Andreas Freitäger
Andreas Freitäger
Andreas Freitäger
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ISBN: 978-3-940147-08-0<br />
73<br />
Dokumentationsziele und<br />
Aspekte der Bewertung in<br />
Hochschularchiven und Archiven<br />
wissenschaftlicher Institutionen UNIVERSITÄTSREDEN
Dokumentationsziele und Aspekte<br />
der Bewertung in Hochschularchiven und Archiven<br />
wissenschaftlicher Institutionen<br />
Beiträge zur Frühjahrstagung der Fachgruppe 8<br />
– Archivare an Hochschularchiven<br />
und Archiven wissenschaftlicher Institutionen –<br />
des Verbandes deutscher Archivarinnen und Archivare<br />
am 23. und 24. März 2006<br />
an der Universität des Saarlandes<br />
in Saarbrücken
Impressum<br />
Herausgeber Der Universitätspräsident<br />
Redaktion Presse- und Informationszentrum<br />
Universitätsarchiv<br />
der Universität des Saarlandes<br />
66123 Saarbrücken<br />
Satztechnik Evelyne Engel<br />
Universitätsdruckerei<br />
Druck Universitätsdruckerei 2007<br />
ISBN 978-3-940147-08-0<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
Redaktionelle Einführung 7<br />
Universitätsarchivar Dr. Wolfgang Müller<br />
Begrüßung 9<br />
Prof. Dr. Patricia Oster-Stierle<br />
Vizepräsidentin für Planung und Strategie der Universität des Saarlandes<br />
Grußwort des Verbandes deutscher Archivarinnen und Archivare 13<br />
Archivdirektor Dr. Martin Dallmeier (Regensburg)<br />
Grußwort des Vorsitzenden der Fachgruppe 8 19<br />
Archivdirektor Dr. Dieter Speck (Universitätsarchiv Freiburg)<br />
Zwischen Nancy, AStA und ESG und im „Aktenurwald" – Aktuelle 23<br />
Aktivitäten und Annotationen aus dem Archiv der Universität des<br />
Saarlandes<br />
AOR Dr. Wolfgang Müller (Archiv der Universität des Saarlandes)<br />
Dokumentationsziele als Grundlage der Arbeit von 33<br />
Universitätsarchiven – Bewertung, Erschließung, Bestandserhaltung<br />
Bibliotheksrat Dr. Max Plassmann (Universitätsarchiv Heinrich Heine-<br />
Universität Düsseldorf)<br />
Integrierte Bewertung – 47<br />
Ansatz zu einem nachhaltigen Ressourceneinsatz im Archiv<br />
AR Dr. Klaus Nippert (Universitätsarchiv Karlsruhe – TH)<br />
Universitätsreden 73 3
Inhalt<br />
Dokumentationsziele und Aspekte der Bewertung aus der 55<br />
Perspektive des Archivs der Max-Planck-Gesellschaft<br />
Dr. Marion Kazemi (Archiv der Max-Planck-Gesellschaft Berlin)<br />
Archivische Bewertung aus der Sicht des Archivs der Berlin- 73<br />
Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften<br />
Dr. Vera Enke (Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie<br />
der Wissenschaften Berlin)<br />
Künstler-Archive – ein Sammlungsziel? 93<br />
Zur Sammlungsstrategie des Archivs der Universität der Künste Berlin<br />
AR Dr. Dietmar Schenk (Universitätsarchiv der Universität<br />
der Künste Berlin)<br />
Wo Kunst entsteht. Die Sammlung der Burg Giebichenstein 107<br />
Hochschule für Kunst und Design Halle<br />
Dr. Angela Dolgner (Kustodie und Archiv Burg Giebichenstein<br />
Hochschule für Kunst und Design Halle)<br />
Bestandsprofil des Archivs in der Bibliothek für 117<br />
Bildungsgeschichtliche Forschung<br />
Dr. Ursula Basikow (Archiv in der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche<br />
Forschung des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische<br />
Forschung Berlin)<br />
Archive im Wandel. Dokumentations- und Sammlungsstrategien 129<br />
bei kultureller Überlieferung<br />
Dr. Sabine Brenner-Wilczek (Stadtarchiv und Sammlungen Schloß<br />
Burgfarrnbach)<br />
Bestandsbildung im Archiv des Deutschen Museums 139<br />
Dr. Wilhelm Füßl (Archiv des Deutschen Museums München)<br />
4 Universitätsreden 73<br />
Inhalt<br />
Werkstattbericht: Der Nachlass des Soziologen und 151<br />
Universitätsplaners<br />
Helmut Schelsky im Universitätsarchiv Bielefeld<br />
Universitätsarchivar Martin Löning M.A. (Universitätsarchiv Bielefeld)<br />
Platzraubendes Ärgernis oder Wissenspool? 169<br />
Zur Bewertungspraxis von Prüfungsakten im Universitätsarchiv Köln<br />
AAss Dr. <strong>Andreas</strong> <strong>Freitäger</strong> (Universitätsarchiv Köln)<br />
Bewertung von Prüfungsarbeiten im Universitätsarchiv Augsburg 177<br />
AR Dr. Werner Lengger (Universitätsarchiv Augsburg)<br />
Studentenakten. Fluch oder Segen? 191<br />
Universitätsarchivar Stephan Luther (Archiv der<br />
Technischen Universität Chemnitz)<br />
Bewertung von Prüfungsakten der Prüfungsämter und 197<br />
Prüfungsausschüsse für akademische Fachprüfungen der Fakultäten<br />
und Fachbereiche der Universität Hamburg<br />
Dr. Heidelies Wittig (Staatsarchiv Hamburg)<br />
Bewertung bei der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des 201<br />
Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU)<br />
Dr. Gerhard Neumeier (Außenstelle Suhl der Bundesbeauftragten für die<br />
Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR)<br />
Universitätsgeschichtliche Forschung und archivische Vielfalt – 221<br />
mit einem besonderen Blick auf die Überlieferung des MfS<br />
Katharina Lenski (Thüringer Archiv für Zeitgeschichte Jena) /<br />
Dr. Tobias Kaiser (Friedrich-Schiller-Universität Jena)<br />
Universitätsreden 73 5
Redaktionelle Einführung<br />
Wolfgang Müller<br />
Diese Ausgabe der „Universitätsreden“ dokumentiert 17 Beiträge, die im<br />
Umfeld der Frühjahrstagung der Fachgruppe 8 – Archivare an Hochschularchiven<br />
und Archiven wissenschaftlicher Institutionen – des Verbandes<br />
deutscher Archivarinnen und Archivare am 23. und 24. März 2006 an der<br />
Universität des Saarlandes entstanden. Nach den Themen „Universitätsjubiläen“<br />
in Leipzig 2003, „Stadt und Universität“ in Frankfurt am Main<br />
2004 und „Nachlässe“ in Potsdam 2005 widmete sich die vom Archiv der<br />
Universität des Saarlandes organisierte Veranstaltung dem Arbeitsfeld<br />
„Dokumentationsziele und Aspekte der Bewertung in Hochschularchiven<br />
und Archiven wissenschaftlicher Institutionen“ und griff damit ein stets<br />
aktuelles und zentrales archivisches Kernthema auf, wie zahlreiche Publikationen,<br />
der Workshop der Archivschule Marburg 2004, die Beratungen<br />
des Arbeitskreises „Archivische Bewertung“ des Verbandes deutscher<br />
Archivarinnen und Archivare oder des Unterausschusses „Überlieferungsbildung“<br />
der Bundeskonferenz der Kommunalarchive zeigen.<br />
Bei der Saarbrücker Frühjahrstagung referierten Ursula Basikow, <strong>Andreas</strong><br />
<strong>Freitäger</strong>, Marion Kazemi, Werner Lengger, Martin Löning, Stephan<br />
Luther, Wolfgang Müller, Klaus Nippert, Max Plassmann und Dietmar<br />
Schenk. Angesichts anregender Diskussionen boten spontan etliche Kolleginnen<br />
und Kollegen an, das Tagungsthema durch eine Betrachtung aus<br />
dem jeweils eigenen archivischen Erfahrungsbereich weiter auszuleuchten<br />
und in diese Publikation einzubringen. So entstanden die Beiträge der<br />
Kolleginnen und Kollegen Sabine Brenner-Wilczek, Andrea Dolgner, Vera<br />
Enke, Wilhelm Füßl, Gerhard Neumaier und Heidelies Wittig sowie<br />
zuletzt Katharina Lenski und Tobias Kaiser.<br />
Universitätsreden 73 7
Wolfgang Müller<br />
Insgesamt bietet der Band nun eine interessante Positionsbestimmung und<br />
ein facettenreiches Panorama aus den Archiven der Universitäten, Hochschulen<br />
und wissenschaftlichen Institutionen und verdeutlicht dabei auch,<br />
wie wichtig diese oft unter schwierigen Bedingungen agierenden Archive<br />
für die adäquate Überlieferungsbildung und -sicherung und als „Speicher<br />
des kulturellen Gedächtnisses“ (um das Motto des Eröffnungsvortrages<br />
beim Deutschen Archivtag in Mannheim im September 2007 aufzunehmen)<br />
sind.<br />
Bei der Saarbrücker Frühjahrstagung haben schließlich die Kollegen<br />
Thomas Becker, Wolfgang Müller, Klaus Nippert und Max Plassmann<br />
eine Arbeitsgruppe gebildet, die zur Zeit als „Handreichung“ ein „Dokumentationsprofil<br />
für Universitäts- und andere Hochschularchive“ erstellt.<br />
Außerdem bemüht sich der Arbeitskreis der bayerischen Universitätsarchive<br />
im Rahmen der geplanten DMS-Einführung an bayerischen Universitäten<br />
gegenwärtig um die Formulierung eines Fristen- und Bewertungskatalogs<br />
auf der Basis eines Musteraktenplans für die Universitätsverwaltungen.<br />
Der archivwissenschaftliche Diskurs geht also – auch im<br />
Zeichen neuer archivischer Herausforderungen – weiter wie nicht zuletzt<br />
die von Sabine Brenner-Wilczek, Gertrude Cepl-Kaufmann und Max<br />
Plassmann präsentierte neue „Einführung in die moderne Archivarbeit“<br />
(2006) oder Dietmar Schenks Reflexionen „Kleine Theorie des Archivs“<br />
(2008) illustrieren.<br />
Schließlich bleibt der Dank des gastgebenden Archivars an alle Autorinnen<br />
und Autoren und an die Universität des Saarlandes, die diese Publikation,<br />
die viele interessierte Leserinnen und Leser finden möge, ermöglicht<br />
haben.<br />
8 Universitätsreden 73<br />
Sehr verehrte Anwesende,<br />
Begrüßung<br />
Patricia Oster-Stierle<br />
als Vizepräsidentin der Universität des Saarlandes darf ich Sie hier im<br />
Konferenzraum recht herzlich begrüßen und freue mich, dass Sie aus der<br />
gesamten Bundesrepublik und aus Salzburg der Einladung unseres Universitätsarchivs<br />
gefolgt sind und sich dem aktuellen archivwissenschaftlichen<br />
Thema „Dokumentationsziele und Bewertung“ zuwenden. Mein besonderer<br />
Gruß gilt Ihnen, sehr geehrter Herr Archivdirektor Dr. Dallmeier,<br />
als Vertreter des Vorstandes des Verbandes deutscher Archivarinnen<br />
und Archivare und Ihnen, sehr geehrter Herr Archivdirektor Dr. Speck, als<br />
Vorsitzendem der Fachgruppe sowie ihrem Stellvertreter Herrn Ralf<br />
Müller.<br />
Es wird Sie als Archivarinnen und Archivare sicherlich interessieren,<br />
dass unsere Universität des Saarlandes vor nunmehr 58 Jahren 1948 gegründet<br />
worden ist – mit europäischer Perspektive unter Verschmelzung<br />
deutscher und französischer Bildungstraditionen und unter der Ägide der<br />
Französischen Republik und unserer Mutteruniversität Nancy. Recht anschaulich<br />
informiert beispielsweise das noch recht schmale, erste Vorlesungsverzeichnis<br />
zum Wintersemester 1948/49 über die universitären<br />
Anfänge, den Aufbau aus dem Nichts. Und nicht uninteressant erscheint<br />
mir aus heutiger Sicht eine kleine Rückblende auf die damaligen programmatischen<br />
Äußerungen über die Aufgaben dieser neuen Hochschule:<br />
Während der französische Hochkommissar Gilbert Grandval die „Hilfe<br />
Frankreichs“, aber auch den „Geist internationaler Verständigung“, die<br />
„Bildung einer saarländischen Elite“ und die „Annäherung der Jugend<br />
über nationale Vorurteile hinaus“ beschwor, betrachtete der erste Rektor<br />
Universitätsreden 73 9
Patricia Oster-Stierle Begrüßung<br />
Jean Barriol die Universität als „Werkzeug einer wahrhaft europäischen<br />
Gesinnung“, und Ministerpräsident Johannes Hoffmann sprach von einer<br />
„Pflegestätte des Geistes, der die Enge zu überwinden sucht und nach<br />
europäischer Weite strebt“, von einer „Burg des Friedens“ und einem<br />
„Symbol neuen Werdens“, wobei von der Universität „Strahlen beglückender<br />
Arbeit in die europäische Zukunft leuchten“ sollten.<br />
Trotz mancher Wandlungen im Lauf der vergangenen Jahrzehnte bietet<br />
unsere Universität dank dieser Gründungsgeschichte in einigen Bereichen<br />
französische Studiengänge, besitzt unter anderem das in Deutschland einzigartige<br />
Centre juridique franco-allemand und das international renommierte<br />
Europa-Institut. Sie nimmt nicht nur wegen ihrer Kooperationen<br />
mit den Universitäten unseres westlichen Nachbarn und ihrer Frankreich-<br />
Kompetenz eine besondere Position im deutschen Hochschulwesen ein.<br />
Das Netz der Universitätspartnerschaften ist gleichwohl weltweit geknüpft,<br />
und es mag im Kreis der Archivarinnen und Archivare durchaus erwähnt<br />
werden, dass unsere Universität bereits vor 1989 wegweisende Partnerschaften<br />
mit ostmitteleuropäischen und osteuropäischen Universitäten geschlossen<br />
hat.<br />
Auch wenn die Universitas Saraviensis noch nicht auf eine lange Entwicklung<br />
zurückschauen kann, so wurde sie nichtsdestoweniger als erste<br />
linksrheinische Hochschule nach dem Zweiten Weltkrieg neu gegründet<br />
und besitzt nicht nur wegen der französischen Gründungstradition, sondern<br />
auch wegen der modernen Universitätsstrukturen in den späten 50er<br />
und frühen 60er Jahren und wegen ihres spezifischen wissenschaftlichen<br />
Profils eine reizvolle Geschichte, deren Erforschung sich lohnt. Um das<br />
Archivgut der Universität zu sichern und die Entwicklung der Universität<br />
kontinuierlich zu dokumentieren, fiel Ende der 80er Jahre die Entscheidung<br />
zur Gründung eines eigenen Universitätsarchivs, nachdem zuvor das<br />
Landesarchiv Saarbrücken gelegentlich bei der Registraturführung beraten<br />
und archivreife Personalakten übernommen hatte. Nachdem dann der<br />
1989 eingestellte Archivreferendar seine Ausbildung für den höheren<br />
Archivdienst absolviert hatte, wurde 1991 das Universitätsarchiv als Abteilung<br />
der Zentralen Verwaltung eingerichtet. Bald nach der Verabschiedung<br />
des Saarländischen Archivgesetzes hat der Senat unserer Universität<br />
1993 eine eigene Archivordnung erlassen. In den vergangenen 15 Jahren<br />
hat der Universitätsarchivar umfangreiche archivische Arbeit geleistet,<br />
zahlreiche Veröffentlichungen und Editionen zur Universitätsgeschichte<br />
vorgelegt und wirkt außerdem als „Gedächtnis der Universität“ in besonderem<br />
Maße an der aktuellen Öffentlichkeitsarbeit mit, wie seine ständige<br />
und intensive Mitarbeit in unserer Universitätszeitung „campus“, Ausstellungen<br />
und Internet-Präsentationen zeigen.<br />
Nach dieser kurzen Einführung wünsche ich Ihnen eine ertragreiche<br />
Tagung und einen angenehmen Aufenthalt in unserer Universität.<br />
10 Universitätsreden 73 Universitätsreden 73 11
Grußwort des<br />
Verbandes deutscher Archivarinnen und Archivare<br />
Martin Dallmeier<br />
Sehr geehrte Frau Vizepräsidentin der Universität des Saarlandes,<br />
Frau Prof. Dr. Patricia Oster-Stierle,<br />
sehr geehrter Herr Vorsitzender der Fachgruppe 8 und<br />
Vorstandskollege im Verband deutscher Archivarinnen und Archivare,<br />
lieber Herr Dr. Speck,<br />
liebe Kolleginnen und Kollegen im VdA,<br />
meine sehr verehrten Damen und Herren!<br />
Die Älteren unter uns können sich vielleicht noch erinnern, dass auf dem<br />
Deutschen Archivtag 1993 in Augsburg in den Arbeitssitzungen – Sektionen<br />
gab es damals noch nicht – eine große kontroverse Diskussion darüber<br />
entbrannt war, ob sich die Archivare aus ihrem beruflichen Selbstverständnis<br />
heraus künftig auf die drei archivischen Kernaufgaben beschränken<br />
sollten, nämlich auf Übernahme, Erschließung und Nutzung der<br />
Bestände, oder ob zu den Aufgaben der Archive auch eine größere Präsenz<br />
in der Öffentlichkeit gehöre, sei es durch Publikationen, Ausstellungen<br />
oder etwa in jüngster Zeit, durch eine Beteiligung am „Tag der Archive“<br />
oder durch archivpädagogische Projekte.<br />
Was in der damaligen Diskussion jedoch auf jeden Fall noch zu kurz<br />
kam, war ein klares Statement, dass man zunächst die Grundvoraussetzung<br />
schaffen müsste, um sich sowohl als ein ausschließlich archivischer Dienstleister<br />
bewusst auf die Kernaufgaben beschränken zu können, als sich auch<br />
als eine archivische Fachinstitution mit akzentuierter Selbstdarstellung in<br />
der Öffentlichkeit fachlich und inhaltlich korrekt präsentieren zu können.<br />
Denn die wesentlichen Voraussetzungen für eine fachgerechte Präsentation<br />
der Archive und ihrer Bestände ist die Auswahl = Bewertung des ange-<br />
Universitätsreden 73 13
Martin Dallmeier Grußw ort des Verbandes Deutscher Archiv arinnen und Archiv are<br />
botenen Registraturgutes bzw. dessen Prüfung auf Archivreife und Archivwürdigkeit,<br />
also eine fachgerechte, wissenschaftlich fundierte und nachvollziehbare<br />
Bewertung des potentiellen Archivgutes!<br />
Zur Verdeutlichung dieses Anspruches darf ich aus der Vorbemerkung<br />
des Positionspapiers des Arbeitskreises „Archivische Bewertung“ im VdA<br />
zitieren:<br />
„Durch den Bewertungsvorgang verwandeln Archivarinnen und Archivare<br />
Unterlagen des politischen Prozesses und gesellschaftlichen Lebens in<br />
historische Quellen. Sie formen damit eine unverzichtbare Basis der geschichtlichen<br />
Forschung und den Rahmen des künftigen historischen<br />
Wissens. ... Damit wird eine Kontrolle der demokratischen Organe ebenso<br />
ermöglicht wie die Erarbeitung von Darstellungen vergangener Zeiten.“<br />
Die Bewertung des Schriftgutes war und ist im Grunde genommen also<br />
der erste Fixpunkt für den Facharchivar beim Aufbau eines Archivs und<br />
dessen Archivtektonik. Die fachliche Bewertung, die damit verbundene Festlegung<br />
der Dokumentationsziele, ermöglicht uns Archivaren, die wesentlichen<br />
archivalischen Quellen für die zukünftige Forschung ins rechte<br />
Licht zu rücken, sozusagen die Spreu vom Weizen zu trennen. Erst durch<br />
die Trennung und Entsorgung des ineffizienten Materials ohne primären<br />
Informationswert, das nur räumlich und noch mehr inhaltlich belastet,<br />
sind wir befähigt, der Forschung und Öffentlichkeit das notwendige archivische<br />
Quellenmaterial in ausreichender Dichte und notwendiger Tiefe<br />
verfügbar zu machen.<br />
Zur diesjährigen Frühjahrstagung der Fachgruppe 8 mit dem Fachthema<br />
„Dokumentationsziele und Aspekte der Bewertung in Hochschularchiven<br />
und Archiven wissenschaftlicher Institutionen“ wäre deshalb besonders<br />
gerne der neue 1. Vorsitzende des VdA – des Verbandes deutscher Archivarinnen<br />
und Archivare e.V. – Herr Dr. Robert Kretzschmar, Präsident des<br />
Landesarchivs Baden-Württemberg, nach Saarbrücken gekommen. Denn<br />
sowohl innerhalb als auch außerhalb des VdA ist ihm die Bewertungsfrage<br />
in Theorie und Praxis ein großes Anliegen. Davon zeugen seine zahlreichen<br />
Publikationen zu diesem Themenkomplex und der Vorsitz im<br />
„Arbeitskreis Archivische Bewertung“, den er innerhalb des VdA vor fünf<br />
Jahren mitinitiiert hat und der auch künftig beim VdA seinen festen Platz<br />
haben wird.<br />
