteren absonderlichen<br />

Schlussfolgerungen. Schließlich müsste man konsequenterweise<br />

Karl May mit seinen Geschichten rund um Winnetou und Old Shatterhand<br />

als bekanntesten amerikanischen Autor bezeichnen.<br />

Ist ein rheinischer Autor also jemand, der im Rheinland geboren wurde?<br />

Ganz so einfach ist das Problem nicht zu lösen, wobei natürlich die<br />

Geografie einerseits wichtige Anhaltspunkte liefert. Andererseits müsste<br />

Wilhelm Schäfer dann als hessischer Autor gelten, obwohl er nur wenige<br />

Wochen nach seiner Geburt im hessischen Ottrau mit seinen Eltern ins<br />

Rheinland zog und viele Jahrzehnte dort als Autor tätig war. Auch die<br />

Wirkungsorte eines Schriftstellers ergeben nur bedingt ein Differenzierungskriterium.<br />

Schließlich müsste man sich entscheiden, wie lange je-<br />

6 Vgl. zur Aufbauphase des Rheinischen Literaturarchivs: Volker Kaukoreit: Fragen an<br />

Dr. Bernd Kortländer, Leiter des Archivs des Heinrich-Heine-Instituts in Düsseldorf,<br />

in: Archiv – Bibliothek – Literaturwissenschaft. Internationales Jahrbuch des Österreichischen<br />

Literaturarchivs 1 (1998), S. 131-134.<br />

Universitätsreden 73 133


Sabine Brenner-Wilczek<br />

mand in einer Region oder an einem Ort gelebt haben muss, um ihn sinnvoll<br />

in die Rubrik rheinisch einordnen zu können. Pragmatische Lösungen<br />

sind also auf jeden Fall vonnöten. Das zweibändige Kölner Autorenlexikon<br />

beispielsweise löst das Dilemma mit der Festlegung: „[...] der Eintrag<br />

erfolgt dann, wenn jemand in Köln in seinen heutigen Stadtgrenzen geboren<br />

ist oder sich längere Zeit hier aufgehalten hat und dabei mindestens<br />

ein Buch, gemeint als selbständige Monographie im bibliographischen<br />

Sinne, veröffentlicht hat oder drei Beiträge [...]“. 7 Durch diese Setzungen<br />

werden auch Autoren im Lexikon verzeichnet, die man zunächst nicht im<br />

Kölner Kontext vermutet hätte, unter ihnen Karl Marx – die wahrscheinlich<br />

größte Überraschung.<br />

Und noch ein Aspekt ist zu bedenken: Wie ist das Rheinland geographisch<br />

gefasst? Legt man heute die Grenzen des Landschaftsverbandes<br />

Rheinland zugrunde? Wenn ja, was ist dann mit den historischen<br />

Territorialgrenzen der preußischen Rheinprovinz? Allein diese Fragestellungen<br />

geben Einblick in die Wandelbarkeit regionaler Zuschreibungen.<br />

Aber sind Autoren, die im wie auch immer gefassten Rheinland geboren<br />

wurden, automatisch auch rheinische Autoren? In Sammelbänden oder<br />

Anthologien, auch in denen neueren Datums, geht es zunächst immer um<br />

Autoren aus dem Rheinland und weniger um rheinische Dichter.<br />

Das macht auf eine Gefahr aufmerksam, die sich mit dem Einbezug<br />

eines inhaltlichen Kriteriums ergibt: Man gelangt mit den Zuschreibungen,<br />

was als rheinisch bezeichnet werden kann, allzu leicht in die Nähe einer<br />

wie auch immer gearteten „Wesenheit“ oder einer „rheinischen Volksseele“.<br />

Das stammesbiologistische Instrumentarium, das in der Germanistik durch<br />

August Sauer und seinen akademischen Schüler Josef Nadler geprägt<br />

wurde, ist selbstverständlich untragbar. Sauer und Nadler benutzten die<br />

vermeintliche „Verwurzelung“ der Autoren im Volkstum als normatives<br />

Selektionskriterium, um auf künstliche Weise die Homogenität einer überlieferten<br />

Textlandschaft herzustellen. Nadlers Literaturgeschichte der Stämme<br />

und Landschaften, erstmals 1911 erschienen, erwies sich als besonders wir-<br />

7 Enno Stahl: Editorische Notiz, in: Kölner Autoren-Lexikon, Bd. 1. 1750-1900. Köln<br />

2000, S. 12-19, hier: S. 13.<br />

134 Universitätsreden 73<br />

Archiv e im Wandel<br />

kungsmächtig. Wie stark das völkisch-rassische Gedankengut auch in die<br />

spezifisch rheinische Literaturgeschichtsschreibung eingegangen ist, zeigt<br />

Walter Lindens Literaturgeschichte Deutsche Dichtung am Rhein von 1944.<br />

Zu Recht sind diese Ansätze ins wissenschaftliche Abseits gedrängt worden.<br />

Gleichzeitig wurde aber auch die regionale Literaturgeschichtsschreibung<br />

und -erforschung tabuisiert. Erst im Zuge der allgegenwärtigen Europäisierungsbestrebungen<br />

rückten wieder Fragen nach der kulturellen Prägung<br />

der Region(en) in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses. Die<br />

Kulturraumforschung untersuchte literarisches Leben in einem Mikrokosmos.<br />

Forscherinnen und Forscher wie Renate von Heydebrand, Norbert<br />

Oellers und Norbert Mecklenburg analysierten in Fallstudien literarisches<br />

Leben in einer Region als „verkleinertes Modell der<br />

,Literaturgesellschaft‘“, als „Form geschichtlichen Handelns und als gesellschaftliches<br />

Subsystem.“ 8<br />

Neue Impulse erhielt die regionale Perspektive auf Literatur durch den<br />

Cultural Turn in den Geisteswissenschaften und die Forschungen zum kulturellen<br />

Gedächtnis: „An die Stelle eines homogenen und ganzheitlichen<br />

Kulturbegriffs [...] ist ein Verständnis von ,Kultur‘ als Austausch und Aneignungsprozeß<br />

[getreten], der unterschiedlichsten Einflüssen unterworfen<br />

ist, bei denen Gruppenstrategien, Machtverhältnisse und Hierarchien mitgedacht<br />

werden.“ 9 Mit Blick auf den jüngsten Forschungsdiskurs erweisen<br />

sich daher Fragestellungen wie „Gibt es rheinische Autoren?“ als zu einseitig.<br />

Eine solche Herangehensweise ließe insbesondere die historische<br />

Dimension („Wann gab es rheinische Autoren?“), die Veränderbarkeit der<br />

kulturellen Identität („Unter welchen soziokulturellen Bedingungen gab es<br />

rheinische Autoren?“) sowie die Eigen- und Fremdzuschreibungen („Gegen<br />

wen grenzten sich die rheinischen Autoren ab?“) außer acht. Das heißt, dass<br />

8 Norbert Mecklenburg: Stammesbiologie oder Kulturraumforschung? Kontroverse Ansätze<br />

zur Analyse regionaler Dimensionen der deutschen Literatur, in: Albrecht Schöne<br />

(Hrsg.): Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses Bd.1, Göttingen 1985,<br />

S. 3-15, hier: S. 9.<br />

9 Michael Lackner / Michael Werner: Der cultural turn in den Humanwissenschaften.<br />

Aera Studies im Auf- oder Abwind des Kulturalismus? Bad Homburg 1999, S. 27.<br />

Universitätsreden 73 135


Sabine Brenner-Wilczek<br />

es sehr verschiedene Begriffe des Rheinischen geben kann, die jeweils auf<br />

unterschiedliche Gruppen, Zeiten und auch Räume bezogen sein können.<br />

Für die Überlieferungsbildung des Rheinischen Literaturarchivs sind diese<br />

Forschungen von großer Relevanz. Anzusetzen ist auf der mittleren Ebene<br />

eines Dokumentationsprofils. 10 Dies bedeutet, das Rheinische Literaturarchiv<br />

bewahrt die Überlieferung der Protagonisten und Institutionen<br />

des literarisch-kulturellen Handelns auf. Es dokumentiert literarisches<br />

Leben in einer Region. 11 Damit sieht sich das Rheinische Literaturarchiv<br />

einem weit gefassten Literaturbegriff verpflichtet, ganz im Sinne von<br />

Renate von Heydebrands Konzept eines „literarischen Subystems“. Drei<br />

grobe Eckpunkte können an dieser Stelle festgehalten werden:<br />

1. Es gilt, den Sammelfokus auch auf Autorengruppen und literarisch-kulturelle<br />

Gesellschaften zu richten. Durch ihre Aktivitäten haben sie ein<br />

spezifisches Verständnis des „Rheinischen“ propagiert und das kulturelle<br />

Leben der Region bestimmt.<br />

2. Literatur- und Kulturzeitschriften, auch Fanzines und Underground-<br />

Zeitschriften, sind wichtige kulturelle Speichermedien. In den Nachlassbibliotheken<br />

der Herausgeber und Mitarbeiter sollten diese verstärkt<br />

bewahrt und, falls möglich, kontinuierlich ergänzt werden.<br />

3. Kleine Verlagsarchive mit ihren regional wirksamen Publikationen sollten<br />

auch gesammelt werden. Insbesondere aus den Sammelschriften und<br />

den sie begleitenden Briefwechseln, Einladungskarten zu Buchvorstellungen<br />

und Lesungen u.Ä. ergibt sich ein gutes Bild der persönlichen<br />

und institutionellen Verflechtungen in einer Region.<br />

Dokumentationsziele sind jedoch immer „Work in progress“, benötigen<br />

Werkstattberichte, die Kretzschmar „Motivenberichte“ nennt, und den<br />

10 Hierfür hat Max Plassmann in seinem Beitrag auf der Saarbrücker Tagung zu Recht<br />

plädiert.<br />

11 Die Frage, was dann im geographischen Sinne als „rheinisch“ verstanden werden kann,<br />

ist damit aber noch nicht geklärt. Bei Projekten des Rheinischen Literaturarchivs, beispielsweise<br />

bei dem Internetportal „www.rheinische-literaturnachlaesse.de“, hat man<br />

die Grenzen des Landschaftsverbandes Rheinland zugrunde gelegt.<br />

136 Universitätsreden 73<br />

Archiv e im Wandel<br />

gegenseitigen Austausch. Der alte Booms’sche Ansatz, dazu einen runden<br />

Tisch mit verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zu bilden, ist sicher<br />

nicht praktikabel. Nicht zu Unrecht hat man Booms polemisch geantwortet:<br />

„Wieviel Zeit sollen da wieviel Leute in endlosen Sitzungen miteinander<br />

verbringen und derweilen keinen praktischen Ansatz leisten können?“<br />

12 Es wird eine zukünftige Aufgabe sein, den großen Runden Tisch<br />

durch ein besseres Konzept zu ersetzen.<br />

Dabei bietet sich aus der Sicht des Heine-Instituts ein regional zentriertes<br />

Vorgehen an. Das Rheinische Literaturarchiv versteht sich als Service-<br />

Instanz zwischen der oft zu versteckten lokalen und der zu ausufernden<br />

nationalen bzw. internationalen Ebene. Es vermittelt Informationen zwischen<br />

den einzelnen Archiven und den Benutzern und macht mit dem<br />

Internetportal Literarische Nachlässe in rheinischen Archiv en und der E-Zine<br />

w w w .literatur-archiv -nrw .de entsprechende Service-Angebote.<br />

In einer Workshop-Sitzung im Sommer 2006 hat das Heine-Institut die<br />

Gründung einer Arbeitsgruppe zum Thema Kulturelle Überlieferung auf<br />

regionaler Ebene angeregt, um im Mikrokosmos der Region das kulturelle<br />

Subystem nachzeichnen zu können. Zunächst ist ein Zusammenschluss<br />

der Archivare wichtig, aber auch eine Rückkoppelung an die Forschung ist<br />

nicht zu vernachlässigen. Zwar sehen die Archivgesetze keine Abstimmung<br />

mit der Forschung vor, aber, um hier wiederum Kretzschmar zu zitieren:<br />

„Sie ist auch nicht verboten!“ Daher veranstaltete das Rheinische Literaturarchiv<br />

im Heinrich-Heine-Institut mit Unterstützung des Landschaftsverbandes<br />

Rheinland im Herbst 2006 eine Tagung zum Thema<br />

Kulturelle Überlieferung. Vereine, Verbände, Gesellschaften, um Archivare und<br />

Forscher zu einem gemeinsamen Diskurs anzuregen. Ein zweiter Teil des<br />

Kolloquiums zum Thema Literarisches Leben ist im Jahr 2007 gefolgt. 13<br />

12 Gerhard Granier: Die archivische Bewertung von Dokumentationsgut – eine ungelöste<br />

Aufgabe, in: Der Archivar 27 (1974), S. 231-240, hier: S. 239.<br />

13 Vgl. zu dem vom Landschaftsverband Rheinland geförderten Gesamtprojekt: Enno<br />

Stahl: Literarisches Leben am Rhein. Quellen zur literarischen Infrastruktur im Rheinland<br />

(Beitrag vom 19.5.2006).<br />

Universitätsreden 73 137


Bestandsbildung im Archiv des Deutschen Museums<br />

Wilhelm Füßl<br />

Die Fachgruppe 8 des Verbands deutscher Archivarinnen und Archivare<br />

umfasst neben den Universitäts- und Hochschularchiven eine Reihe von<br />

Archiven an Museen, an wissenschaftlichen und sonstigen Einrichtungen.<br />

Bei den letzteren steht beim Bestandsaufbau in der Regel nicht primär die<br />

Übernahme amtlichen Schriftguts einer zugeordneten Behörde im Vordergrund.<br />

Natürlich übernehmen auch sie die Akten ihrer eigenen Verwaltung,<br />

doch ist bei ihnen das Verhältnis von Verwaltungsakten zum Gesamtbestand<br />

prozentual meist genau umgekehrt zu den Universitätsarchiven, bei<br />

denen das Behördenschriftgut dominiert. Hinsichtlich der Bestandsbildung<br />

stehen bei den Archiven an Museen, wissenschaftlichen und sonstigen<br />

Einrichtungen solche Unterlagen im Vordergrund, die dem nichtamtlichen<br />

Archivgut zuzurechnen sind. Um ein Beispiel zu geben: Im Archiv<br />

des Deutschen Museums 1 liegt der Anteil des nichtamtlichen Schriftguts<br />

bei 85 Prozent oder 3,8 Regalkilometern (bei einem Gesamtbestand von<br />

4,5 Regalkilometern). In anderen Archiven der Fachgruppe bewegt sich der<br />

Prozentsatz des amtlichen Archivguts in vergleichbaren Dimensionen. 2<br />

1 Zum Archiv des Deutschen Museums vgl.: Wilhelm Füßl / Eva A. Mayring: Eine<br />

Schatzkammer stellt sich vor. Das Archiv des Deutschen Museums zu Naturwissenschaft<br />

und Technik. München 1994; Wilhelm Füßl: Das Verwaltungsarchiv des Deutschen<br />

Museums, in: Archiv und Wirtschaft 27 (1994), S.112-116; ders.: Technischwissenschaftliche<br />

Bestände im Museum. Das Archiv des Deutschen Museums, in:<br />

Naturwissenschaften und Archive. Naturwissenschaftliche und technische Überlieferungen<br />

wissenschaftlicher Einrichtungen. Frühjahrstagung der Fachgruppe 8 des<br />

Verbands deutscher Archivarinnen und Archivare am 27. März 2001 in Rostock.<br />

Rostock 2001, S. 7-15.<br />

2 In der Dokumentesammlung des Herder-Instituts in Marburg liegt beispielsweise der<br />

Anteil der Geschäftsakten des Instituts am Gesamtbestand bei 10 Prozent;<br />

Universitätsreden 73 139


Wilhelm Füßl<br />

Dies bedeutet, dass bei einer Reihe von Archiven der Schwerpunkt der<br />

Arbeit nicht in erster Linie auf der Übernahme, Bewertung, Kassation und<br />

Verzeichnung des ihnen zuwachsenden Schriftguts liegt, sondern dass sie<br />

von sich aus aktiv tätig werden müssen, um Bestände, in der Regel Sammlungsgut,<br />

an ihre Einrichtung zu holen. Um dieser Gruppe von Archiven<br />

eine zusammenfassende Bezeichnung zu geben, soll hier der Begriff<br />

„Sammelnde Archiv e“ verwendet werden. Beim „sammelnden Archiv “ spielt<br />

weniger die klassische Frage des „woher?“ eine Rolle, also „der besondere<br />

funktionale Zusammenhang des organisch erwachsenen Archivguts“ 3 (Behörden,<br />

Einrichtungen, Einzelpersonen), als vielmehr das Kriterium, w as<br />

überhaupt gesammelt werden soll. Die grundlegende Funktion sammelnder<br />

Archive ist demnach primär nicht die Bewertung von Schriftgut auf<br />

Archivwürdigkeit – diese Frage stellt sich nur in eingeschränktem Maße,<br />

da ohnehin nur ins Archiv kommt, was man wirklich haben will. Ihre zentrale<br />

Aufgabe besteht vielmehr in der gezielten Einwerbung. Um eine<br />

effektive Erwerbungspolitik zu gewährleisten, ist es aber unabdingbar, ganz<br />

konkret eine Sammlungspolitik zu formulieren, die als Ausgangspunkt und<br />

Argumentationshilfe bei Einwerbungen bzw. umgekehrt bei Ablehnungen<br />

hilft. Eine ausgefeilte Sammlungspolitik setzt eine klare Zielorientierung<br />

voraus. Letztere definiert sich im wesentlichen aus dem allgemeinen Selbstverständnis<br />

der jeweiligen Einrichtung.<br />

Zur Bedeutung von Sammlungsgut<br />

In seinem bemerkenswerten Eröffnungsvortrag anlässlich des 71. Deutschen<br />

Archivtages in Nürnberg im Jahr 2000 zum Thema „Die Zukunft<br />

der Vergangenheit“ hat Professor Hermann Lübbe einige für das deutsche<br />

Archivwesen wichtige Fragen aufgeworfen. Eine seiner Thesen war, dass es<br />

künftig zu einer Abnahme der „relativen Zuständigkeit der öffentlichen<br />

vgl. Dorothee M Goeze: In Grenzen unbegrenzt / „Sammeln“ im Archiv. Die<br />

Dokumentesammlung im Herder-Institut Marburg und ihr Sammlungsprofil (im<br />

Druck). Ich danke der Verfasserin für die Überlassung des Typoskripts.<br />

3 Eckhart G. Franz: Einführung in die Archivkunde. 4. Aufl. Darmstadt 1993, S. 2.<br />

140 Universitätsreden 73<br />

Bestandsbildung im Archiv des Deutschen Museums<br />

Archive für das Schriftgut nichtstaatlicher Stellen“ kommen werde. 4 Dahinter<br />

steht die Überlegung, dass staatliche und kommunale Archive<br />

schon heute allein bei der Übernahme der Akten aus den ihnen zugeordneten<br />

Stellen an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit arbeiten. Hartmut<br />

Weber hat dieses Problem kurz nach seiner Amtsübernahme auch für das<br />

Bundesarchiv betont: „Die Gesamtsituation ist jedoch gekennzeichnet<br />

durch eine sich zunehmend weiter öffnende Schere der in der Tendenz<br />

abnehmenden Ressourcen einerseits und andererseits der allein durch den<br />

zwangsläufigen Zugang an Archivgut sowie durch wachsende Nutzungsanforderungen<br />

zunehmenden Aufgaben“. 5 Als Folge dieser Situation sind<br />

viele staatliche, kommunale und körperschaftliche Archive heute nur sehr<br />

eingeschränkt in der Lage, nichtstaatliches Archivgut zu übernehmen.<br />

Führt man Lübbes Aussage gedanklich weiter, so bedeutet dies, dass Schriftund<br />

Sammlungsgut außerhalb der Zuständigkeit staatlicher Einrichtungen<br />

künftig in ganz erheblichem Maße von Verlust bedroht sein wird. Dieser<br />

Beobachtung kann man sich im übrigen nur anschließen, wenn man sieht,<br />

in welchem Umfang Einzelpersonen, Verbände, Vereine, Institutionen<br />

oder Industrieunternehmen ihre Akten und anderes Archivgut vernichten.<br />

In der Konsequenz von Lübbes Ansichten wird den Archiveinrichtungen<br />

außerhalb der staatlichen und kommunalen Zuständigkeit künftig<br />

eine größere Rolle bei der Sicherung von Schrift- und Sammlungsgut<br />

erwachsen. Damit sind die Archive der politischen Parteien, Stiftungen<br />

und Verbände, der Wirtschaft oder auch der Kreis der Archive an Hochschulen<br />

und wissenschaftlichen Institutionen besonders gefordert. Hier<br />

liegen neue Aufgaben und Herausforderungen. In besonderer Weise gilt<br />

dies für den Bereich des Sammlungsgutes bei Nachlässen, Fotos, Plakaten,<br />

Plänen, technischen Zeichnungen, AV-Materialien, Software etc.<br />

4 Vgl. den Tagungsbericht von Diether Degreif in: Der Archivar 54 (2001), S. 6.<br />

5 Hartmut Weber: Die Entwicklung des Bundesarchivs in der Wissensgesellschaft, in:<br />

Mitteilungen aus dem Bundesarchiv 9, Heft 1 (2001), S. 5.<br />

Universitätsreden 73 141


Wilhelm Füßl<br />

Das Archiv des Deutschen Museums und seine Sammlungspolitik<br />

Das Sammlungsprofil des Archivs des Deutschen Museums definiert sich<br />

in erster Linie aus der Tatsache, dass es als Archiv an einem der weltweit<br />

größten Technik- und Wissenschaftsmuseen angesiedelt ist. Seit seiner<br />

Gründung im Jahr 1903 erwirbt das Deutsche Museum herausragende und<br />

zeittypische Objekte, die für die Entwicklung der Naturwissenschaft und<br />

der Technik von hoher Bedeutung sind. 6 In seinem breiten Anspruch, eine<br />

zentrale Sammelstelle für die technisch-wissenschaftliche Kultur in<br />

Deutschland zu sein, war bereits in den ersten Aufrufen zur Gründung<br />

eines „Museums von Meisterwerken der Wissenschaft und Technik“ auch<br />

die Schaffung einer Bibliothek und eines Archivs explizit erwähnt. 7 In<br />

mehr als 100 Jahren Sammlungsgeschichte haben das Museum und das<br />

Archiv zentrale Objekte und Archivalien zur Wissenschafts- und Technikgeschichte<br />

zusammengetragen.<br />

Das Sammlungsprofil des Archivs kann heute auf die Erwerbungen seit<br />

1903 aufsatteln, muss diese aber nach definierten Sammlungsschwerpunkten<br />

schärfer konturieren. Letztlich orientiert sich eine stringente Sammlungspolitik<br />

an den heute vorhandenen Beständen, an allgemeinen Vorgaben<br />

der Museumsleitung, an Forschungsinteressen und an der Verzahnung<br />

mit den Objektsammlungen des Museums. Gleichzeitig schärft<br />

sich das Profil durch die Einbindung in die deutsche Archivlandschaft.<br />

Die Notwendigkeit der Konkretisierung und Definition einer Sammlungspolitik<br />

ergibt sich zum einen aus dem Anspruch des Archivs des<br />

Deutschen Museums, ein zentrales Archiv für Technik- und Wissenschaftsgeschichte<br />

in Fragen der Archivierung und Forschung zu sein. Darüber<br />

hinaus kommt dem Archiv des Deutschen Museums in dem Bereich der<br />

Technik- und Wissenschaftsgeschichte eine besondere Aufgabe zu: Es<br />

6 Museum von Meisterwerken der Naturwissenschaft und Technik. Satzung Allerhöchst<br />

genehmigt [...] am 28. Dezember 1903. München 1903. § 1.<br />

7 Deutsches Museum, Archiv, VA 3969. Vgl. Wilhelm Füßl / Helmut Hilz / Helmuth<br />

Trischler: Forschung, Bibliothek und Archiv. Der Wissenschaftsstandort Deutsches<br />

Museum, in: Wilhelm Füßl / Helmuth Trischler (Hrsg.): Geschichte des Deutschen<br />

Museums. Akteure, Artefakte, Ausstellungen. München u. a. 2003, S. 323-361.<br />

142 Universitätsreden 73<br />

Bestandsbildung im Archiv des Deutschen Museums<br />

sichert und erschließt Schriftgut, das außerhalb des Blickwinkels und der<br />

Zuständigkeit staatlicher und kommunaler Archive sowie von Wirtschaftsarchiven<br />

liegt. Es übernimmt insofern eine zentrale Verantwortung für die<br />

Bewahrung und Erschließung spezifisch technik- und wissenschaftshistorischen<br />

Schriftguts.<br />

Vor diesem Hintergrund lassen sich einige allgemeine Leitsätze und<br />

Grundbedingungen der Sammlungspolitik formulieren:<br />

1. Qualität des Schriftguts<br />

Das Archiv des Deutschen Museums konzentriert sich auf die Sammlung<br />

zentraler Originaldokumente, welche entscheidende und markante Entwicklungsschritte<br />

der Technik und Naturwissenschaften dokumentieren<br />

und insofern große Relevanz für die historische Forschung besitzen. Der<br />

Anspruch des Deutschen Museums, ein Museum von „Meisterwerken“ zu<br />

sein, spiegelt sich auch in der Erwerbung hochkarätiger Bestände für das<br />

Archiv wider. Daraus leitet sich das Prinzip ab, Quellen und Dokumente<br />

zu sammeln, die überregionale, ja internationale Bedeutung für die Technik-<br />

und Wissenschaftsgeschichte besitzen.<br />

2. Fokussierung des Sammelns<br />

Der Anspruch, hochkarätige Bestände zu sammeln, führt notwendigerweise<br />

zu einer Fokussierung der Sammlungspolitik, da nicht alle Gebiete<br />

in Naturwissenschaft und Technik gleichmäßig gut abzudecken sind. Das<br />

Archiv beschränkt seine aktive Erwerbungsstrategie auf fachliche Schwerpunkte,<br />

die sich in der Geschichte des Museums besonders herausgebildet<br />

haben und in denen heute ein Fundus von hoher Qualität vorhanden ist.<br />

Solche traditionellen Prioritäten liegen in der Physik- und Chemiegeschichte,<br />

im Maschinenbau und Verkehrswesen oder in der Luft- und<br />

Raumfahrt. Gleichzeitig fokussiert sich die Sammlungspolitik auf neue<br />

Felder, die aktuelle und neueste Entwicklungen in Technik und Naturwissenschaft<br />

reflektieren. Besondere Bedeutung haben dabei Leittechnologien<br />

bzw. Leitwissenschaften. Dazu gehören u. a. die Informatik und alternative<br />

Energietechnik. Die Konzentration auf ausgewählte Sammlungsschwerpunkte<br />

bedingt im umgekehrten Fall, dass andere Bereiche zurückstehen<br />

müssen, wie z. B. Haustechnik und Landtechnik.<br />

Universitätsreden 73 143


Wilhelm Füßl<br />

3. Gattungsspezifisches Sammeln<br />

Das Archiv ist bemüht, neben fachlichen Schwerpunkten auch Quellengattungen<br />

verstärkt zu sammeln, die für die wissenschafts- und technikhistorische<br />

Forschung von zentraler Bedeutung sind. Dazu gehören selbstverständlich<br />

Nachlässe, aber auch die Erweiterung einer für Deutschland<br />

nahezu einmaligen Sammlung an Firmenschriften; diese sind für Objektwie<br />

Restaurierungsforschung gleichermaßen relevant. Auch Pläne und<br />

technische Zeichnungen zählen zu den Spezifika technikhistorischer Forschung.<br />

Eine historisch breitere Einordnung ermöglichen geschlossene Bestände<br />

von Firmenarchiven bedeutender Unternehmen.<br />

4. Forschungsrelevanz<br />

Die Einordnung des Deutschen Museums als Forschungseinrichtung 8<br />

impliziert die primäre Orientierung des Archivs an Forschungsinteressen.<br />

Dementsprechend ist die Zielgruppe des Archivs der forschende Benutzer.<br />

Neu zu erwerbende Bestände müssen eine hohe Forschungsrelevanz und<br />

ein ausgeprägtes Forschungspotenzial besitzen. Auch hier bedingt der Umkehrschluss,<br />

dass rein illustrierende Bestände, wie Marken, Medaillen,<br />

Plakate, Grafik etc. nicht weiter aktiv gesammelt werden. Ausgenommen<br />

sind jedoch Fotografien und Porträts, die als Bildquellen zu einem wichtigen<br />

Instrument der Forschung geworden sind.<br />

5. Original statt Sekundärmaterial<br />

Ein hoher Anspruch an die Qualität von Dokumenten und die Forderung<br />

nach Forschungsrelevanz bedeutet, dass im Archiv des Deutschen Museums<br />

das eindeutige Schwergewicht auf der Akquirierung von Originalquellen<br />

liegt. Nur aus ihnen können neue Impulse und verifizierbare Erkenntnisse<br />

geschöpft werden, die auch zu wichtigen Forschungsergebnissen führen.<br />

Zudem benötigt die Erschließung von sekundärem Dokumentationsmaterial<br />

nahezu die gleiche Zeit wie die Erfassung einer Originalquelle.<br />

Museumsintern wurde daher bereits vor einigen Jahren der Beschluss gefasst,<br />

künftig keine Dokumentationen zu übernehmen.<br />

8 Das Deutsche Museum zählt als Forschungsmuseum zu den Mitgliedern der Wissenschaftsgemeinschaft<br />

Gottfried Wilhelm Leibniz.<br />

144 Universitätsreden 73<br />

Bestandsbildung im Archiv des Deutschen Museums<br />

6. Konvolute statt Einzelstücke<br />

Ein weiteres Kriterium der Sammlungspolitik gerade in Hinblick auf<br />

Forschungsinteressen ist die Priorisierung geschlossener Bestände gegenüber<br />

der Erwerbung von isolierten Einzelstücken. So soll z. B. der Erwerbung<br />

von Nachlässen gegenüber der Erwerbung von Einzelhandschriften<br />

der Vorzug gegeben werden. Ähnlich verhält es sich bei Archiven von<br />

Firmen und Institutionen oder geschlossenen Zeichnungssätzen.<br />

7. Archiv und Museum<br />

Das Archiv des Deutschen Museums ist kein isoliertes Archiv, sondern,<br />

wie gesagt, seit seiner Gründung eng mit der Sammlung von Objekten für<br />

das Museum verknüpft. Gleichzeitig nimmt die technik- und wissenschaftsgeschichtliche<br />

Forschung in den letzten Jahren eine stärkere Rolle<br />

ein. Daraus ergeben sich einige zusätzliche Kriterien, die die Sammlungsstrategie<br />

des Archivs bestimmen. Besondere Aufmerksamkeit gilt der<br />

Sammlung von Archivgut, das in organischem Zusammenhang mit wichtigen<br />

Objektbeständen steht, diese für die Forschung ergänzt bzw. erst<br />

erklärt. In der künftigen Erwerbungsstrategie sollen Dokumente, die für<br />

die Objektgeschichte und die am Deutschen Museum laufenden Objektforschungen<br />

von besonderer Bedeutung sind, mit stärkerer Betonung als<br />

bisher gesammelt werden. Dies bedeutet auch eine enge Abstimmung zwischen<br />

Archiv, Forschung und Kuratoren.<br />

8. Zielperspektive<br />

Das Archiv hat bisher kaum unter sozial-, wirtschafts- oder alltagsgeschichtlichen<br />

Aspekten gesammelt. Eine radikale Umstellung dieser Sammlungspraxis<br />

ist nicht zu leisten. Generell hat eine gravierende Veränderung<br />

von Sammlungsstrategien – z. B. Aufbau neuer Bereiche (wie Gentechnik,<br />

Nanotechnik) – weitreichende Konsequenzen für die Arbeit des Archivs<br />

(personell, räumlich) und auf bisher gesammelte Bereiche. Grundsätzliche<br />

Änderungen des Erwerbungsprofils können nur nach intensiver Diskussion<br />

auf der Basis schlüssiger Sammlungskonzepte angegangen werden.<br />

Universitätsreden 73 145


Wilhelm Füßl<br />

Aus diesen Grundsätzen leitet das Archiv des Deutschen Museums eine<br />

aktiv e Sammlungspolitik ab, die sich genau überlegt, welche Bestände relevant<br />

sind und welche nicht. Im Gegensatz zu zufälligen Angeboten im<br />

Auktionshandel oder durch überraschende Angebote von Privatpersonen<br />

versucht das Archiv, interessantes archivisches Sammlungsgut zu identifizieren,<br />

aufzufinden und gezielt zu übernehmen.<br />

Seit einigen Jahren arbeitet das Archiv des Deutschen Museums daran,<br />

seine Sammlungspolitik und die damit verknüpfte Erwerbungspolitik konsequent<br />

zu verschriftlichen. Hintergrund ist, dass nur eine schriftlich<br />

fixierte und öffentlich bekannte Sammlungspolitik interessierten Stiftern,<br />

Kollegen aus dem Archiv-, Bibliotheks- und Museumsbereich, der Forschung,<br />

der allgemeinen Öffentlichkeit und Förderinstitutionen als Grundlage<br />

für eine sachgerechte Zusammenarbeit dienen kann. Ganz generell<br />

wäre zu wünschen, dass auch andere „sammelnde Archiv e“ entsprechende<br />

Sammlungskonzepte entwickeln, aus denen sich dann Absprachen ableiten<br />

ließen. Obwohl derartige „collecting policies“ eng mit der Aufgabenstellung<br />

der jeweiligen übergeordneten Einrichtung verbunden sind – Universitäts-<br />

und Hochschularchive konzentrieren sich z. B. neben ihrer Funktion<br />

als Behördenarchive bei der Erwerbung von Sammlungsgut auf<br />

Unterlagen, die für die Geschichte ihrer Häuser von besonderer Bedeutung<br />

sind, so auf die Sammlung von Nachlässen ihrer Hochschullehrer, von<br />

Fotos zu Ereignissen aus der Hochschulgeschichte, von Flugblättern und<br />

Wandzeitungen der verschiedenen studentischen Gruppen, Plakate, Tonund<br />

Filmdokumente –, fehlen sie im nationalen wie internationalem<br />

Raum fast völlig. Ein frühes Beispiel ist das Archiv des National Air and<br />

Space Museum (NASM) in Washington, das erstmals 1993 seine Sammlungspolitik<br />

niedergelegt hat. 9<br />

9 National Air and Space Archives. Collections Management Policy. Prepared by NASM<br />

Archives Advisory Committee. Washington 1993 (27 S. ms.).<br />

146 Universitätsreden 73<br />

„Verteiltes Sammeln“<br />

Bestandsbildung im Archiv des Deutschen Museums<br />

Eine tiefgreifende und längerfristig akzeptierte Sammlungspolitik des<br />

Archivs des Deutschen Museums kann letztlich nur im Verbund mit anderen<br />

Einrichtungen funktionieren. Je mehr Spezialarchive (oder auch<br />

Bibliotheken und wissenschaftliche Einrichtungen) ihre Sammlungsprofile<br />

offenlegen, um so wirkungsvoller kann dem von Lübbe befürchteten<br />

Kulturgutverlust entgegengewirkt werden. In einigen Einrichtungen lassen<br />

sich jetzt ähnliche Überlegungen beobachten. Ein Beispiel zu einer konzentrierten<br />