Da Dr. Kretzschmar jedoch aus terminlichen Gründen an dieser Fachgruppentagung<br />
nicht teilnehmen kann, darf ich ihn heute offiziell entschuldigen<br />
und Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen seine besten Wünsche<br />
für die Tagung übermitteln.<br />
Er hat mich deshalb gebeten, ob ich ihn als Schatzmeister des VdA und<br />
Mitglied des geschäftsführenden Vorstands hier in Saarbrücken anlässlich<br />
der Frühjahrstagung der Fachgruppe 8 an der Universität des Saarlandes<br />
vertreten könnte und möchte. Ich habe spontan und sehr schnell zugesagt:<br />
Die Gründe sind mehrschichtig, nämlich:<br />
1. Das Thema interessiert mich im allgemeinen und im besonderen.<br />
Bewertungsfragen betreffen alle Archivsparten, auch die Archivare an<br />
Privatarchiven, die ich als Fachgruppenvorsitzender der Fachgruppe 4<br />
im VdA vertrete.<br />
2. Durch persönliche Veränderungen in meinem Berufsleben gehöre ich<br />
sozusagen als „Zwitter“ zwar nicht offiziell, aber unter einer „inhaltlichen<br />
Ausrichtung“ der Fachgruppe 8 an.<br />
Denn seit Februar 2004 bemühe ich mich nämlich als Universitätsarchivar,<br />
das stark vernachlässige Archiv der Universität Regensburg aufzubauen.<br />
So sind mir spezifische Probleme der Fachgruppe 8 zwischenzeitlich<br />
nicht mehr zu fremd, auch bei Fragen der Bewertung von Registraturen<br />
und Aktenbeständen im Universitätsbereich. Positiv hat mich seitdem vor<br />
allem gestimmt, dass ich in den schon 2003 existierenden „Arbeitskreis<br />
bayerischer Universitätsarchivare“ nach meiner beruflichen Veränderung<br />
so offen aufgenommen wurde. Mein Dank – und der Dank des VdA – gilt<br />
hierbei vor allem Herrn Kollegen Dr. Lengger vom Universitätsarchiv<br />
Augsburg als Sprecher dieses Arbeitskreises und allen bayerischen Kolleginnen<br />
und Kollegen, die sich dort engagieren. Die Initiative des Arbeitskreises<br />
hat es ermöglicht, dass seit Ende 2005 alle bayerischen Universitätsarchive,<br />
auch die Bundeswehrhochschule in München-Neubiberg und die<br />
Akademie der Schönen Künste in München, im Arbeitskreis mitarbeiten.<br />
Eine tolle Leistung der bayerischen Universitätsarchivare – herzlichen<br />
Dank.<br />
In Vorbereitung auf diese Fachgruppentagung in Saarbrücken – und<br />
auch im Hinblick auf das Grußwort, das ich hier sprechen soll, – habe ich<br />
14 Universitätsreden 73 Universitätsreden 73 15
Martin Dallmeier Grußw ort des Verbandes Deutscher Archiv arinnen und Archiv are<br />
Herrn Kollegen Speck „ganz locker“ angeschrieben: Ich will für das VdA-<br />
Grußwort auf das Tagungsthema „Bewertung“ eingehen, bitte schicken Sie<br />
mir dafür die vorhandenen Bewertungsrichtlinien und Aussonderungsbestimmungen<br />
für Universitätsverwaltungen! Seine Antwort war ernüchternd:<br />
„Was die Bewertungsrichtlinien / Handreichungen oder ähnliches betrifft,<br />
so gibt es für die Unis meines Wissens noch nichts“. – Denn bisher<br />
war das auch immer bei Diskussionen als derart heterogen erschienen, dass<br />
es sich auch nicht lohnte, darüber nachzudenken. Außer Empfehlungen für<br />
die Verwaltung der Krankenakten und Prüfungsunterlagen (Dr. Lengger)<br />
gibt es nichts! Sorry !<br />
Daher begrüße ich als Vertreter des Fachverbandes VdA die Wahl gerade<br />
dieser Thematik „Bewertung“ bei der diesjährigen Frühjahrstagung der<br />
Fachgruppe 8 sehr. Es kann uns nur dem Ziel näher bringen, für möglichst<br />
viele Bereiche von Archiven, speziell der Universitätsarchive<br />
„Empfehlungen und Richtlinien“ zu erarbeiten, diese Empfehlungen in<br />
die allgemeine Bewertungsdiskussion einzubringen, unter den allgemeinen<br />
Bewertungsgrundsätzen, z. B. des Positionspapiers des Arbeitskreises<br />
„Archivische Bewertung“ zu überprüfen und somit die Kolleginnen und<br />
Kollegen bei der täglichen Arbeit fachlich besser zu unterstützen. Es ist<br />
dringend notwendig, dass den Kolleginnen und Kollegen, die bei ihrer<br />
Arbeit in den oft „ungeordneten“ Archiven der Universitäten und wissenschaftlichen<br />
Institutionen fast täglich mit Bewertungsproblemen zu tun<br />
haben, fachkundige Hilfe angeboten wird, und dies nicht nur bei den massenhaft<br />
gleichförmigen Fallakten wie Prüfungsakten, Personalakten,<br />
Studentenkanzlei, Krankenakten.<br />
Der VdA im allgemeinen und ich als Vorstandsmitglied und Schatzmeister<br />
des VdA erkennen selbstverständlich die Notwendigkeit, auch<br />
künftig der archivischen Bewertung für die fachkundige archivische Überlieferungsbildung<br />
große Aufmerksamkeit zu widmen. Dafür spricht auch,<br />
dass der Gesamtvorstand in seiner letzten Sitzung einstimmig beschlossen<br />
hat, den Arbeitskreis „Archivische Bewertung im VdA“ unverändert weiterzuführen.<br />
Dieser Arbeitskreis ist auch in der Zukunft notwendig!<br />
Somit bleibt mir am Ende meines Grußwortes nur noch übrig, Ihnen,<br />
den Mitgliedern und Gästen der Fachgruppe 8 im VdA, die besten<br />
Wünsche des gesamten VdA – des Verbandes deutscher Archivarinnen und<br />
Archivare e.V. – für diese Veranstaltung zu übermitteln sowie Ihnen und<br />
uns allen informative Vorträge, gute Gespräche, ertragreiche Diskussionen<br />
und nachhaltige Ergebnisse für unsere Arbeit zu wünschen. Dieses wichtige<br />
Thema „ Bewertung“ der Frühjahrstagung der Fachgruppe 8 in Saarbrücken<br />
lässt uns dies alles nicht nur erhoffen, sondern erwarten!<br />
Da die Präsidentin der Universität des Saarlandes leider aus terminlichen<br />
Gründen nicht an dieser Eröffnung teilnehmen kann, darf ich die<br />
hier anwesende Frau Vizepräsidentin bitten, ihr diesen meinen letzten Part<br />
des Grußwortes zu übermitteln:<br />
Ihnen, Frau Präsidentin Dr. Wintermantel, darf ich an dieser Stelle sehr<br />
herzlich gratulieren zur vor kurzem erfolgten Wahl zur Präsidentin der<br />
Hochschulrektorenkonferenz – oder wie es zumindest die Regensburger<br />
Lokalzeitung formuliert hat – zur Wahl an die Spitze des Lobbyistenverbandes<br />
der Universitäten. Sie werden also die berechtigten Forderungen<br />
der deutschen Universitäten an oberster Stelle gegenüber der Öffentlichkeit<br />
und der Politik vertreten. Unsere Bitte an Sie wäre, vertreten Sie dabei<br />
auch vehement die Belange der „dazugehörigen“ Universitätsarchive; denn<br />
die künftige Beurteilung der Arbeit und der Leistungen der deutschen<br />
Universitäten hängt auch zum großen Teil von ihren Archiven ab, wie<br />
diese fachkundig die ausufernde schriftliche Überlieferung durch fachgerechte<br />
Bewertung für die Zukunft gestalten. Und diese Aufgabe ist für die<br />
in der Regel sachlich und personell nur unbefriedigend ausgestatteten<br />
Universitätsarchive gewaltig!<br />
Herzlichen Dank!<br />
16 Universitätsreden 73 Universitätsreden 73 17
Grußwort des Vorsitzenden der Fachgruppe 8<br />
Dieter Speck<br />
Sehr geehrte Frau Vizepräsidentin Prof. Dr. Oster-Stierle,<br />
lieber Wolfgang Müller,<br />
liebe Kolleginnen und Kollegen!<br />
Zur Frühjahrstagung an der Universität des Saarlandes darf ich Sie ganz<br />
herzlich begrüßen. Dieses Jahr haben wir es wieder einmal geschafft, dass<br />
unsere traditionelle Tagung der Archive der Hochschulen und wissenschaftlichen<br />
Einrichtungen ihren Namen Frühjahrstagung zu Recht führt,<br />
zumindest wenn man die zeitliche Nähe von zwei Tagen nach Frühlingsbeginn<br />
betrachtet.<br />
Doch zuerst danken wir Frau Vizepräsidentin Prof. Dr. Oster-Stierle für<br />
die freundliche Aufnahme an ihrer Universität und unserem Kollegen<br />
Wolfgang Müller für die Organisation unserer Frühjahrstagung.<br />
Die mit knapp sechzig Jahren noch relativ junge Universität des Saarlandes<br />
hat sich bei ihrer Gründung auf die Fahnen geschrieben, eine europäische<br />
Universität, eine sprach- und grenzüberschreitende Hochschule zu<br />
sein. Die politischen und geographischen Umstände haben dem Saarland<br />
eine Mittlerrolle zwischen Frankreich und Deutschland eingebracht, von<br />
der und mit der das Saarland auch heute lebt, heute wahrscheinlich aber<br />
wesentlich besser als in der Vergangenheit.<br />
Dass man hier an der Universität in Saarbrücken mit Menschen verschiedener<br />
Sprachen zusammentreffen und kommunizieren kann – so die<br />
Beschwörungen aus der Gründerzeit der hiesigen Universität – lässt mich<br />
als Badener, der sich mit Hochdeutsch etwas schwertut, dann auch hoffen.<br />
Wie Sie aus der Werbung des Landes Baden-Württemberg wissen, sollen<br />
wir angeblich so ziemlich alles können, außer Hochdeutsch. Was die<br />
Universitätsreden 73 19
Dieter Speck<br />
sprachliche Problematik betrifft, können Sie sich schließlich an mir überzeugen.<br />
Aber der Universität des Saarlandes war neben der Kommunikationsfähigkeit<br />
noch ein anderer Aspekt bereits bei der Gründung sehr wichtig.<br />
Die Universität des Saarlandes suchte einen Platz inmitten der alten Universitäten<br />
zu finden und war deshalb selbst von Beginn an sehr offensiv<br />
auf die Zukunft ausgerichtet. Gerade diese Zukunftsoffensiven sind heute<br />
mehr denn je in aller Munde. So passt es ausgezeichnet, wenn unser<br />
Kollege Müller vom Universitätsarchiv Saarbrücken als Organisator unserer<br />
Fachtagung nicht allein auf die Funktion der Archivs als Gedächtnis<br />
einer Institution setzt. Vielmehr greift er im Sinne seiner Saar-Universität<br />
die Vorausschau in die Zukunft auf, indem er Dokumentationsziele und<br />
Bewertungsfragen als Themen unserer Tagung aufgreift. Wolfgang Müller,<br />
mit dem ich gemeinsam die Archivschule Marburg durchschritten habe,<br />
ist so gesehen eine treue und vorsorgende Seele, wenn er die Gründungsziele<br />
seiner Universität auf die Fachproblematik seines Universitätsarchivs<br />
und unserer Fachtagung übertragen hat.<br />
Die wichtigsten Aufgaben von uns Archivaren sind tatsächlich nicht<br />
nur, uns selbst an der Betrachtung alter Urkunden zu erfreuen oder ansonsten<br />
einen ruhigen Lebenswandel in den Kellern unserer Arbeitgeber,<br />
wo wir rücksichtsvollerweise meist untergebracht werden, zu führen. Ein<br />
aktives Archivarsleben bedeutet in meinem Verständnis immer eine janusköpfige<br />
Existenz: Traditionspflege einerseits und eine vorausschauende,<br />
zukunftsplanende Berufsausübung andererseits; das sind die beiden Säulen<br />
unserer beruflichen Existenz.<br />
Die Bestandsbildung, die wir heute als Tagungsthema angehen, prägt<br />
heute die Überlieferung, die den künftigen Generationen als Basis ihrer<br />
historischen Forschungen und Auswertungen zur Verfügung stehen werden.<br />
Archivare müssen daher in viel größerem Umfang sich selbst als<br />
zukunftsorientierte und zukunftsprägende Fachleute verstehen und sich<br />
vor allem auch als solche ins Gespräch bringen. Gerade diese Form der<br />
Zukunftsoffensive sollte ins Blickfeld unserer Dienstherren gebracht werden,<br />
und ich hoffe, dass diese Frühjahrstagung dazu ein Stück beträgt.<br />
In diesem Sinne wünsche ich uns allen eine gewinnbringende Tagung<br />
und danke noch einmal Frau Vizepräsidentin Prof. Dr. Oster-Stierle und<br />
20 Universitätsreden 73<br />
Grußw ort des Vorsitzenden der Fachgruppe 8<br />
unserem Kollegen Wolfgang Müller für die gastfreundliche Aufnahme in<br />
ihrer Universität.<br />
Universitätsreden 73 21
Zwischen Nancy, AStA und ESG und im<br />
„Aktenurwald“ –<br />
Aktuelle Aktivitäten und Annotationen aus dem<br />
Archiv der Universität des Saarlandes<br />
Wolfgang Müller<br />
Traditionsgemäß hat der gastgebende Archivar bei den Frühjahrstagungen<br />
die Möglichkeit und Ehre, den ersten Vortrag zu präsentieren und auch<br />
das jeweilige Archiv vorzustellen. Die Vizepräsidentin hat Ihnen bereits<br />
einen kleinen Einblick in die kurze universitäre Archivgeschichte vermittelt,<br />
und im Vortrag will ich Ihnen in einem ersten Teil einige aktuelle<br />
Publikationen und Vorhaben des Universitätsarchivs vorstellen und in<br />
einem zweiten Abschnitt mit einigen kursorischen Annotationen zum<br />
Tagungsthema beitragen.<br />
Die facettenreiche Gründungsgeschichte der Universität des Saarlandes,<br />
die 1948 in der Sondersituation des damals politisch teilautonomen und<br />
ökonomisch durch Wirtschafts- und Währungsunion mit der Französischen<br />
Republik verbundenen Saarlandes entstand, ist bereits mehrfach<br />
skizziert worden: der Weg von den Homburger Hochschulkursen für<br />
Studierende der Medizin 1946 über das unter dem Patronat der Universität<br />
Nancy stehende, am 8. März 1947 eröffnete „Centre d’Études Supérieures<br />
de Hombourg“, die am 9. April 1948 am Pariser Quai d’Orsay gefassten<br />
Beschlüsse zur Umwandlung dieses Homburger Instituts in eine<br />
„Université de la Sarre“ und die Eröffnung der neuen Universität im<br />
November 1948 mit dem französischen Außenminister Robert Schuman<br />
als erstem prominentem Gast im Dezember. Entscheidend war dafür die<br />
Unterstützung der Französischen Republik und der Universität Nancy, die<br />
nicht nur in den Anfängen mit personeller und logistischer Unterstützung<br />
die neue Hochschule an der Saar förderte, sondern auch den Gründungsrektor<br />
stellte, und deren Altrektor neben seinen Hauptaufgaben im Pariser<br />
Erziehungsministerium als Präsident des Verwaltungsrats der Universität<br />
des Saarlandes fungierte. 1 Bis heute verbinden uns zahlreiche Koopera-<br />
Universitätsreden 73 23
Wolfgang Müller<br />
tionen, und so überrascht es nicht, dass sich der Universitätsarchivar auf<br />
Spurensuche begab und in einem 2005 erschienenen Kongressband die<br />
Geschichte der heute im Verbund der Charte de coopération universitaire<br />
in der Region Saar-Lor-Lux fortdauernden Beziehungen zu unserer<br />
Mutteruniversität Nancy skizziert hat. 2 Dieser Beitrag bildet jetzt den<br />
Baustein für eine gemeinsam mit der Medizinischen Fakultät Nancy angestrebte<br />
neue Publikation, in deren Vorfeld auch weitere privat gesammelte<br />
Quellen und Fotos ans Tageslicht gekommen sind. 3 Ein anderer Aufsatz<br />
widmete sich in der 2004 dem Straßburger Historiker Bernard Vogler<br />
gewidmeten Festschrift den Verbindungen der Universitas Saraviensis zum<br />
Elsass 4 , die in den Bereichen Evangelische Theologie, Übersetzen und<br />
Dolmetschen, Chemie und nun wohl auch bald Mikrobiologie institutionalisiert<br />
ist und die ebenfalls in den frühen Jahren etliche Wissenschaftler<br />
nach Saarbrücken führte, darunter den Sohn des Nobelpreisträgers Daniel<br />
Kastler oder den Chirurgen Adolphe Michel Jung, dessen fesselnde Biographie<br />
als Projekt ebenfalls auf der Agenda des Universitätsarchivars<br />
steht. Forschungsreisen hatten diesen Schüler René Leriches bereits vor<br />
1 Vgl. zuletzt zusammenfassend mit weiteren Literaturhinweisen: Wolfgang Müller:<br />
„Eine Pflegestätte des Geistes, der die Enge zu überwinden sucht und nach europäischer<br />
Weite strebt“ – Impressionen zur Geschichte der Universität des Saarlandes, in:<br />
Bärbel Kuhn / Martina Pitz / <strong>Andreas</strong> Schorr (Hrsg.): Grenzen ohne Fächergrenzen.<br />
Interdisziplinäre Annäherungen. (Annales Universitatis Saraviensis Philosophische<br />
Fakultäten Bd. 26) St. Ingbert 2007, S. 265-302. Die Publikationen zur Universitätsgeschichte<br />
finden sich insgesamt unter http://www.uni-saarland.de/de/profil/geschichte/.<br />
2 Vgl. Wolfgang Müller: „Dieses Institut am Leben zu erhalten und zu entwickeln“ –<br />
Impressionen zur Kooperation der Medizinischen Fakultäten Homburg/Saar und<br />
Nancy, in: Manfred Schmeling / Michael Veith (Hrsg.): Universitäten in europäischen<br />
Grenzräumen. Konzepte und Problemfelder – Universités en frontières – concepts et<br />
practiques. (Frankreich-Forum. Jahrbuch des Frankreichzentrums der Universität des<br />
Saarlandes Bd. 5 2003/2004) Bielefeld 2005, S. 191-208.<br />
3 Vgl. jetzt Wolfgang Müller: Unter der Ägide der Universität Nancy – Streiflichter zur<br />
Gründung des Homburger Hochschulinstituts vor 60 Jahren. Saarbrücken 2007.<br />
4 „Dem verdienten Verständnis begegnen ... auf diesem Gebiet der kulturellen Beziehungen“.<br />
Impressionen zu Verbindungen der Universität des Saarlandes zur Universität<br />
Strasbourg und zum Elsaß, in: Terres d’Alsace, Chemins de l’Europe. Mélanges offerts<br />
à Bernard Vogler. Textes réunis par Dominique Dinet et François Igersheim. Strasbourg<br />
2003, S. 447-471.<br />
24 Universitätsreden 73<br />
Zw ischen Nancy, AStA und ESG und im „Aktenurw ald“<br />
dem Zweiten Weltkrieg nach Amerika und nach 1941 zu Ferdinand Sauerbruch<br />
an die Charité geführt, wo er tags als Chirurg und nachts für die<br />
westalliierten Nachrichtendienste tätig war, und hier in den 50er Jahren als<br />
Direktor der Chirurgischen Universitätsklinik und letzter französischer<br />
Prorektor agierte. Da unsere Universität auch schon vor 1989 zahlreiche<br />
Kooperationen mit ost- und südosteuropäischen Universitäten pflegte –<br />
1987 wurde übrigens auch die erste deutsch-deutsche Universitätspartnerschaft<br />
mit der Karl-Marx-Universität Leipzig vereinbart, und zuvor waren<br />
bereits Kooperationsabkommen mit Warschau, Sofia oder Tbilissi<br />
geschlossen worden – ist auch gelegentlich anhand der Akten des<br />
Akademischen Auslandsamtes ein größeren Aufsatz über die Kooperation<br />
mit Bulgarien geplant. Kann man demnach von einem besonderen<br />
Dokumentationsziel „Auslandsverbindungen“ und „biographische<br />
Netzwerke“ sprechen?<br />
Da die Akten der studentischen Selbstverwaltung teilweise lückenhaft<br />
überliefert sind, überwiegend in der Mitte der 50er Jahre einsetzen und erst<br />
nach der Einrichtung des Universitätsarchivs seit Anfang der 90er Jahre<br />
kontinuierlich gesichert werden, wurden – durchaus zur Ergänzung der<br />
Überlieferung an Akten und Sammlungsgut – zahlreiche Zeitzeugen-Gespräche<br />
mit ehemaligen Repräsentanten der Selbstverwaltung geführt. Im<br />
Zentrum des Interesses standen dabei das jeweilige biographische Umfeld<br />
und der Weg zur Universität in einer Region ohne universitäre Tradition,<br />
die damaligen Studien-, Arbeits- und Lebensbedingungen, die vielfältigen<br />
Aktivitäten der studentischen Selbstverwaltung, Erinnerungen an prägende<br />
akademische Lehrer und besondere Ereignisse, das geistig-politische<br />
Klima jener Saarjahre und nicht zuletzt die Reflexion über das Umfeld der<br />
Volksabstimmung vom 23. Oktober 1955, die übrigens 50 Jahre danach<br />
immer noch im Zentrum tagesaktueller Kontroversen steht. Die Beiträge<br />
erschienen zunächst in loser Form im AStA-Magazin und konnten vor<br />
einem Monat – und damit auch rechtzeitig zu unserer Frühjahrstagung –<br />
in der Ihnen vorliegenden Broschüre präsentiert werden. 5 Sie sind außerdem<br />
ein nicht zu unterschätzender Impuls zur archivischen Öffentlich-<br />
5 Vgl. Wolfgang Müller: Studentische Impressionen aus den frühen Jahren der Universität<br />
des Saarlandes. Saarbrücken 2006.<br />
Universitätsreden 73 25
Wolfgang Müller<br />
keitsarbeit in diesem oft schwierigen Bereich, eröffnen Wege zur kontinuierlichen<br />
Sicherung der archivwürdigen Unterlagen der studentischen<br />
Selbstverwaltung und verdeutlichen den jeweiligen Repräsentanten den<br />
Nutzen des Archivs. Kann man demnach von einem universitären Dokumentationsziel<br />
„studentische Lebenswelt“ sprechen?<br />
In den studentischen Sektor gehören wohl auch die konfessionellen<br />
Studierendengemeinden. So hat das Universitätsarchiv 2003 das Jubiläum<br />
der Katholischen Hochschulgemeinde mit einer Ausstellung begleitet und<br />
bereitet inzwischen eine vergleichbare Präsentation mit der Evangelischen<br />
Studierendengemeinde für Oktober 2006 vor, verbunden mit einer Broschüre<br />
mit Zeitzeugenberichten 6 und einem Beitrag über den ersten hauptamtlichen<br />
Studentenpfarrer, der aus enger persönlicher Verbundenheit<br />
zum Genius loci, wo er schon 1940 exerzierte, und zur Universität, wo er<br />
vielfältige Aufgaben beim Aufbau der Theologenausbildung übernahm,<br />
seinen Saarbrücker Nachlass bewusst dem Universitätsarchiv übereignete.<br />
Da die Studentengemeinden lange – vielleicht heute nicht mehr so sehr –<br />
wichtige Seismographen des „Zeitgeistes“ waren und enge Vernetzungen<br />
zum AStA bestanden, lohnt gelegentlich auch ein Blick in kirchliche Provenienzen,<br />
wie ich bei der Bearbeitung des Themenfeldes „1968“ erkennen<br />
konnte. So bieten beispielsweise die Protokolle der rheinischen Studentenpfarrerkonferenzen<br />
jener bewegten Zeit 7 umfangreiche Hintergrundberichte<br />
über die jeweilige universitäre Situation, die Position der Universitätsspitze,<br />
aber auch des AStA und der ESG zu den universitären und poli-<br />
6 Vgl. Kai Horstmann / Wolfgang Müller: (Hrsg.): „Mit innerer Kraft und mit dem<br />
Segen Gottes wirksam sein“ – Betrachtungen zur Geschichte der Evangelischen Studierendengemeinde<br />
des Saarlandes zwischen gestern und heute. Saarbrücken 2006.<br />
7 Vgl. dazu Wolfgang Müller: Zwischen Gemeindeleben und Umbruch – die evangelischen<br />
Studentengemeinden in Bonn, Köln und Saarbrücken um 1968, in: Monatshefte<br />
für Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes 55 (2006), S. 123-140. Der<br />
zweite, der Situation der ESG Köln gewidmete Teil ist soeben in den Monatsheften für<br />
evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes 56 (2007) S. 89-106 erschienen. Der<br />
dritte Abschnitt zu Bonn und Saarbrücken folgt im Jahrgangsband 2008. Vgl. außerdem<br />
Wolfgang Müller: „Zukunft braucht Vergangenheit“. Archive als Informationsvermittler<br />
zwischen Vergangenheit und Zukunft, in: evangelische aspekte (15, 1)<br />
Februar 2005, S. 15-19.<br />
26 Universitätsreden 73<br />
Zw ischen Nancy, AStA und ESG und im „Aktenurw ald“<br />
tisch-kulturellen Veränderungen. Gelegentlich lohnt durchaus der grenzüberschreitende<br />
Blick auch in andere Archivgewölbe.<br />
Ein weiteres zentrales, mit seinen archivischen Kernaufgaben verbundenes<br />
Arbeitsfeld bieten dem Universitätsarchivar die allbekannten „Institutsgeschichten“.<br />
Da ja nach landläufiger Meinung im Archiv ohnehin alle<br />
Informationen „da sind“, wird der Universitätsarchivar sehr oft um kürzere<br />
oder längere Beiträge gebeten. So habe ich im vergangenen Herbst mit<br />
zahlreichen Miszellen und einem größeren Festschrift-Aufsatz das 50jährige<br />
Gründungsjubiläum der Universitäts-Augenklinik 8 begleitet und in<br />
enger Zusammenarbeit mit dem Musikwissenschaftlichen Institut eine<br />
demnächst erscheinende Institutschronik 9 erarbeitet, wobei diese „Aufträge“<br />
stets auch mit Recherchen nach noch in den Institutsregistraturen<br />
verborgenem Schriftgut, Handakten und Sammlungsgut verbunden waren<br />
und damit Lücken in der Überlieferungsbildung beseitigen halfen. In ähnlicher<br />
Weise habe ich in Zusammenarbeit mit einem kunsthistorischen<br />
Lehrstuhl jetzt unter dem Titel „Lebensbilder“ 10 eine größere Monographie<br />
mit autobiographischen Aufzeichnungen aus dem Kunstgeschichtlichen<br />
Institut und biographischen Skizzen aus dem Archiv abgeschlossen,<br />
die sich auch in die aktuelle wissenschaftsgeschichtliche Diskussion um<br />
die Wege der Einzelwissenschaften im Übergang von der NS-Diktatur zum<br />
vermeintlichen Neubeginn einbringt. Kann man demnach von einem Ziel<br />
„Dokumentation der Institutsgeschichten“ sprechen?<br />
8 Vgl. Wolfgang Müller: Die Geschichte der Augenheilkunde an der Universität des<br />
Saarlandes. Historischer Prolog: Von den Homburger Hochschulkursen über das<br />
„Institut d’Études Supérieures de l’Université de Nancy“ zur Universität des Saarlandes<br />
und zur Universitäts-Augenklinik, in: Klaus Wilhelm Ruprecht / Konrad Hille (Hrsg.):<br />
50 Jahre Augenheilkunde an der Universität des Saarlandes 1955–2005. Saarbrücken<br />
2005, S.1-22.<br />
9 Vgl. Wolfgang Müller: Zur Geschichte des Musikwissenschaftlichen Instituts an der<br />
Universität des Saarlandes, in: Herbert Schneider / Rainer Schmusch (Hrsg.): 50 Jahre<br />
Musikwissenschaftliches Institut der Universität des Saarlandes. Rückblicke, Perspektiven<br />
und eine Bibliographie. Saarbrücken 2006, S. 9-21.<br />
10 Vgl. Christa Lichtenstern / Wolfgang Müller (Hrsg.): Das Kunstgeschichtliche Institut<br />
der Universität des Saarlandes – Lebensbilder. (Annales Universitatis Saraviensis<br />
Philosophische Fakultäten Bd. 25) St. Ingbert 2006.<br />
Universitätsreden 73 27
Wolfgang Müller<br />
Mit einem biographischen Beitrag zu dem hier nahezu seit der Universitätsgründung<br />
wirkenden Mediävisten Eugen Meyer und früheren Staatsarchivdirektor<br />
in Münster knüpfe ich an das Forschungsfeld des 75. Deutschen<br />
Archivtages in Stuttgart 11 2005 an, da ich anhand seiner ausführlichen<br />
Briefe an seinen in der NS-Zeit verfolgten, in die USA emigrierten<br />
Freund Ernst Posner Meyers Berufung von Berlin nach Saarbrücken im<br />
Zeichen der damaligen Berliner Blockade beleuchtet habe und Ihnen daraus<br />
auch zwei prägnante Zitate nicht vorenthalten möchte: „Wir wissen<br />
zwar, daß ein Niederreißen von Bildungsgrenzen allein nicht genügt, um<br />
der Menschheit den Frieden zu bringen. Wir sind aber der Meinung, daß<br />
irgendwo angefangen werden muß, die Grenzzäune einzureißen, die ein<br />
verbohrter Nationalismus in den Gehirnen so vieler Menschen errichtet<br />
hat.“ Und an anderer Stelle: „Aber da unten ist eben die Heimat. Ich habe,<br />
wenn es sehr gut geht, noch etwa 20 Jahre zu leben, und diese Jahre möchte<br />
ich mit Ludwig dem Frommen und mit Reisen nach Paris an die<br />
Bibliothèque Nationale und nach Straßburg und Dijon ausfüllen, das ist<br />
sinnvoll – nach Magdeburg und Prenzlau zu reisen, hat keinen Sinn. Dazu<br />
kommt, daß das, was wir hier seit 1943 durchgemacht haben, so schwer ist,<br />
daß man nicht mehr daran erinnert sein möchte, dazu, wie gesagt, die heimatlichen<br />
Wiesen und Kartoffeläcker.“ 12<br />
Eine weitere Edition in Buchform werde ich hoffentlich in einiger Zeit<br />
abschließen können: Die Edition autobiographischer Aufzeichnungen<br />
und Texte zur Saarfrage aus dem Nachlass des belgischen Soziologen<br />
Georges Goriely, der 1921 in Berlin als Sohn einer polnischen Mutter und<br />
eines russischen Vaters geboren wurde und 1926 nach Brüssel kam, wo er<br />
an der Université Libre 1942 den „docteur en droit“ und 1949 den „docteur<br />
en philosophie“ erwarb, sich während der deutschen Besetzung in verschiedenen<br />
Wohnungen verbarg und sich im „Comité de Défense des Juifs“<br />
11 Vgl. inzwischen: Das deutsche Archivwesen und der Nationalsozialismus. 75. Deutscher<br />
Archivtag 2005 in Stuttgart. (Tagungsdokumentation zum Deutschen Archivtag<br />
Bd. 10) Essen 2007.<br />
12 Vgl. bislang Wolfgang Müller: „Eine Pflegestätte des Geistes“ (wie Anm.1), S. 287-299.<br />
Zitate S. 291 und 293. Eine weitere Publikation zum Briefwechsel Meyer – Posner ist<br />
geplant.<br />
28 Universitätsreden 73<br />
Zw ischen Nancy, AStA und ESG und im „Aktenurw ald“<br />
engagierte. Politisch zunächst in der linkssozialistisch-trotzkistisch inspirierten<br />
Bewegung beheimatet, wandte er sich ernüchtert durch Trotzkijs<br />
Schicksal, die Moskauer Schauprozesse und den Hitler-Stalin-Pakt ab und<br />
wurde auch als Mitherausgeber der Ende 1944 gegründeten „Cahiers socialistes“<br />
zum überzeugten europäischen Föderalisten, agierte als Publizist<br />
und nahm Ende August 1947 am wegweisenden Kongress der Union<br />
Européenne des Fédéralistes in Montreux teil. Von 1953 bis 1963 begründete<br />
er das hiesige Soziologische Institut, und zum Kreis seiner Schüler<br />
gehört der damalige Saarbrücker Habilitand Ralf Dahrendorf. 13 Kann<br />
man aufgrund der zuletzt beschriebenen Arbeiten von einem besonderen<br />
Dokumentationsziel „Sicherung von Unterlagen zu biographischen Netzwerken“<br />
sprechen?<br />
Nach diesem aktuellen Publikationsbericht wende ich mich im zweiten<br />
Teil konkreter dem Tagungsthema zu und erinnere in diesem Zusammenhang<br />
an die in einem Arbeitskreis unter anderem mit den Kollegen Speck<br />
und Wischnath erarbeiteten Registratur-, Bewertungs- und Erschließungsempfehlungen<br />
von Krankenakten 14 oder die Zusammenarbeit mit dem<br />
Kollegen Plassmann im archivübergreifenden VdA-Arbeitskreis „Archivische<br />
Bewertung“, der mit seinen „Positionen zur archivischen Überlieferungsbildung“<br />
gleichermaßen Bewährtes fixiert und neue Perspektiven<br />
eröffnet. 15 Neue Perspektiven vielleicht auch für uns, die wir uns meist<br />
unter dem Diktat enger Zeitpläne, überaus knapper personeller und materieller<br />
Ressourcen und im Spagat zwischen den eigentlichen Kernaufgaben,<br />
13 Vgl. ebd. S. 300-301.<br />
14 Vgl. Wolfgang Müller / Dieter Speck: Empfehlungen für die Schriftgutverwaltungen<br />
der Kliniken und Institute mit Aufgaben der Krankenversorgung, in: Der Archivar 50,<br />
Heft 3 (1997), S. 563-570; Michael Wischnath: Einführung zu den Bewertungs- und<br />
Erschließungsempfehlungen für Krankenakten, in: der Archivar 51, Heft 2 (1998),<br />
S. 233-244.<br />
15 Vgl. unter anderem bilanzierend Frank M. Bischoff / Robert Kretzschmar (Hrsg.):<br />
Neue Perspektiven archivischer Bewertung. Beiträge zu einem Workshop der Archivschule<br />
Marburg 15.November 2004. (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg –<br />
Institut für Archivwissenschaft Nr. 42) Marburg 2005.<br />
16 Vgl. Heinrich Otto Meisner: Schutz und Pflege des staatlichen Archivgutes unter besonderer<br />
Berücksichtigung des Kassationsproblems, in: Archivalische Zeitschrift 45<br />
(1939), S. 46.<br />
Universitätsreden 73 29
Wolfgang Müller<br />
der Betreuung der Benutzerinnen und Benutzer und den Erfordernissen<br />
der Öffentlichkeitsarbeit im Aktenurwald bewegen und nach dem klassischen<br />
Diktum Heinrich Otto Meisners den Aktenurwald roden müssen. 16<br />
Den Aktenurwald, mit seinen zahlreichen zentralen und dezentralen universitären<br />
Gremien und Räten, den sogenannten Zentralen Einrichtungen<br />
von der Universitätsbibliothek bis zum Frankreich- und Sprachenzentrum,<br />
den Akten der diversen Referate der Zentralen Verwaltung vom Präsidialbüro<br />
bis zum IT-Management (wobei die klassische Konzentration<br />
auf die vermeintlich federführende Stelle gelegentlich in der archivischen<br />
Sackgasse münden kann), den immer mehr standardisierten und historisch<br />
wenig ergiebigen Personalakten, den Registraturen der zahlreichen<br />
Institute und Arbeitsstellen, den gelegentlich auch noch auf das universitäre<br />
Dienst- und das häusliche Arbeitszimmer verteilten Handakten der<br />
Professorinnen und Professoren, aber auch der langjährigen akademischen<br />
Mitarbeiter, oder auch die variantenreich komponierten Nachlässe der<br />
Professoren und Professorinnen mit vielen Dubletten und doch auch garniert<br />
mit archivwürdiger persönlicher oder wissenschaftlicher Korrespondenz<br />
und autobiographischen Hintergrundinformationen, den diversen,<br />
gelegentlich auch kurzlebigen Referaten der Selbstverwaltung der Studierenden,<br />
– gäbe es da die Möglichkeit der Konzentration auf die Überlieferung<br />
einzelner Referate wie Zentralreferat oder Hochschulpolitik, aber<br />
sind die Unterlagen des Ausländer-, des Frauen-, des Kultur-, des Ökoreferats<br />
oder der „Zukunftswerkstatt Uni 2020“ weniger interessant oder nicht<br />
archivwürdig? – oder den Akten der universitären Fördergesellschaft und<br />
des Studentenwerks? Und was passiert eigentlich mit den zumindest oft für<br />
Versicherungsnachweise nachgefragten Immatrikulationsunterlagen und<br />
dem Meer der Prüfungsakten und natürlich auch der Prüfungsarbeiten? 17<br />
17 Für diesen Bereich sei vor allem auf die wegweisenden Überlegungen Klaus Grafs und<br />
Werner Lenggers verwiesen und die Beiträge von <strong>Andreas</strong> Freiträger, Werner Lengger,<br />
Stephan Luther und Heidelies Wittig in dieser Publikation. Vgl. auch meinen knappen<br />
Überblick im Ergebnisprotokoll der 2. Sitzung des Arbeitskreises Archivische<br />
Bewertung im VdA – Verband deutscher Archivarinnen und Archivare am 12. März<br />
2002 im Hauptstaatsarchiv Wiesbaden.<br />
30 Universitätsreden 73<br />
Zw ischen Nancy, AStA und ESG und im „Aktenurw ald“<br />
Als eine Erkenntnis aus meiner 15jährigen Berufspraxis beim Aufbau eines<br />
Archivs ex nihilo kann ich weitergeben, wie unerlässlich aus meiner Sicht<br />
die enge Verbindung des Archivars zu den Personen, Institutionen und<br />
Gremien ist, um vor einer Bewertung überhaupt auf potentielles Archivgut<br />
hinzuweisen, archivreife Unterlagen zu sichern, die Registraturen zu entlasten<br />
und angesichts steter personeller Fluktuationen Aktenverluste und<br />
Kassationen nach Möglichkeit zu vermeiden. 18 Gleichzeitig beschäftigt<br />
mich auch immer die Frage: Können in diesem sprichwörtlichen und für<br />
unsere Fachgruppe sicherlich typischen Aktenurwald mit seinen variantenreichen<br />
Registraturen und „Materialsammlungen“ die rationalen, stark<br />
von den Erfahrungen des staatlichen Archivwesens geprägten Bewertungsverfahren<br />
der ministeriellen Sachakten- oder kommunalen Massenaktenregistraturen,<br />
die Positionen der Überlieferungsbildung und die Erarbeitung<br />
eines universitären Dokumentationsprofils der Königsweg sein, um<br />
den Dschungel zu lichten oder sogar daraus herauszufinden? Kann man<br />
die neuen Anregungen aus der aktuellen Bewertungsdiskussion für<br />
manche Aktenserien doch anwenden und zu rationaleren und rationelleren<br />
Bewertungen gelangen oder bleibt trotz allem in den archivischen<br />
Niederungen des Alltags des Ein-Mann- oder Ein-Frau-Unternehmens<br />
Universitäts- / Wissenschaftsarchiv der situationsbedingte Zwang zum<br />
Pragmatismus? Ich freue mich auf die Tagung und spannende, uns bereichernde<br />
und wegweisende Diskussionen.<br />
18 Vgl. Wolfgang Müller: Bewertungen im Universitätsarchiv, in: Unsere Archive –<br />
Mitteilungen aus rheinland-pfälzischen und saarländischen Archiven Nr. 47, April<br />
2002, S. 4-11 mit seinerzeit aktuellen Literaturhinweisen.<br />
Universitätsreden 73 31
Dokumentationsziele als Grundlage der Arbeit<br />
von Universitätsarchiven: Bewertung, Erschließung,<br />
Bestandserhaltung<br />
Max Plassmann<br />
Das Positionspapier des Arbeitskreises Archivische Bewertung im VdA –<br />
Verband deutscher Archivarinnen und Archivare – zur archivischen Überlieferungsbildung<br />
vom 15. Oktober 2004 1 sieht als wesentliche Grundlage<br />
einer systematischen Bewertung die Definition von Dokumentationszielen<br />
an:<br />
„Vor der endgültigen Festlegung von Bewertungsentscheidungen und insbesondere<br />
von Bewertungsmodellen muss eine Festlegung der Dokumentationsziele<br />
erfolgen, die mit der Überlieferungsbildung im betroffenen<br />
Bereich verfolgt werden. Die Ziele sind auf der Grundlage einer eingehenden<br />
inhaltlichen Analyse zu definieren, bei der potentielle Auswertungsmöglichkeiten<br />
erfasst und bewertet werden. Dabei empfiehlt es sich, die berührten<br />
Lebensbereiche in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung zu gewichten.“<br />
Wenn dies schon allgemein für das Archivwesen gilt, so ist dies für<br />
Universitätsarchive mit ihrem hohen Anteil an unsystematisch gepflegtem<br />
Registraturgut und an Sammlungen um so mehr festzustellen. Denn eine<br />
allgemeine Definition, nach der Archive etwa Verwaltungshandeln abbilden<br />
sollten, wird weder den Fragestellungen von Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte<br />
gerecht, noch der Arbeitsweise der abgebenden Stellen,<br />
und erst recht trägt sie wenig zur Bewertung von Nachlässen bei. Es ist auch<br />
nur sehr eingeschränkt möglich, Bewertungsmodelle auf der Grundlage<br />
von Aktenplänen und Aktenzeichen auszuarbeiten, da diese in Universitäten<br />
oft nicht existieren oder nicht fachgerecht angewandt werden.<br />
1 URL: http://www.vda.archiv.net/arbeitskreise.htm#Bewertung; abgedruckt in: Der<br />
Archivar 58 (2005), S. 91-94, Zitat S. 91f.<br />
Universitätsreden 73 33
Max Plassmann<br />
Universitätsarchive sind daher gut beraten, sich selbst grundlegende Dokumentationsziele<br />
zu setzen, die im Zuge einzelner Bewertungen als Maßstab<br />
für die Archivwürdigkeit angelegt werden können. Es bleibt dann zwar im<br />
Einzelfall noch immer ein großer Ermessensspielraum, ob eine bestimmte<br />
Akte zu einem bestimmten Dokumentationsziel passt oder nicht, aber<br />
grundsätzlich erhält die Arbeit eine größere Stringenz und Transparenz,<br />
wenn die Ziele angegeben werden können, die verfolgt wurden. Das dient<br />