Verständigung über gegenseitige Sammlungsprofile lässt sich<br />

bei einigen Archiven der Gottfried Wilhelm Leibniz Gemeinschaft (WGL)<br />

beobachten. Die Leibniz-Gemeinschaft ist 1995 aus der Arbeitsgemeinschaft<br />

Blaue Liste hervorgegangen, einem losen Zusammenschluss von<br />

Forschungsmuseen, -instituten und Serviceeinrichtungen. Hier hat sich im<br />

April 2005 eine Reihe interessierter Archive offiziell zu einer „Arbeitsgruppe<br />

Archive“ innerhalb der WGL zusammengeschlossen. 10 Im Rahmen<br />

ihrer regelmäßigen Treffen werden hier auf Anregung des Archivs des<br />

Deutschen Museums seit September 2006 die jeweiligen Sammlungsprofile<br />

und mögliche Absprachen bei der Übernahme diskutiert. Hilfreich ist<br />

dabei, dass die AG Archive unterschiedliche Spektren abdeckt. So übernimmt<br />

u. a. das Archiv des Deutschen Museums nichtstaatliches Archivgut<br />

zu Naturwissenschaft und Technik, die Archive des Deutschen Schifffahrtsmuseums<br />

in Bremerhaven bzw. des Deutschen Bergbaumuseum in<br />

Bochum wiederum sind, wie ihre Namen schon ausdrücken, auf Schifffahrt<br />

und Bergbau spezialisiert. Andere Einrichtungen haben geographische<br />

Schwerpunkte oder sie konzentrieren sich auf Bildung, Film oder<br />

Kunst und Gewerbe. Insgesamt dokumentieren sie „exemplarisch die<br />

gesamtgesellschaftliche Relevanz und nationale wissenschaftspolitische<br />

Bedeutung“ der WGL. 11 Der Generalsekretär der Gemeinschaft, Dr.<br />

Michael Klein, hat im Jahr 2005 in einem Vortrag anlässlich des vom<br />

10 Michael Farrenkopf: AG Archive der Leibniz-Gemeinschaft gegründet, in: Der Archivar<br />

59 (2006), S. 68-69.<br />

11 Ebd. S. 69.<br />

Universitätsreden 73 147


Wilhelm Füßl Bestandsbildung im Archiv des Deutschen Museums<br />

Archiv des Deutschen Museums organisierten internationalen Treffens<br />

von CASE (Cooperation of Archives of Science in Europe) ein<br />

„Distributing Collecting“ und eine Strategie eines „Archive Networking“<br />

ausdrücklich angemahnt. 12 Die Archive der Leibniz-Gemeinschaft haben<br />

beschlossen, hier erste gemeinsame Schritte zu einem „verteilten<br />

Sammeln“ zu unternehmen. Als Kompetenzzentren für spezialisierte<br />

Bereiche unserer technisch-wissenschaftlichen Kultur sammeln sie neben<br />

schriftlichen, zeichnerischen und fotografischen Quellen teilweise auch<br />

dreidimensionale Objekte in ihren Segmenten, wo sie einen einzigartigen<br />

nationalen Fundus zusammengetragen haben.<br />

Fazit<br />

Gerade aufgrund ihrer unterschiedlichen Forschungseinrichtungen<br />

erscheint die Leibniz-Gemeinschaft besonders geeignet zu sein, eine übergeordnete<br />

nationale Rolle bei der Archivierung wissenschaftlich-technischen<br />

Sammlungsguts für ganz Deutschland zu übernehmen. Ziel eines<br />

solchen Vorhabens wäre, eine über die Leibniz-Archive hinaus gehende,<br />

abgestimmte, zumindest allgemein bekannte „collecting policy“ für Sammlungsgut<br />

in Deutschland zu entwickeln. Bislang fehlt so etwas wie ein<br />

„nationales Sammlungskonzept für Archiv- und Sammlungsgut“. Nur<br />

wenigen deutschen Archiven (und Bibliotheken) ist es bisher gelungen,<br />

eine anerkannte und – geförderte – nationale Sammelstelle für einen bestimmten<br />

Bereich zu sein. Hier könnte die Leibniz-Gemeinschaft eine<br />

Diskussion anstoßen, die von weitreichender nationaler Bedeutung wäre.<br />

Schon aufgrund ihrer Struktur mit den fünf Sektionen der Leibniz-Gemeinschaft<br />

deckt sie eine Spannbreite von kulturwissenschaftlichen Instituten<br />

bis hin zu naturwissenschaftlich-technischen Einrichtungen ab.<br />

12 Michael Klein: „Distributed Collecting“? Strategies for Archive Networking in Germany;<br />

in: CASE Newsletter, Nr. 11, Juni 2005; http://www.bath.ac.uk/nuacs/FP2_<br />

Klein.htm<br />

Auch lagert in den Archiven ihrer Einrichtungen bereits heute archivisches<br />

Sammlungsgut von nationaler, ja internationaler Bedeutung.<br />

Auf dieser Basis einer abgestimmten nationalen Sammlungspolitik könnten<br />

dann künftig Bestände gezielt eingeworben und genau den Einrichtungen<br />

zugewiesen werden, die auf einem Spezialgebiet über das anerkannt<br />

größte Know-how verfügen. Ein praktikables Vorbild könnten die<br />

von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten „Sondersammelgebiete“<br />

für den Bibliotheksbereich sein. Ähnlich dazu könnten innerhalb<br />

und außerhalb der Leibniz-Gemeinschaft Aufgabenschwerpunkte für<br />

Archive mit bestimmten Sammlungsschwerpunkten definiert werden, die<br />

dann analog zu den Bibliotheken mit Sondersammelgebieten mit entsprechenden<br />

Fördergeldern ausgestattet würden. Diese Sammlungsschwerpunkte<br />

sollten natürlich mit den Zielsetzungen und Forschungsschwerpunkten<br />

der jeweiligen Institute eng abgestimmt sein. Ziel wäre ein Netzwerk<br />

von Archiveinrichtungen, ein „verteiltes Sammeln“.<br />

148 Universitätsreden 73 Universitätsreden 73 149


Werkstattbericht:<br />

„Der Nachlass des Soziologen und Universitätsplaners<br />

Helmut Schelsky im Universitätsarchiv Bielefeld“<br />

„Zur Verwendung in der Darstellung der Gründungsgeschichte der Universität<br />

Bielefeld hat mir Helmut Schelsky neben anderen Unterlagen drei<br />

blaue Sammelmappen übergeben, die er als die Summe seiner hochschulpolitischen<br />

Arbeit nach 1965 bezeichnete, als wir sie, nach langer Suche<br />

auf dem großen Dachboden seines Hauses im Pleistermühlenweg schließlich<br />

fanden. Immer bestürzter hatte er reagiert, je länger die Suche vergeblich<br />

war, und ungeheuer erleichtert war er, als die Mappen sich schließlich<br />

hinter einem Schornstein fanden.“<br />

So Dr. Klaus-Dieter Bock, ein<br />

Schüler Helmut Schelskys, in<br />

einem ersten Entwurfspapier zu<br />

seiner in den frühen 1980er<br />

Jahren geplanten und letztlich<br />

nicht realisierten Dokumentation<br />

des Aufbaus der Universität<br />

Bielefeld. Die obengenannten<br />

blauen Mappen sind das<br />

Herzstück des Teilnachlasses des<br />

Soziologen und Universitätsplaners<br />

Helmut Schelsky im<br />

Universitätsarchiv Bielefeld.<br />

Abb. 1: Prof. Dr. Helmut Schelsky<br />

(Aufnahme von 1966)<br />

Martin Löning<br />

Universitätsreden 73 151


Martin Löning Werkstattbericht<br />

Einführung<br />

Nachlässe stellen für Hochschularchive eine bedeutende Ergänzung der<br />

amtlichen Überlieferung dar, in der sich das mannigfache Wirken im<br />

Wissenschaftsbetrieb Universität dokumentiert. Hochschularchive werden<br />

gerade durch Nachlässe von Wissenschaftlern oder andere die Geschichte<br />

und Entwicklung der Institution prägende Persönlichkeiten lebendig. Das<br />

Dokumentationsprofil eines Hochschularchivs wird deshalb immer auch<br />

Vor- und Nachlässe bedeutender Wissenschaftler oder Mitglieder der<br />

betreffenden Universität enthalten. Die Frühjahrstagung unserer Fachgruppe<br />

in Potsdam im letzten Jahr hat noch einmal gezeigt, wie interessant<br />

und wichtig Nachlässe sind, aber auch wie problematisch der Umgang<br />

und der Erwerb von Nachlässen mitunter sein kann. Insbesondere der<br />

Beitrag von Winfried Schultze von der Humboldt-Universität in Berlin<br />

hat deutlich gemacht, dass Nachlasseinwerbung, wenn sie nicht ganz dem<br />

Zufall überlassen bleiben soll, mit permanenter Kontaktpflege, dem Aufbau<br />

von Vertrauen und mitunter dem Bohren „dicker Bretter“ verbunden<br />

ist. Bündnispartner für die Archive sind rar; in Bielefeld unterstützt gelegentlich<br />

die Universitätsgesellschaft das Universitätsarchiv beim Ankauf<br />

von für die Universitätsgeschichte wichtigen Fotonachlässen. Nachlässe<br />

kommen entweder bereits „vorsortiert und bewertet“ ins Archiv oder man<br />

übernimmt im Falle des plötzlichen Todes des Lehrstuhlinhabers ein völlig<br />

ungeordnetes Konvolut unterschiedlichster Materialien. Sinnvolle Hinweise,<br />

wie bei der Bewertung verfahren werden könnte, hat dankenswerterweise<br />

der Düsseldorfer Kollege Max Plassmann im Bewertungsforum<br />

im Internet gegeben.<br />

Das Universitätsarchiv Bielefeld wurde 1996 auf Anregung des ersten<br />

Bielefelder Universitätskanzlers Dr. Eberhard Firnhaber eingerichtet, der<br />

sich in den folgenden zwei Jahren als Aufbaubeauftragter des Rektorats für<br />

das Universitätsarchiv insbesondere darum bemühte, die Mitglieder des<br />

Gründungsausschusses und des Wissenschaftlichen Beirats zu einer Abgabe<br />

ihrer Unterlagen, die den Gründungsprozess der Universität Bielefeld<br />

betrafen, zu bewegen. Ins Universitätsarchiv sind so u. a. Teilnachlässe der<br />

Theologen Johann Baptist Metz und Trutz Rendttorff, des Gründungsrektors<br />

und Juristen Ernst-Joachim Mestmäcker, des Mathematikers Friedrich<br />

Hirzebruch oder des Historikers Reinhart Koselleck gelangt. Weitere Nachlässe<br />

von am Gründungsprozess beteiligten Professoren waren zum Zeitpunkt<br />

der Etablierung des Universitätsarchivs bereits in andere Archive<br />

gewandert, wie der Nachlass des Philosophen Hermann Lübbe (Archiv der<br />

ETH Zürich) oder des Pädagogen Hartmut von Hentig (Marbach), oder<br />

aber sie waren bereits vernichtet worden.<br />

Auch in der Folgezeit ist – und das wird in allen Archiven ähnlich sein –<br />

Nachlasseinwerbung eine Geschichte von Erfolgen 1 und Misserfolgen. 2<br />

Ein großer Erfolg war die Übernahme des Teilnachlasses von Helmut<br />

Schelsky, der nach fast sechs Jahren Überzeugungsarbeit endlich in mehreren<br />

Abgaben von Juni 2002 bis März 2003 ins Universitätsarchiv Bielefeld<br />

gelangte.<br />

Der Schelsky-Nachlass<br />

Helmut Schelsky und die Universität Bielefeld<br />

Helmut Schelsky, am 14. Oktober 1912 in Chemnitz geboren, studierte<br />

Philosophie, Germanistik, Geschichte und Kunstgeschichte an den Universitäten<br />

Königsberg und Leipzig, vor allem bei Arnold Gehlen und Hans<br />

Freyer. 1935 promovierte er mit dem Thema „Die Theorie der Gemein-<br />

1 U.a. sind Teilnachlässe des Philosophen von Savigny, der Soziologen Kaufmann und<br />

Rammstedt, der Biologen von Sengbusch, Breckle und Jockusch, der Juristen Wieland,<br />

Frehsee und Weber, des Physikers Welge oder des Wirtschaftswissenschaftlers Kistner<br />

ins Universitätsarchiv gelangt.<br />

2 Ein Misserfolg war die Aktenvernichtung eines bedeutenden Bielefelder Lehrstuhlinhabers.<br />

Schreiben nach dessen Emeritierung blieben unbeantwortet, und auch Versuche,<br />

über ihm nahestehende Personen eine Abgabe an das Archiv zu erreichen, führten<br />

zu keinem Ergebnis. Ein erneutes Schreiben des Archivars, das im Hinblick auf<br />

einen geplanten Umzug erfolgte, wurde bereits nach wenigen Tagen beantwortet. Der<br />

Inhalt: „Lieber Herr Löning, besten Dank für Ihren Brief vom 30.10. Die freundliche<br />

Aufforderung kam zu spät, denn ich habe alle Unterlagen aus der Zeit zwischen 1952<br />

und 2000 in den Schredder gegeben. Es wäre mir ziemlich eitel vorgekommen, die<br />

rund 400 Leitz-Ordner noch länger zu verwahren. Mit der Bitte um Verständnis und<br />

freundlichen Grüßen von Ihrem ...“<br />

152 Universitätsreden 73 Universitätsreden 73 153


Martin Löning<br />

schaft nach Fichtes ‚Naturrecht‘ von 1796“. Von 1938 bis 1940 war er<br />

Assistent von Arnold Gehlen an der Universität Königsberg und 1939 habilitierte<br />

er sich mit der Schrift „Thomas Hobbes, eine politische Lehre“.<br />

1940/41 war er Assistent von Hans Freyer an der Universität Budapest,<br />

bevor er Mitte 1943 zum außerordentlichen Professor der Soziologie und<br />

Staatsphilosophie an die Universität Straßburg berufen wurde, die Stelle<br />

allerdings kriegsbedingt nicht mehr antrat. 3 Von 1949 bis 1953 war er<br />

Direktor der von den Gewerkschaften, der Konsumgenossenschaft und<br />

dem Senat der Freien Hansestadt Hamburg neu gegründeten Akademie für<br />

Gemeinwirtschaft, danach ordentlicher Professor für Soziologie an der<br />

Universität Hamburg. 1960 wurde er Professor der Soziologie an der Universität<br />

Münster und zugleich Direktor der Sozialforschungsstelle Dortmund<br />

der Universität Münster.<br />

Als der Wissenschaftsrat Anfang der 1960er Jahre vor dem Hintergrund<br />

der „deutschen Bildungskatastrophe“ (Georg Picht) und einer zu erwartenden<br />

Studentenschwemme die Gründung neuer Universitäten, u. a. in<br />

Nordrhein-Westfalen, anregte, wurde der nordrhein-westfälische Kultusminister<br />

Prof. Dr. Paul Mikat auf Schelsky aufmerksam, der 1963 mit seinem<br />

Werk „Einsamkeit und Freiheit. Idee und Gestalt der deutschen<br />

Universität und ihrer Reformen“ ein grundlegendes Werk über die seiner<br />

Meinung nach noch immer gültigen Humboldt’schen Bildungsideale und<br />

die Notwendigkeit höchstrangiger interdisziplinärer Forschungsinstitutionen<br />

vorgelegt hatte. Den Titel „Einsamkeit und Freiheit“ wählte Schelsky<br />

in Analogie zu Wilhelm von Humboldt, der diese Formel prägte, als er<br />

1809 den Planungsauftrag zur Neugründung der Berliner Universität erhielt.<br />

Nach zwei Vorgesprächen beauftragte Mikat am 9. März 1965<br />

Schelsky offiziell, die vorbereitende Planung zum Aufbau einer Universität<br />

in Ostwestfalen zu übernehmen.<br />

Helmut Schelsky ging mit einem unvorstellbarem Elan und einer enormen<br />

Produktivität ans Werk, was sich in der übergroßen Fülle der Materialien<br />

nur unzureichend widerspiegelt. 4 Die ostwestfälische Universität<br />

3 Schelsky wurde bereits 1939 zur Infanterie eingezogen und machte nahezu den ganzen<br />

Krieg an der Front mit, wobei er dreimal verwundet wurde.<br />

154 Universitätsreden 73<br />

Werkstattbericht<br />

Abb. 2: Teil der Gruppenuniversität. Helmut Schelsky, ganz rechts, in einer Fakultätskonferenz<br />

der Soziologen am 17. November 1969, zwischen Studenten,<br />

wissenschaftlichen Mitarbeitern und Professoren. Neben ihm der erste Professor der<br />

Bielefelder Universität, Prof. Dr. Niklas Luhmann. Die Aufnahme befand sich in<br />

einer Mappe mit ungeordnetem Material im Nachlass Schelsky.<br />

sollte von einem durchaus kühn zu nennenden Reformkonzept getragen<br />

werden. Schelskys Idee war, im deutschen Universitätssystem eine Ausnahmeuniversität<br />

zu schaffen, die durch das Primat der Forschung, der<br />

Einheit von Forschung und Lehre sowie der Verbindung von Wissenschaft<br />

und Praxis gekennzeichnet war. Hinzu kam – seinerzeit einmalig in<br />

Deutschland – das Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF), das For-<br />

4 Bereits am 1. Juli 1966 legte Schelsky zusammen mit Paul Mikat die Schrift „Grundzüge<br />

einer neuen Universität“ vor. Darüber hinaus produzierte er Papiere, korrespondierte<br />

eifrig, nahm Vortrags- und Informationsveranstaltungen, Arbeits- und Gremiensitzungen<br />

sowie etliche Gesprächstermine wahr und erfüllte darüber hinaus seine üblichen<br />

Verpflichtungen als Direktor der Sozialforschungsstelle, Professor und ab 1967<br />

auch als Vorsitzender des Planungsbeirats in Nordrhein-Westfalen.<br />

Universitätsreden 73 155


Martin Löning Werkstattbericht<br />

schung über die Fächergrenzen hinweg initiieren und fördern sowie die<br />

Isolierung der einzelnen Wissenschaftsdisziplinen verhindern sollte.<br />

Abb. 3: Handschriftlicher Entwurf Schelskys zum Dokument XV „Ziele und Zeitpläne des<br />

Aufbaus (Wissenschaftliche Planung) der Universität Ost-Westfalen“ vom 20.<br />

November 1965 (Universitätsarchiv Bielefeld, NL Schelsky 1).<br />

In den vier Jahren von der Planungsbeauftragung durch Mikat im März<br />

1965 bis zur Gründung der Universität Bielefeld im November 1969 ist<br />

der größte Teil des Materials des Teilnachlasses entstanden. Schelsky fungierte<br />

in dieser Zeit als stellvertretender Vorsitzender des Gründungsausschusses<br />

und Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der Universität<br />

Bielefeld. Darüber hinaus war er von 1970 bis 1971 Geschäftsführender<br />

Direktor des ZiF und von 1970 bis 1973 Professor für Soziologie der Universität<br />

Bielefeld, bevor er sich Ende 1973 bei zunehmender Distanz zu seinem<br />

Reformprojekt und entnervt von den Niederungen der Fakultätsarbeit<br />

zurück nach Münster versetzen ließ, wo er 1978 emeritiert wurde.<br />

Die Universität Bielefeld ernannte ihn am 16. Februar 1983 zusammen<br />

mit den anderen „Gründervätern“ der Universität (Kultusminister Paul<br />

Mikat, Gründungsrektor Ernst-Joachim Mestmäcker und der „Beauftragte<br />

des Landes Nordrhein-Westfalen für die Organisations- und Verwaltungsplanung<br />

der Universität im ostwestfälischen Raum“, der Bonner Universitätskanzler<br />

Eberhard Freiherr von Medem) zum Ehrensenator. Die feierliche<br />

Verleihung der Ehrensenatorwürde am 4. Mai 1984 – von der Presse<br />

als „Versuch einer Versöhnung“ interpretiert – erlebte Schelsky allerdings<br />

nicht mehr. Helmut Schelsky starb am 24. Februar 1984 in Münster. Bis<br />

dahin hatte er die Entwicklung der Universität Bielefeld weiter verfolgt.<br />

Anfang der 1980er Jahre dachte er sogar darüber nach, zusammen mit dem<br />

anfangs erwähnten Bielefelder Soziologen Klaus-Dieter Bock, die Entstehungsgeschichte<br />

der Universität Bielefeld von 1965 bis 1970 in einem<br />

größer angelegten Forschungsprojekt zu beleuchten, wie eine Forschungsskizze<br />

vom 26. April 1982 belegt.<br />

Umfang und Zustand des Materials<br />

Legen wir das Bewertungsschema Max Plassmanns zugrunde, gehört der<br />

Nachlass des „Universitätsgründers“ Helmut Schelsky für das Universitätsarchiv<br />

Bielefeld eindeutig in die höchste Kategorie („Grundsätzlich kommen<br />

alle angebotenen Unterlagen für eine Archivierung in Frage; Nachlass<br />

sehr bedeutender Wissenschaftler oder sehr wichtiger Persönlichkeiten der<br />

Universitätsgeschichte“), was die Bewertung einfach macht.<br />

156 Universitätsreden 73 Universitätsreden 73 157


Martin Löning Werkstattbericht<br />

Die Abgaben umfassten insgesamt 13 Umzugskartons. Klaus-Dieter Bock<br />

erhielt bei der anfangs erwähnten Begebenheit auf dem Dachboden von<br />

Schelskys Münsteraner Wohnung nicht nur die umfangreichen Materialien<br />

von Schelsky selbst, sondern trug darüber hinaus auch Verwaltungsakten<br />

aus der Zentralverwaltung der Universität, aus der Fakultät für<br />

Soziologie, Handakten von einzelnen am Universitätsaufbau beteiligten<br />

Personen, wie z. B. Eberhard Freiherr von Medem, zusammen. Schließlich<br />

fertigte er Kopien von Ministerialakten an. Dieses Material sollte dem<br />

schon erwähnten Forschungsvorhaben dienen, aber auch der Grundstock<br />

für ein noch zu errichtendes Universitätsarchiv sein.<br />

Teile des Materials waren bei der Abgabe durch Helmut Schelsky „vorgeordnet“<br />

und von Klaus-Dieter Bock so belassen und lediglich in Mappen<br />

abgelegt worden. Andere Teile waren von Bock entsprechend seines<br />

Forschungsinteresses unter bestimmten Ordnungskriterien strukturiert<br />

worden. Darüber hinaus machten zeitlich oder thematisch gänzlich ungeordnete<br />

und aufeinandergeschichtete Papierstapel und Lose-Blatt-Sammlungen<br />

bestehend aus Briefen, Universitätsunterlagen, Publikationen und<br />

Zeitungsausschnitten einen nicht unwesentlichen Teil der Schelsky-Abgabe<br />

aus.<br />

Mitunter war es bei der Sichtung schwierig, wenn nicht gar unmöglich,<br />

die genaue Provenienz der Materialien festzustellen. Eindeutig nicht in<br />

den Teilnachlass gehörende Unterlagen wurden hier ausgesondert und<br />

werden in die entsprechenden Bestände (Fakultät für Soziologie, ZiF,<br />

Kanzler, Abgabe Bock usw.) eingegliedert.<br />

Bevor das Material verzeichnet wurde, wurden nichtarchivwürdige<br />

Unterlagen kassiert. So war Schelsky insbesondere in den Jahren 1970 bis<br />

1973 – bei zunehmender Distanz zu „seinem“ Universitätsprojekt – vielfach<br />

lediglich Empfänger von Rundschreiben, Protokollen und Sitzungsunterlagen<br />

von Universitäts- und Fakultätsgremien, die bereits im Universitätsarchiv<br />

vorhanden sind; hier ist es zu kleineren Kassationen (auch von<br />

Dubletten) gekommen. Da, wo handschriftliche Notizen und Bemerkungen<br />

Schelskys enthalten sind, – seine ausführlichen oder pointierten und<br />

teilweise bissigen Anmerkungen durchziehen die gesamte Abgabe –, wurden<br />

auch diese Unterlagen aufbewahrt, so dass die Aussonderungen insgesamt<br />

minimal sind.<br />

Schließlich sind über die allgemeine Strukturierung des Bestandes hinaus<br />

Ordnungsmaßnahmen Klaus-Dieter Bocks, die im Hinblick auf seine persönlichen<br />

Forschungsmotivationen erfolgt waren, revidiert worden, wenn<br />

die ursprüngliche Ordnung eindeutig festzustellen war.<br />

Der Nachlass ist somit unter Bewertungsmaßstäben wenig bemerkenswert.<br />

Der Teilnachlass umfasst nach der Verzeichnung 82 Archivalieneinheiten<br />

mit einem zeitlichen Schwerpunkt der Bielefelder Jahre Schelskys<br />

von 1965 (Gründungsauftrag) bis 1973 (Rückkehr an die Universität<br />

Münster).<br />

Inhalt des Nachlasses<br />

Ist der Teilnachlass unter Bewertungsaspekten eher unspannend, so ist er<br />

doch in mehrfacher Hinsicht bedeutend.<br />

Schelsky ist der ‚Spiritus rector‘ der Bielefelder Universität und galt nach<br />

der Planungsbeauftragung als der künftige Rektor der Universität. 5 Eine<br />

Universitätsgeschichte der „Reformuniversität“ Bielefeld ohne Schelsky ist<br />

schlichtweg nicht denkbar. Die Universität Bielefeld hält mit dem Nachlass<br />

einen nicht unwesentlichen Teil ihrer Vor- und Gründungsgeschichte,<br />

das Universitätsarchiv einen zentralen Bestand in den Händen. Darüber<br />

hinaus beleuchtet der Nachlass intensiv die Konzeption und den Aufbau<br />

des Zentrums für interdisziplinäre Forschung (ZiF). Das ZiF, ein zentraler<br />

Bestandteil der Universitätskonzeption Schelskys und dem Vorbild des<br />

Center for Advanced Studies in Princeton folgend, sollte nach Schelsky<br />

quasi den ideologischen Überbau der Universität Bielefeld bilden. Schließlich<br />

ist die Überlieferung zu Deutschlands bis dato einziger Fakultät für<br />

Soziologie, der Schelsky bis 1973 angehörte und der er neben dem ZiF sein<br />

besonderes Augenmerk widmete, umfangreich und dicht.<br />

5 Das Amt wurde 1969 von Ernst-Joachim Mestmäcker, der seit 1967 Vorsitzender des<br />

Gründungsausschusses war, wahrgenommen. Den Vorsitz des Gründungsausschusses<br />

hatte Schelsky 1967 mit Hinweis auf seine Tätigkeit als Planungsbeiratsvorsitzender des<br />

Landes Nordrhein-Westfalen abgelehnt. Unklar ist, ob eine bereits zunehmende<br />

Distanz zu seinem Reformvorhaben oder auch der „Schelsky-Skandal“ dafür mitverantwortlich<br />

war, der ihn im November 1965 dazu veranlasst hatte für vier Monate<br />

158 Universitätsreden 73 Universitätsreden 73 159


Martin Löning<br />

Das Material macht einerseits deutlich, mit welchem Eifer Schelsky in den<br />

ersten Jahren das Projekt der ersten Fakultät für Soziologie in Deutschland<br />

anging, andererseits aber auch, dass dem Planer der Universität Bielefeld<br />

in den letzten Jahren seiner Bielefelder Zeit die Niederungen der<br />

Fakultätsarbeit und daraus resultierende Konflikte mit Fakultätskollegen<br />

und Studierenden nicht erspart blieben. Hier dokumentiert sich insbesondere<br />

in den zunehmenden Kontroversen und den ungehalteneren<br />

Reaktionen Schelskys – was sich unter anderem auch in den handschriftlichen<br />

Notizen und Randbemerkungen zeigt – eine größer werdende<br />

Distanz zu seinem Reformprojekt. 6<br />

Aber auch im Hinblick auf die allgemeine Universitätsgeschichte und<br />

die Bildungs- und Hochschulreform der 1960er Jahre ist der Teilnachlass<br />

wichtig. Helmut Schelsky hatte 1963 in „Einsamkeit und Freiheit“ auf die<br />

Möglichkeiten der Hochschulreform“ und die erheblichen Freiheitsspielräume<br />

in den Universitäten hingewiesen. 7 Das Einmalige des Nachlasses<br />

ist nun, dass er die in den hochschul- und bildungspolitisch bewegten<br />

Zeiten der 1960er und frühen 1970er Jahre fast schon anachronistisch<br />

anmutende „Hochschulgründung auf eigene Faust“ umfassend dokumentiert.<br />

Im Vorfeld und parallel zu den Bielefelder Universitätsplanungen<br />

sammelte Schelsky Materialien zur Hochschulreform und Hochschulplanung<br />

in Nordrhein-Westfalen, der Bundesrepublik und im Ausland.<br />

Enthalten sind Unterlagen zu Hochschulneugründungen nach 1945, wie<br />

Bochum, Dortmund, Konstanz, Regensburg oder Bremen, sowie allgemeinere<br />

Unterlagen zur Reform der Universität in der Bundesrepublik, zur<br />

deutschen Hochschul- und Bildungspolitik oder zur Wissenschafts- und<br />

Hochschulorganisation.<br />

seine Tätigkeit im Gründungsausschuss niederzulegen. Zum „Schelsky-Skandal“ siehe<br />

unten.<br />

6 U. a. findet sich in den Fakultätsakten eine Liste mit den Sitzungsterminen der Fakultätskonferenz,<br />

an denen Schelsky teilgenommen hat (mit genauer Uhrzeit, ob er zu<br />

spät kam oder zu früh ging) und – in diesem Zusammenhang wichtiger –, wann er<br />

nicht teilnahm oder sogar unentschuldigt fehlte, was zuletzt den übergroßen Teil ausmachte.<br />

Universitätsarchiv Bielefeld, SOZ 85 (Personalnebenakte Helmut Schelsky).<br />

160 Universitätsreden 73<br />

Werkstattbericht<br />

Abb. 4: Handschriftliche Unterstreichungen und Notizen Schelskys zum Dokument XXVId<br />

vom 6. November 1966 (Universitätsarchiv Bielefeld, NL Schelsky 1).<br />

Universitätsreden 73 161


Martin Löning Werkstattbericht<br />

Besonderheiten<br />

Den zentralen Bestandteil des Nachlasses insgesamt bilden die „Dokumente<br />

zum Aufbau einer Universität in Ostwestfalen/Bielefeld“, die Helmut<br />

Schelsky in drei blauen Mappen gesammelt hat (NL Schelsky 1). Sie<br />

enthalten eigene Papiere, Denkschriften, Briefe und wichtige Gremienpapiere<br />

aus der Gründungsphase der Universität Bielefeld von 1965 bis<br />

1969. Wenige Wochen, nachdem Helmut Schelsky von Kultusminister<br />

Mikat den Planungsauftrag für die Universität in Ostwestfalen erhalten<br />

hatte, begann Schelsky die Dokumente als „Dok.“ mit fortlaufenden römischen<br />

Ziffern zu bezeichnen und zu sammeln. Schelsky ging es, so Bock,<br />

um die Dokumentation seiner Arbeit zur späteren wissenschaftlichen Verwendung,<br />

und zwar nicht erst nachträglich, sondern von vornherein. So<br />

sind schließlich 44 Dokumente zusammengekommen, die Schelsky als die<br />

Summe seiner Arbeit als Hochschulreformer bezeichnete. Schelsky selbst<br />

hat der ersten Mappe eine Liste mit den für die Universitätsgründung<br />

wichtigen Dokumenten I bis XX und eine Liste mit insgesamt 71 Terminen<br />

beigefügt, die er zwischen dem 20. Januar 1965 und dem 6. Januar<br />

1966 im Zusammenhang mit der Universitätsgründung wahrnahm und<br />

die wohl ebenfalls der Dokumentation seiner Arbeit in dem wichtigsten<br />

Jahr seiner hochschulpolitischen Betätigung dienen.<br />

Von besonderem Interesse sind die Materialien zum „Fall Schelsky“, der<br />

um den Jahreswechsel 1965/66 für bundesweite Beachtung sorgte. Konkret<br />

ging es im „Fall Schelsky“ oder auch „Schelsky-Skandal“ um eine Veröffentlichung<br />

aus dem Jahr 1934, die den Hochschulreformer in den Augen<br />

seiner Kritiker für eine prominentere Rolle beim Aufbau der ostwestfälischen<br />

Universität untragbar machte. Insgesamt ist die Episode aber auch<br />

ein Beispiel für die Vergangenheitsbewältigung in den 1960er Jahren im<br />

allgemeinen und deshalb wert, in diesem Zusammenhang intensiver<br />

betrachtet zu werden.<br />

Am Rande einer CDU-Monatsversammlung am 26. November 1965 in<br />

Paderborn wurde Schelsky während einer Aussprache über die Standortentscheidung<br />

der neuen Universität wegen seiner Veröffentlichung „Sozialistische<br />

Lebenshaltung“ aus dem Jahr 1934 heftig angegriffen und als „führender<br />

Nazi-Ideologe“ bezeichnet. Offensichtlich sahen die Paderborner,<br />

Abb. 5: Von Schelsky angefertigte Liste mit den für die Universitätsgründung wichtigen<br />

Dokumenten I bis XX (Universitätsarchiv Bielefeld, NL Schelsky 1).<br />

162 Universitätsreden 73 Universitätsreden 73 163


Martin Löning Werkstattbericht<br />

Abb. 6: In Anlehnung an Rembrandts „Anatomie des Dr. Tulp“ (1632) erstellte Schelsky<br />

eine „medizinsoziologische Darstellung des ‚Falles Schelsky‘“ und ließ sie am 27.<br />

Dezember 1965 dem designierten Vorsitzenden der Universitätsgesellschaft Rudolf<br />

August Oetker zukommen (Universitätsarchiv Bielefeld, NL Schelsky 61).<br />

die sich ebenfalls Hoffnungen auf den Standort der „ostwestfälischen<br />

Landesuniversität“ gemacht hatten, in Helmut Schelsky die treibende Kraft<br />

hinter der nordrhein-westfälischen Kabinettsentscheidung vom 9. November<br />

1965 für den Raum Bielefeld-Herford. Schelsky bezeichnete in einer<br />

ersten Reaktion die Schrift, die seinen Fachgenossen längst bekannt gewesen<br />

sei, als „politische Unreife eines jungen Mannes“ von 21 Jahren,<br />

sprach von einer „Hexenjagd“ und trat Ende November aus dem Gründungsausschuss<br />

der Universität aus. Der größte Teil der Medien verurteilte<br />

das Vorgehen in Paderborn als inszenierten Angriff „enttäuschter Lokalpatrioten“.<br />

Unterstützung erfuhr Schelsky von Kultusminister Mikat, von<br />

Vertretern der Politik und der Studentenschaft sowie fast allen Vertretern<br />

des Gründungsausschusses, die in der Aktion gegen Schelsky auch einen<br />

Angriff auf die fortschrittlichen und reformorientierten Universitätspläne,<br />

ja sogar einen Angriff auf die „freie Wissenschaft“ sahen. Die vom<br />

Gründungsausschuss mit der Anfertigung eines Gutachtens zu Schelskys<br />

Publikationen in der NS-Zeit beauftragten Mitglieder des Bielefelder<br />

Gründungsausschusses Werner Conze und Hermann Lübbe kamen –<br />

nicht überraschend – im Januar 1966 zu dem Ergebnis, dass Schelskys<br />

publizistische Tätigkeit in der Zeit des Nationalsozialismus einer weiteren<br />

Mitarbeit im Gründungsausschuss nicht im Wege stünde und der „Fall<br />

Schelsky“ somit abgeschlossen sei. 8 Am 1. März meldeten die Zeitungen<br />

nach der 4. Sitzung des Ausschusses „Schelsky gründet wieder mit“.<br />

Der Nachlass enthält zum „Fall Schelsky“ eine vollständige Sammlung<br />

aller Publikationen Schelskys von 1934 bis 1940, die rege Korrespondenz<br />

um den Jahreswechsel 1965/66 zu diesem Thema, u. a. mit Ralf Dahrendorf<br />

7 Helmut Schelsky: Einsamkeit und Freiheit. Idee und Gestalt der deutschen Universität<br />

und ihrer Reformen. Reinbek 1963, S. 311.<br />

8 Am Rand des Vortrages berichtete der Heidelberger Universitätsarchivar Prof. Dr.<br />

Werner Moritz, dass ein lange Zeit als verschollen geltender Nachlass des Historikers<br />

Werner Conze im Jahre 2003 aus dem Haus der (inzwischen ebenfalls verstorbenen)<br />

Witwe ins dortige Universitätsarchiv übernommenen werden konnte und mittlerweile<br />

in einem Bestand Rep 101 mit ca. 165 Verzeichnungseinheiten grob, d. h. vorläufig erschlossen<br />

ist. Darüber hinaus habe sich herausgestellt, dass in einer älteren Abgabe des<br />

164 Universitätsreden 73 Universitätsreden 73 165


Martin Löning<br />

oder Theodor Schieder, sowie eine umfangreiche Sammlung von Zeitungsausschnitten<br />

und Pressemitteilungen. 9<br />

Von besonderem Interesse ist schließlich eine Archiveinheit, die die umstrittene<br />

Versetzung Schelskys nach Münster 1973/74 beleuchtet, mit der<br />

er die Konsequenz aus dem seiner Meinung nach gescheiterten Reformvorhaben<br />

in Bielefeld zog.<br />

Schluss<br />

Die Überlieferung ist – wie bereits erwähnt – insgesamt ungemein dicht,<br />

Schelsky produzierte Texte am laufenden Band, und führte eine überaus<br />

rege und breitgefächerte Korrespondenz. Der Nachlass zeigt einen produktiven<br />

Menschen, der stark in personellen Zusammenhängen dachte.<br />

Mit einer Handvoll Gleichgesinnter versuchte er seine Idee einer Universität,<br />

die einerseits die Hochschultraditionen seit Humboldt aufgriff<br />

und andererseits starke Reformimpulse gab, in die Tat umzusetzen. Schließlich<br />

aber scheiterte er an Strukturen, sich verändernden Rahmenbedingungen,<br />

einzelnen Personen und dem „Alltag“ und zog sich frustriert und<br />

resigniert von seinem Projekt zurück. Der Nachlass zeigt all dies sehr<br />

detailliert. Mit ihm kamen die zentralen Dokumente des Gründungsprozesses<br />

der Universität Bielefeld als Originale, Entwurfsskizzen, Korrekturexemplare<br />

und Manuskripte ins Archiv.<br />

Der Teilnachlass Helmut Schelskys ist insgesamt nicht unbedingt geeignet,<br />

im Rahmen des Tagungsthemas „Dokumentationsziele und Aspekte<br />

der Bewertung in Hochschularchiven und Archiven wissenschaftlicher<br />

Institutionen“ eine beispielhafte Diskussion über Bewertung von Nachlässen<br />

zu führen. Gleichwohl ist es für einen Archivar eine Freude, wenn<br />

man zentrale Dokumente der Geschichte seines Arbeitsbereichs im Original<br />

in der Hand hält, die zudem von allgemeinem Interesse für die<br />

Instituts für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte aus dem Jahr 2002 (Acc.54/02) im<br />

Mixtum mit Institutsakten ebenfalls noch Conze-Materialien enthalten seien.<br />

9 Enthalten sind auch zwei Karikaturen, die erste von Schelsky selbst (ein Schreiben an<br />

den designierten Vorsitzenden der Universitätsgesellschaft, Rudolf August Oetker, vom<br />

166 Universitätsreden 73<br />

Werkstattbericht<br />

Wissenschafts- und Universitätsgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts<br />

sein dürften. Die Materialien eines der bedeutendsten Soziologen<br />

der jüngeren Vergangenheit sind somit für die Forschung zugänglich.<br />

Universitätsreden 73 167


Platzraubendes Ärgernis oder Wissenspool?<br />

Zur Bewertungspraxis von Prüfungsakten im<br />

Universitätsarchiv Köln<br />

Dr. <strong>Andreas</strong> <strong>Freitäger</strong><br />

Zu Beginn ein – nicht mehr ganz taufrisches – Zitat aus der regionalen<br />

Presse, der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung“ von 2001:<br />

„Ein Großteil deutscher Diplom- und Magisterarbeiten verschwindet in<br />

den Archiven und bleibt für die deutsche Wirtschaft weitgehend ungenutzt.<br />

Auf diesen Mißtand wies eine Hamburger Unternehmensberatung<br />

hin. Im Jahr 2000 wanderten Arbeiten, deren Erstellung nach Berechnung<br />

der Wirtschaftsexperten rund 1,85 Mrd. Euro kosteten, in die Universitätsbibliotheken<br />

– und verstaubten. Nur selten würden Diplomarbeiten gezielt<br />

vermarktet, meist bleibe die monatelange Mühe der Absolventen ein Lesevergnügen<br />

für die Prüfer. [...] Dabei brauche die deutsche Wirtschaft die<br />

Ideen junger Hochschulabgänger.“ 1<br />

Bei dieser (gekürzten) Pressenotiz möchte ich auf zwei Aspekte hinweisen,<br />

die unmittelbar zum Thema meines Vortrags hinführen: Welcher<br />

Stellenwert wird hier Abschlussarbeiten – egal ob Diplom, Magister oder<br />

Staatsexamen – zugeschrieben?<br />

1. Der Artikel suggeriert, dass es sich immer um grundlegend<br />

Neues handelt.<br />

Nach den Prüfungsordnungen dienen die schriftlichen Hausarbeiten im<br />

Rahmen des ersten Studienabschlusses nur dem Nachweis der Fähigkeit zu<br />

wissenschaftlicher Arbeit. In der Theorie sollen die Themen so gestellt wer-<br />

1 Westdeutsche Allgemeine Zeitung (WAZ) vom 17.12.2001.<br />

Universitätsreden 73 169


<strong>Andreas</strong> <strong>Freitäger</strong> Platzraubendes Ärgernis oder Wissenspool?<br />

den, dass sie auf der Grundlage begrenzter empirischer bzw. sonstiger Erhebungen<br />

(Literatursuche) während einer Höchstdauer von drei bis sechs<br />

Monaten zu bearbeiten sind. Im Gegensatz zur Promotion sind hier<br />

„erhebliche, neue Erkenntnisse“ nicht gefordert.<br />

Dass die Realität anders aussieht, dass Magistranden für ihre Arbeit teilweise<br />

monatelang umfängliche Archivstudien anstellen, steht auf einem<br />

anderen Blatt.<br />

2. Es wird ferner suggeriert, dass die Arbeiten uneingeschränkt<br />

nutzbar sind.<br />

Wieder im Gegensatz zur Promotion unterliegen die ersten Abschlussarbeiten<br />

aber keiner Veröffentlichungspflicht, gelten also als unveröffentlicht<br />

im Sinne des Urheberrechts mit unmittelbaren Folgen für die archivische<br />

Nutzung: Wir dürfen diese Arbeiten ohne weiteres also nicht vorlegen.<br />

Immerhin bleibt es den Absolventen unbenommen, aus ihren Ergebnissen<br />

eine Publikation zu machen und der Fachwelt so zur Kenntnis zu<br />

bringen oder sie über Diplomarbeitenagenturen zu vermarkten.<br />

Sie sind überdies Teil der Prüfungsakte und von daher im Zusammenhang<br />

mit den übrigen, im Rahmen des Prüfungsverfahrens entstehenden<br />

Unterlagen zu sehen. Sie unterliegen damit der allgemeinen 30jährigen<br />

Sperrfrist sowie der personenbezogenen Sperre von 10 Jahren nach Tod<br />

des Betroffenen nach dem nordrhein-westfälischen Archivgesetz (§ 7<br />

Abs. 2). Vor diesem Hintergrund erscheint es mir fraglich, ob eine Akkumulation<br />

von mehreren Hundert oder gar Tausend Prüfungsakten, wie sie<br />

wohl viele Hochschularchive in den Magazinen lagern haben, als „Wissenspool“<br />

anzusehen ist.<br />

Wie soll man also als Archivar mit nicht mehr aufbewahrungspflichtigen<br />

Prüfungsakten umgehen? Hierzu möchte ich Ihnen einen Werkstattbericht<br />

aus dem von mir geleiteten Universitätsarchiv Köln liefern.<br />

Zunächst einige Worte zum rechtlichen Rahmen.<br />

Ich lebe in Köln sozusagen in einem „archivarischen Schlaraffenland“:<br />

Gesetzlich oder sonstwie angeordnete Aufbewahrungsfristen habe ich<br />

nicht (mehr) zu beachten. Diese waren für den Geschäftsbereich des nord-<br />

rhein-westfälischen Ministeriums für Wissenschaft und Forschung in den<br />

„Richtlinien über Aufbewahrungsfristen, Aussonderung und Vernichtung<br />

von Akten“ vom 17. Februar 1978 geregelt (Az. Z A 7 – 2023.0). 2 Der<br />

Erlass schrieb den Prüfungsämtern Aufbewahrungsfristen von 50 Jahren<br />

für die Prüfungsunterlagen bzw. 5 Jahre für die Hausarbeiten und Klausuren<br />

vor. In der Praxis musste das Universitätsarchiv Köln jahrzehntelang<br />

als verlängerter Aktenkeller der Prüfungsämter herhalten, was uns (bei<br />

einer mittelfristig nicht ausbaufähigen Magazinkapazität von 3.000 Regalmetern)<br />

zeitweise an den Rand der Handlungsfähigkeit brachte.<br />

Die Regelungen von 1978 wurden mit Runderlass des damaligen nordrhein-westfälischen<br />

Ministeriums für Schule, Wissenschaft und Forschung<br />

vom 7. Oktober 2002 (Az. 415.1-1.08.03.06) ersatzlos aufgehoben. Eine<br />

neue Regelung ist von der nun selbst zuständigen Universität trotz mehrfacher<br />

Hinweise seitens des Archivs nicht ergangen.<br />

Es gelten subsidiär für die Prüfungsämter die verlängerte Widerspruchsfrist<br />

von einem Jahr gemäß dem Verwaltungsverfahrensgesetz – welches<br />

Prüfungszeugnis trägt schon eine Widerspruchsbelehrung? – bzw. fünf<br />

Jahren als längste Rechtsmittelfrist nach den in Köln gültigen akademischen<br />

Prüfungsordnungen. Entsprechend können die Prüfungsämter nach<br />

Ablauf dieser Fristen die Prüfungsakten dem Universitätsarchiv anbieten.<br />

Im Falle der Anbietung wird das Universitätsarchiv diese Bestände endgültig<br />

bewerten; übernommen werden sollen hieraus aber nur noch Ausschnitte,<br />

weil eine vollständige Lagerung nicht mehr zu gewährleisten ist.<br />

Ich stehe mit meiner skeptischen Haltung gegenüber einem vermeintlichen<br />

„Wissenspool Prüfungsakten“ in einigen Punkten im Gegensatz zu<br />

meiner Düsseldorfer Kollegin Kathrin Pilger, die sich mit dem Komplex<br />

der Bewertung von Prüfungsarbeiten befasst hat. 3 Zwischen den Abläufen<br />

des von ihr untersuchten Bereichs staatlicher Lehrsamtsprüfungen und<br />

den Prüfungen der akademischen Prüfungsämter sehe ich keinen wesent-<br />

2 GABl. NW (Jg. 1978), S. 100.<br />

3 Kathrin Pilger: Bewertung von Lehrerprüfungsakten. Vortrag auf der Sitzung des VdA-<br />

Arbeitskreises „Archivische Bewertung" in Wiesbaden am 12. März 2002 (URL:<br />

http://www.forum-bewertung.de/beitraege/8004.pdf, Zugriff: 23.6.2006). Daraus die<br />

folgenden beiden Zitate.<br />

170 Universitätsreden 73 Universitätsreden 73 171


<strong>Andreas</strong> <strong>Freitäger</strong> Platzraubendes Ärgernis oder Wissenspool?<br />

lichen Unterschied, so dass ihr Verfahren grundsätzlich auch auf universitäre<br />

Prüfungen anwendbar ist. Mit ihrem Ansatz möchte ich mich jedoch<br />

im zweiten Teil meiner Ausführungen anhand zweier Prüfungsaktenbestände<br />

auseinandersetzen, wie sie verschiedener nicht sein können.<br />

Einige Worte zum Ansatz von Kathrin Pilger, den ich – dies gleich vorweggeschickt<br />

– für fachlich äußerst durchdacht und sinnvoll, aber in der<br />

alltäglichen Praxis leider nur für begrenzt durchführbar halte: Frau Pilger<br />

schlägt vor, von den Prüfungsberechtigten ausgehend in zeitlichen Schnitten<br />

von etwa drei Jahren jeweils eine Prüfungsakte jedes Prüfungsberechtigten<br />

aufzubewahren. Damit bildet sie – und hier stimme ich ihr gerade<br />

für den uns betreffenden Bereich der akademischen Prüfungen zu, „die<br />

Vielfalt der Fächer, die Verschiedenheit der Prüfer und das breite Spektrum<br />

von Themen und Methoden ab“, plastisch gesprochen: so gelangten<br />

proportional die wegen der geringeren Zahl von Studierenden seltenen<br />

Arbeiten von Ur- und Frühgeschichtlern neben den viel zahlreicheren germanistischen<br />

Arbeiten in das Universitätsarchiv. „Diese Auswahl […], von<br />

der empirischen Sozialforschung als ‚disproportional geschichtete‘ Stichprobe<br />

bezeichnet, strebt ausdrücklich keine Repräsentativität im statistischen<br />

Sinne an.“<br />

Anders als Pilger finde ich aber angesichts des in der Prüfungsordnung<br />

normierten Verfahrensablaufs die Variablen wie „Themensteller“ oder<br />

„Prüfungsverhalten“ nicht von so großer Bedeutung, dass sich Prüfungsakten<br />

von anderen massenhaft gleichförmigen Akten des staatlichen<br />

Verwaltungsbereichs wesentlich abhöben.<br />

Wie gehen wir in Köln nun konkret vor?<br />

Aus unserer ältesten Fakultät, der Wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen<br />

Fakultät kann ich Ihnen leider keine Zahlen nennen, ich möchte<br />

hier statt dessen mit dem Befund beginnen: Aus der Zeit von 1902 bis<br />

1952 liegen Akten von etwa 6.300 Prüfungsverfahren im Archiv. Dieser<br />

Altbestand ist – einer Abrede in unserem Archiv entsprechend, wonach<br />

Akten bis 1945 nicht bewertet werden – weitgehend sakrosankt.<br />

Nach einer Phase, in der meine Vorgängerin ca. 15 Jahre überhaupt keine<br />

Prüfungsakten abgeschlossener Verfahren vom WiSo-Prüfungsamt über-<br />

nommen hat, habe ich anstelle wilder Kassationen durch das Prüfungsamt<br />

im vorletzten Jahr mit dem Leiter folgende Absprache getroffen: Das<br />

Prüfungsamt erstellt nach Abschluss jedes Prüfungstermins eine Liste, in<br />

die alle erfolgreich geprüften Kandidaten aufgenommen sind.<br />

An das Archiv übergeben werden (inkl. Diplomarbeit) die Akten der beiden<br />

Ersten und beiden Letzten auf diesem Ranking, die jeweils besonders<br />

kurz bzw. lange studiert haben; so ist nach Auskunft des Prüfungsamtes<br />

die Sortierfunktion eingestellt. Übergeben wird je eine Akte einer Kandidatin<br />

und eines Kandidaten. Einfluss darauf, ob eine VWL- oder eine<br />

BWL-Prüfung ans Archiv übergeben wird, nehme ich nicht. So gelangen<br />

pro Jahr acht Prüfungsakten dieses großen Prüfungsamtes ins Universitätsarchiv.<br />

Im Prüfungsamt verbleiben dauerhaft die Prüfungsbogen, auf<br />

denen das Ergebnis jeder studienbegleitend erbrachten Teilprüfung notiert<br />

wird; Zweitschriften von verlorenen Diplomurkunden werden im Prüfungsamt<br />

der WiSo-Fakultät ohnehin nicht erstellt, sondern nur Bescheinigungen,<br />

aus denen die Prüfungsergebnisse hervorgehen. Der Rechtssicherung<br />

und dem Nachweis der Führungsberechtigung eines akademischen<br />

Grades wird damit genügt. Dieses Abgabeverfahren funktioniert reibungslos<br />

und ist dem großen Arbeitsanfall im WiSo-Prüfungsamt geschuldet.<br />

Diese Praxis entspricht weitgehend den Empfehlungen des „Benchmarking<br />

Clubs Fachhochschulen“ des Centrums für Hochschulentwicklung<br />

(CHE) in Gütersloh. 4 Dessen Abschlußbericht für den Arbeitsbereich<br />

Prüfungswesen vom März 2002 formulierte mit Blick auf die Verschlankung<br />

der Verfahrensabläufe eine sehr radikale Regelung:<br />

„Auch der Bezug auf die rentenrechtliche Relevanz von Prüfungen<br />

würde diesen Aufwand kaum rechtfertigen. Zum einen sind die Bürger<br />

auch in anderen Kontexten gehalten, entsprechende Bescheinigungen in<br />

eigener Verantwortung aufzubewahren. Zum anderen müsste eine<br />

Routinemeldung der Hochschule an die BfA oder andere Rententräger zur<br />

Wahrung der Ansprüche genügen. Und obendrein wären die Prüfungsämter<br />

erheblich entlastet, wenn sie lediglich einen einzigen Datenbogen<br />

4 Abrufbar unter URL: http://www.che.de/downloads/BMCFH020313_B_49.pdf (Zugriff:<br />

17.3.2006).<br />

172 Universitätsreden 73 Universitätsreden 73 173


<strong>Andreas</strong> <strong>Freitäger</strong><br />

mit den rentenrechtlich wichtigen Informationen über jeden Prüfling aufbewahren<br />

müssten – diesen dann wegen der Soft- und Hardware-Fluktuation<br />

durchaus auch in Papierform.“<br />

Aus unserer Rechtswissenschaftlichen Fakultät erhalte ich in den nächsten<br />

Monaten die Akten der universitären Prüfung zum Magister legum,<br />

die erst seit den 1990er Jahren angeboten wird und nur ausländischen<br />

Studierenden offensteht, die kein Staatsexamen ablegen können. Akten der<br />

juristischen Staatsprüfungen gelangen naturgemäß nicht in unser Archiv,<br />

sie können daher hier unbeachtet bleiben.<br />

Auch die Medizinische Fakultät bietet seit wenigen Jahren neben der<br />

ärztlichen Staatsprüfung auch universitäre Prüfungen an; Akten dazu sind<br />

noch nicht ins Archiv gelangt.<br />

An unserer größten Fakultät, der Philosophischen Fakultät mit derzeit<br />

über 13.000 Studierenden, legen durchschnittlich 250 Studierende pro<br />

Semester eine Magisterprüfung ab, die ab 2006/07 durch das gestufte BA/<br />

MA Studium abgelöst wird und 2011 endgültig auslaufen soll. Allein die<br />

bloße Menge steht in diesem Fall gegen Frau Pilgers Ansatz: Die bisher gut<br />

7.500 an das Archiv abgegebenen Prüfungsakten von 1960 bis 1999 sind<br />

durch Karteien erschlossen, alphabetisch nach den Prüflingen geordnet.<br />

Für diese große Zahl von Prüfungsakten kann ich aber nicht entsprechend<br />

den Vorschlägen von Kathrin Pilger retrograd die Prüfer ermitteln, um<br />

dann in zeitlichen Schnitten einzelne Akten zu ziehen. Dies würde unseren<br />

Archivbetrieb auf Monate und Jahre hinaus lahmlegen für eine<br />

Materie, die ich im Vergleich zu anderer Personalüberlieferung nicht höher<br />

einschätze.<br />

Ich habe daher mit dem Magisterprüfungsamt das voraussichtliche Gesamtaufkommen<br />

bis zum Auslaufen der Magisterprüfung anhand des<br />

Durchschnittswertes von 250 Prüfungen pro Semester hochgerechnet und<br />

bin auf etwa 13.000 Prüfungsverfahren gekommen. Entsprechend den von<br />

5 Matthias Buchholz: Überlieferungsbildung bei massenhaft gleichförmigen Einzelfallakten<br />

im Spannungsfeld von Bewertungsdiskussion, Repräsentativität und Nutzungsperspektive.<br />

Eine Fallstudie am Beispiel von Sozialhilfeakten der oberbergischen Gemeinde<br />

Lindlar. (Rheinisches Archiv- und Museumsamt – Archivberatungsstelle Archiv-<br />

174 Universitätsreden 73<br />

Platzraubendes Ärgernis oder Wissenspool?<br />

Matthias Buchholz ermittelten Werten 5 habe ich eine statistisches Sample<br />

von 3,1 Prozent, das sind 403 Akten, gebildet.<br />

Anhand eines Zufallszahlengenerators wurde eine entsprechende Menge<br />

Zufallszahlen ermittelt und die ersten 214 Prüfungsnummern aus den<br />

bereits im Archiv liegenden Beständen in das Sample übernommen. Für die<br />

kommenden Jahre bis zum Auslaufen der Magisterprüfung gibt das<br />

Prüfungsamt nur noch jene Prüfungsnummern ab, die bereits vorab ermittelt<br />

wurden und führt die übrigen einer datenschutzkonformen Vernichtung<br />

zu.<br />

Auch im Archiv werden die übrigen knapp 97 Prozent der Akten ersatzlos<br />

vernichtet. Eine Basisdokumentation ist in Form der Prüfungsbücher<br />

im Magisterprüfungsamt vorhanden, so dass die Kandidaten im Verlustfalle<br />

noch eine Bescheinigung über die erfolgreich abgelegte Prüfung<br />

und die Berechtigung zur Führung des Grades erhalten, aber keine Zweitschriften<br />

der Urkunden mehr.<br />

Um es nochmals zu wiederholen: Ich halte Kathrin Pilgers Ansatz für<br />

sinnvoll, aber er ist bei großen Beständen nicht retrograd anwendbar.<br />

Anwendbar ist er auch nicht bei ganz kleinen Beständen. Dazu möchte ich<br />

abschließend meine Bewertung der Überlieferung des Diplomprüfungsamtes<br />

Pädagogik vorstellen, das aus den 30 Jahren seines Bestehens von<br />

1971 bis zur Auflösung 2002 an das Archiv alle 377 Prüfungsakten abgegeben<br />

hat.<br />

Ich habe ich nach den Überlegungen von Kathrin Pilger hieraus zunächst<br />

ein Sample von 52 Diplomarbeiten gemäß den Betreuern der Hausarbeiten<br />

als Erstprüfern gebildet, da die Akten nach den damals geltenden<br />

Rechtsvorschriften 50 Jahre aufzubewahren waren. Aufgrund der nun herrschenden<br />

Rechtslage werde ich nur die zu den gesampelten Diplomarbeiten<br />

gehörenden Akten aufbewahren, aber mangels einer Basisüberlieferung<br />

aus den kassablen Akten die Prüfungszeugnisse ausheften und in<br />

der alten Archivnummernfolge ablegen.<br />

hefte 35) Köln 2001. Zentrale methodische Aspekte bei dems.: Mehr als nur Sampling<br />

– Ein Arbeitsbericht zur Bewertung von Sozialhilfeakten, in: Übernahme und Bewertung<br />

von kommunalem Schriftgut, Datenmanagement Systeme. Redaktion: Rickmer<br />

Kießling. (Texte und Untersuchungen zur Archivpflege 12) Münster 2000, S. 86-98.<br />

Universitätsreden 73 175


<strong>Andreas</strong> <strong>Freitäger</strong><br />

Was war nun mit Blick auf den Ansatz von Pilger an diesem kleinen<br />

Bestand festzustellen? Es war in vielen Fällen gar nicht möglich, die zeitlichen<br />

Schnitte von drei Jahren einzuhalten, weil der Prüfer lediglich zwei<br />

Prüfungen betreut hatte – im Extremfall am Beginn und am Ende seiner<br />

Zugehörigkeit zum Prüfungsamt. Die Vielzahl der Prüfungsberechtigten –<br />

nämlich alle habilitierten Fachvertreter der Erziehungswissenschaft – bedingte<br />

eine im Vergleich zum statistischen Sample deutlich höhere Zahl<br />

von archivwürdigen Akten. Nur noch einmal zur Erinnerung:<br />

Aus rund 7.500 Magisterprüfungsakten wurden statistisch 214 durch<br />

Zufallszahl ausgewählt, aus 377 Diplomprüfungsakten 52 anhand des<br />

Prüferkriteriums. Die Zahl der archivwürdigen Akten ist hier zu Anfang<br />

der Tätigkeit des Prüfungsamtes recht hoch, reguliert sich aber im Fortschreiten<br />

der Jahre. Diese Beobachtung habe ich anhand der Bewertung<br />

von Prüfungsakten der Diplomstudiengänge Regionalwissenschaften<br />

bestätigt gefunden, die erst seit zwei Jahren sukzessive an das Archiv abgegeben<br />

werden und nach dem Pilger’schen Modell bewertet werden sollen.<br />

Ich fasse abschließend zusammen:<br />

Prüfungsakten der ersten Abschlussprüfungen sind wie alle massenhaft<br />

gleichförmigen Akten (Sozialhilfe, Wohngeld, Führerschein) zu bewerten.<br />

Einen besonderen Stellenwert als „Wissenspool“ vermag ich ihnen nicht<br />

beizumessen. Zum Zwecke der wissenschaftsgeschichtlichen Forschung<br />

bedarf es aber einer Samplebildung.<br />

Dabei erwies sich das Modell von Kathrin Pilger aus arbeitsökonomischen<br />

Gründen bei uns retrograd auf den großen Bestand an Magisterprüfungen<br />

nicht anwendbar. Bei einem kleinen Bestand von unter 400<br />

Akten stieß dieser Ansatz auch an die methodischen Grenzen. Ich halte<br />

ihn gleichwohl für einen wohlfundierten Ansatz, dem bei der fortlaufenden<br />

Übernahme neuer Prüfungsämter aus meiner Sicht der Vorzug vor<br />

einem statistischen Auswahlverfahren zu geben ist.<br />

176 Universitätsreden 73<br />

Bewertung von Prüfungsarbeiten<br />

im Universitätsarchiv Augsburg<br />

Werner Lengger<br />

In der Presse tauchen von Zeit zu Zeit Klagen darüber auf, dass alljährlich<br />

Hunderttausende von Magister- und Diplomarbeiten nach dem Abschluss<br />

des Prüfungsverfahrens in den dunklen Kellern der Prüfungsämter und<br />

Fakultäten verschwinden – und mit ihnen die darin niedergelegten Forschungsergebnisse,<br />

die zuvor mit großem Aufwand – und wenigstens teilweise<br />

auch mit öffentlichen Mitteln 1 – erarbeitet wurden. 2 Diese Kritik<br />

mag etwas überspitzt formuliert sein und auch nicht in allen Fällen zutreffen.<br />

Sie lenkt freilich den Blick auf ein Problem, das an vielen Universitäten<br />

noch immer einer sinnvollen Lösung harrt.<br />

Auch das Universitätsarchiv Augsburg sah sich kurz nach seiner Errichtung<br />

im Sommer 2000 mit der Anforderung seitens der Universitätsverwaltung<br />

konfrontiert, rasch ein Archivierungskonzept für die aus Platzmangel<br />

bereits auf den Gängen lagernden Prüfungsarbeiten zu entwickeln.<br />

Die daraus resultierenden Überlegungen zu Fragen der Bewertung und der<br />

Benützung der Prüfungsarbeiten aus rechtlicher Sicht wurden bereits im<br />

Jahre 2001 im Internet zugänglich gemacht – nicht zuletzt mit dem Ziel,<br />

eine fachliche Diskussion anzuregen. 3 Bereits 1989 hatte sich Klaus Graf<br />

1 Für die an der Fachhochschule des Bundes (Fachbereich Allgemeine Innere Verwaltung)<br />

in Brühl eingereichten Diplomarbeiten werden die anteiligen Kosten auf 6.000-<br />

11.000 € geschätzt, was rund 5 Prozent der Gesamtkosten pro Absolvent von 120.000-<br />

200.000 € entspricht (Burkhart Krems: Ein sinnvoller Qualifikationsbeitrag? Erfahrungen<br />

mit Diplomarbeiten an der FH Bund, Brühl, in: Spectrum FH. Zeitschrift der<br />

Verwaltungsfachhochschule in Wiesbaden, Heft 2004/1, S. 8f.).<br />

2 Siehe etwa http://www.archiv.twoday.net/stories/640906/ und http://www.archiv.<br />

twoday.net/stories/145219/.<br />

3 Werner Lengger: Überlegungen zu Fragen der Archivierung von Prüfungsarbeiten<br />

(Magister-, Diplom-, Staatsexamensarbeiten), 2001. Der Text ist im Internet abrufbar<br />

Universitätsreden 73 177


Werner Lengger<br />

mit Fragen der Archivierung von Prüfungsunterlagen – also nicht nur Prüfungsarbeiten<br />

– beschäftigt. 4 Ihm verdanke ich viele wertvolle Erkenntnisse<br />

und Anregungen.<br />

Meine damaligen Überlegungen zur Bewertung von Prüfungsarbeiten<br />

möchte ich heute noch einmal resümieren und ergänzend kurz vom aktuellen<br />

Stand der Archivierung von Prüfungsarbeiten im Universitätsarchiv<br />

Augsburg berichten. Das Verfahren, das in Augsburg zur Anwendung<br />

kommt, ist – insgesamt betrachtet – sicherlich kein allgemeingültiges<br />

Modell, weil es von den lokalen Gegebenheiten ausgeht und auch mit vielen<br />

Kompromissen behaftet ist. Dennoch können von diesem Archivierungskonzept<br />

vielleicht manche Impulse ausgehen.<br />

Am Beginn meiner Ausführungen soll eine kurze definitorische Klärung<br />

stehen. Unter Prüfungsarbeiten sind hier weder Dissertationen, noch<br />

Habilitationsschriften, sondern ausschließlich Magisterarbeiten, Diplomarbeiten<br />

sowie die im Rahmen der Ersten Staatsprüfung für die Lehrämter<br />

zu verfassenden Hausarbeiten, die sogenannten Zulassungsarbeiten, zu verstehen.<br />

5 Dass wir uns auch mit den Zulassungsarbeiten beschäftigen, ist<br />

ein Augsburger Sonderfall, von dem später noch zu sprechen sein wird.<br />

Eine der ersten Fragen, die wir uns im Rahmen der Bewertung stellen<br />

müssen, ist die Frage nach der Zuständigkeit. Klaus Graf sieht hinsichtlich<br />

der Aufbewahrung der Prüfungsarbeiten in erster Linie die Bibliotheken in<br />

der Pflicht. 6 Das ist in diesem Zusammenhang einer der wenigen Punkte,<br />

in denen ich mit ihm nicht übereinstimme. Auch wenn das buchförmige<br />

Erscheinungsbild für die Einstellung in eine Bibliothek sprechen mag, so<br />

handelt es sich bei den Prüfungsarbeiten doch eindeutig um Archivgut.<br />

unter der Adresse http://www.uni-augsburg.de/einrichtungen/archiv/download/<br />

ueberlegungen.doc. Eine Überarbeitung und elektronische Publikation über den<br />

OPUS-Server der Universitätsbibliothek Augsburg ist in Vorbereitung.<br />

4 Klaus Graf: Zur archivischen Problematik von Prüfungsarbeiten, 1989. Dieser Beitrag<br />

steht als elektronisches Dokument im Internet unter der Adresse http://www.dbthueringen.de/servlets/DocumentServlet?id=4165<br />

zur Verfügung.<br />

5 Da alle Dissertationen, die an der Universität Augsburg angefertigt wurden, der Publikationspflicht<br />

unterliegen und jeweils mindestens ein Exemplar in der Universitätsbibliothek<br />

verfügbar ist, archiviert das Universitätsarchiv Augsburg keine Dissertationen,<br />

sehr wohl aber die hier eingereichten Habilitationsschriften.<br />

6 Klaus Graf (wie Anm. 4), S. 14.<br />

178 Universitätsreden 73<br />

Bew ertung v on Prüfungsarbeiten im Univ ersitätsarchiv Augsburg<br />

Die folgenden Gründe für dieses Urteil möchte ich nennen:<br />

1. Die Arbeiten entstehen im Zuge eines Verwaltungsvorgangs, nämlich<br />

der Prüfung, wie etwa auch die Klausuren.<br />

2. Sie sind damit Bestandteil der Prüfungsakten.<br />

3. Sie werden in der Regel in einer Registratur abgelegt.<br />

4. Sie sind zu keinem Zeitpunkt für eine Veröffentlichung bestimmt, sondern<br />

dienen ausschließlich dem Prüfungszweck.<br />

Als personenbezogene Unterlagen, als die sie zu gelten haben, unterliegen<br />

sie grundsätzlich den einschlägigen archivrechtlichen Schutzfristen. 7<br />

Wenn ich hier so klar und eindeutig für die Einordnung als Archivgut<br />

plädiere, so will ich natürlich nicht ausschließen, dass Prüfungsarbeiten<br />

sehr wohl auch in einer Bibliothek aufgestellt und – die entsprechende<br />

Zustimmung der Verfasser vorausgesetzt – für Benutzer zugänglich sein<br />

können. In erster Linie zuständig aber ist das Archiv. Eine Absprache mit<br />

der Universitätsbibliothek, wie sie etwa an der Universität Regensburg 8<br />

erzielt werden konnte, nämlich in der Form, dass die dortige Universitätsbibliothek<br />

die von den Verfassern freigegebenen Arbeiten übernimmt, das<br />

Universitätsarchiv hingegen jene Arbeiten, bei denen diese Freigabe nicht<br />

erteilt wurde bzw. bei denen keine Äußerungen der Verfasser vorliegen, ist<br />

in diesem Zusammenhang durchaus positiv zu bewerten. In Augsburg war<br />

und ist eine solche grundsätzliche Lösung angesichts der fehlenden Bereitschaft<br />

der Universitätsbibliothek jedoch nicht möglich. 9<br />

7 In einem im Auftrag des Universitätsarchivs erstellten Gutachten des Datenschutzbeauftragten<br />

der Universität Augsburg stellte dieser fest, dass der Begriff des personenbezogenen<br />