nicht allein dazu, die Überlieferung an sich von unnötigem Ballast zu befreien<br />
und besser handhabbar, d. h. benutzbar zu machen, sondern es hilft<br />
auch dabei, die Archivarbeit in Zeiten von Kosten-Leistungs-Rechnung<br />
und Globalhaushalt gegen etwaige Vorhaltungen abzusichern, man verschwende<br />
Mittel und könne auch mit weniger Personal und Geld auskommen.<br />
Schließlich können Dokumentationsprofile dazu beitragen, Entscheidungen<br />
über Prioritäten und Arbeitsweisen bei Erschließung und Bestandserhaltung<br />
zu erleichtern.<br />
Es ist jedoch wesentlich einfacher, die Forderung nach der Formulierung<br />
von Dokumentationszielen zu erheben, als sie umzusetzen. Beispiele für<br />
erfolgreiche Dokumentationszieldefinitionen sind rar, wenn es sie denn<br />
überhaupt gibt. Der Beitrag soll daher zunächst aufzeigen, welchen Nutzen<br />
Dokumentationsziele versprechen, und wie man die Arbeit mit ihnen<br />
erleichtern könnte. Er kann und will aber keine abschließende Lösung präsentieren<br />
oder gar mit einem fertigen Dokumentationsprofil aufwarten.<br />
Ein weiteres vorweg: Der Begriff „Dokumentationsprofil“ oder „-ziel“<br />
soll hier unideologisch verwandt werden, weil er mir einfach passend für<br />
das erscheint, worum es geht. Mir ist bewusst, dass in der Vergangenheit<br />
aufgeregte Debatten um ihn tobten, die ich hier jedoch nicht wieder aufnehmen<br />
will. 2 Wer etwa aus standespolitischen Erwägungen heraus Unbehagen<br />
verspürt, den Begriff „Dokumentation“ zu nutzen, der mag auch<br />
auf „Festlegung inhaltlicher Ziele der Überlieferungsbildung“ oder etwas<br />
anderes ausweichen.<br />
2 Vgl. Robert Kretzschmar: Die „neue archivische Bewertungsdiskussion“ und ihre Fußnoten.<br />
Zur Standortbestimmung einer fast zehnjährigen Kontroverse, in: Archivalische<br />
Zeitschrift 82 (1999), S. 7-40, hier u. a. S. 18.<br />
34 Universitätsreden 73<br />
Dokumentationsziele als Grundlage der Arbeit v on Univ ersitätsarchiv en<br />
Dokumentationsziele bezeichnen unabhängig von den tatsächlich verfügbaren<br />
Unterlagen, welche Themen, Informationen, gesellschaftliche Phänomene<br />
oder kulturelle Ereignisse in dem jeweiligen Archiv vordringlich<br />
und welche nur oberflächig oder gar nicht dokumentiert sein sollen. Sie<br />
lassen sich als Hilfsmittel der klassischen Bewertung in Bewertungsmodelle<br />
umformen. Sie zeigen dann aber auch auf, welche Bereiche nicht<br />
über Verwaltungsakten abbildbar sind, wo also eine aktive Sammlungstätigkeit<br />
einsetzen sollte – sei es auf Nachlässe, sei es auf andere Gebiete<br />
bezogen –, um drohende blinde Stellen in der Überlieferung zu schließen.<br />
Eine Sammlungsstrategie folgt dann aus dem Dokumentationsprofil –<br />
jedenfalls bei öffentlichen Archiven mit einem gesetzlichen Auftrag. Bei<br />
anderen ist oft die Sammlungsstrategie mit dem Dokumentationsprofil<br />
identisch.<br />
Eine Definition von Dokumentationszielen umfasst also viel mehr als<br />
die in den 1990er Jahren in der archivwissenschaftlichen Diskussion so<br />
prominenten Bewertungsmodelle und -kataloge. Dass letztere auch auf<br />
einem inhaltlich definierten Dokumentationsprofil beruhen sollten und<br />
nicht bloß auf einer schematischen Ermittlung der Zuständigkeit einer<br />
bestimmten Stelle für eine bestimmte Aufgabe, hat – wie das Eingangszitat<br />
zeigte – mittlerweile eine breite Zustimmung gefunden. Dokumentationsprofile<br />
und Bewertungsmodelle bilden so keinen Gegensatz, sondern gehören<br />
eng zusammen. Das Profil setzt jedoch auf einer höheren Ebene an<br />
und kann auch dort genutzt werden, wo die Modelle zwangsläufig versagen:<br />
im Bereich der Sammlungstätigkeit.<br />
Dokumentationsziele sollten darüber hinaus auch eine inhaltliche Priorisierung<br />
umfassen. Zwar gibt es in einer idealen Welt nur archivwürdiges<br />
und nichtarchivwürdiges Schriftgut, und das archivwürdige ist unbedingt<br />
zu erhalten. In der Praxis der meisten Universitätsarchive (und wohl der<br />
meisten anderen Archivtypen auch) reichen jedoch die Ressourcen niemals<br />
aus, um eine gleichmäßige Überlieferung aller archivwürdigen Unterlagen<br />
anzustreben. Es ist oft schlicht nicht möglich, mit großem Zeitaufwand<br />
ständig alle potentiell abgebenden Stellen darauf zu drängen, nun doch<br />
endlich einmal etwas abzugeben. Ein Dokumentationsprofil sollte deshalb<br />
eine Gewichtung vornehmen: Welche Unterlagen werden mit hohem<br />
Universitätsreden 73 35
Max Plassmann<br />
Aufwand aktiv eingeworben, wo ist geringerer Aufwand am Platze, und wo<br />
kann man es bei einem passiven Warten auf ein Angebot belassen?<br />
Die Priorisierung umfasst dann aber auch die Frage, welche Bereiche<br />
dicht oder selbst dann weniger dicht überliefert werden sollen, wenn es<br />
möglich wäre, die entsprechenden Akten in großem Umfang zu übernehmen.<br />
Beispielsweise lassen sich über Patientenakten aus den Universitätskliniken<br />
theoretisch umfassende Forschungen über soziale und wirtschaftliche<br />
Probleme der Bevölkerung im Einzugsgebiet anstellen. Dazu wäre<br />
selbst bei strenger repräsentativer Auswahl eine umfassende Überlieferungsbildung<br />
notwendig, die diese Aspekte berücksichtigt. Darauf verzichten<br />
kann man jedoch, wenn das Universitätsarchiv sich als nicht zuständig<br />
erklärt und die Dokumentation des Gesundheitszustandes beispielsweise<br />
den Kommunalarchiven anhand der Akten kommunaler Krankenhäuser<br />
überlässt.<br />
Was also dann von den Patientenakten archivieren? 3 Wenn das Universitätsarchiv<br />
als wesentliches Ziel vor Augen hat, die Forschung zu dokumentieren,<br />
dann wird man eher solche Akten suchen, die medizinische<br />
Sonderfälle, die Anwendung neuer, an der eigenen Universität entwickelter<br />
Methoden und ähnliches enthalten. Der Bewertungsansatz verschiebt<br />
3 Der Aspekt, zu welchem Zweck denn Patientenakten genau aufbewahrt werden sollen,<br />
wird bei den „Empfehlungen für die Bewertung und Erschließung von Krankenakten“<br />
von 1997 nicht ausreichend gewürdigt. Statt dessen wird für eine schematische Anwendung<br />
von Auswahlverfahren plädiert, die zu der immens hohen Aufbewahrungsquote<br />
von 5-10 Prozent führen. Allein im Universitätsarchiv Düsseldorf müssten bei<br />
Befolgung der Empfehlung aus den 40 Jahren von 1960 bis 2000 selbst bei günstiger<br />
Schätzung 2 bis 3 Regalkilometer Patientenakten archiviert werden. Dabei handelt es<br />
sich nur um eines von mehreren Krankenhäusern in der Stadt Düsseldorf und nur um<br />
40 Jahre. Bundesweit würden so schnell Aktenberge anwachsen, die in die Tausende<br />
von Regalkilometern gingen. Schon mittelfristig würden daher Quellenmengen überliefert,<br />
die kein noch so gut finanziertes Forschungsprojekt mehr handhaben könnte.<br />
Es ist also nicht allein ein Gebot des aktuellen Finanzmangels, sondern auch im Interesse<br />
der Forschung, die überlieferten Aktenmengen auf das tatsächlich Notwendige<br />
zu beschränken. Diese Beschränkung erfolgt über individuelle Dokumentationsprofile,<br />
die Besonderheiten der eigenen Kliniken erfassen, kann aber niemals über allgemeine<br />
Empfehlungen gesteuert werden. Abdruck der Empfehlungen in: Der Archivar 51<br />
(1998), S. 234-244.<br />
36 Universitätsreden 73<br />
Dokumentationsziele als Grundlage der Arbeit v on Univ ersitätsarchiv en<br />
sich also völlig; die Archivwürdigkeit hängt von anderen Faktoren ab, so<br />
dass hier nun ganz andere Akten aufbewahrt würden als im ersten Fall. Die<br />
Überlieferung wird dadurch jedoch auf die Bedürfnisse des Archivs und<br />
seiner Regelbenutzer (Ausnahmen gibt es immer) zugeschnitten und umfasst<br />
das wirklich Notwendige. Eine schematische Regel „wenn Massenakten<br />
vorkommen, muss ein repräsentativer Sample gezogen werden“<br />
würde demgegenüber zu einer zwar verwertbaren Überlieferung führen.<br />
Aber sie könnte an den Bedürfnissen der Wissenschaftsgeschichte tendenziell<br />
vorbeigehen, und mit ihr oder für sie würde ein erheblicher Aufwand<br />
betrieben, der nicht zu den Kernaufgaben eines Universitätsarchivs gehören<br />
muss.<br />
Theoretisch ist daher die Erarbeitung von Dokumentationszielen eine<br />
vielversprechende Möglichkeit, die Überlieferungsbildung stringenter und<br />
systematischer anzugehen, die Abgrenzung zu den Beständen anderer<br />
Archive deutlicher zu machen und sich selbst Klarheit darüber zu verschaffen,<br />
was man denn eigentlich will und tut. Bei all den vielversprechenden<br />
Vorteilen mag sich der Betrachter darüber wundern, dass ihre<br />
Formulierung nicht schon lange zum Standardrepertoire der Archive<br />
gehört.<br />
Dass dem nicht so ist, liegt an den Schwierigkeiten der Umsetzung dieses<br />
an sich richtigen Gedankens. Es ist nun einmal wesentlich leichter,<br />
anhand eines konkreten Aktenplans durch A- und V-Kennzeichnungen ein<br />
Bewertungsmodell ins Leben zu rufen, als abstrakt anzugeben, was man<br />
denn eigentlich archivieren will.<br />
Einige allgemeine, grobe Definitionen von Zielen der Überlieferungsbildung<br />
dürften zwar unstrittig sein. Wenn Universitätsarchivare davon<br />
reden, Forschung und Lehre dokumentieren zu wollen, wird ihnen jedenfalls<br />
kaum jemand widersprechen. Schwieriger wird es allerdings, diese allgemeinen<br />
Ziele zu konkretisieren und für Bewertungsentscheidungen nutzbar<br />
zu machen. Denn die Frage, ob denn eine bestimmte Akte dazu dient,<br />
Forschung und / oder Lehre zu dokumentieren oder nicht, geht nicht aus<br />
ihnen hervor. Dokumentationsziele müssen also ausgehend von solchen<br />
allgemeinen Definitionen wesentlich verfeinert werden, um handhabbar<br />
zu sein. Auf der anderen Seite ist es nicht sinnvoll, sie zu stark zu verfeinern,<br />
denn dann steigt zum einen der Arbeitsaufwand für ihre Erstellung<br />
Universitätsreden 73 37
Max Plassmann Dokumentationsziele als Grundlage der Arbeit v on Univ ersitätsarchiv en<br />
und Pflege unverhältnismäßig an, und zum anderen besteht das Problem<br />
der konkreten Zuordnung zu einer bestimmten Akte. Während nämlich<br />
in Staatsarchiven anhand landeseinheitlicher Aktenpläne Bewertungsmodelle<br />
bis hinunter zur Ebene der einzelnen Akte formuliert werden können<br />
und diese einzelne Akte dann auch tatsächlich sicher aus einer<br />
Anbietung von mehreren 1.000 Akten ermittelt werden kann, erlaubt die<br />
größtenteils unsystematische Schriftgutverwaltung in Universitäten zumeist<br />
keine allzu feine vorausschauende Definition.<br />
Die Dokumentationsziele bzw. die aus ihnen abgeleiteten Bewertungsrichtlinien<br />
müssen sich daher auf einem mittleren Niveau bewegen und<br />
bestimmte Aktengruppen bzw. besser noch Unterlagengruppen definieren,<br />
die aufbewahrt, teilweise aufbewahrt oder nicht aufbewahrt werden sollen.<br />
Im Verlaufe einer Bewertungsaktion muss dann eine vorgefundene Akte<br />
einer solchen Unterlagengruppe zugeordnet und entsprechend bewertet<br />
werden.<br />
Die Autopsie, zumindest aber die grobe Durchsicht der angebotenen<br />
Akten, bleibt dabei in jedem Fall notwendig, da von außen angebrachte<br />
Aktentitel oder auch die Angaben des Registraturpersonals – wenn man<br />
den Schlüsselverwalter eines Institutskellers überhaupt so nennen kann –<br />
oft nicht verlässlich sind.<br />
Eine Vereinfachung und Systematisierung der Arbeit ergibt sich daraus,<br />
dass nicht in dem praktisch unendlichen Pool möglicher Forschungsthemen<br />
gesucht wird, bis ein Thema gefunden ist, für das ein Historiker<br />
vielleicht einmal diese spezielle Akte benötigen könnte. D. h., die Frage<br />
lautet nicht (mehr): „Gibt es irgendein Thema, das ein Historiker in<br />
Zukunft mit dieser Akte oder dieser Gruppe von Akten bearbeiten könnte?“<br />
Bei einer solchen Herangehensweise wäre nämlich strenggenommen<br />
fast jede Akte archivwürdig, da fast immer ein mögliches, wenn z. T. auch<br />
abseitiges Forschungsthema gefunden werden kann, wenn man nur lange<br />
genug danach sucht. Jede studentische Hilfskraft könnte einmal Nobelpreisträger<br />
oder Bundeskanzler werden, was aber kein Grund zur Aufbewahrung<br />
aller Akten studentischer Hilfskräfte sein kann. Auch die Beschaffung<br />
von Büromaterial könnte zum Gegenstand wirtschaftshistorischer<br />
Untersuchungen werden, jedoch auch das kann kein Grund zur breiten<br />
Überlieferung von Beschaffungsvorgängen sein. Diese Beispiele mögen<br />
weit hergeholt erscheinen. Aber in der Praxis hat sich sicher jeder schon<br />
einmal eine solche Frage gestellt: „Gibt es ein Forschungsthema, das sich<br />
auf diese Akte stützen könnte?“ Im Zweifel führen solche Fragestellungen<br />
dann zu einer Aufbewahrung „sicherheitshalber“, die je nach den<br />
Umständen bedeutende Anteile des Magazinplatzes ausmachen kann.<br />
Ein Dokumentationsprofil kehrt hingegen die Beweislast um. Es wird<br />
nicht gefragt, ob überhaupt ein Thema anhand der Akte bearbeitet werden<br />
kann, sondern danach, ob eines der als für die eigene Überlieferung als<br />
wesentlich definierten Themen damit bearbeitet werden kann. Die Zahl der<br />
zu prüfenden Möglichkeiten reduziert sich dadurch gewaltig, der Bewertungsvorgang<br />
wird so beschleunigt, systematischer und transparenter. Dazu<br />
ist natürlich zu bemerken, dass hier Euphorie nicht am Platz ist, denn<br />
nach wie vor ist es Teil der Sorgfaltspflicht, in Zweifelsfällen und Bereichen,<br />
die ein Dokumentationsprofil seiner Natur nach nur unscharf abdecken<br />
kann, genau nachzudenken und vielleicht sogar einmal etwas zu übernehmen,<br />
was nicht durch das Profil gedeckt ist, aber aus davon unabhängigen<br />
Erwägungen für bedeutend gehalten wird. Das Profil muss auch immer<br />
wieder überprüft, angepasst und verbessert werden. Es ist also nicht als<br />
Geheimwaffe zu verstehen, die dem Archivar die Arbeit vollkommen abnimmt<br />
oder ihn gar überflüssig machen könnte, sondern nur als Hilfsmittel,<br />
das die Arbeit stark erleichtert, jedoch nicht verabsolutiert werden<br />
sollte.<br />
Wie konkret Dokumentationsziele definiert werden, hängt stark vom<br />
einzelnen Archiv bzw. seinem Träger ab. Die Vorstellung, es gebe einen<br />
gleichsam objektiven Tatbestand der Archivwürdigkeit, den der Archivar<br />
unabhängig von Herkunft und Arbeitsweise festzustellen habe, ist bekanntlich<br />
als Chimäre zurückzuweisen. Den (historischen, kulturellen,<br />
inhaltlichen, juristischen, etc.) „Wert“ von Schriftgut kann man nur im<br />
Hinblick auf ein bestimmtes Ziel ermitteln, das mit seiner Aufbewahrung<br />
erreicht werden soll, nicht aber absolut. Ein Handschreiben des Ministerpräsidenten<br />
an den Rektor einer Universität über hochschulpolitische<br />
Fragen ist für den wertlos, der die Qualität der medizinischen Versorgung<br />
im Universitätsklinikum erforschen will, während der Historiker der<br />
Hochschulpolitik nichts mit einem repräsentativen Sample von Patientenakten<br />
anfangen kann. Solche an sich recht banalen Erkenntnisse auf das<br />
38 Universitätsreden 73 Universitätsreden 73 39
Max Plassmann Dokumentationsziele als Grundlage der Arbeit v on Univ ersitätsarchiv en<br />
Geschäft der Bewertung zu übertragen, ist ein Zweck der Definition von<br />
Dokumentationszielen.<br />
Wiederum genügt es dabei nicht, es etwa bei allgemeinen Aussagen zu<br />
belassen wie: „Zu archivieren sind alle hochschulpolitischen Unterlagen<br />
und Patientenakten in Auswahl“. Denn die entscheidende Frage ist doch,<br />
in welchem Umfang, in welcher Dichte eine bestimmte Quellengruppe<br />
überliefert werden soll. Und dieser Umfang kann auch auf Null festgesetzt<br />
werden, selbst wenn es theoretisch historische Fragestellungen geben könnte,<br />
die mit diesen Unterlagen sinnvoll zu bearbeiten wären.<br />
Ein Beispiel: Im Universitätsarchiv Düsseldorf stand eine größere Abgabe<br />
aus der Verwaltung des Universitätsklinikums an, darunter ca. zwei<br />
laufende Meter Akten zum Abschleppen von Falschparkern auf dem<br />
Klinikgelände (Einzelfälle). Bei kursorischer Durchsicht ergab sich, dass in<br />
durchaus hoher Anzahl Vorgänge enthalten waren, anhand derer eine<br />
Mentalitätsgeschichte des Falschparkens hätte geschrieben werden können,<br />
also umfassende Beschwerden mit entsprechenden Antworten und Gegenantworten.<br />
Sicher gehört das Problem des Falschparkens auch zu den<br />
Themen, die im ausgehenden 20. Jahrhundert einen großen Prozentsatz<br />
von Bundesbürgern aktiv oder passiv betrafen und die von allgemeinem<br />
Interesse waren. Und die schiere Menge der Vorgänge zeigt, dass das<br />
Thema auch für die Klinikverwaltung eine wenigstens quantitativ ernstzunehmende<br />
Aufgabe war. Das alles aber kann kein Grund dafür sein, diese<br />
Akten im Universitätsarchiv Düsseldorf zu verwahren. Denn das Ziel eines<br />
Universitätsarchivs kann es nicht sein, mentalitäts- und kulturgeschichtlich<br />
interessante Akten zu Themen vorzuhalten, die nicht spezifisch universitär<br />
sind (wie das Thema Falschparken). Dabei kann auch die Überlegung<br />
keine Rolle spielen, ob denn an anderer Stelle eine Überlieferung zu<br />
diesem Thema gebildet wird, ob also z. B. in Stadtarchiven Falschparkerakten<br />
mit historischer Relevanz archiviert werden. Denn das liefe darauf<br />
hinaus, sich selbst zum Ersatzüberlieferungsarchiv für alle anderen Sparten<br />
zu erklären und auf Verdacht alles mögliche aufzubewahren, das man<br />
eigentlich kassiert hätte.<br />
Es kommt vielmehr darauf an, positive Ziele der eigenen Überlieferungsbildung<br />
zu definieren und zu kommunizieren, so dass im Idealfall<br />
für andere Archive die Möglichkeit besteht zu erkennen, welche Bereiche<br />
der Überlieferung wo abgedeckt sind, was wiederum die eigenen Kassationsentscheidungen<br />
erleichtert. 4<br />
Die Schwierigkeit liegt jedoch darin, diese Forderung nach einer positiven<br />
Definition in einer Weise umzusetzen, die sowohl verständlich und<br />
eindeutig als auch wirtschaftlich, umsetz- und handhabbar ist. Am einfachsten<br />
ist selbstverständlich die rein gedankliche Festlegung der Ziele,<br />
die der Archivar im Kopf hat und mehr oder weniger bewusst anwendet.<br />
Dies ist eine Minimalforderung an jeden Archivar, und es muss auch damit<br />