Archivguts aufgrund der bestehenden rechtlichen Unklarheiten in diesem<br />

Zusammenhang weit auszulegen sei. Damit falle ein Großteil der Prüfungsarbeiten<br />

unter diese Kategorie.<br />

8 Freundliche Mitteilung von Herrn Kollegen Dr. Martin Dallmeier (Universitätsarchiv<br />

Regensburg).<br />

9 In der Teilbibliothek Naturwissenschaften der Universitätsbibliothek Augsburg wurden<br />

über einige Jahre hinweg Diplomarbeiten aus der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen<br />

Fakultät mit Zustimmung der Verfasser in einem verschlossenen Raum<br />

verwahrt und auf Antrag zugänglich gemacht. Dieses Verfahren wurde auf Veranlassung<br />

der Bibliotheksleitung und nach Rücksprache mit dem Universitätsarchiv mittlerweile<br />

wieder beendet. Für die Archivierung der Diplomarbeiten aus dem mathema-<br />

Universitätsreden 73 179


Werner Lengger<br />

Da für den Bereich der Universität Augsburg also die Zuständigkeit des<br />

Universitätsarchivs für die Prüfungsarbeiten festgestellt wurde, ergab sich<br />

für dieses die Notwendigkeit, eine effiziente und nachhaltige Bewertungsund<br />

Archivierungsstrategie zu entwickeln. Unsere Überlegungen gingen<br />

dabei von folgenden Grundsätzen aus:<br />

1. Den Prüfungsarbeiten ist grundsätzlich die Archivwürdigkeit zu<br />

unterstellen, eine Totalkassation scheidet aus.<br />

2. Eine vollständige Archivierung aller vorhandenen und der zukünftig<br />

hinzukommenden Arbeiten ist aus Kapazitätsgründen nicht möglich<br />

und erscheint darüber hinaus auch nicht sinnvoll.<br />

3. Ziel ist die Archivierung ausgewählter Arbeiten, was aber in bestimmten<br />

Bereichen bewusst herbeigeführte Überlieferungslücken einerseits<br />

und Archivierungsschwerpunkte andererseits nicht ausschließt.<br />

4. Eine Beschränkung auf Arbeiten aus bestimmten Fachgebieten bzw.<br />

ein bewusster Verzicht auf Arbeiten bestimmter Gattungen oder aus<br />

bestimmten Fachgebieten ist nicht sinnvoll. Vielmehr muss es darauf<br />

ankommen, möglichst alle Fakultäten und Disziplinen der<br />

Universität angemessen zu dokumentieren.<br />

Wird eine Auswahlarchivierung angestrebt, stellt sich zunächst die Frage<br />

nach den Auswahlkriterien. Die Archivwissenschaft stellt bekanntlich verschiedene<br />

Wertmodelle und -kategorien zur Verfügung. 10 Ich bin nach wie<br />

vor ein Anhänger und Verfechter der von Schellenberg entworfenen Wert-<br />

tisch-naturwissenschaftlichen Bereich ist nun ausschließlich das Universitätsarchiv<br />

zuständig.<br />

10 Aus der Fülle der Literatur zur archivischen Bewertung seien hier nur einige wenige<br />

Titel genannt: Andrea Wettmann (Hrsg.): Bilanz und Perspektiven archivischer<br />

Bewertung. (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg Bd 21) Marburg 1994;<br />

Robert Kretzschmar (Hrsg.): Historische Überlieferung aus Verwaltungsunterlagen.<br />

Zur Praxis der archivischen Bewertung in Baden-Württemberg. (Werkhefte der Staatlichen<br />

Archivverwaltung Baden-Württemberg A 7) Stuttgart 1997; ders: Die „neue<br />

archivische Bewertungsdiskussion“ und ihre Fußnoten. Zur Standortbestimmung einer<br />

fast zehnjährigen Debatte, in: Archivalische Zeitschrift 82 (1999), S. 8-40; Barbara<br />

Craig: Archival appraisal. Theory and practice. München 2004. Verschwindend gering<br />

nimmt sich demgegenüber die Zahl der Beiträge aus, die sich mit Fragen der Bewertung<br />

in den Universitätsarchiven beschäftigen. Zu nennen ist hier z. B. Wolfgang Müller:<br />

180 Universitätsreden 73<br />

Bew ertung v on Prüfungsarbeiten im Univ ersitätsarchiv Augsburg<br />

kategorien, die ich deshalb auch in diesem Zusammenhang zur Anwendung<br />

bringen möchte. 11<br />

Zunächst kommt den Prüfungsarbeiten der von Schellenberg so genannte<br />

Primärwert zu, den sie für die Entstehungsstelle im Rahmen des Prüfungsverfahrens<br />

haben. Dieser Primärwert ist zeitlich auf den Prüfungsvorgang<br />

und die rechtlich vorgeschriebene Aufbewahrungsfrist – in Bayern<br />

beträgt sie fünf Jahre – beschränkt. Danach werden die Arbeiten zum<br />

Ballast in den Registraturen der Prüfungsämter und sollten einer sinnvollen<br />

Archivierungslösung zugeführt oder kassiert werden.<br />

Für die Bewertung ist der Sekundärwert von zentraler Bedeutung. Hierbei<br />

unterscheidet Schellenberg einen Informationswert und einen Evidenzwert.<br />

Beide Wertkategorien können auch bei der Bewertung der Prüfungsarbeiten<br />

Anwendung finden. Blicken wir zunächst auf den Informationswert:<br />

Da mit den Arbeiten gemäß den Prüfungsordnungen die Befähigung<br />

zu wissenschaftlichem Arbeiten nachgewiesen werden soll, ist den Prüfungsarbeiten<br />

grundsätzlich eine gewisse wissenschaftliche Qualität nicht<br />

abzusprechen. In nicht wenigen Fällen handelt es sich um relevante wissenschaftliche<br />

Beiträge zur jeweiligen Forschungssituation. 12 Allein aus diesem<br />

Grund ist eine dauernde Aufbewahrung grundsätzlich – was selbstverständlich<br />

nicht jede einzelne Arbeit einschließen kann und muss – begründet.<br />

Bewertung im Universitätsarchiv, in: Unsere Archive. Mitteilungen aus rheinland-pfälzischen<br />

und saarländischen Archiven, Nr. 47, April 2002, S. 4-11.<br />

11 Theodore R. Schellenberg: Die Bewertung modernen Verwaltungsschriftguts.<br />

(Veröffentlichungen der Archivschule Marburg Bd. 17) Marburg 1990.<br />

12 Dass den Prüfungsarbeiten auch von der Forschung durchaus Bedeutung zugemessen<br />

wird, zeigt sich unter anderem auch an veröffentlichten Überblicken über Prüfungsarbeiten<br />

aus bestimmten Disziplinen, wie z. B. der Landesgeschichte und der Kunstgeschichte:<br />

Franz Quarthal: Landesgeschichtliche Zulassungs-, Magister- und Diplomarbeiten<br />

an der Universität Tübingen aus den Jahren 1960-1981, in: Zeitschrift für<br />

württembergische Landesgeschichte 39 (1980), S. 294-302; Johannes Zahlten: Stuttgarter<br />

Magisterarbeiten zur Kunstgeschichte Württembergs, in: Zeitschrift für württembergische<br />

Landesgeschichte 45 (1986), S. 375-390. Quarthal und Zahlten unterstreichen die<br />

Bedeutung vieler Prüfungsarbeiten als eigenständige und gewichtige Forschungsleistungen,<br />

die aufgrund der schwierigen Zugänglichkeit vielfach verloreng ingen.<br />

An der Universität Augsburg wird derzeit über die Möglichkeit der elektronischen<br />

Publikation von Prüfungsarbeiten über den OPUS-Server der Universitätsbibliothek<br />

Universitätsreden 73 181


Werner Lengger<br />

Ein ausgeprägtes Interesse insbesondere der Forschung, aber auch der<br />

Wirtschaft, an den Prüfungsarbeiten darf also durchaus unterstellt werden.<br />

Die in der Praxis daraus resultierende Nachfrage muss in das Bewertungsverfahren<br />

als gewichtiges Kriterium einfließen. 13 Die Universitätsarchive<br />

bzw. gegebenenfalls die Universitätsbibliotheken stehen entsprechend in<br />

der Pflicht, den Benutzungswünschen potentieller Interessenten – selbstverständlich<br />

innerhalb des hier relativ engen Rahmens der archivgesetzlichen<br />

Bestimmungen – entgegenzukommen.<br />

Den Arbeiten kommt aber auch ein weiterer archivischer Wert zu, den<br />

ich in Anlehnung an Schellenberg als Evidenzwert bezeichnen möchte.<br />

Hier sind wiederum verschiedene Bereiche anzusprechen, die alle der<br />

Dokumentation einzelner Aspekte dienen, die aus der Sicht eines Universitätsarchivs<br />

als relevant eingestuft werden können. So sind die Arbeiten<br />

etwa dazu geeignet, die Art und Qualität studentischer Prüfungsarbeiten<br />

in den verschiedenen Studienfächern im zeitlichen Ablauf abzubilden.<br />

Aus meiner Sicht aber fast noch wichtiger ist die Möglichkeit, mit ihnen<br />

Forschungsschwerpunkte und auch inhaltliche Standpunkte von Professoren,<br />

Instituten und Fakultäten abzubilden. Nicht selten werden derartige<br />

Arbeiten im Rahmen größerer Forschungsprojekte oder bestimmter<br />

Forschungsschwerpunkte vergeben. Anhand der Prüfungsarbeiten lässt<br />

sich einerseits zeigen, inwieweit die Verfasser Einflüsse und Meinungen<br />

ihrer akademischen Lehrer aufnehmen; nicht selten profitieren aber auch<br />

die Professoren von den Forschungen ihrer Schüler, so dass auch ein gewisser<br />

Wissenstransfer in der umgekehrten Richtung zu unterstellen ist. Die<br />

Prüfungsarbeiten können insofern durchaus als Quellen für universitätsund<br />

wissenschaftsgeschichtliche Forschungen dienen. Das insbesondere in<br />

den letzten Jahren stark gestiegene Interesse verschiedener Wissenschaftsdisziplinen<br />

an der Geschichte ihres Faches wird sich auch auf die Prüfungs-<br />

nachgedacht, um den Zugang zu den darin dokumentierten Forschungsergebnissen<br />

weiter zu erleichtern.<br />

13 So erreichen etwa das Universitätsarchiv Augsburg jährlich zahlreiche diesbezügliche<br />

Anfragen, die dank der weit vorangeschrittenen archivischen Erschließung mittlerweile<br />

in vielen Fällen positiv beantwortet werden können. Diese relativ große Nachfrage war<br />

auch eines der ausschlaggebenden Kriterien für die Entscheidung, im Universitäts-<br />

182 Universitätsreden 73<br />

Bew ertung v on Prüfungsarbeiten im Univ ersitätsarchiv Augsburg<br />

arbeiten als wissenschaftsgeschichtliche Quellen richten, sofern die Universitätsarchive<br />

und -bibliotheken diese Quellengruppe nicht aus den Augen<br />

verlieren. 14 Nicht zu vernachlässigen ist sicherlich auch der personengeschichtliche<br />

Aspekt, auch wenn nicht aus jedem Studenten ein Nobelpreisträger<br />

werden kann.<br />

Als gravierendes Problem für die Ermittlung des bleibenden Werts einer<br />

Arbeit stellt sich in der Praxis die in sehr vielen Fällen fehlende fachliche<br />

Kompetenz des Archivars dar. Als Historiker, der er in der Regel ist, stößt<br />

er naturgemäß auf große Schwierigkeiten, soll er über Arbeiten aus ihm<br />

gänzlich fremden Wissenschaftsdisziplinen urteilen. Da liegt der Gedanke<br />

nahe, zu diesem Zweck den an der Universität vorhandenen Sachverstand<br />

„anzuzapfen“. In dem Fall, mit dem sich das Universitätsarchiv Augsburg<br />

vor einiger Zeit konfrontiert sah, ging es um die Bewertung von rund 120<br />

lfm Diplomarbeiten aus der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät. Unser<br />

Ansinnen, die Fachleute aus der Fakultät in die Bewertung der bereits im<br />

Archiv verwahrten Arbeiten einzubinden, wurde relativ kühl zurückgewiesen.<br />

Statt dessen empfahl der Fachbereichsrat einstimmig, die Diplomarbeiten<br />

aus der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät vollständig zu kassieren.<br />

Mangels Alternativen haben wir nun begonnen, nach und nach die<br />

Diplomarbeiten zu kassieren, sofern die rechtlichen Aufbewahrungsfristen<br />

abgelaufen waren. Um jedoch nicht einen kompletten Überlieferungsstrang<br />

zu verlieren, wurden zunächst 10 Prozent der Arbeiten, die in Form<br />

einer Zufallsstichprobe ausgewählt wurden, zurückbehalten. Gerade im Bereich<br />

der Wirtschaftswissenschaften ist die schiere Menge an Prüfungsarbeiten<br />

freilich so enorm, dass selbst die Überlieferung einer Stichprobe<br />

von 10 Prozent mit Blick auf die hierfür erforderliche Lagerkapazität zu<br />

einem Problem zu werden droht. Es kann sich daher unter Umständen die<br />

Notwendigkeit ergeben, diese Stichprobe noch weiter zu verringern.<br />

archiv Augsburg im Bereich der Prüfungsarbeiten eine relativ dichte Überlieferung<br />

anzustreben.<br />

14 Möglichkeiten und Wege eines institutionengeschichtlichen Zugangs anhand von<br />

Prüfungsarbeiten zeigt Reimund Haas: „Der von der Kirche bezeugte Glaube und die<br />

Wirklichkeit des Menschen“. 25 Jahre überdiözesanes Studienhaus St. Lambert am<br />

Beispiel der theologischen Abschlußarbeiten, in: ders. (Hrsg.): Wege zum Priestertum:<br />

25 Jahre überdiözesanes Studienhaus St. Lambert. Grafschaft 1997, S. 57-78.<br />

Universitätsreden 73 183


Werner Lengger<br />

Hinsichtlich der Quantitäten weitaus unproblematischer stellt sich die<br />

Situation bei den anderen Diplomstudiengängen und bei den Magisterarbeiten<br />

dar. Da nach den Erfahrungen mit der Wirtschaftswissenschaftlichen<br />

Fakultät an eine Hinzuziehung der jeweiligen Fachvertreter zur Bewertung<br />

der bereits vorhandenen Arbeiten realistischerweise nicht zu denken<br />

ist, wurde bei den Magisterarbeiten die vollständige Archivierung der<br />

bislang vorliegenden ca. 1.600 Arbeiten beschlossen. Deren Erschließung<br />

bis zum Prüfungsjahrgang 2000 ist mittlerweile abgeschlossen.<br />

Eine Besonderheit stellen die im Universitätsarchiv verwahrten Lehramts-Zulassungsarbeiten<br />

dar. Es handelt sich um die Hausarbeiten, die im<br />

Rahmen der Ersten Staatsprüfung für ein Lehramt anzufertigen sind. Da<br />

es sich um ein Staatsexamen handelt, wurden und werden diese Arbeiten<br />

im Rahmen des Prüfungsverfahrens von den jeweiligen örtlichen Prüfungsämtern<br />

der bayerischen Universitäten an das Bayerische Staatsministerium<br />

für Unterricht und Kultus weitergeleitet und dort abgelegt. In<br />

regelmäßigen Abständen werden die Arbeiten vom Ministerium dem<br />

zuständigen Bayerischen Hauptstaatsarchiv München zur Archivierung<br />

angeboten. Dieses wählt vorrangig Arbeiten mit landesgeschichtlicher oder<br />

zumindest historischer Fragestellung aus, die aus archivischer Sicht von<br />

bleibendem Wert sind. Alle übrigen Arbeiten werden kassiert. Aufgrund<br />

einer Sonderregelung wurden bislang die von der Universität Augsburg<br />

stammenden Arbeiten jedoch nicht vernichtet, sondern wieder an die Universität<br />

zurückgegeben. So verfügt das Universitätsarchiv über eine weitgehend<br />

vollständige Überlieferung der in Augsburg entstandenen Zulassungsarbeiten,<br />

die im Fall des Lehramts für Volksschulen sogar bis 1946,<br />

also in die Zeit der Vorgängereinrichtungen 15 der Universität auf dem<br />

Gebiet der Lehrerbildung, zurückreicht. Bei den übrigen Lehrämtern setzt<br />

die Überlieferung in den 1980er Jahren ein. Aufgrund einer jüngst getroffenen<br />

Übereinkunft zwischen dem Universitätsarchiv Augsburg und dem<br />

Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus werden die Zu-<br />

15 Es handelt sich in erster Linie um die Lehrerbildungsanstalt Lauingen (bis 1954), das<br />

Institut für Lehrerbildung Lauingen /Augsburg (1954-1958) und die Pädagogische<br />

Hochschule Augsburg (1958-1972).<br />

184 Universitätsreden 73<br />

Bew ertung v on Prüfungsarbeiten im Univ ersitätsarchiv Augsburg<br />

lassungsarbeiten aus Augsburg künftig nicht mehr nach München weitergeleitet,<br />

sondern verbleiben in Augsburg und werden im Universitätsarchiv<br />

archiviert.<br />

Trotz des nicht geringen Umfangs – für den Zeitraum 1946 bis 2000<br />

handelt es sich um ca. 10.000 Arbeiten mit einem Umfang von über 160<br />

lfm – haben wir uns aus ganz konkreten Überlegungen heraus dafür entschieden,<br />

bei den Arbeiten aus dem genannten Zeitraum keine<br />

Kassationen vorzunehmen. So ist in Augsburg eine bayernweit einzigartige,<br />

weil weitgehend vollständige und alle Fachdisziplinen abdeckende<br />

Überlieferung vorhanden, die – wie gesehen – für den Bereich des<br />

Lehramts für Volksschulen sogar bis in die unmittelbare Nachkriegszeit<br />

zurückreicht. Ferner fügen sich die Arbeiten hervorragend in den im<br />

Universitätsarchiv gebildeten Dokumentationsschwerpunkt „Lehrerbildung“<br />

ein, zu dem neben den Zulassungsarbeiten unter anderem eine<br />

bis in die Anfänge der institutionellen Lehrerbildung in Bayern im ersten<br />

Drittel des 19. Jahrhunderts zurückreichende Aktenüberlieferung sowie<br />

herausragende Nachlässe von in der Lehrerbildung tätigen Professorinnen<br />

und Professoren zählen. Diese Schwerpunktbildung erfolgte nicht zuletzt<br />

auf dem Hintergrund, dass die Universität Augsburg zu den Zentren der<br />

Lehrerausbildung in Bayern gehört. Mittlerweile konnte auch die<br />

Erschließung der bis zum Jahr 2000 eingereichten Zulassungsarbeiten<br />

abgeschlossen werden.<br />

Bislang war vor allem von unserem Modell für die Archivierung des<br />

„Altbestandes“ an Arbeiten, die bis Anfang 2001 in das Universitätsarchiv<br />

gelangten, die Rede. Wir haben uns dabei – wie gesehen – für eine<br />

Mischung aus vollständiger und stichprobenartiger Überlieferung entschieden.<br />

Ich gebe durchaus zu, dass es sich dabei um kein ideales und<br />

kein verallgemeinerungsfähiges Modell handelt, sondern auf die konkreten<br />

Gegebenheiten in Augsburg abgestimmt ist und mit vielen Kompromissen<br />

einhergeht. Weil es sich aber auch unserer Sicht nicht um eine optimale<br />

Lösung handelt, war und ist es unser Bestreben, für die Zukunft, also<br />

für die künftig an das Archiv abzugebenden Prüfungsarbeiten, eine andere,<br />

eine bessere Lösung zu finden. Die Verbesserung sollte insbesondere<br />

darin bestehen, dass die Auswahl der archivwürdigen Arbeiten auf der<br />

Basis einer fundierten Bewertung erfolgt. Künftig soll es also weder eine<br />

Universitätsreden 73 185


Werner Lengger<br />

vollständige Archivierung, noch eine lediglich auf einer Zufallsstichprobenziehung<br />

basierende Auswahlarchivierung geben. Um den Historiker-Archivar<br />

dabei nicht wieder über kryptischen Diplomarbeiten aus der<br />

Informatik oder Physik verzweifeln lassen zu müssen, bestand von vornherein<br />

darüber Klarheit, dass die jeweiligen Fachvertreter in die Bewertung<br />

einzubeziehen waren. Wenn schon eine rückwirkende Bewertung unter<br />

ihrer Beteiligung nicht möglich war, so könnte man – so unsere Überlegung<br />

– diesen Schritt zeitlich vorziehen, d. h. ihn mit der Bewertung der<br />

Arbeit durch den Gutachter im Zuge des Prüfungsverfahrens vereinen. So<br />

entstand die Idee, den Gutachtern zukünftig zusammen mit der Arbeit<br />

und dem Formular für die Benotung vom Zentralen Prüfungsamt einen<br />

Fragebogen zur Archiv w ürdigkeit 16 zuleiten zu lassen, in dem die Gutachter<br />

unmittelbar nach der Lektüre und Benotung einige Fragen zu der jeweiligen<br />

Arbeit beantworten und so dem Archivar eine wichtige Hilfestellung<br />

für eine fundierte Bewertungsentscheidung geben sollen. Der Fragebogen<br />

sollte dabei so aufgebaut sein, dass er den Gutachter mittels der Beantwortung<br />

einiger Fragen abschließend selbst zu einer Empfehlung für oder<br />

gegen die Archivierung führt. Weil das Formular aber eben nicht auf eine<br />

Ja/Nein-Alternative reduziert ist, sondern der Gutachter einige gezielte<br />

Fragen beantworten muss, liefert er zugleich dem Archivar, der natürlich<br />

die letzte Entscheidung über Archivierung oder Kassation hat, zusätzlich<br />

die Basis für eine eigene Meinungsbildung, die im Resultat durchaus von<br />

der Empfehlung des Gutachters abweichen kann. Insgesamt soll auf diese<br />

Weise – so unsere Überlegung und Hoffnung – wenigstens für die zukünftig<br />

eingereichten Arbeiten eine vernünftige Bewertung möglich werden.<br />

Der Fragebogen versucht, das Problem der Bewertung von verschiedenen<br />

Seiten anzugehen. Eine selbstverständlich nicht geringe Bedeutung kommt<br />

dabei dem Informationswert zu. Auf ihn beziehen sich auch die meisten<br />

Fragen. Es versteht sich von selbst, dass unter diesem Aspekt vor allem herausragende<br />

Arbeiten, die auch einen relevanten Forschungsbeitrag liefern,<br />

archiviert werden. Erfüllt die Arbeit allerdings gerade einmal den prü-<br />

16 Der Fragebogen zur Archivwürdigkeit ist abrufbar unter http://www.uni-augsburg.de/<br />

einrichtungen/archiv/download/Fragebogen_ zur_Archivwuerdigkeit.pdf. .<br />

186 Universitätsreden 73<br />

Bew ertung v on Prüfungsarbeiten im Univ ersitätsarchiv Augsburg<br />

fungstechnischen Zweck, d. h. reicht sie gerade aus, die Fähigkeit zu wissenschaftlichem<br />

Arbeiten zu belegen, dürfte in vielen Fällen die Kassation<br />

die geeignete Maßnahme sein. Da im Fragebogen die Note aus datenschutzrechtlichen<br />

Gründen nicht abgefragt werden konnte, haben wir uns<br />

bemüht, mit Fragen zur Qualität der Bearbeitung und zur Forschungsrelevanz<br />

zu den für uns wichtigen Informationen zu gelangen.<br />

Dass der Bezug auf die Region Bayerisch-Schwaben, die Stadt Augsburg<br />

bzw. die Universität und ihre Vorläufer als ein Kriterium unter vielen<br />

angesprochen wird, soll keinesfalls bedeuten, dass a priori nur Arbeiten<br />

mit einer solchen thematischen Ausrichtung Berücksichtigung finden<br />

können. Vielmehr soll die gesamte Bandbreite, die von den Diplomarbeiten<br />

aus den naturwissenschaftlichen, wirtschaftswissenschaftlichen,<br />

geisteswissenschaftlichen und theologischen Fächern über die Magisterarbeiten<br />

aus den Philosophischen Fakultäten bis hin zu den genannten<br />

Lehramts-Zulassungsarbeiten mit einem Schwerpunkt in den Bereichen<br />

Pädagogik und Didaktik reicht, angemessen und sinnvoll dokumentiert<br />

werden.<br />

Es kann aus unserer Sicht aber auch nicht darum gehen, nur die „Highlights“<br />

zu archivieren. Insofern geht der Ansatz, z. B. nur die mit „sehr<br />

gut“ bewerteten Arbeiten für die Archivierung vorzusehen, aus unserer<br />

Sicht in die Irre. Von nicht geringerer Bedeutung ist der Evidenzwert, d. h.<br />

vor allem die Dokumentation von Forschungsschwerpunkten, die sich aus<br />

den von den Betreuern vergebenen Themenstellungen und ihrer Bearbeitung<br />

ergeben. In den Arbeiten spiegelt sich zudem die Rezeption des an<br />

der Universität erlernten Wissens durch die Studenten. Auch wenn der Informationswert<br />

einer Arbeit im Einzelfall nicht für die Archivierung ausreichen<br />

mag, so dürfen die forschungs- und wissenschaftsgeschichtlichen<br />

Rückschlüsse, die aus ihr gezogen werden können, aus meiner Sicht nicht<br />

unterschätzt werden. Die akademischen Abschlussarbeiten der Studentinnen<br />

und Studenten können so ihrerseits zu Quellen für die Wissenschaftsgeschichte<br />

werden.<br />

Einen weiteren Aspekt, den ich bisher noch nicht erwähnt habe, der aber<br />

durchaus auch in die Bewertung einbezogen werden sollte, will ich noch<br />

kurz ansprechen: Aus archivrechtlicher Sicht sind die Prüfungsarbeiten<br />

mit einigen Problemen hinsichtlich ihrer Benützbarkeit behaftet. 17 Sie<br />

Universitätsreden 73 187


Werner Lengger<br />

haben als personenbezogene Unterlagen zu gelten und können daher gemäß<br />

Art. 10 Abs. 3 Satz 2 bzw. Art. 10 Abs. 4 Satz 2 des Bayerischen<br />

Archivgesetzes Benützern frühestens 10 Jahre nach dem Tod des Verfassers,<br />

ansonsten nur mit dem Einverständnis des Verfassers vorgelegt werden.<br />

18 Da an der Universität Augsburg in den meisten Studiengängen bis<br />

vor wenigen Jahren darauf verzichtet wurde, die Prüflinge eine Erklärung<br />

unterschreiben zu lassen, ob sie mit einer späteren Einsichtnahme in ihre<br />

Arbeit durch Dritte einverstanden sind, fehlt diese wichtige Voraussetzung<br />

für die Zulassung zur Benützung in den allermeisten Fällen. Lassen wir die<br />

Möglichkeit, von den genannten Ausnahmetatbeständen des Art. 10 Abs. 4<br />

Satz 2 Bayerisches Archivgesetz Gebrauch zu machen, einmal beiseite, so<br />

ist natürlich zu fragen, inwiefern es Sinn macht, Magister- und Diplomarbeiten<br />

in größerer Zahl zu archivieren, wenn diese frühestens 10 Jahre<br />

nach dem Tod des Verfassers eingesehen werden können. Eine heute eingereichte<br />

Arbeit könnte erst in ca. 60 bis 70 Jahren vorgelegt werden. Der<br />

Informationswert, d. h. der Wert für die aktuelle Forschung, wird dann<br />

wahrscheinlich gegen Null tendieren, allein der Evidenzwert könnte noch<br />

von Bedeutung sein. Die Argumente, die grundsätzlich für die Archivierung<br />

sprechen, sind damit weitgehend entkräftet, wenn eine Vorlage an<br />

Benützer aus rechtlichen Gründen nicht möglich ist. Auch wenn das<br />

Bayerische Archivgesetz die genannten Ausnahmetatbestände kennt, die<br />

eine Einsichtnahme Dritter auch ohne Zustimmung des Verfassers erlauben,<br />

so erwachsen hier doch für den verantwortlichen Archivar eine Reihe<br />

17 Entgegen vielfach geäußerten Bedenken spielen Fragen des Urheberrechts bei der Benutzung<br />

von Prüfungsarbeiten im Archiv nicht die wichtigste Rolle. Vgl. dazu Winfried<br />

Veelken: Schutzrechtsfragen im Hochschulbereich – Studien- und Diplomarbeiten,<br />

in: Wissenschaftsrecht, Wissenschaftsverwaltung, Wissenschaftsförderung 26<br />

(1993), S. 93-135.<br />

18 Falls beide genannte Voraussetzungen nicht erfüllt sind, erlaubt Art. 10 Abs. 4 Satz 2<br />

BayArchivG eine Einsichtnahme auch dann, wenn sie „zur Erreichung des beabsichtigten<br />

wissenschaftlichen Zwecks […] oder sonstigen im überwiegenden Interesse der<br />

abgebenden Stelle oder eines Dritten liegenden Gründen unerlässlich ist und sichergestellt<br />

ist, daß schutzwürdige Belange des Betroffenen oder Dritter nicht beeinträchtigt<br />

werden.“ Dies ist in jedem Fall für den Archivar eine schwierige Ermessensentscheidung,<br />

weshalb das Vorliegen einer Einverständniserklärung der Verfasserin<br />

bzw. des Verfassers - wo immer möglich - anzustreben ist.<br />

188 Universitätsreden 73<br />

Bew ertung v on Prüfungsarbeiten im Univ ersitätsarchiv Augsburg<br />

von Problemen – zumal man sich der Tatsache bewusst sein muss, dass die<br />

diesbezügliche Zustimmung der Verfasser keineswegs stillschweigend vorausgesetzt<br />

werden kann. Zwar geben fast alle Lehramtsstudentinnen und -<br />

studenten ihre Zulassungsarbeiten für die Benützung frei, bei den<br />

Diplomarbeiten aus den Wirtschaftswissenschaften zum Beispiel ist es aber<br />

nur rund die Hälfte. Das ergab eine stichprobenartige Auswertung der<br />

diesbezüglichen Erklärungen der Prüfungskandidatinnen und -kandidaten<br />

aus den letzten beiden Jahren, die dem Universitätsarchiv vom Zentralen<br />

Prüfungsamt der Universität Augsburg zur Verfügung gestellt wurden.<br />

Persönlich neige ich dazu, Prüfungsarbeiten, die von ihren Verfassern ausdrücklich<br />

nicht freigegeben werden, zu kassieren.<br />

Da der Fragebogen zur Archiv w ürdigkeit in Augsburg erst 2002 eingeführt<br />

wurde, eine Bewertung der Arbeiten aber frühestens nach dem Ablauf der<br />

fünfjährigen Aufbewahrungsfrist möglich ist, kann noch kein abschließendes<br />

Urteil über die Praxistauglichkeit des Fragebogens gefällt werden.<br />

Ich kann Ihnen aber an dieser Stelle die Ergebnisse einer ersten groben<br />

statistischen Auswertung der Fragebögen für einige Gruppen von<br />

Prüfungsarbeiten kurz vorstellen. Dabei ist als erstes Ergebnis festzuhalten,<br />

dass offenbar nur ein Teil der Gutachter bereit ist, den zusätzlichen Zeitund<br />

Arbeitsaufwand für das Ausfüllen des Fragebogens in Kauf zu nehmen.<br />

So fehlte bei den wirtschaftswissenschaftlichen Diplomarbeiten der<br />

Fragebogen in rund der Hälfte der Fälle, bei den Magisterarbeiten in rund<br />

einem Drittel der Fälle. Bei den Zulassungsarbeiten für die Lehrämter lag<br />

diese Quote dagegen bei nur rund 5 Prozent. Es ist zu befürchten, dass<br />

unter den Gutachtern aus den naturwissenschaftlichen Disziplinen, für die<br />

noch keine Zahlen vorliegen, die Ablehnung des Fragebogens noch höher<br />

als bei ihren Kollegen aus den Wirtschaftswissenschaften ausfallen wird.<br />

Das sind wenigstens teilweise unbefriedigende Werte, und wir werden auf<br />

jeden Fall versuchen, hier für eine Verbesserung zu sorgen, wenngleich<br />

natürlich nicht zu erwarten war, dass alle Gutacher sich voller<br />

Begeisterung dieser zusätzlichen Arbeit unterziehen würden.<br />

Erfreulicher, weil – wenigstens zum Teil – durchaus plausibel und nachvollziehbar,<br />

fielen die Empfehlungen der Gutachter hinsichtlich der<br />

Archivwürdigkeit aus. Für die Archivierung empfohlen wurden 38 Prozent<br />

der Magisterarbeiten, 21 Prozent der wirtschaftswissenschaftlichen Diplom-<br />

Universitätsreden 73 189


Werner Lengger<br />

arbeiten, 50 Prozent der Zulassungsarbeiten für das Lehramt an Gymnasien,<br />

32 Prozent der Zulassungsarbeiten für das Lehramt an Realschulen,<br />

23 Prozent der Zulassungsarbeiten für das Lehramt an Hauptschulen und<br />

14 Prozent der Zulassungsarbeiten für das Lehramt an Grundschulen.<br />

Interessant ist hier vor allem die von den Grundschulen bis zum Gymnasium<br />

ansteigende Quote der als archivwürdig empfohlenen Arbeiten.<br />

Überraschend niedrig fällt vor allem die Quote für die Magisterarbeiten<br />

aus. Hier wäre eigentlich mit einem höheren Anteil zu rechnen gewesen,<br />

da das Magisterstudium auch im Selbstverständnis der Universität doch<br />

das eigentlich „wissenschaftliche“ Studium ist, weshalb man a priori auch<br />

den Abschlussarbeiten ein höheres Niveau zu unterstellen geneigt ist.<br />

Die vorgeschlagenen Archivierungsquoten sind aus meiner Sicht insgesamt<br />

und vor allem für einzelne Teilbereiche noch zu hoch. Insbesondere<br />

können sie mit Blick auf die verfügbaren Lagerungskapazitäten kaum die<br />

Grundlage für eine langfristige und nachhaltige Archivierungsstrategie<br />

sein. Genaueres kann freilich erst gesagt werden, wenn die ersten tatsächlichen<br />

Bewertungen auf der Grundlage der Sichtung der Arbeiten und des<br />

jeweiligen Fragebogens stattgefunden haben, was ab 2007 der Fall sein<br />

wird. Ein erster wirklicher Erfahrungsbericht wird in jedem Fall folgen.<br />

190 Universitätsreden 73<br />

Studentenakten: Fluch oder Segen? 1<br />

Stephan Luther<br />

Das Thema meines kleinen Beitrages impliziert zwei Schwerpunkte. Zum<br />

einen meine ich die Massenhaftigkeit der studentischen Unterlagen mit all<br />

den damit verbundenen Problemen. Zum anderen meine ich aber auch<br />

den Nutzen für das Archiv und die Forschung, der aus diesen Unterlagen<br />

erwachsen kann. Diese beiden Aspekte möchte ich nun etwas näher beleuchten.<br />

Zunächst einmal zur Klarstellung und Definition, welche Unterlagen<br />

ich unter dem Begriff „Studentenakten“ fasse. Mit den Studentenakten, die<br />

bei uns im Universitätsarchiv unter dem Bestandskürzel 203 erfasst sind,<br />

meine ich nicht nur die Studentenakten an sich, sondern auch die Prüfungsakten.<br />