genug sein, falls Zeit und Personalkapazität nicht für eine Verschriftlichung<br />
der Gedanken reichen. Es ist ohnehin so, dass ein mehrere 100<br />
Seiten umfassendes, alle Eventualitäten berücksichtigendes Dokumentationsprofil<br />
so gut wie wertlos sein kann, wenn es die Archivare nicht<br />
wenigstens in Grundzügen im Kopf haben und es in der Regel ohne erneute<br />
Lektüre anwenden können. Denn ständiges Nachschlagen und Blättern<br />
im Aktenkeller vor einer Wand von angebotenen Unterlagen ist sicher<br />
wenig hilfreich.<br />
Daher ist ein hierarchischer Aufbau vom Allgemeinen zum Speziellen<br />
hin vorzunehmen. Wie speziell man dabei wird, ist dem einzelnen Archiv<br />
zu überlassen. Es ist nicht zuletzt eine Frage der Zeit, die man in ein<br />
Dokumentationsprofil investieren will oder kann.<br />
Doch der Aufwand kann sich lohnen, da ein Dokumentationsprofil<br />
nicht alleine auf dem Feld der Bewertung einzusetzen ist. Auch bei der<br />
nachfolgenden archivischen Arbeit erleichtert es Entscheidungen und die<br />
Entwicklung von Konzepten. Da ist zunächst die Erschließung, die ihrerseits<br />
sowohl inhaltlich als auch personell geplant werden muss, um sowohl<br />
den Bedürfnissen der Benutzung zu dienen als auch die personellen<br />
Ressourcen des Archivs nicht über Gebühr zu beanspruchen. Dabei habe<br />
ich nicht nur die Frage der Erschließungstiefe im Auge, die über ein<br />
Dokumentationsprofil gesteuert werden kann.<br />
Sinnvoll einsetzbar ist es auch bei der Beantwortung der Frage nach dem<br />
Erschließungsansatz. Ein Beispiel mag das verdeutlichen: Bei der Bewer-<br />
4 Dies mit dem langfristigen Ziel einer „Überlieferungsbildung im Verbund“ aller<br />
Archivsparten und -typen, siehe Kretzschmar: Die „neue archivische Bewertungsdiskussion“<br />
(wie Anm. 2), S. 39.<br />
40 Universitätsreden 73 Universitätsreden 73 41
Max Plassmann<br />
tung von Prüfungsakten aus den 1970er Jahren wurden im Universitätsarchiv<br />
Düsseldorf mehrere Dokumentationsziele gleichzeitig verfolgt. Neben<br />
einer exemplarischen Überlieferung, die dazu dient, einen Überblick<br />
über Tendenzen, Gebräuche und die Bandbreite von Themen und Benotungen<br />
zu verschaffen, trat eine Auswahl besonderer Fälle, nämlich von<br />
Prozessen um Benotungen, von prominenten oder besonderen Personen<br />
und von Akten, die ein Düsseldorfer Spezifikum darstellen, da sie Dokumente<br />
enthalten, die im Rahmen des bekannten jahrzehntelangen Streits<br />
um die Benennung unserer Universität nach Heinrich Heine 5 von studentischer<br />
Seite als Protestmittel eingesetzt wurden. Sie benutzten trotz mehrfacher<br />
Versuche der Universitätsleitung, dies zu unterbinden, auch in<br />
solch offiziellen Dokumenten wie Anmeldungen zur Prüfung schon vor<br />
der Umbenennung den gewünschten Namen „Heinrich-Heine-Universität“.<br />
Einige dieser Fälle, die zufällig ermittelt wurden, wurden nicht<br />
wegen der Prüfungsunterlagen archiviert, sondern als Beispiele für diese<br />
Form des Namensstreits, also mit ganz anderen Zielen.<br />
Es liegt auf der Hand, dass Akten, die aus unterschiedlichen inhaltlichen<br />
Gründen übernommen wurden, auch unterschiedlich zu erschließen sind.<br />
Wenn etwa exemplarisch Fälle mit sehr guten oder sehr schlechten Noten<br />
ausgewählt wurden, dann ist es wichtiger, dem Benutzer diesen Archivierungsgrund<br />
und die Benotung mitzuteilen, als den Namen des Prüflings.<br />
Bei einer Akte, die wegen der Prominenz der betroffenen Person archiviert<br />
wurde, steht bei der Erschließung demgegenüber der Personenname im<br />
Vordergrund, während eine Akte, die wegen der Besonderheit des Düsseldorfer<br />
Namensstreits archiviert wurde, die Erschließung verdeutlichen<br />
muss, dass es sich um eine in dieser Hinsicht interessante Akte handelt.<br />
Dergleichen Beispiele lassen sich noch vielfach finden. Sowohl quantitativ<br />
als auch im Hinblick auf die zu erbringende Arbeitsleistung spielt in<br />
Nachlässen und Institutsbeständen immer wieder die Korrespondenzserie<br />
5 Vgl. Max Plassmann / Karoline Riener: Die ersten Jahre der Universität Düsseldorf<br />
(1965-1970). Von der „schleichenden“ Gründung bis zum Namensstreit, in: Gert Kaiser<br />
(Hrsg.): Jahrbuch der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf 2002. Düsseldorf 2003, S.<br />
503-512; Karoline Riener: Der Streit um die Benennung der Universität Düsseldorf<br />
nach Heinrich Heine, in: Düsseldorfer Jahrbuch 76 (2006), S. 251-290.<br />
42 Universitätsreden 73<br />
Dokumentationsziele als Grundlage der Arbeit v on Univ ersitätsarchiv en<br />
A-Z eine wichtige Rolle. Hier steht immer wieder die Entscheidung an, ob<br />
man sie überhaupt oder nur teilweise archiviert, aber es stellt sich auch<br />
immer wieder die Frage der Erschließungstiefe. Es liegt auf der Hand, dass<br />
es sehr wenig Arbeit bereitet, die Akten mit dem bloßen Titel „Korrespondenz<br />
A, B, C“ usw. zu erschließen, doch genauso ist bekannt, dass Benutzer<br />
häufig nach Personen fragen, also etwa danach, ob in einem Professorennachlass<br />
ein Briefwechsel mit dem Kollegen X zu finden ist. Um solche<br />
Anfragen ohne Gang ins Magazin beantworten zu können, wäre eine<br />
aufwendige bibliothekarische Einzelblatterschließung erforderlich, die<br />
aber nur im Ausnahmefall leistbar ist.<br />
Ein Dokumentationsprofil unterstützt nun die Entscheidung, welche<br />
Art der Erschließung anzuwenden ist. Denn es schafft Klarheit darüber,<br />
warum diese Korrespondenzserie eigentlich überliefert wurde. Wegen der<br />
wissenschaftlichen Briefwechsel mit anderen Großen des Fachs? Dann<br />
wären deren Namen vordringlich zu erschließen. Wegen der inneruniversitären<br />
Schreiben um bestimmte Problemkreise der Universitätsgeschichte?<br />
Dann wäre die Erfassung dieser wichtigen Themen bedeutender als die<br />
Nennung der Namen der Kollegen, die als Hochschulangehörige ohnehin<br />
in zahlreichen Akten zu finden sind, so dass ihre Nennung an sich keine<br />
spezifische Aussage und kein zielgerichtetes Suchen ermöglichen würde.<br />
Vielleicht handelt es sich aber auch um Korrespondenz mit Studierenden,<br />
etwa eines Vertrauensdozenten einer Stiftung, die Auslandsaufenthalte<br />
ermöglicht. Dann sind die einzelnen Namen kaum von Interesse, sondern<br />
es muss nur der Zweck vermittelt werden, um den es sich bei der<br />
Korrespondenz dreht.<br />
Zum guten Schluss sind Dokumentationsprofile auch im Bereich der<br />
Bestandserhaltung einsetzbar. Hier löst der Gedanke daran, dass man<br />
einige Bestände anderen vorziehen muss, zwar regelmäßig Unbehagen aus;<br />
handelt es sich doch in jedem Fall um Kulturgut, das auf dem Wege einer<br />
regulären Bewertung zu solchem geworden ist. Und Kulturgut ist unbedingt<br />
zu erhalten und zu schützen. Jedoch zwingen in der Praxis die nur<br />
beschränkt zur Verfügung stehenden Mittel dazu, die Maßnahmen zu<br />
priorisieren, was eben nicht nur heißt, einen Bestand vordringlich zu bearbeiten,<br />
sondern auch, andere mehr oder weniger bewusst zu vernachlässigen.<br />
Bei diesen Fragen spielen natürlich die Art und der Umfang der<br />
Universitätsreden 73 43
Max Plassmann<br />
Schadensbilder eine gewichtige Rolle, jedoch steht der Archivar immer wieder<br />
vor der Entscheidung, von zwei in etwa gleich gefährdeten Beständen<br />
nur einen etwa verfilmen zu können. Es bedarf keiner großen Ausführungen,<br />
um darzulegen, dass auch hier Dokumentationsprofile eine wertvolle<br />
Hilfestellung geben können.<br />
Ich fasse zusammen: In Anbetracht der Tatsache, dass die neuere Bewertungsdiskussion<br />
zu recht den inhaltlichen Aspekt aus dem Abseits herausholt,<br />
in das er während der 1990er Jahre geraten ist (ohne ihn jedoch zu<br />
verabsolutieren), ist es notwendig, inhaltliche Kriterien und Gewichtungen<br />
für die Bewertung zu entwickeln, die diese systematischer, transparenter<br />
und wirtschaftlicher machen. 6 Ich habe sie hier Dokumentationsprofil<br />
genannt, es mag jedoch auch ein beliebiger anderer Name dafür gefunden<br />
werden. Entscheidend ist dabei, dass diese Kriterien bewusst entwickelt<br />
und wenn möglich verschriftlicht werden, um auch über personelle<br />
Brüche hinaus systematisch angewendet werden zu können. Entscheidend<br />
ist weiterhin, diese Profile in der Praxis ständig zu prüfen und zu aktualisieren<br />
und sich im Einzelfall nicht zu ihrem Sklaven zu machen, sondern<br />
sich auch einmal souverän über sie hinwegzusetzen. Dies ist im übrigen<br />
eine wichtige Begründung dafür, dass gerade auf einem so unübersichtlichen<br />
Feld wie einer universitären Überlieferung ein wissenschaftlicher<br />
Archivar mit fundierter historischer und archivischer Ausbildung eingesetzt<br />
werden muss. Die Vorstellung, ein Dokumentationsprofil einmal<br />
etwa im Rahmen eines Werkvertrages ausarbeiten zu lassen, um es später<br />
von schlechtbezahlten Hilfskräften umsetzen zu lassen, ist deutlich<br />
zurückzuweisen, auch wenn sie in Zeiten von Sparzwängen verlockend zu<br />
sein scheint.<br />
Ein sekundärer, aber nicht zu unterschätzender Nutzen von Dokumentationsprofilen<br />
ist die Vereinfachung der Planung von Erschließung und<br />
Bestandserhaltung, die ebenfalls den hier fixierten Grundsätzen folgen<br />
können. Gerade Universitätsarchive mit ihrer eher schlechten personellen<br />
Ausstattung können so deutlich von ihnen profitieren.<br />
6 Vgl. <strong>Andreas</strong> Pilger / Kathrin Pilger: Die Bewertung von Verwaltungsschriftgut als Beobachtung<br />
zweiter Ordnung, in: Der Archivar 56 (2003), S. 111-118, hier v.a. S. 117.<br />
44 Universitätsreden 73<br />
Dokumentationsziele als Grundlage der Arbeit v on Univ ersitätsarchiv en<br />
Und schließlich sorgen sie auch für Argumentationshilfe bei Auseinandersetzungen<br />
um die Personal- und Sachmittelausstattung. Denn mit einem<br />
Dokumentationsprofil ist das Archiv gerüstet zu sagen, dass bestimmte,<br />
benennbare Bereiche nicht oder unzureichend überliefert werden können,<br />
wenn die Ausstattung zu schlecht ist. Das aber ist wesentlich überzeugender,<br />
als allgemein über Personalmangel zu klagen.<br />
Was jetzt fehlt, sind Formen, Verfahrensweisen und Ansätze für die Formulierung<br />
funktionstüchtiger Dokumentationsprofile. Der alte<br />
Booms´sche Ansatz, dazu einen runden Tisch mit verschiedenen gesellschaftlichen<br />
Gruppen zu bilden, ist sicher nicht praktikabel, auch wenn<br />
der Dialog mit Benutzern und abgebenden Stellen gesucht werden sollte. 7<br />
Es wird eine zukünftige Aufgabe sein, ihn durch ein besseres Konzept zu<br />
ersetzen. Die Frühjahrstagung 2006 der Fachgruppe 8 hat dazu interessante<br />
Ansätze geboten, auf denen die weitere Arbeit aufbauen kann.<br />
7 Hans Booms: Gesellschaftsordnung und Überlieferungsbildung. Zur Problematik<br />
archivischer Quellenbewertung, in: Archivalische Zeitschrift 68 (1972), S. 3-40.<br />
Universitätsreden 73 45
Integrierte Bewertung – Ansatz zu einem<br />
nachhaltigen Ressourceneinsatz im Archiv<br />
Klaus Nippert<br />
Wie mein Vor-Referent Max Plassmann für unser Arbeitsgebiet dargestellt<br />
hat, ist in der aktuellen Bewertungsdiskussion eine Wende hin zu einer<br />
inhaltsorientierten und auf vorformulierte Ziele gerichteten Überlieferungsbildung<br />
zu beobachten. Die mit dieser Wende verbundene Problematik<br />
der Positivliste soll hier nicht breiter aufgerollt werden. Die wechselvolle<br />
und deutsch-deutsche Diskussion dieses Konzepts lässt die Problempunkte<br />
deutlich hervortreten: 1. die Gefahr einer Überlieferungsbildung<br />
quasi als Siegerjustiz zur Vorherrschaft gekommener Ideologeme, 2. die<br />
Problematik der Normenauslese in der wertepluralistischen Gesellschaft<br />
und 3. die Verluste, die mit einer ausschließlich auf die Abbildung von<br />
Behördenhandeln zielenden Bewertungspraxis einhergehen. Die Diskussion<br />
seit Booms hat hier für Problembewusstsein gesorgt.<br />
Mein Statement läuft darauf hinaus, dass wir im Bewusstsein der Problematik<br />
von Positivlisten ein Konzept zu überliefernder Inhalte entwerfen<br />
sollten, gleich ob das Kind nun Dokumentationsziel, Dokumentationsprofil<br />
oder anders benannt wird. Neben der zeitüblichen Erwägung,<br />
dass wir unseren Trägern und der Öffentlichkeit, deren Mittel wir verwenden,<br />
Rechenschaft schulden, scheinen mir vor allem die materiellen Koordinaten<br />
des Archivbetriebs für die Formulierung von Dokumentationszielen<br />
zu sprechen.<br />
Ich meine, dass wir mit Priorisierungen verbundene Dokumentationsziele<br />
brauchen, weil die künftige Überlieferungsbildung nicht mehr durch<br />
die Archivierung aller als ARCHIVWÜRDIG oder KASSABEL betrachteten<br />
Unterlagen geprägt sein dürfte, sondern durch die Auswahl eines<br />
womöglich kleinen Teils des als archivwürdig eingeschätzten Materials.<br />
Den Grund, weshalb die Alternative ARCHIVWÜRDIG / KASSABEL<br />
Universitätsreden 73 47
Klaus Nippert<br />
durch die Einordnung in eine Dringlichkeitsskala abgelöst wird, sehe ich<br />
in den für die nahe und mittlere Zukunft absehbaren materiellen Koordinaten<br />
des Archivbetriebs. Sie werden es nötig machen, innerhalb des als<br />
archivwürdig erkannten Materials einen Schnitt an der Machbarkeitsgrenze<br />
zu setzen.<br />
Worin und in welchem Maß die Enge unserer betrieblichen Koordinaten<br />
besteht, möchte ich in drei knappen Hinweisen vor Augen führen.<br />
An erster Stelle ist die Bestandserhaltung zu nennen. Allgegenwärtig ist<br />
das Problem des Papierzerfalls – so gegenwärtig, dass man angesichts der<br />
materiellen Aufdringlichkeit ganzer Regalkilometer voller papierner Akten<br />
im Berufsalltag schon wieder geneigt sein könnte, das Problem auszublenden,<br />
um nicht in Depressionen zu verfallen. Auch wenn das Grundproblem<br />
hinreichend bekannt ist, möchte ich anhand einer knappen überschlägigen<br />
Rechnung seine Dimensionen in Erinnerung rufen und damit<br />
zeigen, dass die Bestandserhaltung eine, wenn nicht die Engstelle des<br />
Archivbetriebs ist.<br />
Gesetzt dem Fall, dass ein Archiv über vom Papierzerfall bedrohtes, also<br />
in der Regel nach etwa 1840 entstandenes Archivgut in dem für Hochschularchive<br />
typischen Umfang von 1.000 Regalmetern verfügt. Es ist<br />
durchaus nicht hysterisch, wenn ich annehme, dass diese 1.000 Regalmeter<br />
ohne bestandserhaltende Maßnahmen innerhalb von 100 Jahren einen Zustand<br />
erreichen, der keine normale Benutzung mehr erlaubt. Die Rettungsmaßnahmen<br />
wären also innerhalb der nächsten 100 Jahre zu realisieren.<br />
Nun kostet die Entsäuerung von Archivgut heute rund 2.000 € pro<br />
Regalmeter, wenn ein Massenverfahren gewählt wird. Bei einer Konservierung<br />
im Einzelblattverfahren kann sich der Meterpreis leicht auf über<br />
3.500 € belaufen, den archivseitigen Aufwand für Vor- und Nachbereitung<br />
nicht eingerechnet.<br />
Eine Verfilmung ist etwas kostengünstiger. Aber auch hier müssen um<br />
1.500 € je Regalmeter kalkuliert werden. Auch sind hier Folgekosten zu<br />
berücksichtigen, sei es für den Betrieb von Filmlesegeräten oder für Digitalformen<br />
der Verfilmung.<br />
Je nachdem, ob man nun einen Meterpreis von 1.500, 2.000 oder 3.500 €<br />
für den langfristigen Erhalt von 1.000 Regalmetern säurehaltigen Papiers<br />
zugrundelegt, wäre über 100 Jahre ein jährlicher Aufwand von 15.000,<br />
48 Universitätsreden 73<br />
Integrierte Bew ertung<br />
20.000 oder 35.000 € zu erbringen. Selbst wenn man alle bekannten und<br />
populären Wege zur Beschaffung von Finanzmitteln abgeschritten hat,<br />
wird ein Hochschularchiv kaum darauf setzen können, regelmäßig die<br />
genannten Summen aufzubringen.<br />
Nach diesem vielleicht etwas schulmeisterlichen Rechenexempel komme<br />
ich zu meinem zweiten Punkt: Auch die Bemessenheit des Magazinraums<br />
wird uns vermehrt zur Prioritätensetzung bei der Bewertung zwingen. Mit<br />
Übernahmeraten fortzufahren, wie sie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts<br />
das Bild zumal der staatlichen Archivierungspraxis geprägt<br />
haben, dürfte für fast alle Kollegen angesichts ihrer aktuellen Aussichten<br />
auf Einrichtung neuer Magazine ausgeschlossen sein.<br />
Jedes Archiv bräuchte eine Vorstellung, welche Übernahmemengen langfristig<br />
vertretbar sind. Können wir es uns leisten, auf Dauer ohne die<br />
Einschätzung eines langfristigen Maximums zu wirtschaften? Ich meine<br />
hier kein hartes jährliches Budget, nach dessen Ausschöpfung vor Jahresschluss<br />
ein prominenter Nachlass dem Reißwolf überantwortet wird. Ich<br />
denke eher an ein Bewusstsein für das Übernahmevolumen, das in langfristig<br />
erhaltbares und gut zugängliches Archivgut umgesetzt werden kann.<br />
Natürlich lässt sich so etwas nicht standardisieren. Ein mit Übernahmerückständen<br />
konfrontiertes Archiv in der Aufbauphase wird hier über<br />
viele Jahre anders rechnen als eine etablierte Institution.<br />
Vielleicht täten wir ganz gut daran, uns Argumente zu überlegen, warum<br />
ein Hochschularchiv sich nicht darauf beschränken könne, wie nun das<br />
Landesarchiv Nordrhein-Westfalen jährlich ein Prozent der angebotenen<br />
Unterlagen zu archivieren. Das Argument, mit Universitätsverwaltung und<br />
Fakultäten seien wir für viele Schriftgutbildner mit einem besonders<br />
hohen Anteil archivwürdiger Unterlagen zuständig, könnte sich leicht als<br />
zu abstrakt erweisen. Wer Forderungen nach einer starken Einschränkung<br />
der Übernahmequoten begegnen möchte, hat vielleicht bessere Aussicht<br />
auf Erfolg, wenn er den Archivträger vor die Entscheidung stellen kann,<br />
auch in dessen Augen unverzichtbare, ihm in einer Aufzählung vor Augen<br />
geführte Informationen zu erhalten.<br />
Als dritte ressourcenbindende Engstelle des Archivbetriebs möchte ich<br />
auf die Problematik der Erschließungsrückstände und die Verfügbarkeit<br />
von Erschließungsdaten eingehen. Wir wissen alle, aus welch’ unterschied-<br />
Universitätsreden 73 49
Klaus Nippert<br />
lichen Gründen Zugänge über viele Jahre nur durch eine provisorische<br />
Abgabeliste erschlossen verbleiben. Wir dürfen aber auch nicht verkennen,<br />
dass sich gegenwärtig mit der Digitalisierung der Findmittel auf der Ebene<br />
der Titelaufnahmen und ihrer bald stark ausgedehnten Online-<br />
Präsentation eine Entwicklung vollzieht, die ,ungehobene Schätze‘ fragwürdiger<br />
macht als bisher. Wenn gerade anspruchsvolle und daher besonders<br />
willkommene Archivbenutzer dazu übergehen, ihre Forschungsprojekte<br />
danach zu konzipieren, wo geeignetes Archivgut online nachweisbar<br />
ist, werden Archive, deren Findmittel den Weg auf fremde<br />
Bildschirme nicht gefunden haben, ein Nachsehen haben. Gut denkbar,<br />
dass sich die Benutzer auf Archive mit online erreichbaren Findmitteln<br />
konzentrieren und in einer – im Bibliothekswesen schon geläufigen –<br />
,Now-or-never-Mentalität‘ dasjenige außen vor lassen, was nicht frühzeitig<br />
in die Projektplanung Eingang findet. Man kann deshalb fragen, ob ein<br />
großer Anteil unerschlossener Bestände nicht als Malus wirksam wird.<br />
Natürlich ist es zu früh, um einzuschätzen, wieviel nicht online erschlossenes<br />
Material sich ein Archiv wird leisten können. Dass wir uns immer<br />
weiter von Verhältnissen wegbewegen, in denen es vielleicht genügt, wenn<br />
Archivare das Wissen um ihre Bestände im Kopf und in provisorischen<br />
Listen speichern, scheint mir aber ebenso überzeugend wie der Gedanke,<br />
dass auch die Erschließungskapazität eine Archivs ein legitimes<br />
Bewertungskriterium sein kann.<br />
Papierzerfall, knapper Magazinraum und eine wohl zunehmende Problematik<br />
von Erschließungsrückständen könnten als Stichworte eigentlich<br />
genügen, um zu begründen, weshalb archivische Bewertung nicht nur als<br />
die nach absoluten Wertkriterien gefällte Entscheidung zwischen ARCHIV-<br />
WÜRDIG und KASSABEL zu denken ist, sondern auch als ein Prozess,<br />
der integriert ist in das materielle Koordinatensystem des Archivs – eben<br />
in Ansehung der Mittel für Bestandserhaltung, Magazinraum und Bearbeitungskapazitäten.<br />
Natürlich findet und fand diese Integration schon immer in irgendeiner<br />
Weise statt – oft wohl mit der Präzision des Augenmaßes, mal mehr, mal<br />
weniger genau. Man kann hier eine Parallele zu dem sprichwörtlichen<br />
,Fingerspitzengefühl‘ in der Bewertungsdiskussion seit der ersten Hälfte<br />
des 20. Jahrhunderts ziehen. Gegen Forderungen nach Methodik und<br />
50 Universitätsreden 73<br />
Integrierte Bew ertung<br />
Nachvollziehbarkeit der Einzelentscheidung hat sich das Schlagwort des<br />
Fingerspitzengefühls nicht behauptet. Und für die Fortführung einer<br />
durch Augenmaß integrierten Bewertungspraxis spricht nicht eben die Tatsache,<br />
dass in den zurückliegenden Jahrzehnten – so erfreulich der Zuwachs<br />
an Planstellen im Archivwesen auch gewesen ist – mancher Wechsel<br />
auf eine Zukunft gezogen wurde, die sich für Archive weniger komfortabel<br />
als bisher zu gestalten scheint.<br />
Wenn wir gegenüber einem Archivträger, der eine Präzisierung unseres<br />
Betriebskonzepts erwartet, darauf bestehen, die Bewertungsentscheidung<br />
nach wie vor durch Augenmaß in unsere materiellen Gegebenheiten einzupassen,<br />
werden wir mindestens Punkte vergeben, uns vielleicht sogar im<br />
Korsett einer vorgeschriebenen Übernahmequote wiederfinden. Wie sehr<br />
der bereits angesprochene Präzedenzfall einer einprozentigen Quote für<br />
das Landesarchiv Nordrhein-Westfalen als Muster für Archive der Fachgruppe<br />
8 geeignet ist, mag eine jede und ein jeder bei sich ermessen. Ich<br />
glaube, wir wären gut beraten, wenn wir uns die Vorteile einer selbständigen<br />
Besetzung des Themas sicherten.<br />
Die Bestimmung eines nach Prioritäten gewichtenden Dokumentationsziels<br />
kann hier schon deshalb helfen, weil so eine genauere Übersicht über<br />
die Arbeitsstrecke entstünde und die Einschätzung erleichtert würde, in<br />
welchem Grad die gesteckten Ziele mit den verfügbaren Mitteln zu erreichen<br />
sind. Gegenüber Bestrebungen zur Mittelkürzung könnte ein solches<br />
Instrument eingesetzt werden, um einsichtig zu machen, dass schon die<br />
bisher verfügbaren Mittel kaum für den langfristigen Erhalt unverzichtbarer<br />
Informationen ausreichen und welche Einschnitte bei der Umsetzung<br />
von Sparmaßnahmen unumgänglich wären.<br />
Welche Funktion können Dokumentationsziele haben? Sicherlich geht<br />
es hier zu einem großen Teil darum, den unausgesprochenen Konsens bewusst<br />
und reflektierbar zu machen, ohne aber Unvorhergesehenes auszuschließen<br />
und ohne individuelle Prioritätensetzungen zu diskreditieren.<br />
Auf keinen Fall aber sollte ein Dokumentationsziel die Reduktion auf ein<br />
Minimalprogramm legitimieren.<br />
Unverzichtbare Bestandteile eines Überlieferungsplans wären sicherlich<br />
vollständige Informationen über:<br />
Universitätsreden 73 51
Klaus Nippert<br />
– die Entwicklung der Organisationsstruktur einer Hochschule und<br />
ihrer Einheiten wie Fakultäten und Institute<br />
– den Personalbestand des Lehrkörpers und die Besetzung der wichtigsten<br />
Ämter wie Rektorat und Dekanate<br />
– die Stammdaten der Studierenden<br />
– die abgelegten Abschlussprüfungen<br />
– die verliehenen akademischen Grade, Lehrerlaubnisse und Ehrungen<br />
– die Studiengänge und die dafür geltenden Bestimmungen<br />
Hier dürfte außer Diskussion stehen, dass ein vollständiger Informationserhalt<br />
höchste Priorität hat. Jedoch ist schon bei den genannten Gegenständen<br />
mit unterschiedlichen Ansichten über die angestrebte Informationstiefe<br />
zu rechnen.<br />
So wäre vielleicht zu diskutieren:<br />
– Sollen über die Studierenden neben den Matrikeldaten weitere Daten,<br />
etwa zu den Studienverläufen überliefert werden?<br />
– Wie sind Informationen zum Ablauf von Prüfungen zu überliefern?<br />
Spätestens bei der Frage, ob auch die Prüfungsarbeiten zu überliefern<br />
sind, besteht hier wohl Gelegenheit zu Diskussion.<br />
– Bei welchen Gruppen des Hochschulpersonals ist die vollständige<br />
Überlieferung des Personalbestands verzichtbar?<br />
(Natürlich ließe sich die Reihe fortsetzen.)<br />
Neben der Auswahl zu dokumentierender Gegenstände und der Orientierungshilfe<br />
hinsichtlich der Dokumentationstiefe erscheint mir auch die<br />
Aufgabenverteilung zwischen verschiedenen Archiven als sinnvoller Gegenstand<br />
von Dokumentationszielen. Durch die Vermeidung von Doppelüberlieferungen<br />
etwa zu Fakultätentagen oder zu an mehreren Hochschulen<br />
angesiedelten Forschungsprojekten ließen sich Ressourcen sparen. Auch<br />
würde sich wohl manche Kollegin und mancher Kollege freuen, wenn sie<br />
oder er wüßte, an welcher Stelle für die Überlieferung von Forschungsprojekten<br />
gesorgt werden soll, die von einer der großen Fördereinrichtungen<br />
getragen wurden. Und schließlich könnte bei der Arbeit an einem<br />
Dokumentationsziel darüber nachgedacht werden, ob – vor allem im Hinblick<br />
auf die Überlieferung von Forschungsergebnissen – nicht auch die de<br />
52 Universitätsreden 73<br />
Integrierte Bew ertung<br />
facto bestehende Aufgabenverteilung zwischen Achiven als den Trägern<br />
einer vor allem unikalen Überlieferung einerseits und den Bibliotheken als<br />
den vorrangigen Überlieferungsträgern für publizierte Informationen<br />
andererseits zu betrachten ist, um daraus Leitlinien für eine ressourcensparende<br />
Archivierung abzuleiten. Gerade im Hinblick auf die sogenannte<br />
,Graue Literatur‘ dürfte die Frage erlaubt sein, ob unser Arbeitsfeld<br />
bereits deutlich genug umrissen ist.<br />
Es erscheint mir nun gut möglich, dass sich die Vorstellungen meiner<br />
Kollegen von einem Dokumentationsziel deutlich von dem unterscheiden,<br />
was ich hier in wenigen Worten angedeutet habe. Das Interesse an einem<br />
Arbeitsinstrument, das uns einen nach Prioritäten gewichtenden Überblick<br />
über unser Arbeitsgebiet verschafft, erscheint mir aber wegen der<br />
skizzierten Engstellen so groß, dass die möglichen Unterschiede nicht<br />
abschrecken sollten, die Arbeit aufzunehmen.<br />
Universitätsreden 73 53
Dokumentationsziele und Aspekte der Bewertung<br />
im Archiv der Max-Planck-Gesellschaft<br />
Marion Kazemi<br />
Die seit den 90er Jahren in Deutschland geführte Bewertungsdiskussion 1<br />
bewirkte zunächst eine Polarisierung zwischen Verfechtern des Evidenzprinzips<br />
2 , das bei der Bewertung der Akten auf die mehr formale Dokumentation<br />
der Aufgaben einer Behörde abstellt, und denen, die die inhaltliche<br />
bzw. funktionale Bewertung der Akten als die wichtigere Aufgabe<br />
ansehen. Letztere zielt stärker auf den Informationsgehalt, der beispielsweise<br />
für die Lokalgeschichte unabdingbar ist, weil sie vorrangig Personen,<br />
Orte und Ereignisse zum Gegenstand hat. 3 Diese Sicht kommt meines<br />
Erachtens den meisten Historikern entgegen, die eher inhaltliche als strukturelle<br />
Fragen an das überlieferte Schriftgut stellen. Die unterschiedliche<br />
Prioritätensetzung mag sich zum Teil aus der Art des übernommenen<br />
Archivguts erklären; insgesamt scheint mir aber eine Annäherung der<br />
Standpunkte zu erfolgen bzw. sich die Einsicht durchzusetzen, dass die<br />
Wahrheit etwa in der Mitte liegt und beide Gesichtspunkte bei der Bewertung<br />
zu beachten sind.<br />
Welches sind nun die vorrangigen Dokumentationsziele unseres Archivs,<br />
welche Aspekte sind für die Bewertung unseres Archivguts relevant? Um<br />
dies abzuklären, muss man sich zunächst einmal den Zw eck und die Struktur<br />
der Max-Planck-Gesellschaft vergegenwärtigen.<br />
1 Robert Kretzschmar: Die neue „archivische Bewertungsdiskussion“ und ihre Fußnoten.<br />
Zur Standortbestimmung einer fast zehnjährigen Kontroverse, in: Archivalische Zeitschrift<br />
82 (1999), S. 7-40.<br />
2 Theodor Schellenberg: Die Bewertung modernen Verwaltungsschriftguts. Übers. u. hrsg.<br />
v. A. Menne-Haritz. (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg Bd. 17) Marburg<br />
1990, S. 27ff.<br />
3 Peter K. Weber: Dokumentationsziele lokaler Überlieferungsbildung, in: Der Archivar<br />
54 (2001), S. 206-212, hier: 210f.<br />
Universitätsreden 73 55
Marion Kazemi Dokumentationsziele und Aspekte<br />
Die Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften – so ihr<br />
voller Name, kurz: MPG – wurde 1946/1948 als eingetragener Verein gegründet,<br />
um die Wissenschaften vor allem durch Unterhaltung von Forschungsinstituten<br />
zu fördern, in denen wissenschaftliche Forschung frei<br />
und unabhängig betrieben wird. Bis heute ist dies vor allem Grundlagen-,<br />
aber keine Auftragsforschung. Die MPG setzt die Tradition der bereits<br />
1911 zu demselben Zweck und ebenfalls privatrechtlich gegründeten<br />
Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften – kurz:<br />
KWG – fort, die nach dem 2. Weltkrieg liquidiert wurde. Während sich die<br />
KWG zunächst rein privat aus Aufnahme- und Mitgliedsbeiträgen sowie<br />
aus Spendengeldern finanzierte und erst seit der Inflation 1923 auf Zuschüsse<br />
von Reich und Ländern angewiesen war, wurde und wird die Max-<br />
Planck-Gesellschaft überwiegend (ca. 85 Prozent) von Bund und Ländern<br />
finanziert. Der Etat – 2005: 1,33 Milliarden € – entspricht etwa dem einer<br />
großen deutschen Universität wie der Ludwig-Maximilians-Universität<br />
München. Sie besitzt daneben weiterhin privates Vermögen, das in den<br />
Haushalt einfließt und eine gewisse Flexibilität z. B. bei Berufungsverhandlungen<br />
bietet; außerdem erhält sie Forschungsdrittmittel.<br />
An der Spitze der Max-Planck-Gesellschaft steht der Präsident, der die<br />
Grundzüge der Wissenschaftspolitik bestimmt. Er wird unterstützt vom<br />
Vereinsvorstand, dem Verwaltungsrat, der Entscheidungen vorbereitet und<br />
vor allem den Haushaltsplan aufstellt. Das eigentliche Entscheidungsgremium<br />
ist jedoch der Senat, der den Präsidenten und den Verwaltungsrat<br />
wählt, aber vor allem über die Gründung und Schließung von Instituten<br />
oder Abteilungen beschließt sowie die Berufung von Direktoren bzw. Wissenschaftlichen<br />
Mitgliedern. Wie jeder Verein hält auch die MPG jährlich<br />
eine Mitgliederversammlung ab, die u. a. Satzungsänderungen beschließen<br />
kann und den Senat wählt. Ein weiteres Gremium ist der Wissenschaftliche<br />
Rat, in dem alle Direktoren und Wissenschaftlichen Mitglieder vertreten<br />
sind, die wiederum drei fachlich gegliederten Sektionen zugeordnet<br />
sind. Hier werden die wissenschaftlichen Angelegenheiten der Gesellschaft<br />
erörtert, z. B. Berufungen. Die laufenden Geschäfte der Gesellschaft werden<br />
von der Generalverwaltung geführt, die die genannten Organe der<br />
Gesellschaft und die Institute bei ihren Verwaltungsaufgaben unterstützt.<br />
Abb. 1: Organogramm der MPG.<br />
56 Universitätsreden 73 Universitätsreden 73 57
Marion Kazemi Dokumentationsziele und Aspekte<br />
Abb. 2: Verteilung der Max-Planck-Institute.<br />
Die den drei Sektionen zugeordneten Institute und Forschungseinrichtungen<br />
der MPG arbeiten im Bereich der Biowissenschaften und Medizin, der<br />
Mathematik, Chemie, Physik, z. T. auch in technischer – insbesondere<br />
materialwissenschaftlicher – Ausrichtung, sowie auf geistes-, human-, sozialund<br />
rechtswissenschaftlichem Gebiet, wobei sie bevorzugt interdisziplinär<br />
arbeiten und gern neue Forschungsgebiete aufgreifen, die an den Hochschulen<br />
noch nicht etabliert oder von den Apparaturen her zu aufwendig<br />
sind. Die derzeit 78 Institute sind über ganz Deutschland verteilt, meist an<br />
Universitätsstandorten, außerdem gibt es ein Institut in den Niederlanden<br />
und zwei kunstwissenschaftliche in Italien. Die Direktoren und Wissenschaftlichen<br />
Mitglieder, deren Status etwa dem von C4- bzw. W3-Professoren<br />
entspricht, werden bis heute mehr oder weniger nach dem sogenannten<br />
Harnack-Prinzip ausgewählt, benannt nach dem ersten Präsidenten<br />
der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, dem Theologen und Wissenschaftspolitiker<br />
Adolf von Harnack. Dieses Prinzip besagt, dass man ein Institut<br />
oder eine Abteilung um einen hervorragenden Forscher ganz nach dessen<br />
Geschmack und Bedürfnissen quasi „um ihn herumbaut“, also: erst der<br />
Forscher, dann das Institut. Und wenn man keine geeignete Persönlichkeit<br />
findet, wird das geplante Institut gar nicht erst gegründet, oder – wie derzeit<br />
das Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen – geschlossen<br />
bzw. inhaltlich umgewidmet. Das heute allerorten gern gebrauchte Wort<br />
Exzellenz hat also in der Kaiser-Wilhelm- / Max-Planck-Gesellschaft schon<br />
eine lange Tradition. Berühmte Forscher haben in ihr gearbeitet, eine Vielzahl<br />
von Nobelpreisträgern ist aus beiden Gesellschaften hervorgegangen:<br />
So waren bzw. sind insgesamt neunundzwanzig Wissenschaftliche<br />
Mitglieder und vier Präsidenten Nobelpreisträger, zwanzig weitere wurden<br />
als wissenschaftliche Mitarbeiter oder Postdoktoranden an Instituten der<br />
Gesellschaft ausgebildet.<br />
Die Aufgabe unseres erst 1976 gegründeten Archivs zur Geschichte der<br />
Max-Planck-Gesellschaft ist es, alle Archivalien, ungedrucktes, aber auch<br />
gedrucktes Material sowie audiovisuelle und nun auch elektronische<br />
Dokumente zu ermitteln, zu übernehmen und zu sichern, die für die Geschichte<br />
der Kaiser-Wilhelm- / Max-Planck-Gesellschaft von Bedeutung<br />
sind, und sie sowohl intern für die Gesellschaft zur Wahrnehmung ihrer<br />
58 Universitätsreden 73 Universitätsreden 73 59
Marion Kazemi<br />
Aufgaben als auch für die historische Forschung zu erschließen. 4 Das allgemein<br />
und umfassend formulierte Dokumentationsziel unseres Archivs ist<br />
es also, alles zu erfassen, was für die Geschichte von KWG und MPG<br />
Bedeutung hat. Was dies im einzelnen ist oder sein sollte und wie sich dieses<br />
Ziel erreichen lässt, gilt es hier näher zu erörtern.<br />
Fast zeitgleich mit dem Aufbau des mit 30 Jahren noch sehr jungen<br />
Archivs der Max-Planck-Gesellschaft begann seine Benutzung durch Wissenschaftshistoriker;<br />
daher konnten nicht nur die von der Max-Planck-<br />
Gesellschaft selbst an die Aufbewahrung ihrer Unterlagen geknüpften Anforderungen,<br />
sondern auch die von der Forschung an unser Archivgut gestellten<br />
Fragen nahezu von Anfang an bei der Formulierung der Dokumentations-<br />
und Bewertungsziele berücksichtigt werden.<br />
Für die Max-Planck-Gesellschaft selbst, also ihre Organe und Institute,<br />
fungiert das Archiv zunächst als Gedächtnis. Neben rechtlich relevantem<br />
Schriftgut wie Verträgen oder Behörden- und Gerichtsentscheidungen sollten<br />
daher alle wichtigen Ereignisse und Entwicklungen dokumentiert sein,<br />
um einzelne Vorgänge, die Entstehung interner Strukturen und Handlungsinstrumente,<br />
Kooperationen, bi- und internationale Beziehungen<br />
datieren bzw. analysieren zu können, um Entwicklungen wie z. B. die umstrittene<br />
Einführung der Mitbestimmung Ende der 60er Jahre oder der<br />
Betriebsräte 1970, aber auch der elektronischen Datenverarbeitung innerhalb<br />
der MPG nachzeichnen und ihre Anreger, Befürworter oder Gegner<br />
aufzeigen zu können. Derartige Fragen tauchen nicht nur anlässlich von<br />
Jubiläen auf, sondern werden beispielsweise auch für Stellungnahmen oder<br />
für Vorträge von Präsidiumsmitgliedern benötigt. Die Arbeitsweise und<br />
Besonderheiten der einzelnen Institute oder ihre Strukturgeschichte (=<br />
Behördengeschichte) sollte sich ebenso nachvollziehen lassen wie die ihrer<br />
wissenschaftlichen Leistungen bzw. die von einzelnen Wissenschaftlern.<br />
Weiter interessieren Entdeckungen und Erfindungen, die Entstehung und<br />
4 Führer durch das Archiv zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft. Anläßlich des<br />
25jährigen Jubiläums 1978-2003 unter Beteiligung aller Mitarbeiter neu hrsg. von<br />
Eckart Henning. (Veröffentlichungen aus dem Archiv zur Geschichte der Max-Planck-<br />
Gesellschaft Bd. 17) Berlin 2003, S. 47ff.<br />
60 Universitätsreden 73<br />
Dokumentationsziele und Aspekte<br />
Entwicklung neuer Forschungsgebiete, aber auch die einzelner Geräte und<br />
Methoden, die möglicherweise die Weiterentwicklung einer Disziplin revolutionieren<br />
– man denke nur an die Sequenzanalyzer zur Protein- und<br />
Desoxyribonukleinsäure-Bestimmung bzw. in ihrer Folge die entsprechenden<br />