Wir subsumieren also im Bestand 203 quasi eine erweiterte<br />

Studentenakte. Seine Ursache hat dies in der Tatsache, dass bis 1989 die<br />

Prüfungsakten nach der Exmatrikulation des Studenten durch die Prüfungsämter<br />

an das Studentensekretariat geschickt, dort mit der Studentenakte<br />

zusammengeführt und erst danach an das Archiv abgegeben wurden.<br />

Dies hat den unschätzbaren Vorteil, dass alle Angaben zum Studienverlauf<br />

einschließlich der Prüfungsergebnisse in einer Akte konzentriert sind.<br />

Heute haben wir aufgrund der geänderten Gesetzesgrundlage eine<br />

getrennte und zeitlich auseinanderklaffende Abgabe von Studenten- und<br />

Prüfungsakte. 2 Studentenakten müssen unmittelbar nach der Exmatrikula-<br />

1 Dieser Beitrag stellt die leicht überarbeitete und durch Fußnoten ergänzte Fassung<br />

meines Diskussionsbeitrages bei der Saarbrücker Frühjahrstagung der Fachgruppe 8 im<br />

VdA am 24.3.2006 dar.<br />

2 Zur Behandlung und Aufbewahrung von Prüfungsakten sind die verschiedensten Prüfungsordnungsordnungen<br />

heranzuziehen. Diese sind in bezug auf Fragen der Archivie-<br />

Universitätsreden 73 191


Stephan Luther<br />

tion abgegeben werden, da entsprechend der Studentendatenverordnung<br />

von 2000 die bei der Immatrikulation erhobenen Daten auf ein genau definiertes<br />

Maß reduziert werden müssen. Weil eine physische Trennung der<br />

zu löschenden Daten vom Rest der Akte kaum realisierbar und auch nicht<br />

gewünscht ist, wird die komplette Akte ins Archiv gegeben. Prüfungsakten<br />

verbleiben momentan fünf Jahre in den Prüfungsämtern, da der Prüfungsausschuss<br />

innerhalb dieser Frist ein Einspruchsrecht in bezug auf das<br />

Ergebnis besitzt. Die Abschlussarbeiten werden nach Ablauf dieser Frist<br />

nach Auswahl der für die Geschichte der Einrichtung und der Region relevanten<br />

Arbeiten kassiert. Darüber hinaus haben wir die Festlegung getroffen,<br />

dass die betreuenden Hochschullehrer bewahrenswerte Arbeiten kennzeichnen<br />

können. Seit dem Bestehen dieser Regelung gab es jedoch keine<br />

einzige solche Bewertung. Die Prüfungsakten selbst werden nach diesen<br />

fünf Jahren an das Universitätsarchiv abgegeben. 3<br />

Bei der Abgabe der beiden Aktenarten erhält das Universitätsarchiv<br />

neben der konventionellen Liste, auf der rechtsverbindlich die Übergabe<br />

nach Revision bestätigt wird, auch eine Datei, die aus dem Hochschulinformationssystem<br />

(HIS) ausgelesen wird. Diese Daten werden in eine<br />

vom Archiv selbst programmierte Datenbank auf Access-Basis eingelesen.<br />

Damit ist es möglich, die beiden oder auch mehrere Akten zu einer Person<br />

bei einer Recherche zumindest virtuell wieder zusammenzuführen sowie<br />

schnell recherchierbar zu halten.<br />

Selbst an unserer relativ kleinen Universität übernimmt das Archiv im<br />

Jahresdurchschnitt der letzten acht Jahre ca. 3.100 Archiveinheiten oder<br />

rung und der gesetzlichen Aufbewahrungsbestimmungen leider nicht immer eindeutig<br />

gefasst. Bezüglich der Studentenakten gibt es in Sachsen eine einheitliche Regelung<br />

durch die Verordnung des Sächsischen Staatsministeriums für Wissenschaft und Kunst<br />

zur Verarbeitung personenbezogener Daten der Studienbewerber, Studenten und Prüfungskandidaten<br />

für statistische und Verwaltungszwecke der Hochschulen (Sächsische<br />

Studentendatenverordnung – SächsStudDatVO) vom 19.7.2000, veröffentlicht in:<br />

Sächsisches Gesetz- und Verordnungsblatt, Jg. 2000, Nr. 11, S. 390ff.<br />

3 Momentan verhandelt das neu gebildete zentrale Prüfungsamt mit dem Universitätsarchiv,<br />

um eine frühere Abgabe der Prüfungsakten an das Universitätsarchiv zu erreichen.<br />

Gerechtfertigt wird dies durch die Erfahrung, dass die Einsicht unter rechtlichen<br />

Gesichtspunkten, wenn überhaupt, in der Mehrzahl innerhalb des ersten Jahres nach<br />

192 Universitätsreden 73<br />

Studentenakten: Fluch oder Segen?<br />

anders ausgedrückt 17 lfm. Damit kommt im Laufe der Zeit eine Menge<br />

an Schriftgut zusammen. Momentan verwahren wir im Bestand 203 rund<br />

400 lfm. studentischer Unterlagen, bei einer Gesamtüberlieferung von<br />

ca. 2.500 lfm. Aus diesen Zahlen wird schon deutlich, dass wir es mit<br />

einem Mengenproblem zu tun haben.<br />

Nun möchte ich zum Segen dieser Unterlagen kommen. Zum einen dienen<br />

sie natürlich zur Sicherung der rechtlichen Belange unserer ehemaligen<br />

Studenten. Ein großer Anteil der an uns gerichteten Anfragen bezieht<br />

sich auf die Erstellung von Studienbescheinigungen, den Ersatz von Urkunden<br />

und Zeugnissen, Auskünfte im Zuge der politischen Rehabilitation<br />

nach dem SED-Unrechtsbereinigungsgesetz oder die Unterstützung<br />

von Seminargruppentreffen. 4<br />

Unstrittig ist aber auch der Nutzen für die sozialhistorische und die biographische<br />

Forschung, wobei in der Nutzung allerdings die Bestimmungen<br />

des Datenschutzes zu beachten sind. Gerade die biographische Forschung<br />

ist auch hochschulintern immer stärker in das Blickfeld gerückt,<br />

versucht doch jede Hochschule, sich im stärker werdenden Wettbewerb<br />

durch die Präsentation von besonders bedeutenden Absolventen zu profilieren.<br />

Äußerer Ausdruck dessen sind die zahllosen Alumni-Netzwerke, die<br />

sich mit prominenten Politikern, Wirtschaftsbossen oder historischen Persönlichkeiten<br />

schmücken.<br />

Insgesamt kann für unser Archiv ein Absinken der inhaltlichen Qualität<br />

in der studentischen Überlieferung seit 1989 beobachtet werden. In der<br />

Abschluss erfolgt. Außerdem wird damit die Dokumentation des gesamten Studienverlaufs<br />

im Universitätsarchiv zeitnah ermöglicht.<br />

4 Das Universitätsarchiv ist der Meinung, dass eine Aufbewahrung dieser Unterlagen,<br />

auch bei Fehlen einer gesetzlich fixierten Aufbewahrungsfrist, notwendig ist. Nach § 20<br />

Abs. 4 Punkt 1 hat die Löschung von personenbezogenen Daten zu unterbleiben, wenn<br />

„Grund zu der Annahme besteht, dass durch sie schutzwürdige Interessen des Betroffenen<br />

beeinträchtigt würden“. Vgl. Gesetz zum Schutz der informationellen Selbstbestimmung<br />

im Freistaat Sachsen (Sächsisches Datenschutzgesetz – SächsDSG) vom 25.8.2003,<br />

veröffentlicht in: Sächsisches Gesetz- und Verordnungsblatt, Jg. 2004, Nr. 10, S. 330ff.<br />

Darüber hinaus sind nach dem Sächsischen Archivgesetz Unterlagen archivwürdig,<br />

denen ein „bleibender Wert … für die Sicherung berechtigter Belange betroffener Personen<br />

und Institutionen oder Dritter zukommt“. Vgl. Archivgesetz für den Freistaat<br />

Universitätsreden 73 193


Stephan Luther Studentenakten: Fluch oder Segen?<br />

DDR-Zeit sind erheblich mehr Angaben in die Studentenakten gelangt, als<br />

es heute nach den verschiedenen Bestimmungen möglich ist. Andererseits<br />

gibt es auch zunehmend Differenzen zwischen der schriftlichen Überlieferung,<br />

den Nachweisen in den HIS-Datenbanken und dem tatsächlichen<br />

Studienverlauf. Hier muss unbedingt gegengesteuert werden, um die rechtlich<br />

einwandfreie Kongruenz mit dem tatsächlich absolvierten Studium zu<br />

gewährleisten. Dazu reichen schon eine bessere Arbeitsorganisation in den<br />

mit der Führung der Akten befassten Stellen und eindeutige Festlegungen<br />

in der Arbeit mit diesen Daten. In die Erarbeitung der letzteren sollte sich<br />

das Archiv unbedingt einbringen. In Chemnitz befinden wir uns nach der<br />

Analyse des gegenwärtig unbefriedigenden Zustandes in genau diesem<br />

Prozess.<br />

Wenn ich als Archivar alle Forderungen der biographischen Forschung<br />

erfüllen wollte, hätte ich die komplette Überlieferung zu bewahren. Dann<br />

müsste ich aber entweder Maßnahmen der Bestandserhaltung oder aber<br />

der Ersatzverfilmung treffen. Beides ist angesichts des zu erwartenden<br />

Nutzens ein sehr teures und personalintensives Unterfangen. Man muss<br />

sich doch die Frage stellen: Wie häufig und wie intensiv wird diese Aktengruppe<br />

einmal genutzt werden? Kommt es auf den Einzelfall an, oder<br />

stehen eher gruppenbiographische Ansätze im Vordergrund? Kann ich es<br />

mir leisten, 10.000 Akten aufzubewahren, damit eine genutzt werden<br />

kann? Deshalb bin ich der Meinung, dass auch diese Unterlagen einer<br />

Bewertung und Kassation unterliegen müssen, auch auf die Gefahr hin,<br />

dass, überspitzt formuliert, die Akte eines künftigen Nobelpreisträgers mit<br />

kassiert wird und dann für die biographische Forschung nicht mehr zur<br />

Verfügung stehen würde. Allerdings dürfte dies in Chemnitz bei den relativ<br />

langen Aufbewahrungsfristen und der Medienpräsenz eines Nobelpreisträgers<br />

kaum passieren.<br />

Für die sozialhistorische Forschung dagegen ist es nicht notwendig, die<br />

Gesamtheit der Akten aufzubewahren. Man muss nur eine ausreichend<br />

große Gesamtmenge zur Verfügung haben. Es reicht dann aus, die mit<br />

unterschiedlichen Methoden gebildeten Stichproben der Forschung zur<br />

Verfügung zu stellen.<br />

Auf einem Vortrag auf dem sächsischen Archivtag 2002 in Plauen habe<br />

ich ein theoretisches Modell für die Bewertung dieser Aktengruppe ent-<br />

worfen. 5 Aufgrund der Wahrung von rechtlichen Belangen der Betroffenen<br />

beginnt die Bewertung in Chemnitz erst 50 Jahre nach der Exmatrikulation<br />

des Betroffenen. Eindeutige gesetzliche Regelungen zur Aufbewahrungsfrist<br />

solcher Akten gibt es dafür in Sachsen jedoch leider nicht.<br />

Bei der Bildung meiner Stichprobe verzichte ich bewusst auf Repräsentativität.<br />

Im Modell habe ich als erstes die Auswahl des Besonderen verankert. Für<br />

Chemnitz bedeutet dies die Totalarchivierung der Akten von ausländischen<br />

Studenten, da der Anteil nicht besonders hoch lag, aber andererseits<br />

diese v.a. unter den Bedingungen der DDR maßgeblichen Einfluss auf studentisches<br />

Leben hatten.<br />

Daneben sollen besondere Einzelfälle aus der Masse der Studenten selektiert<br />

werden. In erster Linie betrifft dies „bedeutende“ Absolventen. Diese<br />

Studenten werden in der Datenbank bei Bekanntwerden zeitnah mit einem<br />

entsprechenden Vermerk versehen. Natürlich würde ich nie die Akte eines<br />

mir bekannten Nobelpreisträgers, so Chemnitz jemals einen hervorbringen<br />

sollte, kassieren. Bedeutende Persönlichkeiten sind jedoch nicht nur in<br />

diesem Bereich zu suchen, sondern in allen Bereichen der Gesellschaft, im<br />

In- und im Ausland. Es ist wohl unmöglich, alle diese Einzelfälle zu beobachten<br />

und in die Auswahl einzubeziehen. Es kann mir also durchaus passieren,<br />

dass eine herausragende Persönlichkeit mit ihrer Akte der Kassation<br />

anheimfällt. Daneben bleibt hier immer auch ein subjektives Moment,<br />

welches ja schon mit der Festlegung der Kriterien für Bedeutung beginnt<br />

und beim Erfahrungs- und Bildungshorizont des Bewertenden noch lange<br />

nicht aufhört. Eine Vollständigkeit der „besonderen Fälle“ kann und soll<br />

nie erreicht werden.<br />

Sachsen, rechtsbereinigt mit dem Stand vom 1.1.2005, in: http://www.sachsen.de/de/<br />

bf/verwaltung/archivverwaltung/elemente/media/Archivgesetz.pdf (21.6.2006).<br />

5 Vgl. Stephan Luther: Das Problem Massenakten. Zwischen Aufbewahrung, Kassation<br />

und Selektion, in: Überlieferungsbildung an der Schwelle des 21. Jahrhunderts –<br />

Aktuelle Probleme der Bewertung. (Tagungsband des 11. Sächsischen Archivtages 2002<br />

in Bautzen) Dresden 2003, S. 47-57. Hier finden Sie auch weiterführende Literaturhinweise.<br />

Der Beitrag kann auch auf den Seiten des Landesverbandes Sachsen im VdA,<br />

allerdings unter Abänderung der Seitenzahlen, heruntergeladen werden. Vgl.<br />

http://www.vda.lvsachsen.archiv.net/archivtage/2002_bautzen/10-Luther.pdf<br />

194 Universitätsreden 73 Universitätsreden 73 195


Stephan Luther<br />

In einer zweiten Stufe soll es zeitliche Schichtungen geben, innerhalb deren<br />

ebenfalls eine Totalarchivierung oder zumindest umfangreichere Stichprobe<br />

erfolgen soll. Auf unsere Universität angewandt, ist das zum einen<br />

die Erstmatrikel nach Gründung der Hochschule für Maschinenbau Karl-<br />

Marx-Stadt (HfM) im Jahre 1953. Eine zweite Schicht soll mit der Matrikel<br />

1963, als die HfM zur TH erhoben wurde, gebildet werden. Dann soll für<br />

die Jahrgänge 1967-1970 eine größere Schicht gebildet werden, da sich mit<br />

der III. Hochschulreform einschneidende Veränderungen in der Studienorganisation<br />

ergaben, andererseits auch die Ereignisse in der `ĆSSR und<br />

Reflexionen der Studentenunruhen in der Bundesrepublik erfasst werden.<br />

Zwei weitere umfangreichere Schichten werden mit den Jahrgängen 1980<br />

und 1989 gebildet. Ansonsten werden wir wohl in Zehnjahresschichten<br />

weiterverfahren. Es sei denn, die Zukunft bringt gravierende Veränderungen,<br />

die sich auch in dieser Überlieferungsbildung niederschlagen müssten.<br />

Für den Rest der Akten soll eine statistische Zufallsauswahl in einer<br />

Größenordnung von ca. 5 Prozent gebildet werden. Bei einer ausreichend<br />

großen Grundgesamtmenge kann diese Quote eventuell noch reduziert<br />

werden.<br />

Die Metadaten aller Studienverläufe sollen jedoch auf Dauer bewahrt<br />

und in einer Datenbank gespeichert werden. Wir wollen natürlich auch<br />

nach jeder durchgeführten Bewertung in der Lage sein, jeden einzelnen<br />

immatrikulierten Studenten mit seinem Studium in Chemnitz/Karl-Marx-<br />

Stadt nachzuweisen. Der Grundstock dieser Datenbank ist bereits mit der<br />

oben erwähnten, schon bei der Abgabe gebildeten Datenbank gelegt. Im<br />

übrigen verweise ich auf meinen Beitrag von 2002, der auch online auf den<br />

Seiten des Landesverbandes Sachsen nachzulesen ist.<br />

In der Endkonsequenz entsteht eine Datenbank mit den Metadaten zum<br />

Studienverlauf jedes einzelnen Studenten, ähnlich unseren Matrikelbüchern<br />

des 19. Jahrhunderts, nur mit dem Vorteil, dass diese dann datenbankgestützt<br />

ausgewertet werden können. Der Fluch der Überfüllung unserer<br />

Magazine mit studentischer Überlieferung wäre gebannt und auf den<br />

Forschenden käme der Segen einer in vieler Hinsicht auswertbaren Datenbank<br />

mit einer stichprobenweise gebildeten Auswahlüberlieferung. Die<br />

praktische Umsetzung eines solchen Traumes erfordert jedoch eine Menge<br />

Kraft und Zeit, sollte aber unser Ziel sein.<br />

196 Universitätsreden 73<br />

Bewertung von Prüfungsakten<br />

der Prüfungsämter und Prüfungsausschüsse für<br />

akademische Fachprüfungen der Fakultäten und<br />

Fachbereiche der Universität Hamburg<br />

Heidelies Wittig<br />

Seit den 1950er Jahren liefert die 1919 gegründete Universität Hamburg<br />

kontinuierlich älteres Schriftgut ab, das Teile des im Staatsarchiv Hamburg<br />

formierten Universitätsarchivs bildet. 1980 wurden durch Dr. Hans-<br />

Wilhelm Eckardt vom Staatsarchiv Hamburg im Rahmen einer Archivpflege<br />

in der Universitätsverwaltung erstmals auch Promotionsakten,<br />

Magister- und Diplomprüfungsakten 1 begutachtet und als Ziel die Übernahme<br />

einer repräsentativen Auswahl von Prüfungsakten formuliert. 2<br />

Trotzdem lieferte die Universität im November 1984 ohne Absprache<br />

und ohne Ablieferungsverzeichnis 455 m Prüfungsakten verschiedener<br />

Fächer und unterschiedlicher Abschlüsse ab, von Vorprüfungen bis zu<br />

Habilitationen. Darunter waren allein 260 m Diplomprüfungsakten von<br />

Kaufleuten, Handelslehrern, Volkswirten, Soziologen, Politologen und<br />

Psychologen. Vor dem Hintergrund, dass die ebenfalls abgelieferten Promotionsakten<br />

der Philosophischen sowie der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen<br />

Fakultät seit Gründung der Universität bis 1971 insgesamt<br />

nur 45 m umfassten, zeigte sich ein deutliches Missverhältnis zwischen<br />

„Qualität“ und „Quantität“. Den Plänen der Universität, sämtliche Akten<br />

betreffend akademische Prüfungen unterhalb der Promotion aufzubewahren,<br />

konnte das Staatsarchiv nicht folgen, weder aus archivarischer noch<br />

aus historischer Sicht. Ziel archivarischer Tätigkeit war und ist es, hier wie<br />

auch in anderen Überlieferungsbereichen (z. B. Schul- und Sozialwesen)<br />

1 Eine Prüfungsakte besteht aus Akte und Prüfungsarbeit.<br />

2 GA (Geschäftsakte) 2111-02/1 Schreiben des Staatsarchivs an die Universitätsverwaltung<br />

vom 2.5.1980.<br />

Universitätsreden 73 197


Heidelies Wittig<br />

eine Reduzierung der Zahl der Einzelfallakten und damit eine verdichtete,<br />

repräsentative historische Dokumentation zu erreichen. 3<br />

Das Konzept der Universität, den Magister- und Diplomprüfungsakten<br />

die Urkunde, Klausuren und Gutachten zu entnehmen und zu archivieren<br />

und den restlichen Akteninhalt (Zulassungsantrag, Korrespondenz, Prüfungsprotokoll<br />

etc.) zu vernichten, wurde seitens des Staatsarchivs ebenfalls<br />

nicht akzeptiert. 4<br />

Nachdem sich 1992 wieder Aktenberge aus den vergangenen studentenstarken<br />

Prüfungsjahrgängen angesammelt hatten, kam es zu folgender<br />

Regelung für die Übernahme von Magister- und Diplomprüfungsakten.<br />

Der Präsident der Universität legte die Aufbewahrungsfrist für die Akten<br />

in den Prüfungsämtern auf 10 Jahre fest. 5 Vor Abgabe der Akten sollten<br />

die Prüfungsämter die jeweiligen Abschlusszeugnisse entnehmen, um sie<br />

dauernd aufzubewahren, zur Prüfungsakte sollte eine Kopie gelegt werden.<br />

Diese Verfügung des Präsidenten der Universität vom 28. August 1992 6<br />

lässt sich als Vereinbarung zwischen der Universität und dem Staatsarchiv<br />

im Sinne des Hamburgischen Archivgesetzes 7 verstehen. 8<br />

Da jedoch zwei Fachbereiche weiterhin die vollständige Archivierung<br />

der Magisterprüfungsakten anstrebten, kam es in der Folgezeit (1996-1998)<br />

nur zur Anbietung und Ablieferung von Diplomprüfungsakten. Die<br />

Diplomprüfungsakten der Fächer Physik, Biologie, Chemie und Mathematik<br />

aus den Jahren 1953-1985 wurden dabei für nicht archivwürdig<br />

erklärt.<br />

In Auswahl übernommen wurden dagegen Diplomprüfungsakten der<br />

Fächer Informatik, Geographie, Geologie-Paläontologie und Mineralogie<br />

3 GA 2111-02/1 Schreiben des Staatsarchivs an die Universitätsverwaltung vom 9.5.1988.<br />

4 vgl. Anm. 3.<br />

5 Das HambArchG sieht eine Aussonderung und Anbietung nach spätestens 30 Jahren<br />

vor (§ 3 Nr. 1).<br />

6 GA 2111-02/1.<br />

7 HambArchG § 3 Abs. 4 Nr. 2: Durch Vereinbarung zwischen dem Staatsarchiv und<br />

den in § 1 Abs. 1 genannten Stellen kann der Umfang der anzubietenden gleichförmigen<br />

Unterlagen, die in großer Zahl anfallen, im einzelnen festgelegt werden.<br />

8 GA 2111-02/1 Schreiben des Staatsarchivs an die Universitätsverwaltung vom 23.9.<br />

1992.<br />

198 Universitätsreden 73<br />

Bew ertung v on Prüfungsakten der Prüfungsämter und Prüfungsausschüsse<br />

der Jahre 1953-1985. Um die Entwicklung des neuen, zeittypischen Faches<br />

Informatik zu dokumentieren, wurden jeweils die ältesten und die jüngsten<br />

30 Prüfungsakten sowie die aller Kandidatinnen übernommen. Für die<br />

Fächer Geographie und Geologie-Paläontologie wurden Akten nach thematischen<br />

bzw. thematischen und personalen Gesichtspunkten ausgewählt,<br />

für das Fach Mineralogie ebenfalls nur thematisch relevante Akten<br />

sowie zusätzlich jeweils 18 Akten weiblicher und männlicher Kandidaten.<br />

Im Zuge der Umorganisation der Fachbereiche zu Fakultäten, durch die<br />

Einführung neuer Studienabschlüsse und die Streichung von Fächern sowie<br />

im Zusammenhang mit wiederholten Umzügen einzelner Prüfungsämter<br />

– der Fachbereich Biologie ist seit 1994 sechsmal umgezogen – kam<br />

es ab dem Jahre 2000 vermehrt zu Ablieferungen von Prüfungsakten und<br />

2005 erstmals auch zur Anbietung von Magisterakten aus den Jahren 1961-<br />

1993 und zwar durch den Fachbereich Philosophie und Sozialwissenschaften<br />

sowie durch die Fachbereiche Sprachwissenschaften, Geschichtswissenschaft,<br />

Kulturgeschichte und Kulturkunde sowie Orientalistik.<br />

Hierfür wurde das folgende Bewertungsmodell für Prüfungsakten der<br />

Prüfungsämter und Prüfungsausschüsse für akademische Fachprüfungen 9<br />

der Fakultäten / Fachbereiche der Universität Hamburg entwickelt:<br />

Danach sind Zwischenprüfungs- und Vordiplomprüfungsakten nicht<br />

archivwürdig. Von den Abschlüssen Baccalaureus, Bakkalaureat, Bachelor<br />

of Arts, Bachelor of Science, Magister, Diplom, Master of Arts und Master<br />

of Science sowie den nichtkonsekutiven Masterstudiengängen sollen<br />

2 Prozent der Prüfungsakten übernommen werden, d. h. jede 50. Akte. Zusätzlich<br />

werden weitere Akten nach folgenden Kriterien ausgewählt: bekannte<br />

Personen, „Orchideenfächer“ wie z. B. Altamerikanische Sprachen<br />

und Kulturen sowie Künstliche Intelligenz, Themen mit Hamburg-Bezug<br />

und Themen, die Geschlechtergeschichte, Umwelt, Alltagsgeschichte,<br />

Medien sowie die Zeit des Nationalsozialismus betreffen. Vollständig übernommen<br />

werden Promotionsakten und Habilitationsakten.<br />

9 Für die staatlichen Prüfungen gelangen seit Anfang der 1990er Jahre die „Kriterien für<br />

die Bewertung von Prüfungsakten und -arbeiten des Lehrerprüfungsamtes“ zur Anwendung<br />

(GA 2111-00/5 o.D.).<br />

Universitätsreden 73 199


Bewertung bei der Bundesbeauftragten<br />

für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes<br />

der ehemaligen DDR (BStU)<br />

Gerhard Neumeier<br />

Die Frage, welche Unterlagen des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit<br />

(MfS) der DDR auf Dauer aufbewahrt werden sollten und welche<br />

Unterlagen kassiert werden könnten, steht im Mittelpunkt dieses Beitrages.<br />

In der aktuellen Bewertungsdiskussion in Deutschland spielt die Frage, ob<br />

die Formulierung von Dokumentationszielen bei der Bewertung hilfreich<br />

sein kann, eine zentrale Rolle. 1<br />

Die hier gewählte Vorgehensweise gliedert sich in sechs Abschnitte:<br />

1. wird die Gründung des Ministeriums für Staatssicherheit sowie dessen<br />

Strukturen und Aufgaben dargestellt, 2. soll die Bedeutung der Revolution<br />

1989/90 für die Sicherung der Akten des MfS gezeigt werden, 3. wird die<br />

Vorgeschichte des Stasi-Unterlagen-Gesetzes (StUG) und dessen Formulierung<br />

als Grundlage für die Arbeit der BStU analysiert, 4. werden die Aufgaben<br />

und Ziele der BStU betrachtet und auf die Rolle der Archive in der<br />

BStU hingewiesen, 5. werden am Beispiel der Unterlagen der Abteilung VII<br />

der Außenstelle Suhl der BStU (Schutz des Innenministeriums bzw. der<br />

Polizei sowie „Politisch-operatives Zusammenwirken“ des MfS mit der<br />

Polizei) die Möglichkeiten der Erarbeitung von Dokumentationszielen diskutiert,<br />

und 6. werden die Schlussfolgerungen für die einzelnen Aspekte<br />

der Bewertung gezogen und Vorschläge für die Verfahrensweise bei der<br />

Bewertung am Beispiel der Universitäten gemacht.<br />

1 Siehe dazu beispielsweise die Frühjahrstagung der Fachgruppe 8 des Verbandes deutscher<br />

Archivarinnen und Archivare an der Universität des Saarlandes am 23./24. März<br />

2006.<br />

Universitätsreden 73 201


Gerhard Neumeier<br />

Die Gründung des Ministeriums für Staatssicherheit sowie<br />

dessen Strukturen und Aufgaben<br />

Das Ministerium für Staatssicherheit wurde am 8. Februar 1950 in Berlin<br />

gegründet. Aus der Richtlinie 1/58 ging unscheinbar und verharmlosend<br />

hervor: „Das Ministerium ist beauftragt, alle Versuche, den Sieg des<br />

Sozialismus aufzuhalten oder zu verhindern – mit welchen Mitteln und<br />

Methoden es auch sei –, vorbeugend und im Keim zu ersticken.“ 2 Tatsächlich<br />

handelte es sich beim MfS um einen geheimen Nachrichtendienst, um<br />

ein Untersuchungsorgan bei Straftaten und um eine politische Geheimpolizei.<br />

Im Mittelpunkt der Tätigkeit stand die Kontrolle und Überwachung<br />

der Bevölkerung der DDR. Der Gründungs- und Hauptzweck<br />

der Staatssicherheit lag in der Erkennung und Bekämpfung jeglicher<br />

Regung von Widerspruch und Aufbegehren gegen die SED-Herrschaft.<br />

Das Ziel bestand in der geheimdienstlichen Präsenz in allen Lebensbereichen,<br />

um abweichendes Denken und Handeln aufzuspüren und zu<br />

bekämpfen. 3 Das MfS war ein Organ des Ministerrates der DDR und eng<br />

mit der SED verzahnt. Die Staatssicherheit operierte „jenseits rechtsstaatlicher<br />

Legitimation und unter eklatanter Missachtung der Menschen- und<br />

Bürgerrechte“. 4 Die Zentrale des MfS in Berlin umfasste organisatorisch<br />

unter der Führung des Ministers fünf Geschäftsbereiche, wobei jeder<br />

Geschäftsbereich aus Hauptabteilungen, zentralen Arbeitsgruppen, Stäben<br />

und Verwaltungen bestand. 5 Die Hauptabteilungen waren zuständig für<br />

einzelne Aufgaben, so z. B. die Hauptabteilung XVIII für die „Sicherung“<br />

der Volkswirtschaft, die Hauptabteilung XX für den Staatsapparat, die<br />

Kirche, die Kunst, die Kultur und den „politischen Untergrund“, oder die<br />

Hauptabteilung VII für die Überwachung und die Zusammenarbeit mit<br />

2 Zitiert nach: Clemens Vollnhals: Das Ministerium für Staatssicherheit. Ein Instrument<br />

totalitärer Herrschaftsausübung, in: Hartmut Kaelble / Jürgen Kocka / Hartmut Zwahr<br />

(Hrsg.): Sozialgeschichte der DDR. Stuttgart 1994, S. 498.<br />

3 Jens Gieseke: Der Mielke-Konzern. Die Geschichte der Stasi 1945–1990. München<br />

2006, S. 77.<br />

4 Ebd. S. 19.<br />

5 Clemens Vollnhals: Das Ministerium für Staatssicherheit (wie Anm. 2), S. 501.<br />

202 Universitätsreden 73<br />

Bew ertung bei der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes<br />

der Deutschen Volkspolizei (DVP). Seit 1952 bestanden 15 Bezirksverwaltungen<br />

des MfS, analog dem staatlichen Gliederungsschema der DDR.<br />

Diese Bezirksverwaltungen entsprachen im wesentlichen der Gliederung<br />

der Zentrale und arbeiteten wie die Zentrale nach dem ‚Linienprinzip‘. „In<br />

der Zentrale gab es für jede dieser ‚Linien‘ eine Hauptabteilung …, in den<br />

Bezirksverwaltungen entsprechend jeweils eine Abteilung oder ein Referat.“<br />

6 Auf der dritten Ebene arbeiteten die Kreisdienststellen, von denen<br />

es im Jahr 1989 211 gab und die für die Territorien ihrer Kreise zuständig<br />

waren. Im Jahr 1989 hatte die Staatssicherheit – nach ständiger Aufblähung<br />

des Apparates – ca. 91.000 hauptamtliche Mitarbeiter und ca.<br />

173.000 Inoffizielle Mitarbeiter (IM). Die Akten, die im Verlauf der knapp<br />

40jährigen Existenz des MfS entstanden, dienten ihren Mitarbeitern als<br />

Arbeitsgrundlage und dokumentieren heute u. a. die Mittel und Methoden<br />

der Repression des Ministeriums für Staatssicherheit.<br />

Die Revolution 1989/90 in der DDR und die Bedeutung der<br />

Sicherung der Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit<br />

Im Verlauf der Revolution gehörte die Öffnung und die Auflösung des<br />

Ministeriums für Staatssicherheit sowie die Herausgabe der Akten dieses<br />

Ministeriums zu den zentralen Forderungen der Demonstranten und<br />

Bürgerkomitees, da die friedlich demonstrierenden Menschen die Funktion<br />

der Staatssicherheit als ein repressives Herrschaftsinstrument der SED<br />

kannten. Ab dem 4. Dezember 1989 wurden in „allen Bezirksstädten die<br />

Bezirksverwaltungen der Stasi von Bürgerkomitees besetzt“. 7 Auch die<br />

Unterlagen der Kreisdienststellen fielen damit in die Hände engagierter<br />

Bürgerinnen und Bürger. Dies geschah vor allem deshalb, weil die Bürgerinnen<br />

und Bürger der DDR seit dem Mauerfall am 9. November 1989<br />

sahen oder zumindest ahnten, dass die hauptamtlichen Mitarbeiter der<br />

6 Jens Gieseke: Der Mielke-Konzern (wie Anm.3), S. 137.<br />

7 David Gill: Von den Bürgerkomitees zur Gauckbehörde, in: Siegfried Suckut / Jürgen<br />

Weber (Hrsg.): Stasi-Akten zwischen Politik und Zeitgeschichte. Eine Zwischenbilanz.<br />

München 2003, S. 69.<br />

Universitätsreden 73 203


Gerhard Neumeier<br />

Staatssicherheit zur Vertuschung ihres Handelns begonnen hatten, in<br />

großem Stil Akten zu vernichten. Heute schätzt man, dass etwa ein Viertel<br />

des Gesamtmaterials des Ministeriums für Staatssicherheit vom MfS selbst<br />

vernichtet wurde. 8 Dies betraf vor allem die Unterlagen der Hauptverwaltung<br />

Aufklärung (HVA), also des Auslandsspionagedienstes der DDR.<br />

Die Vernichtung dieser Akten vollzog sich mit Billigung des Runden<br />

Tisches und der Bürgerkomitees vor allem im Frühjahr 1990, da die Angehörigen<br />

der demokratischen Opposition vor allem an Unterlagen, die die<br />

Überwachung der DDR-Bevölkerung dokumentierten, interessiert waren<br />

und sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen konnten, dass sich auch<br />

die Hauptverwaltung Aufklärung in vielfältiger Weise an den Aktivitäten<br />

der Staatssicherheit im Inland beteiligt hatte. Ansonsten betrafen die<br />

Aktenvernichtungen vor allem Akten aus den jeweiligen Dienstzimmern<br />

der hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit. Um diese Vernichtungen<br />

zu stoppen, wurden während der Auflösungsphase unter der Aufsicht<br />

der Bürgerkomitees aus den Diensträumen der ehemaligen MfS-Mitarbeiter<br />

die Unterlagen der Diensteinheiten geholt. 9 Anders ausgedrückt:<br />

„Emanzipierte Bürger verschafften sich Zugang zu einem noch arbeitenden<br />

Geheimdienst und übernehmen die Kontrolle seiner Tätigkeit“. 10 Die<br />

Bürgerkomitees bewachten daraufhin die Akten, um sie später zu nutzen.<br />

8 Jens Gieseke: Der Mielke-Konzern (wie Anm. 3), S. 18.<br />

9 Birgit Salamon: Das Archiv der Bundesbeauftragten (BStU) für die Stasiunterlagen –<br />

Die archivfachliche Arbeit an den MfS-Geheimdienstunterlagen – Fragen und Herausforderungen,<br />