Synthesizer, die für die Aufklärung von Genomen und die daraus<br />
resultierende Medikamentenentwicklung von größter Bedeutung sind.<br />
Prototypen solcher Geräte wurden an Max-Planck-Instituten entwickelt.<br />
Die Wissenschaftshistoriker, die unser Archiv benutzen, arbeiten vorrangig<br />
biographisch, institutionen- oder disziplingeschichtlich, wobei ihre<br />
Fragestellungen heute weiter gefasst sind, d. h. dass sie Personen und<br />
Institutionen im Kontext ihres sozialen und politischen Umfelds oder ihr<br />
Verhalten in bestimmten Zeitabschnitten oder politischen Systemen erforschen<br />
wie z. B. in den beiden Weltkriegen – Thema militärische Geheimforschung<br />
oder kriegswichtige Forschung –, in der Zeit des Nationalsozialismus<br />
bzw. in der Nachkriegszeit – Themen: Vergangenheitsbewältigung<br />
und forschungspolitische Neuausrichtung in der Bundesrepublik. Auch die<br />
Entwicklung von Netzwerken, seien es persönliche oder institutionelle,<br />
wird zunehmend zum Gegenstand historischer Forschung. Und last but<br />
not least sind forschungspolitische und wissenschaftsethische Fragen ein<br />
wichtiger Themenbereich innerhalb der MPG, die seitens des Archivs dokumentiert<br />
werden müssen. Sie liegen oft eng beieinander – man denke<br />
nur an die Kernenergiedebatte seit den 50er Jahren, an die Tierschutzgesetzgebung<br />
oder in jüngster Zeit an die Gentechnik- und die Stammzelldebatte,<br />
in die die MPG wie auch andere Forschungsorganisationen in<br />
ihrem Interesse gestaltend einzugreifen versuchen, um den Anschluss an<br />
die internationale Forschung nicht zu verlieren.<br />
Sie sehen, dass ein umfassender Bereich zu dokumentieren ist, und Sie<br />
werden vielleicht fragen, wie sich das in der Archivpraxis bewerkstelligen<br />
lässt. Neben einer möglichst guten Kenntnis des Archivguts sollte der<br />
MPG-Archivar erstens selbstverständlich auch die Geschichte und die<br />
Struktur der KWG und der MPG gut kennen; zweitens sollte er die aktuelle<br />
Entwicklung seiner Gesellschaft verfolgen. Um ersteres zu erreichen,<br />
haben wir, Prof. Henning, der bis zu Beginn dieses Jahres das Archiv leitete,<br />
und ich Chroniken der Kaiser-Wilhelm- und der Max-Planck-Gesellschaft<br />
mit Quellennachweisen erarbeitet, die laufend weitergeführt und<br />
Universitätsreden 73 61
Marion Kazemi<br />
aktualisiert werden – das nächste Jubiläum steht 2011 an. Diese Chroniken<br />
entsprechen der von Hans Booms 1999 vorgeschlagenen Erstellung einer<br />
Zeitchronik anstelle eines Dokumentationsplans 5 und beinhalten in gewissem<br />
Maße die Kenntnis der Strukturen und Aufgaben der abgebenden<br />
Stelle. Durch diese quellenkundlichen Arbeiten haben wir einen guten<br />
Einblick in die Bestände und in die Geschichte beider Gesellschaften<br />
erhalten, haben aber auch erkannt, wo Überlieferungs- und Forschungslücken<br />
bestehen. Die laufende Entwicklung verfolgen wir anhand der<br />
Protokolle der verschiedenen Organe der Max-Planck-Gesellschaft, die wir<br />
nicht erst im Rahmen von Aktenabgaben erhalten, sondern mit denen wir<br />
regelmäßig und aktuell versorgt werden. So erkennen wir relativ schnell<br />
neue Entwicklungen, deren Kenntnis z. B. bei der Bewertung von Nachbzw.<br />
Vorlässen wichtig ist. Anhand der aktuellen Pressemitteilungen verfolgen<br />
wir, welche Forschungsergebnisse besonders bemerkenswert sind.<br />
Presseberichte und Personalnachrichten über Auszeichnungen und Preise<br />
sind ein Mittel, um herausragende Forscher zu erkennen, um deren Papiere<br />
wir uns einmal besonders bemühen sollten.<br />
Als nützlich erweist sich auch unser Archivbeirat, in dem neben Archivaren<br />
und Historikern auch ein Forschungsmanager und Wissenschaftliche<br />
Mitglieder aus allen drei Sektionen der MPG vertreten sind. Letztere können<br />
uns sowohl Hinweise auf wichtige Entwicklungen geben als auch<br />
Einschätzungen von Mentalitäten ihrer Kollegen hinsichtlich ihres historischen<br />
Bewusstseins. Von ihnen ging z. B. die Anregung aus, sich um die<br />
Erfassung von Geräteprototypen zu kümmern, die innerhalb der Max-<br />
Planck-Institute entwickelt wurden, wobei offengelassen wurde, wo diese<br />
später einmal aufbewahrt werden sollten. Zu den Aufgaben der Wissenschaftlichen<br />
Mitglieder im Beirat gehört auch die Beratung oder Vermittlung<br />
von Experten, wenn bei der Bewertung oder Erschließung wissen-<br />
5 Hans Booms: Überlieferungsbildung. Archivierung als eine soziale und politische<br />
Tätigkeit, in: Friedrich Beck / Wolfgang Hempel / Eckart Henning (Hrsg.): Archivistica<br />
docet. Beiträge zur Archivwissenschaft und ihres disziplinären Umfelds. (Potsdamer<br />
Studien Bd. 9) Potsdam 1999, S. 77-89, hier S. 86.<br />
62 Universitätsreden 73<br />
Dokumentationsziele und Aspekte<br />
schaftlicher Unterlagen in Nachlässen Probleme auftauchen, die wir nicht<br />
selbst lösen können.<br />
Ehe ich mich nun Fragen der Bewertung zuwende, lassen Sie mich zum<br />
besseren Verständnis skizzieren, w elche Art v on Archiv gut in das Archiv<br />
gelangt und woher es kommt. Robert Kretzschmar bezeichnet Archivgut<br />
frei nach J. G. Droysen als „Überreste“ 6 , was auf die Überlieferung in der<br />
Max-Planck-Gesellschaft recht gut zutrifft.<br />
Als zentrales Archiv der Gesellschaft übernimmt das Archiv die Akten<br />
der Generalverwaltung und der Leitungsorgane, sobald sie dort nicht mehr<br />
laufend benötigt werden. Hier hat unser Archiv also auch die Funktion<br />
eines Zwischenarchivs, dessen Schriftgut großenteils erst zu einem späteren<br />
Zeitpunkt bewertet wird. Hierzu rechnen auch die Handakten des<br />
Präsidiums und der leitenden Mitarbeiter, in denen sich häufig wichtige<br />
Vorgänge befinden, die eigentlich in die Registratur gehören. Aus den<br />
Instituten selbst bzw. einzelnen Abteilungen, aus den Forschungsstellen<br />
oder Arbeitsgruppen gelangen die Akten dagegen meist erst dann in das<br />
Archiv, wenn diese geschlossen werden, seltener bei Platzmangel.<br />
Neben der Übernahme von Altregistraturen liegt der Schwerpunkt der<br />
Erwerbungen auf den Nachlässen hervorragender Persönlichkeiten, vor<br />
allem der Wissenschaftlichen Mitglieder und Direktoren, die in der Kaiser-<br />
Wilhelm- bzw. in der Max-Planck-Gesellschaft tätig waren. Inzwischen bewahren<br />
wir die Nachlässe von 220 Personen, darunter die von 11 Nobelpreisträgern.<br />
7 Mehr als ein Viertel der Nachlasser lebt noch, daher sprechen<br />
wir bei diesen von „Vorlässen“. In Ergänzung und als privates Korrektiv<br />
der Sachakten der Institute legt das Archiv größten Wert auf die<br />
Nachlässe, da sie nicht nur häufig lebendiger als die Dienstakten sind, sondern<br />
sich aus ihnen der Prozess der persönlichen Willensbildung und Ent-<br />
6 Robert Kretzschmar: Tabu oder Rettungsanker? Dokumentationspläne als Instrument<br />
archivischer Überlieferungsbildung, in: Der Archivar 55 (2002), S. 301-306, hier S. 301.<br />
7 Marion Kazemi: Gelehrten-Nachlässe im Archiv zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft<br />
und ihre Bedeutung für die Forschung, in: Archive in Thüringen. Sonderheft<br />
2004: Nachlässe in Archiven, S. 24-29.<br />
Universitätsreden 73 63
Marion Kazemi<br />
scheidungsfindung, das forschungspolitische und organisatorische Wirken,<br />
das Aufgreifen neuer Forschungsrichtungen und die dabei angewandten<br />
Methoden, aber auch Fehlschläge und Irrwege rekonstruieren lassen, deren<br />
Dokumentation ebenfalls von Interesse ist, will man nicht nur eine reine<br />
Erfolgsgeschichte überliefern. Hinzu kommt bei uns die Bedeutung des<br />
Nachlass-Schriftgutes als Ersatzüberlieferung zu verlorenen Institutsakten.<br />
8 Außerdem gelangen in den Instituten zuweilen Geschäftsführungsoder<br />
sogar Verwaltungsakten in die Nachlässe, wie umgekehrt Nachlässe<br />
manchmal in den Institutsakten enthalten sind; die Übergänge sind<br />
fließend. Da die Max-Planck-Gesellschaft aber privatrechtlich organisiert<br />
ist und sowohl ihre Institute als auch die Direktoren eine außerordentliche<br />
Eigenständigkeit besitzen, ist hier eine Reglementierung nicht durchsetzbar.<br />
Schon die im Direktorenhandbuch der MPG 9 abgedruckte Anweisung,<br />
nicht mehr benötigte Akten und Nachlässe dem Archiv anzubieten<br />
bzw. nicht ohne seine Hinzuziehung auszusondern, wird nicht immer<br />
befolgt.<br />
Außer den schriftlichen Zeugnissen gehört zu den Provenienzbeständen<br />
des Archivs eine Planabteilung, in der die Bauzeichnungen der Kaiser-<br />
Wilhelm-Institute aufbewahrt werden, aber auch die von Max-Planck-<br />
Instituten, sobald sie von der Bauabteilung der Generalverwaltung nicht<br />
mehr benötigt werden. Außerdem gibt es eine umfangreiche Fotosammlung<br />
sowie ein Film- und Schallarchiv, die beide aus lagerungs- und klimatechnischen<br />
Gründen getrennt von den Provenienzbeständen aufbewahrt<br />
werden und insgesamt eine Mischung aus mit den Akten oder Nachlässen<br />
übernommenem Archivgut und hinzuerworbenem Sammlungsgut sind,<br />
wie z. B. Belegexemplare von Filmen.<br />
Das Archivgut wird ergänzt durch Sammlungen und Dokumentationen<br />
im engeren Sinne. Die archivischen Sammlungen und Selekte enthalten<br />
8 Eckart Henning: Wissen, Wissenschaft und Wissenschaftsgeschichte. Aus der Sicht des<br />
zentralen Archivs zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft, in: ders: Beiträge zur<br />
Wissenschaftsgeschichte Dahlems. (Veröffentlichungen aus dem Archiv zur Geschichte<br />
der Max-Planck-Gesellschaft Bd. 13) 2., erw. Aufl. Berlin 2004, S. 199-219, hier S. 214f.<br />
9 Max-Planck-Gesellschaft (Hrsg.): Direktorenhandbuch. 2. Aufl. [München 2000],<br />
S. 85f.<br />
64 Universitätsreden 73<br />
Dokumentationsziele und Aspekte<br />
zum einen Stücke aus Provenienzbeständen, die – ähnlich wie die AV-<br />
Medien – aus lagerungstechnischen Gründen getrennt von den Beständen<br />
aufbewahrt werden. Dies sind z. B. Urkunden, Plakate, Medaillen, Orden<br />
und Ehrenzeichen, aber auch Realia oder Musealia, die mangels eines eigenen<br />
Museums und zur Bestückung von Ausstellungen in kleinem Umfang<br />
übernommen werden. Hinzu kommen Einzelstücke wie Autographen oder<br />
Manuskripte, die ihren Funktionszusammenhang verloren haben, aber<br />
auch personenbezogene Sammlungen zu Wissenschaftlern, deren Nachlässe<br />
in anderen Archiven liegen, wie z. B. der von Albert Einstein in der<br />
Hebrew University Jerusalem, oder deren Nachlässe weitgehend verlorengegangen<br />
sind, wie die des Physiknobelpreisträgers Max Planck oder des<br />
Chemienobelpreisträgers und „Vaters des Gaskriegs“ Fritz Haber. Von letzterem<br />
sind Nachlass-Splitter in der – ursprünglich für eine Biographie<br />
zusammengetragenen – Sammlung enthalten, die seitens des Archivs kontinuierlich<br />
durch Haber-Autographen angereichert wird.<br />
Um die Geschichte der Gesellschaft und ihrer Institute, aber auch das<br />
Leben und Wirken der in ihr forschenden Wissenschaftler und leitenden<br />
Verwaltungsmitarbeiter umfassend dokumentieren zu können, hat es sich<br />
als nützlich erwiesen, gedrucktes Material ergänzend zu sammeln. Dies<br />
sind vor allem Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, aber auch die Publikationen<br />
der Institute selbst bzw. der Wissenschaftler. Die älteren Zeitungsausschnitte<br />
stammen aus Akten und Nachlässen, aus denen sie herausgelöst<br />
oder kopiert wurden und werden, schon um sie unabhängig von<br />
Schutzfristen für die Benutzung leichter zugänglich zu machen. Sie erweisen<br />
sich immer wieder als ein unentbehrliches Hilfsmittel für Datierungen.<br />
Da es bei der Vielzahl der Max-Planck-Institute und der in ihr arbeitenden<br />
Wissenschaftler (z. Zt. ca. 4.100 Wissenschaftler sowie mehr als<br />
10.000 Diplomanden, Doktoranden, Postdocs und wissenschaftliche Gäste)<br />
nicht mehr möglich ist, alle wissenschaftlichen Publikationen im Archiv<br />
zu sammeln, beschränkt sich das Archiv heute auf die Erfassung der<br />
gedruckten oder vervielfältigten Selbstdarstellungen und Tätigkeitsberichte<br />
der Institute, zumal erwartet wird, dass die Institutsbibliotheken die in<br />
ihren Instituten publizierten wissenschaftlichen Veröffentlichungen selbst<br />
sammeln, was aber leider nicht durchgängig geschieht. Dagegen werden<br />
nach Möglichkeit alle Publikationen aus den Kaiser-Wilhelm-Instituten<br />
Universitätsreden 73 65
Marion Kazemi<br />
gesammelt, da diese durch die Kriegsverluste oft nicht mehr oder nur<br />
schwer greifbar sind. Die Publikationen der Wissenschaftlichen Mitglieder<br />
der Max-Planck-Gesellschaft werden auch heute noch aktiv gesammelt,<br />
d. h. nach Möglichkeit zusammen mit den Vor- und Nachlässen in das<br />
Archiv übernommen, da sie ja die endgültige Form der Forschungsergebnisse<br />
darstellen, die vor allem Naturwissenschaftler häufig nicht in<br />
Manuskriptform aufheben und überliefern.<br />
In den ersten Jahren seines Bestehens übernahm das Archiv zusammen<br />
mit Nachlässen auch die Sonderdrucksammlungen der Wissenschaftler, da<br />
diese Sammlungen ergänzend zu der in den Nachlässen enthaltenen Korrespondenz<br />
das individuelle Netzwerk abbilden. Aus Kapazitätsgründen<br />
ist die Übernahme von Sonderdrucksammlungen heute aber nur noch in<br />
Ausnahmefällen möglich.<br />
Die Bew ertung des in das Archiv gelangten Schriftguts gehört zu den<br />
wichtigsten, zugleich aber mit zu den schwierigsten Aufgaben, entscheidet<br />
sich hier doch, was als archivwürdig erachtet und dauernd aufbewahrt<br />
bzw. was vernichtet und damit zukünftiger Forschung unwiderruflich entzogen<br />
wird. 10 Hierbei wird auch entschieden, wie tief ein Bestand erschlossen<br />
werden und damit, wie gut recherchierbar er sein soll. Auch wenn die<br />
Dokumentationsziele im wesentlichen festgelegt sind, wenn inhaltliche<br />
und methodische Eckpunkte für die Überlieferungsbildung beachtet werden<br />
in der Art, wie sie der Arbeitskreis Archivische Bewertung im Verband<br />
deutscher Archivarinnen und Archivare unlängst zusammengestellt hat 11 ,<br />
10 Eckart Henning: Wahrheit u. Wert eines wissenschaftshistorischen Archivs, in: ders.:<br />
Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte Dahlems. 2., erw. Aufl. Berlin 2004 (Veröffentlichungen<br />
aus dem Archiv zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft Bd. 13), S. 181-<br />
198, hier S. 189ff. – Robert Kretzschmar: Regeln und standardisierte Verfahren zur<br />
Überlieferungsbildung? Zur Komplexität des Bewertungsvorgangs, in: Karsten Uhde<br />
(Hrsg.): Qualitätssicherung und Rationalisierungspotentiale in der Archivarbeit. Beiträge<br />
des 2. Archivwissenschaftl. Kolloquiums der Archivschule Marburg. (Veröffentlichungen<br />
der Archivschule Marburg Bd. 27) Marburg 1997, S. 181-194.<br />
11 Positionen des Arbeitskreises Archivische Bewertung im VdA – Verband deutscher<br />
Archivarinnen und Archivare zur archivischen Überlieferungsbildung. Stand: 15.10.<br />
2004, in: Frank M. Bischoff u. Robert Kretzschmar (Hrsg.): Neue Perspektiven archivischer<br />
Bewertung. (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg 42) Marburg 2005,<br />
S. 195-206; desgl. in: Der Archivar 58 (2005), S. 91-94.<br />
66 Universitätsreden 73<br />
Dokumentationsziele und Aspekte<br />
wird man immer wieder mit Beständen konfrontiert sein, denen man mit<br />
einer schematischen Bewertung kaum gerecht wird. Dies gilt besonders für<br />
Nachlässe. Es sei angemerkt, dass eine erste Bewertung durch das Archiv<br />
bereits erfolgt, ehe die Unterlagen in das Archiv übernommen werden,<br />
nämlich dann, wenn wir die Institute besuchen und vor Ort eine meist<br />
grobe Entscheidung über das archivwürdige bzw. das auf keinen Fall zu<br />
übernehmende Schriftgut treffen.<br />
Bei Arbeitsaufnahme des Archivs vor 30 Jahren war die Bewertungsfrage<br />
zunächst nachrangig, da die Ermittlung überlieferten Schriftguts in den<br />
Instituten und seine Sicherung erst einmal Priorität hatten. Weder bei der<br />
Übernahme noch bei der Erschließung fand eine nennenswerte Bewertung<br />
statt, denn die Akten stammten zu einem Großteil aus der KWG-Zeit und<br />
wiesen ohnehin Überlieferungslücken auf, hatten daher also wirklich den<br />
Charakter von Überresten, und die ersten Nachlässe, um deren Sicherung<br />
sich das Archiv gekümmert hatte, stammten überwiegend von Nobelpreisträgern,<br />
waren also quasi heilig. Die anfangs knappen Magazinkapazitäten<br />
wurden schon nach wenigen Jahren erweitert. So ergab sich die Notwendigkeit<br />
einer Bewertung und damit Reduzierung des übernommenen<br />
Archivguts erst, als kontinuierlich mehr und neuere Bestände in unser<br />
Archiv gelangten. Für uns hatte das den Vorteil, dass wir bereits einen<br />
recht guten Überblick über die Geschichte von KWG und MPG hatten,<br />
mit den Fragen der wissenschaftshistorischen Forschung etwas vertraut<br />
waren und daher besser beurteilen konnten, welche Akten und Unterlagen<br />
das Prädikat „archivwürdig“ verdienten, und welche für die Dokumentation<br />
der Doppelgesellschaft von geringem oder keinem Wert waren.<br />
Die Akten der Präsidenten und Generalsekretäre sowie der übrigen<br />
Organe mit Entscheidungs- oder Beratungskompetenz, also die von Senat,<br />
Verwaltungsrat, Hauptversammlung, Wissenschaftlichem Rat und seinen<br />
Sektionen sind nahezu uneingeschränkt von bleibendem Wert, insbesondere<br />
die Sitzungsunterlagen und -protokolle, da hier alle wichtigen, die<br />
MPG betreffenden Entscheidungen gefällt bzw. vorbereitet werden. Auf sie<br />
wird regelmäßig zurückgegriffen. Die Sektionsakten enthalten die in Kommissionen<br />
erarbeiteten Evaluierungen und Empfehlungen für die zukünftige<br />
Ausrichtung und Weiterentwicklung der Institute sowie für Neuberufungen<br />
und sind damit forschungspolitisch hochinteressant. Die Hand-<br />
Universitätsreden 73 67
Marion Kazemi Dokumentationsziele und Aspekte<br />
akten der Sektionsvorsitzenden – leider nicht alle vollständig erhalten –<br />
ergänzen diese für die Überlieferung der MPG zentralen Unterlagen.<br />
Ein wesentlicher Aspekt bei der Bewertung ist die Vermeidung von<br />
Redundanz. Bedingt durch die Struktur der Gesellschaft finden sich vervielfältigte<br />