Homepage der BstU.<br />

10 David Gill: Von den Bürgerkomitees (wie Anm.7), S. 69.<br />

204 Universitätsreden 73<br />

Bew ertung bei der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes<br />

Die Vorgeschichte des Stasi-Unterlagen-Gesetzes (StUG) und<br />

dessen Stellung als Grundlage für die Arbeit der<br />

Bundesbeauftragten für die Unterlagen des<br />

Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU)<br />

Das Stasi-Unterlagen-Gesetz (StUG) vom 20. Dezember 1991 regelt in § 1<br />

die „Erfassung, Erschließung, Verwaltung und Verwendung der Unterlagen<br />

des Ministeriums für Staatssicherheit und seiner Vorläufer- und<br />

Nachfolgeorganisationen (Staatssicherheitsdienst) der ehemaligen Deutschen<br />

Demokratischen Republik…“. Es soll „dem einzelnen Zugang zu<br />

den vom Staatssicherheitsdienst zu seiner Person gespeicherten Informationen<br />

… ermöglichen, damit er die Einflussnahme des Staatssicherheitsdienstes<br />

auf sein persönliches Schicksal aufklären kann.“ Neben dieser<br />

„persönlich-biografischen Dimension“ 11 soll die historische, politische<br />

und juristische Aufarbeitung der Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes gewährleistet<br />

und gefördert werden. Das StUG bildet die Grundlage für die<br />

Arbeit der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes<br />

der ehemaligen DDR.<br />

Wie kam es zum StUG? Wer war wann an dessen Formulierung beteiligt?<br />

Welche Ziele und Aufgaben beinhaltet das Gesetz? Angesichts der Aktenvernichtungsaktionen<br />

innerhalb des Ministeriums für Staatsicherheit und<br />

seiner Nachfolgeorganisation, dem „Amt für Nationale Sicherheit“, stellte<br />

sich bereits auf der ersten Sitzung des „Runden Tisches“ am 7. Dezember<br />

1989 die Frage nach der Zukunft der Akten, der materiellen Hinterlassenschaft<br />

des MfS. Ulrike Poppe von der Bürgerbewegung „Demokratie Jetzt!“<br />

forderte: „1. Die sofortige Auflösung des Amtes für Nationale Sicherheit,<br />

gegen die Absicht der Modrow-Regierung, die Arbeit des MfS im verkleinerten<br />

Maßstab fortzusetzen …, 2. die Sicherung der Archive der Staatssicherheit,<br />

gegen die im Gang befindlichen Aktenvernichtungen; 3. die<br />

Möglichkeit der Umschulung der ehemaligen Mitarbeiter der Staatssicherheit<br />

für eine gesellschaftlich nützliche Tätigkeit, gegen die in der revolu-<br />

11 Siebenter Tätigkeitsbericht der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes<br />

der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik. Berlin 2005, S. 10.<br />

Universitätsreden 73 205


Gerhard Neumeier<br />

tionären Situation drohende Gefahr der öffentlichen Ächtung und Verfolgung<br />

bis zur Lynchjustiz.“ 12 Hinsichtlich der MfS-Akten wurde folgender<br />

Beschluss gefasst: „Die Regierung der DDR wird aufgefordert, einen<br />

sofortigen Maßnahmeplan öffentlich bekanntzugeben, wie durch Sicherungskräfte<br />

des Ministeriums des Innern alle Dienststellen des Amtes für<br />

Nationale Sicherheit auf allen Ebenen unter Kontrolle gestellt werden,<br />

damit keine Vernichtung von Dokumenten beziehungsweise von Beweismaterial<br />

erfolgen kann und Mißbrauch ausgeschlossen wird.“ 13 Die Regierung<br />

Modrow fand sich schließlich nach heftigen Konflikten bereit, der<br />

Forderung des Runden Tisches nach Auflösung des Amtes für Nationale<br />

Sicherheit nachzukommen. Nach der Volkskammerwahl vom 18. März<br />

1990 und der Bildung der Regierung von Lothar de Maizière war Innenminister<br />

Peter-Michael Diestel für die Umsetzung des Auflösungsbeschlusses<br />

verantwortlich. Zwischenzeitlich wurden durch den Ministerratsbeschluss<br />

vom 16. Mai 1990 der staatlichen Archivverwaltung die Sicherung<br />

und Auswertung der MfS-Unterlagen übertragen. 14 Am 21. Juni 1990<br />

konstituierte sich der Sonderausschuss zur Kontrolle der Auflösung des<br />

MfS/AfNS, der Joachim Gauck zu seinem Vorsitzenden wählte. Der<br />

Sonderausschuss bestand aus elf Abgeordneten der Volkskammer und 16<br />

Vertretern der Bürgerkomitees. Dieser Ausschuss „spielte eine entscheidende<br />

Rolle bei der Formulierung des Stasi-Akten-Gesetzes des DDR-<br />

Parlaments“. 15 In Anlehnung an westdeutsches Datenschutzrecht wurde<br />

allen betroffenen Bürgern und Bürgerinnen ein Auskunftsrecht zugestanden.<br />

Im vom gesamtdeutschen Bundestag später mit großer Mehrheit verabschiedeten<br />

StUG wurde dann das allgemeine Auskunftsrecht zu einem<br />

allgemeinen Einsichtsrecht erweitert. Das StUG beinhaltet seither außerdem<br />

die Überprüfung von Personen auf eine MfS-Tätigkeit. Von dieser<br />

Regelung, die am 31.12.2006 teilweise auslief, waren alle Beschäftigten im<br />

12 Wolfgang Ullmann: Das Stasi-Unterlagen-Gesetz. Eine Demokratieinitiative der Friedlichen<br />

Revolution, in: Siegfried Suckut / Jürgen Weber (Hrsg.): Stasi-Akten (wie<br />

Anm. 7), S. 47.<br />

13 Wolfgang Ullmann, Das Stasi-Unterlagen-Gesetz (wie Anm.12), S. 47.<br />

14 Roger Engelmann: Der Weg zum Stasi-Unterlagen-Gesetz, in: Siegfried Suckut / Jürgen<br />

Weber (Hrsg.), Stasi-Akten (wie Anm. 7), S. 82.<br />

15 Ebd. S. 84.<br />

206 Universitätsreden 73<br />

Bew ertung bei der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes<br />

öffentlichen Dienst und in den Kirchen betroffen. Die Wahrnehmung dieser<br />

Aufgaben wurde einer speziell zu diesem Zweck geschaffenen<br />

Bundesoberbehörde übertragen – dem „Bundesbeauftragten für die<br />

Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen<br />

Republik“ (BStU).<br />

Aufgaben und Ziele der BStU<br />

Die BStU hat ihren Ursprung in der friedlichen Revolution von 1989/90<br />

und ist die einzige Verwaltung in der Bundesrepublik Deutschland, die<br />

ihre Existenz einer Bürgerbewegung verdankt. Die am 3. Oktober 1990<br />

gegründete Behörde gewährt jedem einzelnen Bürger ein Akteneinsichtsrecht;<br />

sie stellt auf private Antragstellung wie auf Ersuchen von Stellen<br />

Unterlagen für die Rehabilitierung im strafrechtlichen und beruflichen<br />

Bereich, für Zwecke der Regelung offener Vermögensfragen und für die<br />

Suche nach Vermissten und Verstorbenen bereit. 16 Um es nochmals zu<br />

wiederholen: Jeder einzelne Bürger der Bundesrepublik Deutschland hat<br />

ein Recht, Einsicht in die von der BStU aufbewahrten Akten des ehemaligen<br />

Ministeriums für Staatssicherheit zu seiner Person zu nehmen. Dies<br />

gilt für Betroffene wie in eingeschränktem Ausmaß auch für ehemalige<br />

Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes und für Begünstigte. Auch für die<br />

Erforschung der Tätigkeit des Ministeriums für Staatssicherheit stellt die<br />

BStU Archivalien für Wissenschaftler und Journalisten zur Verfügung. Zu<br />

diesem Zweck der Aufarbeitung der Geschichte des MfS unterhält die<br />

BStU eine eigene Abteilung Bildung und Forschung. Die größte Abteilung<br />

der BStU ist die Abteilung Auskunft, die im direkten Kontakt mit den<br />

Bürgerinnen und Bürger die Akteneinsicht und die Anfertigung von<br />

16 Wolfgang Brunner: Nutzung der Akten des Staatssicherheitsdienstes der DDR zur<br />

Rehabilitierung von Betroffenen, Vermissten und Verstorbenen, Diskussionsbeitrag<br />

der BStU zum 72. Deutschen Archivtag in Cottbus, vorgetragen am 19.9.2001 als Beitrag<br />

der Sektion IV (Archive und Wiedergutmachung), Homepage der BstU. Auch<br />

publiziert in: Archive und Herrschaft. Referate des 72. Deutschen Archivtags 2001 in<br />

Cottbus. (Der Archivar Beiband 7) Siegburg 2002, S. 252-261.<br />

Universitätsreden 73 207


Gerhard Neumeier Bew ertung bei der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes<br />

Kopien nach Maßgabe des Stasi-Unterlagen-Gesetzes gewährleistet. Zur<br />

Verwahrung, Erschließung und Bereitstellung der Akten des MfS unterhält<br />

die BStU ein Archiv in der Zentrale in Berlin und dreizehn Archive in den<br />

Außenstellen, welche insgesamt knapp 180 km Akten umfassen. Die Abteilung<br />

Verwaltung bildet die vierte Säule der BStU. Sowohl die Zentrale<br />

der BStU in Berlin als auch die 13 Außenstellen in den ehemaligen<br />

Bezirkshauptstädten der DDR – d. h. die Außenstellengliederung der BStU<br />

ist der territorialen Gliederung des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes<br />

angelehnt – sind nach diesem Prinzip gegliedert. Jede Außenstelle verfügt<br />

also über ein Sachgebiet Auskunft, über ein Sachgebiet Archiv, über das<br />

Sachgebiet Verwaltung; die Außenstelle Rostock hat auch ein Sachgebiet<br />

Bildung und Forschung. Die Stellung des Archivs resp. der Archive regelt<br />

indirekt der § 37 des Stasi-Unterlagen-Gesetzes, welcher vorschreibt, dass<br />

die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes erfasst werden und die Unterlagen<br />

nach archivischen Grundsätzen bewertet, geordnet, erschlossen, verwahrt<br />

und verwaltet werden. In den Archiven der BStU lagern die Unterlagen<br />

des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit und seiner Nachfolgeorganisation,<br />

des Amtes für Nationale Sicherheit.<br />

Die vom MfS übernommenen „Bestände“ enthalten erstens die Unterlagen<br />

des Archivs (Abteilung XII) des MfS und zweitens die Unterlagen der<br />

sog. Zentralen Materialablagen (ZMA), also des Informationsspeichers in<br />

den Auswertungs- und Informationsgruppen und operativen Diensteinheiten,<br />

d. h. den Unterlagen des Beauftragten des Leiters einer operativen<br />

Diensteinheit, welcher sich mit den inhaltlichen Problemen und Arbeitsprozessen<br />

der Auswertung und Information befasste. Die Zentralen<br />

Materialablagen enthalten also Informationen zu Personen, Objekten und<br />

Sachverhalten, vor allem jedoch Personendossiers. Die übernommenen<br />

Sachakten aus den einzelnen Diensteinheiten bilden den dritten Teil der<br />

vom MfS übernommenen Unterlagen. Während nahezu das komplette<br />

Archiv (Abteilung XII) des MfS in geordnetem Zustand und die Zentrale<br />

Materialablage in weitgehend geordnetem Zustand von der BStU übernommen<br />

werden konnten, waren die Sachakten der Diensteinheiten stark<br />

von den Vernichtungsaktionen 1989/90 durch die Mitarbeiter des MfS<br />

betroffen. Außerdem wurden die verbliebenen Unterlagen der Diensteinheiten<br />

vor der Übergabe an die Bürgerkomitees stark in Unordnung<br />

gebracht. Diesbezüglich herrschte also eine chaotische Überlieferungslage<br />

mit teilweise überdimensionierten und teilweise lückenhaften Teilbeständen,<br />

fehlenden Aktenplänen und kaum mehr nutzbaren Registraturordnungen<br />

des MfS. So konnten beispielsweise von den ca. 3.700 lfm. Unterlagen,<br />

die sich heute in der Außenstelle Suhl befinden, nur ca. 1.450 lfm.<br />

in geordnetem Zustand übernommen werden. Die Erschließung und<br />

Bereitstellung der nicht vom MfS archivierten Materialien bildet den<br />

Hauptschwerpunkt der Erschließungsarbeit in den Archiven. Nachdem<br />

die Unterlagen aus den Dienstzimmern des MfS und damit zumindest<br />

grob gegliedert nach Diensteinheiten in Säcken und anderen Behältnissen<br />

verpackt wurden, sichteten die Archivarinnen und Archivare der BStU die<br />

Unterlagen grob und verpackten sie, geordnet nach Diensteinheiten, in<br />

Archivkartons. Seither werden die Unterlagen, ausgehend von den Grobsichtungslisten,<br />

einschließlich der personenbezogenen Akten und Vorgängen<br />

in einer Datenbank verzeichnet.<br />

Bei den Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes handelt es sich um<br />

Materialien, deren Inhalt bis 1989/90 völlig unbekannt war. Erst durch die<br />

intensive Erschließung werden die Inhalte nach und nach bekannt, und so<br />

kam es zur berechtigten Strategie der BStU, Bewertungsentscheidungen im<br />

wesentlichen erst nach vollständiger Erschließung vorzunehmen. Die Bewertungsaufgaben<br />

sind wegen der Gültigkeit des STUG heute noch nicht<br />

abschließend zu beantworten, deshalb werden diese Fragen vorläufig durch<br />

die Verzeichnungsintensität gelöst. 17 Eine Arbeitsanordnung bzw. ein Bewertungskatalog<br />

aus dem Jahr 1997 legte die Kassation von Mehrfachüberlieferungen<br />

fest, außerdem sollen beispielsweise wertlose Materialen wie<br />

Vordrucke, Aktenbehältnisse, Briefumschläge und Verpackungsmaterial<br />

ohne auswertbare Beschriftungen oder Anträge zur Ausstellung von Personalausweisen,<br />

zu Hausausweisen oder Stempelbestellungen kassiert werden.<br />

Aufgrund der Erfahrungen, die im Laufe der Verzeichnung gemacht<br />

wurden, können also historisch nicht wertvolle Unterlagen bereits jetzt<br />

kassiert werden. Die im Juli 2003 erlassene interne Richtlinie zur Bewertung<br />

von Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes bildet bis heute die<br />

17 Birgit Salamon, Die Archive der Bundesbeauftragten (wie Anm.9).<br />

208 Universitätsreden 73 Universitätsreden 73 209


Gerhard Neumeier<br />

Grundlage des Umgangs mit den Archivalien. „Erst die vollständige und<br />

personenbezogene und sachliche Erschließung grundsätzlich aller vorhandenen<br />

Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes lässt eine verantwortungsbewusste<br />

Bewertung und ggf. Kassation zu.“ 18 Hierfür gibt es zudem eine<br />

juristische Begründung. „Die Festlegungen im STUG, dass Betroffene und<br />

Dritte, aber auch in gewissem Maße nahe Angehörige von Verstorbenen<br />

Rechte auf Akteneinsicht haben, lassen solange diese Festlegungen Bestandteil<br />

einer gesetzlichen Regelung im Hinblick auf die Unterlagen des<br />

Staatssicherheitsdienstes sind, Kassationen von personenbezogenen Unterlagen<br />

nicht zu.“ 19 Für die Erschließungsarbeiten von Archivarinnen und<br />

Archivaren der BStU findet die Bewertungsproblematik ihren Niederschlag<br />

in der Intensität und Tiefe der Verzeichnung jeder zu bildenden<br />

Akteneinheit. Intensiv verzeichnete Akteneinheiten lassen also Rückschlüsse<br />

auf hochwertige Inhalte der Akteneinheiten zu. Langfristig, d. h.<br />

nach Erlöschen des individuellen Wertes der vom Staatssicherheitsdienst<br />

selbst archivierten Unterlagen muss jedoch die Frage gestellt werden, ob<br />

diese Unterlagen komplett aufbewahrt werden sollen „oder ob eine quantifizierte<br />

und qualifizierte Auswahl für die historische Nutzung vorgenommen<br />

wird“. 20 Nach vollständiger Verzeichnung und einem Abgleich<br />

der überlieferten und verzeichneten Unterlagen sollten also Bewertungsmodelle<br />

in Form von Positivlisten erarbeitet werden. Oder anders ausgedrückt:<br />

„Die langfristig mögliche und notwendig grundsätzliche Bewertung<br />

von Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes erfordern …auch langfristige<br />

Überlegungen und Vorschläge, die auch Bewertungstheorien anderer<br />

Archivbereiche und wissenschaftlicher Forschungs- und Bildungseinrichtungen<br />

in die Analyse einbezieht und letztlich Modellvorschläge der<br />

Bewertung im Verantwortungsbereich der BStU vorlegt.“ 21<br />

18 Interne Bewertungsrichtlinie der BStU vom Juli 2003.<br />

19 Ebd.<br />

20 Ebd.<br />

21 Ebd.<br />

210 Universitätsreden 73<br />

Bew ertung bei der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes<br />

Mögliche Dokumentationsziele als Hilfsmittel zur Bewertung<br />

am Beispiel der Unterlagen der Abteilung VII der Außenstelle<br />

Suhl<br />

Der wichtigste Partner des Ministeriums für Staatssicherheit war die Deutsche<br />

Volkspolizei (DVP). Die Aufgaben der Hauptabteilung VII des<br />

Ministeriums für Staatssicherheit und damit auch der Abteilung VII der<br />

Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Suhl bestand in der „abwehrmäßige(n)<br />

Sicherung und Abschirmung des Ministeriums des Innern (MdI)<br />

und dessen nachgeordneter Organe und Dienstzweige – insbesondere der<br />

Deutschen Volkspolizei (DVP), der Volkspolizei- (VP) Bereitschaften, des<br />

Stabes der Zivilverteidigung und der Kampfgruppen der Arbeiterklasse –<br />

sowie der „zivilen“ Einrichtungen (wie Schulen des MdI, Staatliche<br />

Archivverwaltung)“. 22 Dies bedeutete einerseits die Kontrolle und Überwachung<br />

der Deutschen Volkspolizei und andererseits das sog. „Politischoperative<br />

Zusammenwirken“ mit der Deutschen Volkspolizei. In der<br />

Deutschen Volkspolizei war der Durchdringungs- und Verflechtungsgrad<br />

mit IM-Anteilen von zehn bis zwanzig Prozent unter dem Personal sehr<br />

hoch. 23 Die Durchdringung der Deutschen Volkspolizei gehörte zu den<br />

permanenten Schwerpunkten der Aktivitäten des Ministeriums für<br />

Staatssicherheit. Außerdem gehörte das Zusammenwirken der<br />

Hauptabteilung VII mit dem Arbeitsgebiet I der K (Kriminalpolizei), die<br />

abwehrmäßige Sicherung der Organe der Verwaltung Strafvollzug des MdI<br />

sowie die „operative Arbeit“ (Anwerbung) unter Strafgefangenen und<br />

Haftentlassenen sowie die abwehrmäßige Sicherung des Zentralen<br />

Aufnahmeheimes (ZAH) Röntgental und die Abwehrarbeit unter<br />

Rückkehrern und zuziehenden Ausländern zu den Aufgaben der<br />

Hauptabteilung VII. 24 Speziell für den Bezirk Suhl beinhaltete die<br />

22 Klaus-Dietmar Henke / Siegfried Suckut / Clemens Vollnhals / Walter Süß / Roger<br />

Engelmann (Hrsg.): Anatomie der Staatssicherheit. Geschichte – Struktur – Methoden.<br />

MfS-Handbuch. Die Organisationsstruktur des Ministeriums für Staatssicherheit 1989.<br />

Berlin 1995, S. 252.<br />

23 Jens Gieseke: Der Mielke-Konzern (wie Anm. 3), S. 141.<br />

24 Klaus-Dietmar Henke / Siegfried Suckut / Clemens Vollnhals / Walter Süß / Roger<br />

Engelmann (Hrsg.): Anatomie der Staatssicherheit (wie Anm. 22), S. 252.<br />

Universitätsreden 73 211


Gerhard Neumeier Bew ertung bei der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes<br />

„Sicherung“ der Organe der Verwaltung Strafvollzug die „Sicherung“ der<br />

Strafvollzugseinrichtung Untermaßfeld. Die Tätigkeiten der<br />

Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Suhl Abteilung VII schlagen sich in<br />

dem von der BStU übernommen Bestand nieder, der knapp 70 lfm. umfasst.<br />

Bei der bisherigen Verzeichnung dieses Bestandes kristallisierten sich<br />

einige inhaltliche Schwerpunkte heraus. Der Bestand besteht zunächst aus<br />

den Unterlagen zu dem Personal der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit<br />

Suhl Abteilung VII. Hierzu gehören die Personalakten der hauptamtlichen<br />

Mitarbeiter und der Inoffiziellen Mitarbeiter, Unterlagen zu Kontaktpersonen<br />

und zu Anwerbungsvorgängen sowie die Arbeits- und Aufzeichnungsbücher<br />

von MfS-Angehörigen. Ein zweiter Schwerpunkt besteht<br />

aus den Akten zu Angehörigen der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei<br />

(BdVP) Suhl, zu den Angehörigen der Volkspolizeikreisämter, zu<br />

den Angehörigen der Kriminalpolizei und zu den Angehörigen der<br />

13. Volkspolizeibereitschaft Meiningen. In den Akten zu sog. „Sicherheitsüberprüfungen“<br />

sind beispielsweise Personalakten der Angehörigen der<br />

Deutschen Volkspolizei und Ermittlungsberichte der Volkspolizeikreisämter<br />

über Familienmitglieder – manchmal Freunde und Nachbarn – der<br />

Angehörigen der Deutschen Volkspolizei enthalten. Hieraus sind Angaben<br />

zum Geburtstag und zum Geburtsort, zur sozialen Herkunft, zur Schulbildung,<br />

zur Ausbildung und zu den Arbeitsstellen sowie zu Mitgliedschaften<br />

in Parteien und Massenorganisationen resp. zu politischen Einstellungen<br />

zu entnehmen. Aus den ebenfalls überlieferten Beurteilungen<br />

des Arbeitgebers Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei (BdVP) lassen<br />

sich Schlüsse über den Arbeitsalltag der Angehörigen der Deutschen<br />

Volkspolizei ziehen. Über die 13. Volkspolizeibereitschaft Meiningen gibt<br />

es z. B. Abschlusseinschätzungen von Gesellschaftlichen Mitarbeitern (einer<br />

besonderen Form von Inoffiziellen Mitarbeitern), Monatsberichte, Karteikarten<br />

mit Kurzbiographien von Wehrpflichtigen, Operative Personenkontrollen<br />

und Unterlagen zu Volkspolizeiangehörigen der Kfz-Stützpunkte<br />

in Meiningen und Sonneberg. Umfangreiche Informationen zur<br />

Strafvollzugseinrichtung Untermaßfeld – zu Beschäftigten und zu Strafgefangenen<br />

oder Informationsberichte über Amnestien – vervollständigen<br />

die Akten zur Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei (BdVP) Suhl.<br />

Weitere Schwerpunkte der Überlieferung der Abteilung VII bestehen zur<br />

Zollverwaltung, zum Deutschen Roten Kreuz, zur Zivilverteidigung, zu<br />

Zivilbeschäftigten, zu Waffen, zu Ausbildung und Studium, zur Grenze,<br />

zu Kontakten zwischen Bürgern der DDR und Bürgern der BRD sowie zu<br />

Übersiedlern in die BRD und zu Rückkehrern in die DDR. Schließlich bildet<br />

das allgemeine Schriftgut der Abteilung VII wie die Schreiben an den<br />

Leiter der Abteilung, die Korrespondenz zwischen den Mitarbeitern oder<br />

die Arbeitsbücher der Mitarbeiter und des Leiters der Abteilung einen<br />

wichtigen Teil der Akten. Darüber hinaus enthalten die Unterlagen der<br />

Abteilung VII der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Suhl inhaltlich<br />

sehr disparates Material. Beispielsweise seien stichpunktartig Unterlagen<br />

zur Nationalen Volksarmee, Parteiinformationen, Fragebögen für Ausländer<br />

und Staatenlose, TH Ilmenau, Erdgastrasse Sowjetunion, Amnesty<br />

International, Monatsberichte der Kreisdienststellen, Junge Gemeinde<br />

Zella-Mehlis, Rechnungen und Quittungen, Eingaben von Bürgern an den<br />

Staatsrat der DDR oder Karteikarten des Arbeitsamtes Meiningen genannt.<br />

Im Bestand der Abteilung VII der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit<br />

liegen also vorwiegend Akten zur Polizei-, Alltags- und Sozialgeschichte.<br />

Jüngste Forschungen zur Deutschen Volkspolizei haben gezeigt, welche<br />

Ergebnisse möglich sind, mit welchen Akten bisher in erster Linie gearbeitet<br />

wurde und welche Akten wünschenswert sind. 25 Im Rahmen der<br />

Sozialgeschichte könnte Polizeigeschichte durch die Untersuchung von<br />

„Herrschaft als soziale Praxis“, also der Analyse des Interaktionsverhältnisses<br />

zwischen Herrschenden und Beherrschten, wertvolle Erkenntnisse<br />

liefern. 26 Es gibt jedoch noch weitere Forschungsfelder, die anhand der<br />

Akten der Abteilung VII bearbeitet werden könnten und die nicht unmittelbar<br />

mit der Herrschaftspraxis zusammenhängen. So sind beispielsweise<br />

Forschungen zu demographischen Fragestellungen genauso möglich wie<br />

zur Migrationsgeschichte, auch die Lebenslaufforschung könnte auf reichhaltiges<br />

Material zurückgreifen. Bei der etwaigen Formulierung von<br />

25 Thomas Lindenberger: Volkspolizei. Herrschaftspraxis und öffentliche Ordnung im<br />

SED-Staat 1952–1968. Köln 2003.<br />

26 Ralph Jessen: Polizei und Gesellschaft. Zum Paradigmenwechsel in der Polizeigeschichtsforschung,<br />

in: Gerhard Paul / Klaus Michael Mallmann (Hrsg.): Die Gestapo.<br />

Mythos und Realität. Darmstadt 1995, S. 21.<br />

212 Universitätsreden 73 Universitätsreden 73 213


Gerhard Neumeier<br />

Dokumentationszielen sollten sich also Archivare und Wissenschaftler aus<br />

vielen Disziplinen immer wieder austauschen und zusammenarbeiten.<br />

Dokumentationsziele gehen nicht von der Frage der dauernden Aufbewahrungswürdigkeit<br />

von Akten aus, sondern fragen umgekehrt, welche<br />

Akteninhalte sollen zur Klärung bestimmter Forschungsinteressen aufbewahrt<br />

werden. Die Formulierung von Dokumentationszielen hängt also<br />

von der Frage ab, welche Inhalte aufbewahrt werden sollten und gleicht<br />

diese dann mit den vorhandenen Inhalten der Akten ab. Notwendig hierfür<br />

ist eine Definition von positiven Zielen der Überlieferungsbildung. Bei<br />

der Erarbeitung positiver Ziele der Überlieferungsbildung ist jedoch deren<br />

Zeitabhängigkeit zu beachten. So könnten sich die Dokumentationsziele<br />

für die Akten des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes der DDR im Verlauf<br />

der Zeit mehrmals ändern, was zu Nachbewertungen führen würde.<br />

Die Sammlungsstrategien erfolgen somit aus den Dokumentationszielen.<br />

Zukünftige Sammlungsstrategien sind dagegen für die Unterlagen des ehemaligen<br />

Staatssicherheitsdienstes irrelevant, denn neue Akten werden den<br />

Archiven der BStU nicht mehr zugeführt. Die immer zu berücksichtigende<br />

Rechtssicherheit erfordert es, personenbezogene Akten mindestens solange<br />

vollständig aufzubewahren, solange die betroffenen Personen leben und<br />

Anträge auf Akteneinsichtsrecht stellen könnten, eventuell ist auch die<br />

Lebenszeit der Nachkommen zu berücksichtigen. Eine diesbezügliche Bewertungsentscheidung<br />

kann also erst von nachfolgenden Generationen<br />

getroffen werden.<br />

Die Frage nach dem Informationswert von Unterlagen in 50 oder 500<br />

Jahren muss bei jeder Bewertung gestellt werden.<br />

Bis jetzt bleiben der Forschung nach dem STUG die Akten für andere<br />

Zwecke als die der Aufarbeitung der Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes<br />

verschlossen, die Zweckbeschränkung wurde jedoch in einer Gesetzesnovellierung<br />

hinsichtlich der NS-Forschung gemildert. 27 Längst ist jedoch<br />

klar – wie oben bereits dargestellt –, dass sich die Unterlagen der BStU<br />

auch zur Erforschung vieler anderer Themen der DDR-Geschichte eignen.<br />

27 Jochen Hecht: Die Stasi-Unterlagen als Quelle zur DDR-Geschichte, in: Siegfried<br />

Suckut/Jürgen Weber (Hrsg.): Stasi-Akten (wie Am. 7), S. 213.<br />

28 Ebd. S. 214.<br />

214 Universitätsreden 73<br />

Bew ertung bei der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes<br />

„Dazu müsste der Vorbehalt des § 32 (STUG) entfallen.“ 28 Dieser Wegfall<br />

wäre eine Voraussetzung für eine qualitative und quantitative Bewertung,<br />

denn wenn „nur“ die Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes, die Mittel und<br />

Methoden der Überwachung der Bevölkerung, dokumentiert werden sollten,<br />

würden wir nur einen Bruchteil der Unterlagen aufbewahren müssen.<br />

Schlussfolgerungen für die Bewertung und Vorschläge zur<br />

Verfahrensweise bei der Bewertung<br />

Die Bewertungsüberlegungen sollten sich keinesfalls unter Zeitdruck vollziehen<br />

und Bewertungsentscheidungen erst dann getroffen werden, wenn<br />

biologisch keine Akteneinsichten zur eigenen Person mehr möglich sind.<br />

Interne und externe Diskussionen könnten dann hilfreich sein. „Dabei ist<br />

eine gesellschaftliche Diskussion darüber zu führen, ob langfristig für die<br />

historische Forschung alle Unterlagen des MfS aufbewahrt werden müssen<br />

oder ob eine Auswahl, über deren Kriterien dann zu entscheiden wäre, vorgenommen<br />

wird. Dies würde sowohl die personenbezogenen Unterlagen<br />

als auch die sogenannten Sachakten betreffen.“ 29 Zu beachten wäre allerdings<br />

immer die Einmaligkeit der Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes<br />

der DDR. Die Entscheidung darüber, welche Unterlagen langfristig aufbewahrt<br />

werden sollten, sollte vom aktuellen Forschungsstand der Geschichtswissenschaft<br />

und anderer Disziplinen wie der Soziologie, der Rechtswissenschaft,<br />

der Psychologie, der Medizin oder der Volks- und Betriebswirtschaftslehre<br />

ausgehen. Wissenschaftler dieser Disziplinen sollten also unbedingt<br />

in die Bewertungsentscheidungen einbezogen werden. Auch die<br />

Antizipation, welche zukünftigen Themen der Forschung mit den Unterlagen<br />

des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes bearbeitet werden könnten<br />

– so schwierig dies auch ist –, bedarf der Kooperation mit Historikern,<br />

Soziologen oder anderen Wissenschaftlern. Dies kann jedoch wiederum<br />

nur auf der gründlichen Kenntnis der Inhalte der Akten geschehen. Die<br />

Fokussierung auf inhaltliche Aspekte der Bewertung ist dabei unumgänglich,<br />

formale Kriterien können dagegen in den Hintergrund treten.<br />

29 Interne Bewertungsrichtlinie der BStU vom Juli 2003.<br />

Universitätsreden 73 215


Gerhard Neumeier Bew ertung bei der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes<br />

Unabdingbar ist ein Abgleich der Inhalte der einzelnen Abteilungen in<br />

den Außenstellen der BStU, denn jedes Archiv verwahrt beispielsweise<br />

Unterlagen der Abteilung VII (Schutz der Polizei). Für die zukünftige Forschung<br />

ist zu fragen, ob die Unterlagen aller 13 Abteilungen VII aufbewahrt<br />

werden müssen, oder ob nicht die Unterlagen einiger Abteilungen<br />

ausreichend sind. Auswahlkriterien könnten dabei die geographische Lage<br />

(Grenzbezirk – Nichtgrenzbezirk), die ökonomische Struktur (landwirtschaftliche<br />

Prägung – Industrieorientierung oder Vorherrschen von Großbetrieben<br />

– Vorherrschen von Klein- und Mittelbetrieben) oder die soziale<br />

Zusammensetzung der Bevölkerung (hoher Anteil an Staats- und Parteibediensteten<br />

– geringer Anteil an Staats- und Parteibediensteten) sein. Bei<br />

der Bewertung sollte auf jeden Fall berücksichtigt werden, dass die zentralen<br />

inhaltlichen Schwerpunkte der Überlieferung – wie beispielsweise die<br />

Personalunterlagen der Angehörigen der Deutschen Volkspolizei und die<br />

meistens dazugehörenden Ermittlungsberichte über deren Familienangehörige<br />

– aufbewahrt werden. Ein weiterer Aspekt der Bewertung ist der<br />

Abgleich mit den Unterlagen anderer Archivträger. So könnte der Abgleich<br />

der vorhandenen Personalunterlagen von Angehörigen der Deutschen<br />

Volkspolizei zwischen Staatsarchiven und den Außenstellen der BStU dazu<br />

führen, Doppelüberlieferungen zu vermeiden. Auch der Abgleich der<br />

Unterlagen der BStU mit den Akten der ehemaligen Betriebsarchive, die<br />

sich jetzt in den Staatsarchiven befinden, könnte zur Entstehung eines<br />

Wissenspools über Volkseigene Betriebe und andere Bereiche der Volkswirtschaft<br />

führen.<br />

Überlieferung zu Universitäten<br />

Dies gilt auch für die Unterlagen über Universitäten. Es gab keine eigene<br />

Diensteinheit des Ministeriums für Staatssicherheit, die für Universitäten<br />

zuständig war; die Universitäten wurden von mehreren Diensteinheiten<br />

des MfS bearbeitet, zumeist von den Abteilungen XX (Sicherung Staatsapparat,<br />

Kirchen, Kultur, „politischer Untergrund“). Der Vergleich der<br />

Unterlagen der BStU-Archive, die über Archivalien zu Universitäten verfügen,<br />

beispielsweise die Abteilungen XX (Sicherung Staatsapparat,<br />

Kirchen, Kultur, „politischer Untergrund“), die Abteilungen VII (Polizei),<br />

die Abteilungen VIII (Observation), die Abteilungen XV (Aufklärung) oder<br />

die Abteilungen XIV (Untersuchungshaftanstalten), mit den sich in den<br />

Universitätsarchiven befindlichen Unterlagen könnte darüber hinaus zur<br />

Vermeidung von Redundanzen führen. Allerdings wäre in jedem Fall darauf<br />

zu achten, dass die spezifischen Perspektiven der Staatssicherheit und<br />

der Universitäten resp. des zuständigen Ministeriums erhalten bleiben. So<br />

legte beispielsweise die Abteilung VII der Bezirksverwaltung Suhl zu den<br />

ausländischen Studenten der Technischen Hochschule Ilmenau individuelle<br />

Personendossiers an, Unterlagen, die in den Universitätsarchiven – so<br />

vorhanden – nicht zu erwarten sind. Auch Akten zur Kontrolle ausländischer<br />

Studenten, beispielsweise zu nationalen Hochschulgruppen, zu Reisetätigkeiten<br />

dieser Studenten oder zur Reise einer Studentenbaubrigade der<br />

TH Ilmenau an die Partnerhochschule Zielena Góra in Polen, dürften in<br />

dem für die Universitäten resp. Technischen Hochschulen zuständigen<br />

Ministerium – höchstwahrscheinlich – nicht vorhanden sein. Dies gilt auf<br />

alle Fälle für diejenigen Unterlagen der BStU, in denen Berichte von<br />

Inoffiziellen Mitarbeitern des MfS zu Universitätsangehörigen enthalten<br />

sind, denn diese Berichte dokumentieren das Ausmaß der Informationen,<br />

die das MfS über Professoren, Dozenten, Assistenten und andere Mitarbeiter<br />

der Universitäten an der DDR hatte, und gleichzeitig bildeten die<br />

Berichte der Inoffiziellen Mitarbeiter eine der Grundlagen für die Einflussmöglichkeiten<br />

des MfS auf das Universitätsleben. Auch die Unterlagen der<br />

„Offiziere im besonderen Einsatz“ (OibE), die hauptamtliche Mitarbeiter<br />

des MfS waren, die auf den Gebieten der Abwehr und der Aufklärung<br />

unter Legendierung der Dienstverhältnisse in sicherheitspolitisch relevanten<br />

Positionen im Staatsapparat, in der Volkswirtschaft oder an Universitäten<br />

eingesetzt wurden, sollten sicherlich ohne Abgleich mit anderen<br />

Archiven aufbewahrt werden, da in diesen Archivalien interessante Inhalte<br />

zur Rüstungsforschung resp. allgemein zu sicherheitsrelevanten Bereichen<br />

an der TH Ilmenau zu finden sind. Um zwei weitere Beispiele anzuführen:<br />

Der Einfluss des MfS auf die Mikroelektronik und die Raumfahrt könnte<br />

detailliert nachvollzogen werden. Auch die von der Abteilung XX der<br />

Bezirksverwaltung Suhl an der TH Ilmenau vorgenommenen sog. „Personenüberprüfungen“<br />

bieten reichhaltiges Material sowohl zu Biogra-<br />

216 Universitätsreden 73 Universitätsreden 73 217


Gerhard Neumeier<br />

phien, zu aktuellen Forschungsfeldern – und deren Relevanz für die Entwicklung<br />

der Volkswirtschaft und der Rüstung der DDR – und zur Lehre<br />

von Professoren, Assistenten, Doktoranden und anderen Mitarbeitern sowie,<br />

in Kurzform, zu Verwandten der Universitätsangehörigen. Sollte ein<br />

Dokumentationsziel zur TH Ilmenau die Darstellung von Forschung und<br />

Lehre sein, sollten diese Unterlagen in jedem Fall aufbewahrt werden.<br />

Andererseits legte das MfS zur TH Ilmenau auch Unterlagen an, die die<br />

Kontakte der TH Ilmenau zum Fraunhofer-Institut für Physikalische<br />

Messtechnik Freiburg dokumentieren. Zwar sind in der Akte „nur“ ein<br />

Profil der Fraunhofer-Gesellschaft und Informationen zum Fraunhofer-<br />

Institut für Informations- und Datenverarbeitung enthalten, trotzdem wirft<br />

die Existenz dieser Archivalien beim Ministerium für Staatssicherheit die<br />

Frage auf, inwieweit Akten, die die Beziehungen der TH Ilmenau zu Forschungsgesellschaften<br />

und zu Universitäten in die Bundesrepublik oder<br />

auch zu anderen, „nichtsozialistischen“ und zu sozialistischen Staaten,<br />

zum Inhalt haben, aufbewahrt werden sollten oder nicht – und wenn ja,<br />

von wem. Auf jeden Fall könnte Art und Umfang der Einbindung der TH<br />

Ilmenau in die internationale ‚scientific community‘ analysiert werden.<br />

Vor allem in den 1950er Jahren, in geringerem Ausmaß auch später, flohen<br />

Wissenschaftler aus der DDR in die BRD, auch diese Art der<br />

‚Wissenschaftsbeziehungen‘ verdienen Aufmerksamkeit, gerade aus der<br />

Perspektive des Ministeriums für Staatssicherheitsdienst. Einen sinnvollen<br />

Ausgangspunkt für die Formulierung von Dokumentationszielen hinsichtlich<br />

der Beziehungen zwischen dem MfS und den Universitäten in<br />

30 Eine Auswahl der Forschungen sei hier angeführt: German Studies Review, Special<br />

Issue: Totalitäre Herrschaft – totalitäres Erbe, 1994 Editor Wolfgang-Uwe Friedrich mit<br />

folgenden Beiträgen von Ilko-Sascha Kowalczuk: Anfänge und Grundlinien der<br />

Universitätspolitik der SED, S. 113-130. Hanna Labrenz-Weiss: Die Beziehungen zwischen<br />

Staatssicherheit, SED und den akademischen Leitungsgremien an der Humboldt-<br />

Universität zu Berlin, S. 131-146. Rainer Eckert: Die Diskussion um die Staatssicherheitsverstrickungen<br />

an der Berliner Humboldt-Universität zwischen 1989 und 1993, S.<br />

147-156. Außerdem Rainer Eckert / Hanna Labrenz-Weiss: Staatssicherheit an der<br />

Berliner Humboldt-Universität: Totalitäre Verstrickung und zögernde<br />

Auseinandersetzung, in: Wolfgang-Uwe Friedrich (Hrsg.): Die totalitäre Herrschaft der<br />

SED. Wirklichkeit und Nachwirkungen. München 1998, S. 67-80; Karl Wockenfuß:<br />

Die Universität Rostock im Visier der Stasi. Einblicke in Akten und Schicksale.<br />

218 Universitätsreden 73<br />

Bew ertung bei der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes<br />

der DDR bildet die bisherige Forschung zu diesem Themenkomplex. 30 Im<br />

wesentlichen sind zehn Grundformen der Zusammenarbeit der<br />

Universitäten mit dem Geheimdienst der DDR festzustellen: „1. Arbeit für<br />

die Auslandsspionage, 2. Unterdrückung von Dissidenz oder Opposition<br />

vor allem in der Studentenschaft, 3. Die Abschirmung der DDR-Forschung<br />

gegenüber ausländischen Geheimdiensten, 4. Die Gewinnung von<br />

Informationen über die Situation der Universitäten für die Berichterstattung<br />

des MfS an die SED-Führung, 5. Die Vergabe von Forschungsaufträgen<br />

durch das MfS, 6. Gutachten von Wissenschaftlern für den Staatssicherheitsdienst<br />

(wie auch für die Generalstaatsanwaltschaft der DDR),<br />

7. Einflussnahme des Staatssicherheitsdienstes auf die Personalentwicklung<br />

von der Verteilung von Studienplätzen bis zu Absolventenlenkung,<br />

8. Beeinflussung des gesellschaftlichen Lebens der Universitäten und des<br />

Unterrichts, 9. Hochschulen als Reservoir für den offiziellen und inoffiziellen<br />

Nachwuchs des Ministeriums für Staatssicherheit, 10. Überwachung<br />

der Auslandsbeziehungen und ausländischer Studenten sowie Wissenschaftler<br />

in der DDR; Genehmigung von Auslandsdienstreisen und Bespitzelung<br />

von Wissenschaftlern im Ausland.“ 31 Ausgehend von diesen Erkenntnissen<br />

kann für die Bewertung der Unterlagen an Universitäten in<br />

der DDR postuliert werden, dass diese Unterlagen in jedem Fall aufzubewahren<br />

sind. Auch der hierdurch mögliche Vergleich mit Universitäten in<br />

den anderen Staaten des Warschauer Paktes und mit Universitäten in der<br />

Zeit des Nationalsozialismus spricht für diese Bewertungspraxis.<br />

Rostock 2003; Carlo Jordan: Kaderschmiede Humboldt-Universität zu Berlin.<br />

Aufbegehren, Säuberungen und Militarisierung 1945–1989. Berlin 2001; Werner<br />

Fritsch / Werner Nöckel: (Hrsg.): Antistalinistische Opposition an der Universität Jena<br />

und deren Unterdrückung durch SED-Apparat und Staatssicherheit (1956–1958).<br />

Erfurt 2000; Agnes Charlotte Tandler: Geplante Zukunft. Wissenschaftler und<br />

Wissenschaftspolitik in der DDR 1955–1971. Freiberg 2000; Rainer Eckert: Die Rolle<br />

des Ministeriums für Staatssicherheit an den Hochschulen der DDR an den Beispielen<br />

der Humboldt-Universität zu Berlin und der Universität Rostock, in: Enquête-<br />

Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen<br />

Einheit“, Bildung, Wissenschaft, Kultur 2. Frankfurt am Main 1999, S. 1013-1070;<br />

Gerhard Kluge / Reinhard Meinel: MfS und FSU. Das Wirken des Ministeriums für<br />

Staatssicherheit an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Erfurt 1997.<br />

31 wie Anm. 30) S. 148.<br />

Universitätsreden 73 219


Universitätsgeschichtliche Forschung und<br />

archivische Vielfalt – mit einem besonderen Blick auf<br />

die Überlieferung des MfS<br />

Katharina Lenski / Tobias Kaiser<br />

Die Beiträge dieses Bandes, die vornehmlich aus archivarischer Sicht<br />

geschrieben wurden, sollen im folgenden ergänzt werden durch die Sicht<br />

zweier „Nutzer“, die an einem Projekt zur Jenaer Universitätsgeschichte<br />

arbeiten. 1 Dieses soll zunächst vorgestellt werden, danach die genutzten<br />

Archive. Schließlich werden die Überlieferungen des Ministeriums für<br />

Staatssicherheit (MfS) genauer betrachtet.<br />

Das Jenaer Projekt: Universitätsgeschichte des 20. Jahrhunderts<br />

Bereits vor über zwanzig Jahren konstatierte der Nestor der Universitätsgeschichtsforschung<br />

Notker Hammerstein: „Die Beschäftigung mit Universitätsgeschichte<br />

verdankt also den Universitätsjubiläen recht viel. Das<br />

sind im allgemeinen zwar keine unvorhersehbaren ‚Naturereignisse‘, aber<br />

mitunter hat man den Eindruck, es sei dies der Fall. Gewiß ist es leichter<br />

gefordert als eingelöst, Universitäts-Jubiläen begleitende Schriften sollten<br />

auch das liefern, was vielfach tatsächlich fehlt: eine modernen Ansprüchen<br />

genügende Würdigung der Hochschule. Der Intention nach sollte das<br />

doch wohl das Ziel sein! Verdienstvoll und notwendig sind gewiß auch<br />

1 Tobias Kaiser ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der „Senatskommission zur Aufarbeitung<br />

der Jenaer Universitätsgeschichte im 20. Jahrhundert. Katharina Lenski ist<br />

Autorin wichtiger Beiträge zum Thema Universität und Staatssicherheit. Sie ist zudem<br />

Mitarbeiterin des „Thüringer Archiv für Zeitgeschichte ‚Matthias Domaschk‘ “, eines<br />

unabhängigen, auf bürgerschaftlichem Engagement aufbauenden Spezialarchivs, das<br />

eng mit der Universität Jena kooperiert.<br />

Universitätsreden 73 221


Katharina Lenski /Tobias Kaiser<br />

Untersuchungen spezieller Ausschnitte, einzelner Probleme. Ohne sie können<br />

Gesamtwürdigungen nicht entstehen. Aber sie ersetzen diese nicht!“ 2<br />

Im Jahr 2008 kann die Universität Jena das 450jährige Jubiläum der kaiserlichen<br />

Privilegierung der Hohen Schule und damit der Ernennung zur<br />

Universität feiern. Eine der Bemühungen ist die grundlegende – um Würdigung<br />

und kritische Rückschau bemühte – wissenschaftliche Erforschung<br />

der Universitätsgeschichte des 20. Jahrhunderts. Es sollten dabei gerade<br />

jene Phasen der Jenaer Universitätsgeschichte genauer analysiert werden,<br />

die bisher gar nicht oder aufgrund der zeitlichen Nähe, der Quellenlage<br />

oder der politisch-ideologischen Ausrichtung nur eingeschränkt untersucht<br />

wurden. Die beiden letzten größeren Universitätsjubiläen, zu denen<br />

neuere Forschungen angeregt wurden, lagen in der Zeit der DDR. Die<br />

damals entstandenen Universitätsgeschichten sind deutlich von der marxistisch-leninistischen<br />

Ideologie geprägt. 3 Deshalb wurde 1998 die „Senatskommission<br />

zur Aufarbeitung der Jenaer Universitätsgeschichte im<br />

20. Jahrhundert“ installiert, die eine wissenschaftlich angemessene Darstellung<br />

der Geschichte unserer Hochschule im „Zeitalter der Extreme“ ermöglichen<br />

soll. Sie wird von Hans-Werner Hahn, dem Lehrstuhlinhaber<br />

für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, geleitet. Deren Aufgabe<br />

ist es, bis zum Jahr 2008 eine gut lesbare, aber umfassende Gesamtdarstellung<br />

für die Zeit des 20. Jahrhunderts vorzulegen. Nach der bereits vor<br />

zwanzig Jahren von Hammerstein referierten und seitdem andauernden<br />

Diskussion kann das Ergebnis nicht nur eine bloße Ereignisgeschichte der<br />

Institution sein, auch keine Jubelschrift, sondern muss modernen An-<br />

2 Notker Hammerstein: Jubiläumsschrift und Alltagsarbeit. Tendenzen bildungsgeschichtlicher<br />

Literatur, in: Historische Zeitschrift 236 (1983), S. 601-633, hier S. 604.<br />

Vgl. auch Jens Blecher / Gerald Wiemers (Hrsg.): Universitäten und Jubiläen. Vom<br />

Nutzen historischer Archive. (Veröffentlichungen des Universitätsarchivs Leipzig<br />

Bd. 4) Leipzig 2004.<br />

3 Vgl. Max Steinmetz u. a. (Hrsg.): Geschichte der Universität Jena 1548/58-1958.<br />

Festgabe zum vierhundertjährigen Universitätsjubiläum, Bd. 1: Darstellung. Jena 1958;<br />

Bd. 2: Quellenedition zur 400-Jahr-Feier 1958. Archivübersichten, Quellen- und Literaturberichte,<br />

Anmerkungen, Abbildungskatalog, Literaturverzeichnis, Personen- und<br />

Ortsregister, Abkürzungsverzeichnis. Jena 1962; Siegfried Schmidt u. a.: Alma mater<br />

Jenensis. Geschichte der Universität Jena. Weimar 1983.<br />

222 Universitätsreden 73<br />

Univ ersitätsgeschichtliche Forschung und archiv ische Vielfalt<br />

sprüchen genügen. Wissenschaftsgeschichte muss immer auch Reflexion<br />

über das eigene Tun sein, über Fragen wie: „Was ist Wissenschaft?“ oder<br />

„Was ist der Zweck einer Universität?“ und „Wie hat sich unser Bild von<br />

ihr verändert?“<br />

Das Jubiläum bietet durch die Einrichtung der Kommission und die<br />

Unterstützung der Universitätsleitung große Chancen. Es birgt aber auch<br />

Gefahren. So kann man angesichts der offenkundig sehr unterschiedlichen<br />

Erwartungshaltungen und der Notwendigkeit, Schwerpunkte zu setzen,<br />

nicht allen gerecht werden. Jeder hat einen anderen Blick, und es ist ja<br />

durchaus verständlich, dass Universitätsangehörige ihr eigenes Fach oder<br />

ihre eigenen Erfahrungen ausreichend dargestellt haben möchten. Die<br />

Darstellung muss sich jedoch an aktuellen Diskussionen und wissenschaftlichen<br />

Kategorien orientieren, etwa den Themenfeldern der Ideologisierung,<br />

Politisierung und Modernisierung oder Fragen von Disziplinbildung<br />

und Ausdifferenzierung der Wissensgesellschaft. 4 Wissenschaft wird<br />

heute als gesellschaftliche Ressource mit vielfältigen Funktionen gesehen. 5<br />

Universitäten sind nicht nur ein Ort großer Geister, sondern in ihrem<br />

komplexen Verhältnis von Lehre, Forschung und Verwaltung selbst ein<br />

eigenständiger Sozialisations- und Diskursraum.<br />

Problematisch bleibt die Verengung der immerhin fast 450 Jahre umfassenden<br />

Geschichte der Alma mater Jenensis auf die Zeit des 20. Jahrhunderts<br />

und auf bestimmte öffentlichkeitswirksame Themen. So rückte das<br />

Verhalten von Wissenschaftlern vor allem in Zeiten von Krieg und Diktatur<br />

in den Blickpunkt der Öffentlichkeit, ebenso die Frage des Traditions-<br />

4 Vgl. Margit Szöllösi-Janze: Wissensgesellschaft – ein neues Konzept zur Erschließung<br />

der deutsch-deutschen Zeitgeschichte?, in: Hans-Günter Hockerts (Hrsg.): Koordinaten<br />

deutscher Geschichte in der Epoche des Ost-West-Konflikts. (Schriftenreihe des Historischen<br />

Kollegs, Kolloquium Bd. 55) München 2004, S. 277-305; dies.: Wissensgesellschaft<br />

in Deutschland: Überlegungen zur Neubestimmung der deutschen Zeitgeschichte<br />

über Verwissenschaftlichungsprozesse, in: Geschichte und Gesellschaft 30<br />

(2004), S. 275-311.<br />

5 Vgl. Rüdiger vom Bruch / Brigitte Kaderas (Hrsg.): Wissenschaften und Wissenschaftspolitik.<br />

Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland<br />

des 20. Jahrhunderts. Stuttgart 2002; Mitchell G. Ash: Wissenschaft und Politik<br />

als Ressourcen für einander, in: ebd. S. 32-51.<br />

Universitätsreden 73 223


Katharina Lenski /Tobias Kaiser<br />

bildes der Universität. 6 Nicht zuletzt aufgrund dieses öffentlichen Interesses<br />

wurde die Kommission speziell mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts<br />

beauftragt. Ohne Zweifel ist gerade zum 20. Jahrhundert noch viel<br />

grundsätzliche Arbeit zu leisten, so dass wir voll und ganz mit dieser<br />

Aufgabe beschäftigt sein werden. Dennoch ist es sicher trügerisch anzunehmen,<br />

dass die früheren Epochen erschöpfend erforscht wären. 7<br />

Wie also ist das konkrete Vorgehen? Zunächst wurden Sammelbände<br />

vorgelegt, in denen Spezialstudien, biographische und disziplingeschichtliche<br />

Überblicke oder methodische Problemaufrisse Platz haben. 8 Das so<br />

ausführlich ausgebreitete Material soll dann beim Schreiben der Gesamtdarstellung<br />

helfen. Eine methodische Offenheit wird dabei – nicht nur<br />

durch die Vielzahl der Autoren – impliziert, kritische Diskussionen sind<br />

gewollt. Die Sammelbände werden so zu Bausteinen der späteren „Universitätsgeschichte<br />

des 20. Jahrhunderts“.<br />

Diese Gesamtdarstellung soll neben einer Einleitung Großkapitel zum<br />

Kaiserreich, zur Weimarer Republik, zur Zeit des Nationalsozialismus, zur<br />

Nachkriegszeit und zur Zeit der DDR umfassen. Für die einzelnen Kapitel<br />

6 Dabei ist vor allem an die Diskussion um den Kinderarzt Jussuf Ibrahim zu denken,<br />

dessen Beteiligung an der nationalsozialistischen „Euthanasie“ Diskussionsstoff bot.<br />

Vgl. hierzu Marco Schrul / Jens Thomas: Kollektiver Gedächtnisverlust. Die Ibrahim-<br />

Debatte 1999/2000, in: Uwe Hoßfeld / Jürgen John / Oliver Lemuth / Rüdiger Stutz<br />

(Hrsg.): „Kämpferische Wissenschaft“. Studien zur Universität Jena im Nationalsozialismus.<br />

Köln / Weimar / Wien 2003, S. 1065-1098.<br />

7 In diesem Sinne auch Hans-Werner Hahn: „Die Aufarbeitung der DDR-Zeit kann<br />

nicht konfliktlos geschehen“. Interview mit dem Vorsitzenden der Senatskommission,<br />

dem Historiker Prof. Dr. Hans-Werner Hahn, in: Uni-Journal Jena, Sonderausgabe<br />

Senatskommission, Mai 2004, S. 4f.<br />

8 Vgl. Uwe Hoßfeld / Tobias Kaiser / Heinz Mestrup (Hrsg.): Hochschule im Sozialismus.<br />

Studien zur Geschichte der Universität Jena 1945-1990. Köln / Weimar /Wien<br />

2007; Hoßfeld / John / Lemuth / Stutz (Hrsg.): „Kämpferische Wissenschaft“ (wie<br />

Anm. 6); Matthias Steinbach / Stefan Gerber (Hrsg.): „Klassische Universität“ und<br />

„akademische Provinz“. Studien zur Universität Jena von der Mitte des 19. bis in die<br />

dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts. Jena / Quedlinburg 2005. Vgl. ferner auch Herbert<br />

Gottwald / Matthias Steinbach (Hrsg.): Zwischen Wissenschaft und Politik. Studien<br />

zur Jenaer Universität im 20. Jahrhundert. Jena 2000; Tobias Kaiser / Steffen Kaudelka<br />

/ Matthias Steinbach (Hrsg.): Historisches Denken und gesellschaftlicher Wandel.<br />

Studien zur Geschichtswissenschaft zwischen Kaiserreich und deutscher Zweistaatlichkeit.<br />

Berlin 2004.<br />

224 Universitätsreden 73<br />

wird es zwar unterschiedliche Autoren geben, sie werden sich jedoch konzeptionell<br />

abstimmen. In der Konzeption werden dabei bestimmte Leitgedanken<br />

verfolgt. So sollen jeweils Idee und Verfasstheit – also Fragen<br />

nach der Erinnerungskultur, der Funktion und dem Selbstverständnis der<br />

Universität im Zusammenhang mit deren rechtlichen und ökonomischen<br />

Grundlagen – untersucht werden. Die Lernenden und Lehrenden sollen als<br />

sozialgeschichtliche Größe mit der „Akademischen Kultur“ ernst genommen<br />

werden. Auch das wissenschaftliche Profil der Hochschule, also Disziplinentwicklungen<br />

und Forschungsschwerpunkte, müssen jeweils deutlich<br />

werden. Schließlich gilt es auch, die Einbindung der Universität in die<br />

Kontexte von Stadt und Region, Nation und internationaler Scientific<br />

Community zu beachten.<br />

2. Die Vielfalt der Archive<br />

Univ ersitätsgeschichtliche Forschung und archiv ische Vielfalt<br />

Angesichts dieser vielfältigen Perspektiven kann Universitätsgeschichte<br />

nicht als interne Institutionengeschichte geschrieben werden. Es geht stets<br />

auch um die Wechselwirkung der Hochschule mit Stadt, Region, Staat und<br />

Wirtschaft. Deshalb kann nicht nur auf universitäre Verwaltungsakten<br />

zurückgegriffen werden.<br />

Schon die staatliche Hochschulpolitik ist disparat überliefert. Bis zur<br />

Gründung des Landes Thüringen bildeten das Großherzogtum Sachsen-<br />

Weimar-Eisenach und die Herzogtümer Sachsen-Coburg-Gotha, Sachsen-<br />

Meiningen und Sachsen-Altenburg die sogenannten „Erhalterstaaten“ der<br />

Universität Jena. Relevante Bestände sind also auf die Thüringischen<br />

Staatsarchive in Weimar, Gotha und Altenburg verteilt. Durch die<br />

Lückenhaftigkeit der Bestände – vor allem infolge von Kriegsschäden – ist<br />

es in der Regel sogar unabdingbar, alle genannten Archive zu besuchen<br />

und nach Parallelüberlieferungen zu fahnden. 9 Mit der Gründung des<br />

9 Vgl. paradigmatisch hierzu: Stefan Gerber: Universitätsverwaltung und Wissenschaftsorganisation<br />

im 19. Jahrhundert. Der Jenaer Pädagoge und Universitätskurator Moritz<br />

Seebeck. (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine<br />

Reihe Bd. 14) Köln / Weimar / Wien 2004.<br />

Universitätsreden 73 225


Katharina Lenski /Tobias Kaiser<br />

Landes 1920 war die staatliche Verwaltung in Weimar zuständig – hier liegen<br />

auch heute die entsprechenden Akten. Von 1934 bis 1945 existierte das<br />

Reichserziehungsministerium in Berlin, dessen Akten im dortigen<br />

Bundesarchiv vorhanden sind. In Berlin saß auch die nach dem Zweiten<br />

Weltkrieg zuständige „Deutsche Verwaltung für Volksbildung“, seit 1951<br />

das „Staatssekretariat für Hochschulwesen“ (bzw. seit 1958 für Hoch- und<br />

Fachschulwesen) der DDR, aus dem 1967 das „Ministerium für Hoch- und<br />

Fachschulwesen“ wurde. Damit wird Berlin mit den Abteilungen des<br />

Bundesarchivs zu einem wichtigen Archivstandort für die Thematik.<br />

Allerdings wurden bis 1952 – also solange das Land Thüringen noch existierte<br />

– auch dort Akten produziert, die im Thüringischen<br />

Hauptstaatsarchiv Weimar liegen. 10<br />

Die Akten der SED befinden sich im SAPMO-Archiv in Berlin 11 und im<br />

Thüringischen Staatsarchiv Rudolstadt, das für den ehemaligen Bezirk<br />

Gera zuständig ist. 12 Zu diesem Bezirk gehörte die Stadt Jena nämlich seit<br />

der Gründung der DDR-Bezirke 1952. Die Nachbarstadt Weimar gehörte<br />

dem Bezirk Erfurt an, mithin ist das dortige Archiv nun nicht mehr<br />

zuständig.<br />

Von gewisser Relevanz sind aber auch Bestände des Bundesarchivs Koblenz,<br />

da in der Bundesrepublik die Verhältnisse in der DDR registriert<br />

wurden. 13 Gerade Flucht und Verfolgung, Repression und Vertreibung<br />

von Hochschulangehörigen wurden vom Bonner Gesamtdeutschen Ministerium<br />

und angegliederten, halbstaatlichen Organisationen (z. B. dem<br />

Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen) registriert. 14 Die Benutzung<br />

dieser Akten wirft viele Fragen auf, da die Informationen über die<br />

10 Vgl. das Archivportal und die Bestandsübersicht<br />

unter . Insbesondere<br />

ist der Bestand „Land Thüringen – Ministerium für Volksbildung“ einschlägig<br />

(Laufzeit: 1905-1953, Umfang: 71,64 lfm).<br />

11 Relevant ist der Bestand „Abteilung Wissenschaft des ZK der SED“ (SAPMO-BArch,<br />

DY 30/IV 2/9.04, sowie DY 30/IV A 2/9.04 und DY 30/IV B 2/9.04. Vgl. das<br />

Online-Findbuch .<br />

12 Vgl. Online-Findbuch SED-Universitätsparteileitung der Friedrich-Schiller-Universität<br />

Jena (1945-1991), Rudolstadt 2004 .<br />

226 Universitätsreden 73<br />

Univ ersitätsgeschichtliche Forschung und archiv ische Vielfalt<br />

Verhältnisse auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs immer unzuverlässiger<br />

wurden und man auf anonyme und zum Teil dubiose Informanten<br />

angewiesen war. 15 Erst seit dem Ende der DDR können solche Themen<br />

kritisch untersucht werden.<br />

Für die Entwicklung der Universität Jena ist bekanntlich die Verbindung<br />

zur Industrie, vor allem zu den Unternehmen Carl Zeiss Jena und Schott<br />

Jenaer Glaswerk, sehr wichtig gewesen. Als einen Glücksfall kann man deshalb<br />

bezeichnen, dass die genannten Unternehmen öffentlich zugängliche,<br />

professionell geführte Archive betreiben.<br />

Nicht zuletzt gewinnen Bestände nichtstaatlicher Provenienz zunehmende<br />

Bedeutung, die konzentriert im Thüringer Archiv für Zeitgeschichte<br />

„Matthias Domaschk“ (ThürAZ), einem in Jena ansässigen nichtstaatlichen<br />

Spezialarchiv zu Opposition und Repression, gesammelt werden.<br />

Die Aufzählung bleibt unvollständig: Man denke an relevante Nachlässe,<br />

die zum Teil in anderen Archiven liegen. 16<br />

Das wichtigste Archiv für unser Projekt ist jedoch nach wie vor das Universitätsarchiv,<br />

das als öffentliches Archiv eine zentrale Betriebseinheit der<br />

Friedrich-Schiller-Universität darstellt. Es hat also zusätzlich zu unserem<br />

Anliegen weitere öffentliche Aufgaben. Für das Universitätsarchiv und alle<br />

anderen genannten Archive ist unser Projekt mit spezifischen Mühen und<br />

Problemen verbunden. Diese ergeben sich etwa aus dem von uns unter-<br />

13 Insbesondere ist der Bestand B 285 „Bundesanstalt für gesamtdeutsche Aufgaben.<br />

Bestand der Zentralstelle für Gesamtdeutsche Hochschulfragen“ von Bedeutung.<br />

14 Vgl. Frank Hagemann: Der Untersuchungsausschuß Freiheitlicher Juristen 1949-1969.<br />

Frankfurt (Main) [u. a.] 1994. Dort wird auch der Aktenzugang thematisiert.<br />

15 So berichtete der „Untersuchungsausschuß Freiheitlicher Juristen“ nach dem Freitod<br />

des Historikers Karl Griewank eine frei erfundene und nicht belegte Geschichte, die<br />

freilich den Zielen der Organisation im Kalten Krieg entgegenkam. Vgl. hierzu Tobias<br />

Kaiser: Karl Griewank (1900-1953). Ein deutscher Historiker im „Zeitalter der<br />

Extreme“. (Pallas Athene Bd. 23) Stuttgart 2007, S. 20-23. Vgl. auch als weiteres Beispiel<br />

solcher Berichte ebd., S. 196, Anm. 168.<br />

16 Als Beispiele seien hier genannt die Nachlässe des Altphilologen und Rektors Friedrich<br />

Zucker (1881-1973) und des Physikers Max Steenbeck (1904-1981), die im Archiv der<br />

Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften liegen , der Nachlass des Philosophen Hans<br />

Leisegang (1890-1951), der im Archiv der FU Berlin eingesehen werden kann, oder der<br />

Nachlass des Historikers Max Steinmetz (1912-1990), der sich im Universitätsarchiv<br />

Universitätsreden 73 227


Katharina Lenski /Tobias Kaiser<br />

suchten Zeitraum, der die Zeit bis ca. 1995 umfassen wird. Die dadurch<br />

aufgeworfenen Probleme des Datenschutzes und der Persönlichkeitsrechte<br />

liegen auf der Hand. 17 Mit dem Untersuchungszeitraum verbunden ist jedoch<br />

auch die Problematik der noch nicht bearbeiteten Bestände. Generell<br />

ist mit unserem Weg, Studienbände zu erstellen, Seminare zu veranstalten<br />

und studentische Arbeiten anzuregen, ein erhöhter Arbeitsaufwand in den<br />

Archiven verbunden, der jedoch wiederum positiv auf die öffentliche<br />

Wahrnehmung der Bestände in den Archiven zurückwirkt. Es darf auch<br />

nicht übersehen werden, dass nicht jede Bemühung der so Beauftragten<br />

problemlos zum Erfolg führt. Valide Ergebnisse erfordern einen intensiven<br />

Betreuungsaufwand.<br />

3. Die Überlieferung des MfS<br />

Eine besondere Überlieferung stellt in diesem Zusammenhang die des ehemaligen<br />

Ministeriums für Staatssicherheit der DDR dar. 18 Diese Herrschaftsquellen<br />

folgten einem engen Funktionalkontext, der durch verschiedene<br />

Faktoren bestimmt war:<br />

1. den Gründungsmythos der DDR,<br />

2. ein Feindbild, welches auch mit dem Gründungsmythos operierte,<br />

3. durch die Überzeugung, dass nur geheimdienstliche Methoden die staatliche<br />

Sicherheit garantierten, sowie<br />

4. eine strikte militärische Hierarchie.<br />

Die MfS-Materialien weisen deshalb Besonderheiten auf, die sich auf das<br />

methodische Herangehen auswirken. Zudem sind sie nur in Teilen frei<br />

zugänglich, was die kontextuelle Einbettung der Einzelinformationen<br />

Leipzig befindet. Alle genannten Wissenschaftler waren in Jena tätig und sind für die<br />

Jenaer Universitätsgeschichte wichtig.<br />

17 Vgl. das Themenheft „Personenbezogene Daten“, in: Archive in Thüringen. Mitteilungsblatt<br />

2/2003. Vgl. vor allem Joachim Bauer: Möglichkeiten der Schutzfristenverkürzung.<br />

Die Praxis im Universitätsarchiv Jena, in: ebd., S. 7-11.<br />

228 Universitätsreden 73<br />

Univ ersitätsgeschichtliche Forschung und archiv ische Vielfalt<br />

erschwert. Die Sprache der Stasi-Akten erweist sich ebenfalls als problematisch.<br />

Sie erweckt den Eindruck, im Entstehungskontext einer anderen als<br />

der tatsächlichen Funktion gedient zu haben. Diese Sprache vertauscht<br />

Sinnsysteme und täuscht damit die Leserinnen und Leser der MfS-Hinterlassenschaften.<br />

19 Sie trügt deshalb, weil sie die Notwendigkeit einer Entschlüsselung<br />

nicht nahelegt, die zur Klärung des Sinngehalts jedoch unerlässlich<br />

ist. Beispielsweise berichtete das MfS besonders seit den 1970er<br />

Jahren über die Exmatrikulation bestimmter Studierender von der Friedrich-Schiller-Universität<br />

aufgrund „schlechter Studienleistungen“. Zur Zerstörung<br />

oppositioneller, ja sogar „vor-oppositioneller“ Milieus hatte das<br />

MfS jedoch angewiesen, fachliche Mängel der Betroffenen zu nutzen und<br />

zu verstärken, um auf diese Weise unbemerkt sogenannte „Unruheherde“<br />

ausschalten zu können. Diese Schwächen – ob vorhanden oder künstlich<br />

hervorgerufen – wurden also als Selektionsinstrumente genutzt, um die<br />

politische Konformität der Studierenden zu sichern. 20 Die Übersetzung<br />

der Anweisung kann demnach nicht darin liegen, die Grundlage der<br />

Exmatrikulationen in fehlender Fachkompetenz zu suchen, denn es ist<br />

zwischen der evidenten Argumentation der Schriftstücke und dem Subtext<br />

zu unterscheiden. Dieser wiederum folgte einer eigenen Logik und ist nur<br />

aus den Konsequenzen der jeweiligen Information erklärbar sowie durch<br />

die Hierarchie und den Weg ihrer Weiterverteilung. Nur so kann ihre<br />

Funktion für die nachfolgenden Maßnahmen verdeutlicht werden. Solche<br />

nachzuweisen ist heute um so schwerer, als der Zugang zu den Akten der<br />

Betroffenen nicht voraussetzungsfrei möglich ist.<br />

Ebenso verhält es sich mit den Berichtsakten der Inoffiziellen Mitarbeiter,<br />

in denen die Namen Betroffener ebenfalls nicht voraussetzungsfrei eingelesen<br />

werden können. Die Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) waren als<br />

Instrumente zur Erfüllung temporärer oder im Rahmen von Sicherungskonzeptionen<br />

langfristiger Aufgaben in funktionale Netzwerke eingegliedert.<br />

Laut Dienstanweisung 30/53 der Staatssicherheit sollten die im Jahre<br />

1953 noch als Geheime Hauptinformatoren bezeichneten Führungs-IM<br />

zur Entlastung der Offiziere beitragen. Die Führungs-IM sammelten und<br />

18 Vgl. Katharina Lenski: Durchherrschter Raum? Staatssicherheit und Friedrich-Schiller-<br />

Universität. Strukturen, Handlungsfelder, Akteure, in: Hoßfeld / Kaiser / Mestrup<br />

Universitätsreden 73 229


Katharina Lenski /Tobias Kaiser<br />

notierten die Informationen der von ihnen geführten Inoffiziellen Mitarbeiter,<br />

gaben ihnen neue Aufträge und beurteilten die Qualität ihrer<br />

Dienste, was sie wiederum an den Führungsoffizier weitergaben. 21 Dieser<br />

arbeitete die Berichte in die jeweils relevanten Operativen Vorgänge und<br />

Operativen Personenkontrollen ein und gab sie unter Umständen an<br />

seinen Vorgesetzten sowie an die Auswertungs- und Informationsgruppe<br />

(AIG) 22 weiter. Der Vorgesetzte entschied, ob die Hinweise wichtig genug<br />

waren, dass sie entsprechend der Hierarchie weitergeleitet werden mussten.<br />

Waren sie von herausragender Bedeutung, wurde durch die Auswertungsund<br />

Kontrollgruppe eine „Information“ an die Partei- und Staatsführung<br />

erarbeitet. 23<br />

Allen Inoffiziellen Mitarbeitern ist gemeinsam, dass sie sich aufgrund<br />

persönlicher Motive verpflichteten, mit dem MfS zusammenzuarbeiten.<br />

Ein Inoffizieller Mitarbeiter bewarb sich nicht beim Geheimdienst, sondern<br />

er wurde mit fortschreitender Entwicklung des Apparats auf der<br />

Grundlage eines „Anforderungsbildes“ nach mehrfachen Überprüfungen<br />

vom Ministerium für Staatssicherheit angesprochen. 24 Die Argumente,<br />

mit denen die IM geworben wurden, unterschieden sich von Fall zu Fall.<br />

Die Hintergründe der Werbung wurden unter Umständen erst durch die<br />

konkreten Aufträge sichtbar oder waren in Kombinationen eingebettet, die<br />

der einzelne IM nicht durchschaute. Jedem Inoffiziellen Mitarbeiter wurde<br />

(Hrsg.): Hochschule im Sozialismus (wie Anm. 8), S. 526-572.<br />

19 Christian Bergmann: Die Sprache der Stasi. Ein Beitrag zur Sprachkritik. Göttingen<br />

1999; Marianne Birthler: Freiheit ist Einsicht in die Akten, in: Siegfried Suckut /<br />

Jürgen Weber (Hrsg.): Stasi-Akten zwischen Politik und Zeitgeschichte. Eine Zwischenbilanz.<br />

München 2003, S. 38.<br />

20 GVS MfS o008-100/76, abgedruckt in: David Gill / Ulrich Schröter: Das Ministerium<br />

für Staatssicherheit. Anatomie des Mielke-Imperiums. Berlin 1993, S. 389-392.<br />

21 Vgl. ebd. S. 104f ; Helmut Müller-Enbergs (Hrsg.): Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums<br />

für Staatssicherheit. Teil 1: Richtlinien und Durchführungsbestimmungen.<br />

Berlin 2001, S. 68.<br />

22 Diese Bezeichnung verweist darauf, dass der Auswertungs- und Informationsgruppe<br />

entgegen der komplementären Gruppe in der Bezirksverwaltung keine kontrollierende,<br />

sondern informierende Funktion zukam, denn in der Bezirksverwaltung hieß diese<br />

„Auswertungs- und Kontrollgruppe“ (AKG).<br />

23 Ein prägnantes Beispiel für das Wechselspiel von geheimdienstlicher Informationstätigkeit<br />

und offiziellem Parteiinteresse sind die Informationen, die anlässlich der<br />

230 Universitätsreden 73<br />

Univ ersitätsgeschichtliche Forschung und archiv ische Vielfalt<br />

auf dieser Grundlage sein Platz in einem „Bearbeitungssystem“ zugewiesen,<br />

welchen er natürlich auch aktiv füllen musste. 25<br />

Den Überblick über die Funktionalsysteme hatten die jeweiligen Offiziere<br />

des Ministeriums für Staatssicherheit: die operativ Tätigen, die Analytiker<br />

und die jeweiligen Vorgesetzten der verschiedenen Diensteinheiten. Sie<br />

waren diejenigen, die entschieden, welche Information auf welchem Weg<br />

weiterverbreitet wurde, welchen Konsequenzen sie unterlag, und sie arbeiteten<br />

das weitere Vorgehen aus.<br />

Ein Beispiel für die Entwicklung eines MfS-Offiziers ist das von Horst<br />

Köhler.<br />

Er verpflichtete sich als Inoffizieller Mitarbeiter „Gerhard Röse“ im<br />

Jahre 1965 bereits mit 18 Jahren an der Erweiterten Oberschule. Zunächst<br />

fungierte er als Kontaktperson, ab 1968 „mit der Perspektive GHI [Geheimer<br />

Hauptinformator]“ X/104/68. 26 Handschriftlich verpflichtete er<br />

sich, „auf der Basis der Freiwilligkeit, der Ehrlichkeit und des gegenseitigen<br />

Vertrauens mit dem MfS zusammenzuarbeiten.“ 27<br />

1968 bildete ihn sein Führungsoffizier Herbert Würbach zum Geheimen<br />

Hauptinformator bzw. Führungs-IM für das System „Studentische Freizeit“<br />

weiter. 28 Köhler leitete von 1968 bis 1970 drei, zeitweise vier Geheime<br />

Hauptinformatoren bzw. Führungs-IM an, deren Aufgabe unter anderem<br />

Verhaftungen auf der Berliner Luxemburg-Liebknecht-Demonstration im Jahre 1988<br />

an die Partei- und Staatsführung gesendet wurden. Sie zeigen zugleich die enge Perspektive<br />

des geheimdienstlichen Blicks. Vgl. z. B. ThürAZ FoGu 36.1.: BStU Berlin HA<br />

XX/AKG: Tagesberichte zur Aktion „Störenfried“ vom 18.1.-2.2.1988. BStU Berlin<br />

HAXX/AKG: Information über Aktivitäten feindlich-negativer Personenkreise am 19.<br />

Januar 1988.<br />

24 So im Studienmaterial der Juristischen Hochschule Potsdam BStU MfS JHS VVS o001-<br />

120/85: „Das entscheidende Ziel in der Werbung besteht in der Herbeiführung der<br />

Entscheidung des IM-Kandidaten für die ständige konspirative Zusammenarbeit mit<br />

dem MfS. […] Die Bereitschaft […] ist nur dann stabil und tragfähig für die Erfüllung<br />

operativer Aufgaben, wenn sich der IM-Kandidat selbst und bewußt dazu entscheidet<br />

und nicht zu einem unüberlegten und wenig dauerhaften Entschluß überredet wird.“<br />

25 Am deutlichsten wird das in der Richtlinie über die Bearbeitung Operativer Vorgänge<br />

1/76 (= BStU MfS GVS o008-100/76).<br />

26 BStU Gera AIM 8896/72 Teil I, Bd. 1, Bl. 214.<br />

Universitätsreden 73 231


Katharina Lenski /Tobias Kaiser<br />

in der „Absicherung der ESG-Veranstaltungen in Jena“ bestand. 29 Der Einsatzbereich<br />

umfasste die „Freizeitsicherungssysteme“ Evangelische und<br />

Katholische Studentengemeinde, die „Studentenkeller“ (FIM „Dieter<br />

Wolf“, Reg.-Nr. X 867/67), „Wohnheime“ (FIM „Kramer“, Reg.-Nr. X 373/<br />

69) und „Kulturgruppen“ (FIM „Alfred Schneider“, Reg.-Nr. X 426/69).<br />

Während Köhler das System Studentengemeinden direkt steuerte, geschah<br />

dies bei den anderen drei Systemen über die genannten Führungs-IM, die<br />

wiederum jeweils eigene Inoffizielle Mitarbeiter anleiteten. 30<br />

1971 plante man für das Folgejahr, dass der „gesamte IM/GMS-Bestand<br />

im Bereich ‚studentische Freizeit‘ unter Leitung eines vorhandenen HFIM<br />

[Hauptamtlichen Führungs-IM] vereinigt und dieses System zur Durchführung<br />

selbständiger analytischer Tätigkeit des Erkennens antisozialistischer<br />

Erscheinungen und Verdachtsmomente staatsfeindlicher Aktivitäten<br />

qualifiziert“ werden solle. 31 Für diese selbständigen Analysen setzte man<br />

Horst Köhler ein. 32<br />

Als dieser sein Jurastudium an der Friedrich-Schiller-Universität beendet<br />

hatte, schloss das MfS mit ihm am 1. Januar 1971 ein „legendiertes Arbeitsverhältnis“<br />

33 . Dort war er inoffiziell als Hauptamtlicher Führungs-IM angestellt<br />

und leitete außer den drei obengenannten Hauptinformatoren<br />

bzw. Führungs-IM 23 Inoffizielle Mitarbeiter an, zu diesem Zeitpunkt eine<br />

vergleichsweise hohe Zahl. 34 Seinen offiziellen Arbeitsvertrag unterzeichnete<br />

er bei der Jenaer Universität. Dort bearbeitete und entschied er<br />

27 Ebd. Bl. 19.<br />

28 Ebd. Bl. 180. Vgl. Uta Trillhose: Studentische Alternativkultur und Stasi-Aktivitäten in<br />

der DDR. Der ehemalige FDJ-Studentenclub „Rosenkeller“ e.V. in Jena und die Einflußnahme<br />

des Ministeriums für Staatssicherheit 1964-1989. Diplomarbeit Hildesheim<br />

1997, S. 122f. und ebd., Anlage 8 (Teilsicherungssystem studentische Freizeit).<br />

29 BStU Gera AIM 8896/72 Teil I, Bd. 1, Bl. 267.<br />

30 Trillhose: Studentische Alternativkultur (wie Anm. 28), S. 123f. und ebd. Anlage 8<br />

(Teilsicherungssystem studentische Freizeit).<br />

31 BStU Gera GVS 254/71, Bl. 16.<br />

32 BStU Gera AIM 8896/72 Teil I, Bd. 1, Bl. 215.<br />

33 Zu „legendierten Arbeitsverhältnissen“ vgl. Helmut Müller-Enbergs (Hrsg.): Inoffizielle<br />

Mitarbeiter (wie Anm. 15), S. 322. Erst mit der Richtlinie 1/79 wurden formalisierte<br />

Vorgaben zur Schaffung von Scheinarbeitsverhältnissen geschaffen. Vorher wurde dies<br />

durch individuelle Varianten organisiert, was ein besonderes Licht auf die Einschät-<br />

232 Universitätsreden 73<br />

Univ ersitätsgeschichtliche Forschung und archiv ische Vielfalt<br />

Sondergenehmigungen beim „Empfang von Literatur und Druckerzeugnissen“<br />

aus dem „Westblock“. 35 Dieses „legendierte Arbeitsverhältnis“<br />

konnte deshalb eingerichtet werden, weil Prorektor Heinz Kessler es „abdeckte“,<br />

folglich den wahren Zweck der Einrichtung der Teilzeitstelle verschleierte.<br />

36 Am 1. Mai 1972 wurde Köhler schließlich Offizier im Referat<br />

Universität der Kreisdienststelle Jena, seine IM-Akte wurde somit archiviert.<br />

37 Trotzdem führte er die Inoffiziellen Mitarbeiter wie bisher weiter,<br />

jetzt als operativer Mitarbeiter und nicht mehr als Hauptamtlicher IM. Als<br />

er zwei Jahre später zur Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) versetzt werden<br />

sollte, musste dieses Vorhaben verschoben werden, weil er so viele IM<br />

führte, dass für diese erst ein Führungsoffizier bzw. Führungs-IM gefunden<br />

werden musste. 38 Nachdem er bis zum 15. September 1975 bei der<br />

Berliner Hauptverwaltung Aufklärung für einen „Einsatz im Operationsgebiet“<br />

vorbereitet worden war, kehrte er am 16. September 1975 als<br />

Hauptsachbearbeiter für das Referat XX/4 (Kirchen und politischer<br />

Untergrund) nach Jena zurück. Im Jahre 1981 war er direkt in den gewaltsamen<br />

Tod des Jenaer Oppositionellen Matthias Domaschk involviert. 39<br />

zung von Köhlers Qualitäten durch seinen Führungsoffizier Herbert Würbach wirft.<br />

Vgl. auch BStU Gera AIM 8896/72 Teil I, Bd. 1, Bl. 89.<br />

34 BStU Gera AIM 8896/72 Teil I, Bd. 1, Bl. 267. Diese Zahl lag bei weitem über dem<br />

Durchschnitt. Vgl. Helmut Müller-Enbergs (Hrsg.): Inoffizielle Mitarbeiter (wie<br />

Anm. 15), S. 72.<br />

35 BStU Gera AIM 8896/72 Teil I, Bd. 1, Bl. 267.<br />

36 Ebd. Bl. 199f., 202-205, 267.<br />

37 BStU Gera AIM 8896/72 Teil I, Bd. 1, Bl. 269ff.<br />

38 Vgl. auch BStU Gera GVS o028-193/75, S. 21: Jahresanalyse der KD Jena vom<br />

19.11.1975: „Durch FIM werden gegenwärtig 40% der IM und GMS der Diensteinheit<br />

gesteuert, dieser Stand kann noch nicht befriedigen.“<br />

39 Vgl. jetzt Freya Klier: Matthias Domaschk und der Jenaer Widerstand. Berlin 2007. Vgl.<br />

ferner Gerold Hildebrand: Trauer, Wut und Anklage. Nach dem Tod von Matthias<br />

Domaschk, in: Horch und Guck. Sonderheft I (2003), S. 37; ders.: Ein Überblick über<br />

das ernüchternde juristische Nachspiel, in: ebd. S. 45f.; ders.: Die Stasi-Offiziere. Offiziere<br />

des MfS und andere mit Matthias Domaschk befasste Funktionsträger, in: ebd.<br />

S. 48f.; Walter Schilling: Die Verpflichtungserklärung: ein dubioses Dokument, in: ebd.<br />

S. 46f.; Renate Ellmenreich: „Ich denke, das ist nur möglich, wenn einer der Beteiligten<br />

auspackt.“ Interview mit Renate Ellmenreich, in: ebd. S. 50f.; Wolfgang Loukidis:<br />

Keine Sühne eines gewaltsamen Todes?, in: ebd. S. 52; Henning Pietzsch: Jugend zwi-<br />

Universitätsreden 73 233


Katharina Lenski /Tobias Kaiser<br />

Ungeachtet dessen stieg er 1987 zum Referatsleiter der Hauptabteilung<br />

XX/4 in Berlin für den Bereich „Operationsgebiet“ auf. 40<br />

Köhler wurde aus politischer Überzeugung geworben. Während seiner<br />

Studienzeit an der Friedrich-Schiller-Universität auf der unteren Ebene als<br />

IM tätig, avancierte er später zum Führungs-IM und parallel zum Entscheidungsträger<br />

in der Universität. Die „Freizeitsicherungssysteme“ ESG<br />

und KSG, „Studentenkeller“, „Wohnheime“ und „Kulturgruppen“ waren<br />

sein erster Einsatzbereich. 41 Er arbeitete auf dieser Linie weiter und entwickelte<br />

sich zum Spezialisten auf diesem Gebiet.<br />

Will man die Berichte der IM demnach qualitativ bewerten, müssen<br />

auch diese in das jeweilige funktionale Sinnsystem und in die biographische<br />

Entwicklung des jeweiligen Funktionsträgers eingeordnet werden, um<br />

den Kontext bilden zu können. Das bedeutet wiederum, sachlich und temporal<br />

den Weg, die Hierarchie und Relevanz der Weiterverteilung zu analysieren,<br />

was jedoch schon allein aufgrund fehlender Findhilfsmittel<br />

Geduld, Erfahrung und Kenntnis personeller Zusammenhänge voraussetzt,<br />

welcher jedoch wiederum mit der Begrenzung des Aktenzugangs<br />

enge Grenzen gesetzt sind.<br />

Diese Grenzen sind auch der Trennung in Opfer und Täter geschuldet.<br />

Diese ist im Sinne des Aktenzugangs folgerichtig. Ebenso kann sie als<br />

methodisches Hilfsmittel zur Rekonstruktion temporärer Herrschaftsräume<br />

dienen. In der öffentlichen politischen Diskussion wurde sie aber<br />

vielmehr als Argument gegen den jeweiligen politischen Gegner ins Feld<br />

geführt. 42 Dies führte in der Auseinandersetzung zur Konstruktion und<br />

Verfestigung ambivalenter Pole, was jedoch der Klärung von Vorgängen<br />

und Prozessen entgegensteht, ja eine Aporie zu sein scheint. Sie kann derzeit<br />

offenbar nicht überwunden werden. Dies bedeutet, dass die Quellen<br />

des Herrschaftsapparates von Überlieferungen ergänzt werden müssen, mit<br />

schen Kirche und Staat. Geschichte der kirchlichen Jugendarbeit in Jena 1970-1989.<br />

Köln / Weimar / Wien 2005, S. 137-146, 156; Thüringer Archiv für Zeitgeschichte<br />

„Matthias Domaschk“ (Hrsg.): Opposition in Jena. Chronologie 1980-89. Jena 1995, S.<br />

8-12, 74.<br />

40 Dort leitete er das Referat IV (Operationsgebiet). Das „Operationsgebiet“ entsprach<br />

dem westlichen Ausland. Vgl. BStU Gera KS Horst Köhler, S. 69, 70, 128. BStU ZA<br />

HA XX/4 13, S. 183-186: Stellenplan der HA XX/4 vom 13.8.1988, abgedruckt in:<br />

234 Universitätsreden 73<br />

Univ ersitätsgeschichtliche Forschung und archiv ische Vielfalt<br />

deren Hilfe die Sicht der Betroffenen in die Analyse einbezogen werden<br />

kann. Solche „Gegenüberlieferungen“ werden systematisch in den Archiven<br />

der DDR-Opposition gesammelt und erschlossen, wie dem Thüringer<br />

Archiv für Zeitgeschichte „Matthias Domaschk“ in Jena. 43 Dank dieser<br />

Institutionen ist es ebenfalls möglich, Kontakte zu den Mitlebenden herzustellen<br />

und deren Gedächtnisarchive zu nutzen.<br />

Das Thüringer Archiv für Zeitgeschichte „Matthias Domaschk“<br />

(ThürAZ) in Jena ist ein parteienunabhängiges Spezialarchiv zu Dissidenz,<br />

Widerstand und Zivilcourage in der DDR. Das Bestandsprofil umfasst<br />

Selbstzeugnisse und Dokumente der Repression von Menschen, die dem<br />

vorgenannten Spektrum zugeordnet werden können. Das ThürAZ arbeitet<br />

auf den drei Säulen Archiv, Forschung und Bildung. Hier finden sich derzeit<br />

65 Sammlungen und Nachlässe mit einem Gesamtumfang von etwa<br />

400 lfm. Die größte Materialdichte liegt in den Jahren zwischen 1970 und<br />

1995, der Einwerbungszeitraum konzentriert sich auf die Zeit von 1945 bis<br />

1995. Den geographischen Schwerpunkt markiert insbesondere Thüringen<br />

mit seinen überregionalen Vernetzungen. Grundlage des Bestandsprofils<br />

sind die verborgenen Sammlungen ehemaliger Oppositioneller wie auch<br />

die Bestände mehrerer ehemaliger Untergrundbibliotheken wie in Berlin<br />

und Erfurt. Formal finden sich in den Privatbeständen schriftliche Überlieferungen<br />

wie Handschriften und Samisdat. Der Begriff Samisdat umfasst<br />

hier auch Flugschriften, Aufrufe, Erklärungen, Plakate und Gedächtnisprotokolle.<br />

Diese wurden im Untergrund mittels Schreibmaschinendurchschlägen,<br />

mit Ormig- oder Wachsmatrize gedruckt, künstlerisch – fotografisch<br />

oder mit anderen Techniken – vervielfältigt. Im ThürAZ befinden<br />

sich ca. 200 Reihentitel Zeitschriftensamisdat und ungezählte Einzeltitel.<br />

Diese Überlieferung ist durch biographische und sachthematische Aufzeichnungen<br />

innerhalb der jeweiligen Sammlungen eingebettet und zeigt<br />

damit über den jeweiligen Informationswert hinaus ihre Verortung im<br />

Regional-, Sach-, Personen- und Gruppenkontext an. Sie dürfte damit in<br />

der Überlieferung zur ehemaligen DDR einzigartig sein. Die audiovisuel-<br />

Clemens Vollnhals: Die kirchenpolitische Abteilung des Ministeriums für Staatssicherheit,<br />

in: ders. (Hrsg.): Die Kirchenpolitik von SED und Staatssicherheit. Eine Zwischen-<br />

Universitätsreden 73 235


Katharina Lenski /Tobias Kaiser<br />

len Medien des Archivs umfassen ca. 12.600 Negative und 320 Fotofilme,<br />

die aus 31 Privatsammlungen stammen. Dazu befinden sich hier mehrere<br />

heimlich abfotografierte Bücher, die aufgrund der Zensur in der DDR<br />

nicht erscheinen durften. Die dichteste Überlieferung der Fotografien findet<br />

sich für die Jahre zwischen 1970 und 1989. Das ThürAZ beherbergt<br />

zudem 53 Super-8-Filme, die in den 1980er Jahren entstanden sind und<br />

Auskunft über Milieu und Protest oppositioneller Akteure geben, wie auch<br />

Tonträger mit etwa 300 Stunden Wiedergabezeit. Auf ihnen sind Konzerte,<br />

Werkstätten, Diskussionen und Vorträge der 1970er bis frühen 1990er<br />

Jahre aufgezeichnet. Im Aufbau begriffen ist derzeit die Sammlung mit<br />

biographischen Interviews zu ZeitzeugInnen, in der momentan etwa 80<br />

Interviews zur Verfügung stehen.<br />

Das ThürAZ kooperiert unter anderem mit der Senatskommission zur<br />

Aufarbeitung der Jenaer Universitätsgeschichte im 20. Jahrhundert durch<br />

die Vermittlung von ZeitzeugInnen, zudem wird das Archiv hier im<br />

Rahmen von Recherchen genutzt, wurden Fotografien zur Verfügung<br />

gestellt und die Arbeit der Kommission durch eigene Beiträge unterstützt.<br />

4. Fazit<br />

Die Situation lässt sich momentan so beschreiben: In den bisherigen universitätsgeschichtlichen<br />

Arbeiten und Sammelbänden zeigt sich die skizzierte<br />

Vielfalt der Herangehensweisen, Methoden, Blickwinkel und Archivzugänge.<br />

In der neuen, nun erschienenen zweibändigen Aufsatzsammlung<br />

zur Universität Jena in der Zeit der SBZ/DDR 44 finden sich Nachweise für<br />

alle in diesem Aufsatz vorgestellten Archive. Will man Wissenschafts- und<br />

Universitätsgeschichte nicht eindimensional als reine Institutionengeschichte<br />

schreiben, so muss man politische, ökonomische und kulturelle<br />

Fragestellungen formulieren und damit auch Akten verschiedenster Pro-<br />

bilanz. Berlin 1996, S. 95.<br />

41 Trillhose: Studentische Alternativkultur (wie Anm. 28), S. 123f. und ebd. Anlage 8.<br />

236 Universitätsreden 73<br />

Univ ersitätsgeschichtliche Forschung und archiv ische Vielfalt<br />

venienz verwenden: Schriftgut staatlicher, betrieblicher und privater Herkunft.<br />

Auch die hier besonders herausgestellte Quellengattung der MfS-Hinterlassenschaft<br />

findet in etlichen Beiträgen Verwendung. 45 Es zeigt sich<br />

jedoch, dass die Verwendung der geheimpolizeilich hergestellten Akten<br />

durchaus auch im Bereich der Wissenschaftsgeschichte selbstverständlich<br />

geworden ist.<br />

Die Art der Verwendung und der methodische Zugang stellen sich als<br />

sehr unterschiedlich heraus. Für manche – gerade biographische – Themen<br />

werden die MfS-Akten nur für eine individuelle Überprüfung genutzt. Für<br />

manche strukturgeschichtlichen Ansätze können sie bisherige Erkenntnisse<br />

ergänzen oder zu neuen Fragen führen. Es ist jedoch zu betonen, dass<br />

für einige Themen das Potential der MfS-Akten bisher nicht genutzt wurde,<br />

bzw. nicht genutzt werden konnte. Die Akten des MfS bereiten offenkundig<br />

wegen der Komplexität der Zusammenhänge und der notwendigen<br />

speziellen Quellenkritik, die bei diesen Akten zu üben ist, Schwierigkeiten.<br />

Insbesondere ist der in diesem Aufsatz beschriebene komplexe Zugang, der<br />

den Herrschaftsblick durch eine Gegenüberlieferung von unten korrigiert,<br />

nach wie vor weitgehend Programm und noch nicht Realität.<br />

42 Deutlicher noch Wolfgang Ullmann: Das Stasi-Unterlagen-Gesetz, in: Siegfried Suckut,<br />

Jürgen Weber (Hrsg.): Stasi-Akten zwischen Politik und Zeitgeschichte. Eine Zwischenbilanz.<br />

München 2003.<br />

43 .<br />

44 Hoßfeld / Kaiser/ Mestrup (Hrsg.): Hochschule im Sozialismus (wie Anm. 8). Der<br />

Band enthält auf über 2300 Seiten Beiträge von über 80 Autoren.<br />

45 Insgesamt wird das Archivkürzel „BStU“ 295mal (in 13 Aufsätzen) verwendet. Demgegenüber<br />

werden das „Universitätsarchiv Jena“ bzw. das Kürzel UAJ insgesamt<br />

2088mal erwähnt.<br />

Universitätsreden 73 237


Bisher veröffentlichte Universitätsreden<br />

Anhang<br />

1 Conrad von Fragstein<br />

Die geschichtliche Entwicklung der Optik<br />

2 Hermann Krings<br />

Über die akademische Freiheit<br />

3 Joseph Müller-Blattau<br />

Vom Wesen und Werden der neueren Musikwissenschaft<br />

4 Arthur Kaufmann<br />

Gesetz und Recht<br />

5 Helmut Stimm<br />

Die romanischen Wörter für ‘frei’<br />

6 Konrad Repgen<br />

Hitlers Machtergeifung und der deutsche Katholizismus<br />

7 Hermann Muth<br />

Die Biophysik als Bindeglied zwischen Naturwissenschaften und Medizin<br />

8 Hugo Josef Seemann<br />

Wissenschaftliche und technische Aspekte der Metallforschung<br />

9 Fritz Brecher<br />

Rechtsformalismus und Wirtschaftsleben<br />

10 Josef Schmithüsen<br />

Was ist eine Landschaft?<br />

11 Werner Nachtigall<br />

Biologische und globale Energetik<br />

12 Gert Hummel<br />

Hoffnung Universität<br />

13 Johann Paul Bauer<br />

Universität und Gesellschaft<br />

14 Hermann Josef Haas<br />

Medizin – eine naturwissenschaftliche Disziplin?<br />

15 Werner Nachtigall<br />

Biologische Grundlagenforschung<br />

16 Kuno Lorenz<br />

Philosophie – eine Wissenschaft?<br />

17 Wilfried Fiedler<br />

Die Verrechtlichung als Weg oder Irrweg der Europäischen Integration<br />

18 Ernest Zahn<br />

Die Niederländer, die Deutschen – ihre Geschichte und ihre politische Kultur<br />

19 Axel Buchter<br />

Perspektiven der Arbeitsmedizin zwischen Klinik, Technik und Umwelt<br />

20 Reden anläßlich der Verleihung der Würde eines Ehrensenators an Herrn Ernst Haaf und<br />

Herrn Dr. Wolfgang Kühborth


Anhang<br />

21 Pierre Deyon<br />

Le bilinguisme en Alsace<br />

22 Jacques Mallet<br />

Vers une Communauté Européenne de la Technologie<br />

Rainer Hudemann<br />

Sicherheitspolitik oder Völkerverständigung?<br />

23 Andrea Romano<br />

Der lange Weg Italiens in die Demokratie und den Fortschritt<br />

Rainer Hudemann<br />

Von der Resistenza zur Rekonstruktion<br />

Helene Harth<br />

Deutsch-italienische Literaturbeziehungen<br />

24 Alfred Herrhausen<br />

Macht der Banken<br />

25 Gerhard Schmidt-Henkel<br />

„Die Wirkliche Welt ist in Wahrheit nur die Karikatur unserer großen Romane“ – über<br />

die Realität literarischer Fiktion und die Funktionalität unserer Realitätswahrnehmungen<br />

26 Heike Jung, Johann Paul Bauer<br />

Problemkreis AIDS – seine juristischen Dimensionen<br />

27 Horst Albach<br />

Praxisorientierte Unternehmenstheorie und theoriegeleitete Unternehmenspraxis<br />

28 Reden und Vorträge aus Anlass der Verleihung der Würde eines Doktors der Philosophie<br />

ehrenhalber an Bischof Monseñor Leonidas E. Proaño<br />

29 Jubiläumssymposion zum 65. Geburtstag von Prof. Dr. Martin Schrenk und zum 15jährigen<br />

Bestehen des Instituts für Klinische Psychotherapie<br />

30 Hermann Krings<br />

Universität im Wandel<br />

„Man steigt nicht zweimal in denselben Fluß“ (Heraklit)<br />

31 Wolfgang J. Mommsen<br />

Max Weber und die moderne Geschichtswissenschaft<br />

32 Günter Hotz<br />

Algorithmen, Sprachen und Komplexität<br />

33 Michael Veith<br />

Chemische Fragestellungen: Metallatome als Bausteine von Molekülen<br />

34 Torsten Stein<br />

Was wird aus Europa?<br />

35 Jörg K. Hoensch<br />

Auflösung – Zerfall – Bürgerkrieg: Die historischen Wurzeln des neuen Nationalismus in<br />

Osteuropa<br />

36 Christa Sauer, Johann Marte, Pierre Béhar<br />

Österreich, Deutschland und Europa<br />

37 Reden aus Anlass der Verabschiedung von Altpräsident Richard Johannes Meiser<br />

38 Karl Ferdinand Werner<br />

Marc Bloch und die Anfänge einer europäischen Geschichtsforschung<br />

Anhang<br />

39 Hartmann Schedels Weltchronik<br />

Eine Ausstellung in der Universitäts- und Landesbibliothek Saarbrücken<br />

40 Hans F. Zacher<br />

Zur forschungspolitischen Situation am Ende des Jahres 1994<br />

41 Ehrenpromotion, Doctor philosophiae honoris causa, von Fred Oberhauser<br />

42 Klaus Martin Girardet<br />

Warum noch ‘Geschichte’ am Ende des 20. Jahrhunderts? Antworten aus althistorischer<br />

Perspektive<br />

43 Klaus Flink<br />

Die Mär vom Ackerbürger. Feld- und Waldwirtschaft im spätmittelalterlichen Alltag rheinischer<br />

Städte<br />

44 Ehrenpromotion, Doktor der Naturwissenschaften, von Henri Bouas-Laurent<br />

45 Rosmarie Beier<br />

Menschenbilder. Körperbilder. Prometheus. Ausstellungen im kulturwissenschaftlichen<br />

Kontext<br />

46 Erika Fischer-Lichte<br />

Theater als Modell für eine performative Kultur<br />

47 Klaus Martin Girardet<br />

50 Jahre „Alte Geschichte“ an der Universität des Saarlandes<br />

48 Philosophie in Saarbrücken, Antrittsvorlesungen<br />

49 Gedenkfeier für Universitätsprofessor Dr. phil. Jörg K. Hoensch<br />

50 Evangelische Theologie in Saarbrücken, Antrittsvorlesungen<br />

51 Franz Irsigler<br />

Was machte eine mittelalterliche Siedlung zur Stadt?<br />

52 Ehrenpromotion, Doctor philosophiae honoris causa, von Günther Patzig<br />

53 Germanistik im interdisziplinären Gespräch. Reden und Vorträge beim Abschiedskolloquium<br />

für Karl Richter<br />

54 Allem Abschied v oran. Reden und Vorträge anlässlich der Feier des 65. Geburtstages von<br />

Gerhard Sauder<br />

55 Gedenkfeier für Universitätsprofessor Dr. jur. Dr. h.c. mult. Alessandro Baratta<br />

56 Gedenkfeier für Bischof Prof. Lic. theol. Dr. phil. Dr. h.c. mult. Gert Hummel<br />

57 Akademische Gedenkfeier für Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Jan Lichardus<br />

58 Akademische Gedenkfeier für Prof. Dr. Richard van Dülmen<br />

59 Klaus Martin Girardet<br />

Das Neue Europa und seine Alte Geschichte<br />

60 Psychologie der Kognition. Reden und Vorträge anlässlich der Emeritierung von Prof.<br />

Dr. Werner H. Tack<br />

61 Alberto Gil<br />

Rhetorik und Demut, Ein Grundsatzpapier zum Rednerethos, Vortrag zur Eröffnung des<br />

Workshops „Kommunikation und Menschenführung“ im Starterzentrum<br />

62 Oft gescholten, doch nie zum Schweigen gebracht. Treffen zum Dienstende von Stefan<br />

Hüfner<br />

63 Theologische Perspektiven aus Saarbrücken, Antrittsvorlesungen


Anhang<br />

64 Germanistisches Kolloquium zum 80. Geburtstag von Gerhard Schmidt-Henkel<br />

65 Akademische Gedenkfeier für Universitätsprofessor Dr. Wilhelm Wegener<br />

66 Akademische Gedenkfeier für Universitätsprofessor Dr. Jürgen Domes<br />

67 Gerhard Sauder<br />

Gegen Aufklärung?<br />

68 50 Jahre Augenheilkunde an der Universität des Saarlandes. 1955–2005<br />

69 Elmar Wadle<br />

Urheberrecht zwischen Gestern und Morgen – Anmerkungen eines Rechtshistorikers<br />

70 Akademische Feier zum 80. Geburtstag von Rudolf Richter<br />

71 Akademische Gedenkfeier für Universitätsprofessor Dr. Bernhard Aubin<br />

72 Akademische Feier zum 80. Geburtstag von Gerhard Lüke

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