Unterlagen wie Rundschreiben der Generalverwaltung in den<br />
Akten der meisten Institute, Protokolle und Sitzungsunterlagen der Gesellschaftsorgane<br />
nicht nur in deren Akten, sondern auch in einer Vielzahl<br />
von Nachlässen. Hier wird jeweils ein Satz bei den Akten der Organe aufbewahrt,<br />
in denen sie entstanden sind, alle Mehrfachstücke werden nach<br />
Prüfung kassiert, sofern sie keine wichtigen Notizen aufweisen.<br />
Im übrigen werden Aktenübernahmen aus der Generalverwaltung zunächst<br />
nur vorsichtig bewertet, da es sich bei ihnen zu einem Großteil<br />
noch um Altregistratur handelt und das Archiv als Zwischenarchiv fungiert.<br />
Die Bewertung wird dadurch erschwert, dass es seit Anfang der 70er<br />
Jahre keinen alle Abteilungen umfassenden Aktenplan mehr gibt und einige<br />
der Abteilungen bis heute keinen erstellt haben, obwohl er seitens des<br />
Archivs schon lange angemahnt wird – von Kassationsrichtlinien ganz zu<br />
schweigen. Das gleiche Dilemma dürfte auf uns mit der geplanten Einführung<br />
eines Dokumentenmanagementsystems zukommen, bei dessen Planung<br />
uns bislang ebenfalls kein Mitspracherecht zugestanden wurde.<br />
Bisher wurden die Akten von zwei Abteilungen unter deren Beteiligung<br />
abschließend bewertet. Von der Internen Revision wurden nur wenige<br />
Akten aufbewahrt, um die Arbeitsweise dieser Abteilung dokumentieren<br />
zu können, von den internen Prüfungen selbst aber nur einzelne Beispiele<br />
aufgehoben, da die eigentlichen Schlussprüfungen von einem externen<br />
Wirtschaftsprüfungsunternehmen durchgeführt werden, deren Ergebnisse<br />
in den Akten der Finanzabteilung festgehalten werden. Besonders umfangreich<br />
und für uns besonders schwierig zu bewerten waren die Haushaltsakten.<br />
Daher haben wir einen erfahrenen Mitarbeiter der Abteilung zu<br />
Rate gezogen, der uns zunächst bei Begriffsbestimmungen half und<br />
gemeinsam mit uns die Entscheidung über das aufbewahrenswerte<br />
Schriftgut traf. Von kassierten Aktengruppen wie Haushaltsanforderungen,<br />
Monats- oder Halbjahresabschlüssen und Zwischenbilanzen<br />
wurden Beispiele aufgehoben. Die Erfahrung aus dieser gemeinsamen<br />
Bewertung kam uns bei der Beurteilung der Haushaltsakten der drei jüngst<br />
geschlossenen Institute zugute. Hier haben wir – anders als bei den<br />
Personalakten z. B. – sofort bei der Übernahme eine endgültige Bewertung<br />
dieser Aktengruppe vorgenommen, um den knappen Magazinraum zu<br />
schonen. Da ein Teil der kassablen Akten noch den steuerlichen Aufbewahrungsfristen<br />
unterliegt und gelegentlich auf sie zurückgegriffen wird,<br />
werden sie verpackt und gekennzeichnet bis zum Fristablauf aufbewahrt.<br />
Die Personalakten der Wissenschaftlichen Mitglieder und Direktoren<br />
sowie der Forschungsgruppenleiter werden nicht in den Instituten, sondern<br />
in der Generalverwaltung geführt und von dieser an uns abgegeben,<br />
meist bereits von Beihilfe- und ähnlichen Angelegenheiten bereinigt, so<br />
dass eine weitere Bewertung in der Regel überflüssig ist. Sie werden dauernd<br />
aufbewahrt. Alle übrigen Personalakten werden in den Max-Planck-<br />
Instituten selbst geführt, wo ihre Aufbewahrung unterschiedlich gehandhabt<br />
wird: Einige heben sie nur befristet auf, andere sogar sämtliche<br />
Bewerbungen. Wir tendieren dazu, Personalakten bei der Übernahme zunächst<br />
nur sehr vorsichtig zu bewerten, d. h. wir kassieren Bewerbungen<br />
und Akten von Zeit- und Aushilfskräften, sofern keine Aufbewahrungsfristen<br />
mehr bestehen, während die endgültige Bewertung bei der Feinerschließung<br />
vorgenommen werden soll. Bis dahin können wir dem einen<br />
oder anderen noch zu ein paar Euro Rente mehr verhelfen, wenn wir<br />
Versicherungs- oder Gehaltsnachweise ermitteln können, und verringern<br />
die Gefahr, später bekannt gewordene Forscher als Postdocs zu übersehen.<br />
Wie wichtig auch die Unterlagen von Lohnarbeitern werden können, die<br />
normalerweise der Bewertung zum Opfer fallen, zeigte sich kürzlich, als<br />
die Kommission zur Aufarbeitung der Geschichte der Kaiser-Wilhelm-<br />
Gesellschaft im Nationalsozialismus untersuchte, in welchem Umfang in<br />
der KWG Zwangsarbeiter beschäftigt wurden. Während entsprechende<br />
Hinweise in der Regel nur mühsam aus allgemeinen Aktenvermerken zu<br />
entnehmen sind, waren in einer Zweigstelle eines landwirtschaftlichen<br />
KWI die Akten der ausländischen Lohnarbeiter komplett erhalten, an<br />
denen gezeigt werden konnte, dass die meisten von ihnen seit Jahren freiwillig<br />
zur Ernte gekommen waren und ihre Tätigkeit erst mit Kriegsbeginn<br />
„Zwangscharakter“ angenommen hatte. Da man in der Regel nicht davon<br />
ausgehen kann, dass solche Akten später einmal von Wert für die<br />
Forschung sind, werden wir sie wohl auch in Zukunft bis auf Beispiele kas-<br />
68 Universitätsreden 73 Universitätsreden 73 69
Marion Kazemi Dokumentationsziele und Aspekte<br />
sieren, da sich das Archiv der MPG vorrangig als Archiv für Wissenschaftsgeschichte<br />
versteht, was nicht heißt, dass nicht auch soziale Aspekte dokumentiert<br />
werden. Unterlagen von Institutsfeiern wie Gedichte, Fotos oder<br />
zuweilen auch musikalische Aufzeichnungen gehören ebenso in unsere<br />
Bestände wie die Unterlagen der Schwerbehindertenvertretung, des Gesamtbetriebsrats<br />
und eines Institutsbetriebsrats.<br />
Eine Besonderheit in der Max-Planck-Gesellschaft sind vermutlich die<br />
sogen. Institutsbetreuer-Akten der Generalverwaltung, die die Institute verwaltungsmäßig<br />
unterstützt. Sie sind großenteils eine Parallel- oder Doppelüberlieferung<br />
der Institutsakten selbst, werden aber in der Generalverwaltung<br />
zuverlässiger und geschlossener aufbewahrt als in den Instituten,<br />
wo sie sich zum Teil in den Akten der Verwaltung, zum Teil in den Akten<br />
der Direktoren befinden. Für die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft bilden sie<br />
angesichts größerer Aktenverluste bei den Instituten eine willkommene<br />
Ersatzüberlieferung. Die Bewertung dieser MPG-Akten wird bei der später<br />
erfolgenden Feinerschließung vorgenommen werden und mit einer Prüfung<br />
der bereits im Archiv vorhandenen Institutsreposituren einhergehen,<br />
um Doppelüberlieferungen zu vermeiden.<br />
Am schwierigsten scheint mir die Bewertung der Nachlässe zu sein.<br />
Während von kleinen Teil- oder gar Splitternachlässen kaum etwas kassiert<br />
wird, da wir froh sind, überhaupt etwas überliefern zu können und das<br />
wenige Verbliebene eigentlich immer überliefernswert erscheint, stellt sich<br />
die Bewertungsfrage vor allem bei umfangreichen Beständen. Bei den sogenannten<br />
Vorlässen wird in der Regel vorsichtig verfahren, da der abgebende<br />
Wissenschaftler das, was er ins Archiv gibt, meist für aufbewahrenswert<br />
hält, es sei denn, er autorisiert uns, seine nicht für archivwürdig befundenen<br />
Unterlagen zu kassieren, was wir dann im Benehmen mit ihm<br />
tun. Ausgesondert werden, wie bereits erwähnt, alle vervielfältigten und<br />
nicht annotierten Unterlagen der MPG-Organe, um Redundanz zu vermeiden.<br />
Wenn die Korrespondenz nicht untergliedert ist, wird sie zunächst<br />
komplett aufgehoben, ansonsten werden z. B. Glückwünsche zu<br />
runden oder halbrunden Geburtstagen kassiert, sofern sie nicht „gehaltvoll“<br />
sind oder Autographenwert besitzen. Die Unterlagen von gleichförmigen<br />
Aufgaben wie Schriftleitertätigkeiten oder die Herausgabe von<br />
Enzyklopädien und Sammelwerken sollte man ebenfalls einer Bewertung<br />
unterziehen und prüfen, ob der komplette Schriftverkehr mit den Autoren<br />
und sämtliche Manuskriptfassungen aufgehoben werden sollten oder nur<br />
Beispiele, um die Tätigkeit abzubilden.<br />
Was macht man mit in den Nachlässen enthaltenen Personalia, die in<br />
der Regel zwar nur Stufenakten der Abteilung, aber oft gemischt mit<br />
Schriftverkehr sind? Sofern es sich um die Diplomanden, Doktoranden,<br />
Postdocs, festen wissenschaftlichen Mitarbeiter und Gäste handelt, ist dieser<br />
Personenkreis letztlich die „Schule“ des Gelehrten und von daher wahrscheinlich<br />
von bleibendem Wert, zumal in der Max-Planck-Gesellschaft<br />
nicht sicher ist, dass die eigentlichen Personalakten später überhaupt von<br />
der Institutsverwaltung abgegeben werden.<br />
Häufig sind in den Nachlässen Tagungsunterlagen zu finden, zuweilen<br />
bis hin zu Stadtplänen, Hotelprospekten, Tickets. Wir prüfen, ob der<br />
Nachlasser an der Tagung teilgenommen und auch einen Vortrag gehalten<br />
hat. In diesem Fall werden die Unterlagen zunächst aufgehoben, sollten<br />
aber bei der Feinerschließung noch einmal bewertet werden.<br />
Besonders schwierig ist jedoch die Bewertung der wissenschaftlichen<br />
Unterlagen von Naturwissenschaftlern. Häufig werden ungeordnete Konvolute<br />
von Materialsammlungen hinterlassen, die aus Notizen, Messdaten<br />
in tabellarischer oder graphischer Form oder als EDV-Ausdrucke, Publikationen,<br />
Manuskriptfassungen und dergleichen bestehen. Lohnt es z. B.<br />
Messergebnisse aufzuheben, die nicht oder nur ungenügend beschriftet<br />
sind, von denen man nicht feststellen kann, wann sie erhoben wurden, um<br />
was für Proben es sich handelt, mit welchen Methoden und Geräten sie<br />
gemessen wurden? Sollten wirklich alle Notizzettel aufgehoben werden?<br />
Als Biologin bin ich zwar selbst in der Lage, manches besser zuordnen<br />
oder bestimmen zu können, als ein Historiker dies vermag, aber oft stammen<br />
die Unterlagen aus einer anderen Disziplin oder sind derart speziell,<br />
dass auch ich überfordert bin. Ich hatte schon erwähnt, dass wir für solche<br />
Fälle die Möglichkeit haben und sie zuweilen nutzen, Wissenschaftler<br />
aus den Instituten zu konsultieren, die mit dem Betreffenden zusammengearbeitet<br />
oder zumindest auf ähnlichem Gebiet geforscht haben; doch<br />
mussten wir feststellen, dass auch sie nicht immer in der Lage sind, die<br />
Daten, Fotos oder Notizen ihrer Kollegen oder ehemaligen Chefs zu identifizieren<br />
und zu bewerten. In solchen Fällen muss man überlegen, ob es<br />
70 Universitätsreden 73 Universitätsreden 73 71
Marion Kazemi<br />
Sinn hat, solche Dinge aufzuheben, wird aber bei einem Spitzenwissenschaftler<br />
eher dazu geneigt sein, nicht zu stark zu kassieren, da jeder Zettel<br />
oder Brief einen gewissen Autographenwert besitzt, auch wenn der Betreffende<br />
kein zweiter Einstein war. Es würde mich interessieren, wie Sie mit<br />
solchen Nachlässen umgehen.<br />
72 Universitätsreden 73<br />
Archivische Bewertung aus der Sicht des Archivs<br />
der Berlin-Brandenburgischen Akademie der<br />
Wissenschaften<br />
Vera Enke<br />
1. Bestände des Akademiearchivs<br />
Das Akademiearchiv wurde schon bald nach der Gründung der Kurfürstlich-Brandenburgischen<br />
Sozietät der Wissenschaften am 11. Juli 1700 eingerichtet<br />
und zählt daher zu den ältesten Einrichtungen der Berliner Akademie<br />
der Wissenschaften. Es ist – wie das Ordentliche Mitglied der Akademie<br />
und der Nestor der Archivwissenschaft, Heinrich Otto Meisner,<br />
1960 treffend formulierte – „die Schatzkammer des amtlichen und privaten<br />
Schriftguts der Akademie“. 1<br />
Der Gesamtbestand des Akademiearchivs aus über 300 Jahren Akademiegeschichte<br />
umfasst gegenwärtig 6.000 lfm dienstliche Akten und Nachlässe,<br />
über 2.000 Objekte des Kunstbesitzes, ca. 40.000 Fotos zur Akademiegeschichte,<br />
über 500 Tonbänder, 270 Filme und Videokassetten sowie eine<br />
Sammlung von ca. 30.000 Zeitungsausschnitten. Die Bestände verteilen<br />
sich auf die Historische Abteilung, die Abteilung Akademiebestände nach<br />
1945, die Abteilung Nachlässe sowie die Abteilung Sammlungen. 2<br />
1 Heinrich Otto Meisner: Das Archiv als wissenschaftliche Dokumentationsstelle, in:<br />
Mitteilungsblatt für die Mitarbeiter der DAW zu Berlin 6 (1960), Heft 1, S. 15.<br />
2 Detaillierte Angaben zu den Beständen der einzelnen Abteilungen, die in den folgenden<br />
Abschnitten nur kurz umrissen werden, sind enthalten in: „Quod non est in actis,<br />
non est in mundo“ – Das Akademiearchiv und seine Bestände, hrsg. von der Berlin-<br />
Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften mit Texten von Wolfgang<br />
Knobloch, Vera Enke und Wiebke Witzel. Berlin 2000.<br />
Universitätsreden 73 73
Vera Enke<br />
Die Historische Abteilung umfasst das dienstliche Schriftgut der Akademie<br />
von der Gründung bis zum Jahr 1945. Sie gliedert sich in eine Reihe<br />
von Einzelbeständen. Die akademische Zentralregistratur besteht aus zwei<br />
Aktenbeständen, die die Zeiträume 1700 bis 1811 und 1812 bis 1945<br />
umfassen. Zu ihr gehören ferner über 270 Manuskripte von Akademievorträgen,<br />
über 700 Preisbewerbungsschriften zu akademischen Preisaufgaben<br />
sowie über 200 sonstige an die Akademie eingesandte Abhandlungen.<br />
Die Historische Abteilung umfasst des weiteren die Bestände von<br />
über 20 Arbeitsstellen der wissenschaftlichen Unternehmungen der<br />
Akademie, einzelne Bestände bzw. Teilbestände wissenschaftlicher<br />
Gesellschaften und die historischen Aktenbestände einiger wissenschaftlicher<br />
Institutionen, die nach dem Zweiten Weltkrieg der Akademie angegliedert<br />
worden waren. 3<br />
Die umfangreichste Abteilung des Akademiearchivs, die Abteilung Akademiebestände<br />
nach 1945, verwahrt die dienstliche Aktenüberlieferung der<br />
Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin bzw. der Akademie der<br />
Wissenschaften der DDR, einzelne Bestände bzw. Teilbestände wissenschaftlicher<br />
Gesellschaften, Teilbestände der Nationalkomitees 4 und den<br />
Archivbestand des Akademie-Verlages, der seit 1946 für die Akademiepublikationen<br />
zuständig war. Zur Abteilung gehören ferner die Bestände<br />
der Koordinierungs- und Abwicklungsstelle der Institute und Einrichtungen<br />
der ehemaligen Akademie der Wissenschaften der DDR (KAI-AdW)<br />
sowie der Koordinierungs- und Aufbau-Initiative für die Forschung in den<br />
Ländern Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen,<br />
Sachsen-Anhalt und Thüringen e. V. (KAI e.V.), der Bestand der Akademie<br />
der Wissenschaften zu Berlin (West) sowie das dem Archiv inzwischen<br />
übergebene Schriftgut und Arbeitsmaterial der Berlin-Brandenburgischen<br />
Akademie der Wissenschaften. Bestandteil dieser Abteilung sind auch die<br />
Akten der vom letzten Direktor der Preußischen Akademie der Wissen-<br />
3 Die Bestandsübersicht der Historischen Abteilung findet sich im Internet unter:<br />
http://www.bbaw.de/archivbbaw/archivbestaende/abthistorische.html.<br />
4 Die Nationalkomitees hatten die Vertretung der DDR-Wissenschaft in den internationalen<br />
Organisationen inne.<br />
74 Universitätsreden 73<br />
Archiv ische Bew ertung<br />
schaften nach 1945 in der Bundesrepublik fortgeführten Preußischen<br />
Akademie der Wissenschaften. 5<br />
Die Abteilung Nachlässe gehört mit ihren über 200 Nachlässen zu den<br />
wichtigen Fundstätten von Gelehrtennachlässen im deutschsprachigen<br />
Raum. Den Grundstock der Abteilung Nachlässe bilden die Erwerbungen<br />
der Preußischen Akademie der Wissenschaften, die in der zweiten Hälfte<br />
des 19. Jahrhunderts einsetzten. Als 1944 die Literaturarchiv-Gesellschaft 6<br />
aufgelöst wurde, übernahm die Akademie deren wertvolle Nachlassbestände.<br />
Sie gelangten 1968 in das Akademiearchiv, das seit dieser Zeit zusätzlich<br />
die Funktion eines Literaturarchivs ausübt. In den 1960er Jahren<br />
wurden Nachlassbestände von Instituten, die der Akademie angegliedert<br />
worden waren, übernommen. Die Bestandsergänzung der Abteilung erfolgt<br />
durch Schenkung, testamentarische Verfügung, Ersteigerung und Ankauf.<br />
In Ausnahmefällen betreut das Akademiearchiv auch Nachlässe auf<br />
der Grundlage von Depositalverträgen. 7<br />
Die Abteilung Sammlungen des Akademiearchivs umfasst das kulturhistorisch<br />
wertvolle Sammlungsgut der Berliner Akademie der Wissenschaften.<br />
Zur Abteilung gehören 12 Sammlungsbestände: der Gesamtbestand<br />
des Kunstbesitzes, die Fotosammlung, die Wissenschaftshistorische<br />
Gerätesammlung, die Tonbandsammlung, die Filmsammlung, die Zeitungsausschnittsammlung,<br />
die Ausstellungssammlung, die Geschenksammlung,<br />
die Faksimilesammlung, die Videofilmsammlung, die Plakatsammlung<br />
und die Biographisch-Bibliographische Sammlung. 8<br />
5 Die Bestandsübersicht der Abteilung Akademiebestände nach 1945 findet sich im Internet<br />
unter: http://www.bbaw.de/archivbbaw/archivbestaende/abtbestand1945.html.<br />
6 Die Literaturarchiv-Gesellschaft wurde 1891 auf Initiative von Wilhelm Dilthey zum<br />
Zwecke der Sammlung, Bewahrung und Auswertung von Nachlässen bedeutender Persönlichkeiten<br />
aus Literatur, Wissenschaft und Kunst gegründet.<br />
7 Die Bestandsübersicht der Abteilung Nachlässe findet sich im Internet unter:<br />
http://www.bbaw.de/archivbbaw /archivbestaende/abtnachlaesse.html.<br />
8 Die Bestandsübersicht der Abteilung Sammlungen findet sich im Internet unter:<br />
http://www.bbaw.de/archivbbaw/archivbestaende/abtsammlungen.html.<br />
Universitätsreden 73 75
Vera Enke<br />
2. Zuständigkeit des Akademiearchivs<br />
Bereits in der Generalinstruktion vom 11. Juli 1700, neben dem Stiftungsbrief<br />
das Hauptgründungsdokument der Berliner Akademie der Wissenschaften,<br />
hatte Gottfried Wilhelm Leibniz, Begründer und erster Präsident<br />
der Akademie, darauf hingewiesen, dass die schriftliche Überlieferung der<br />
Akademie bewahrt werden muss. 9 Im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts<br />
betreute der Sekretar der Akademie das Archiv. Die Aufgaben des Archivars<br />
wurden 1765 erstmalig in einem Reglement festgelegt. Er sollte an den<br />
Sitzungen der Akademie teilnehmen, sich Notizen über die eingegangenen<br />
Schreiben und Manuskripte machen und sie dann zu gegebener Zeit für<br />
das Archiv anfordern. Die Protokolle und Akten des Beständigen Sekretars<br />
der Akademie hatte er alljährlich abzufordern und ins Archiv zu überführen.<br />
Im Zuge der Neueinrichtung des Archivs waren auch die älteren,<br />
sich noch im Besitz der Akademiedirektoren und des Beständigen Sekretars<br />
befindlichen Protokolle, Manuskripte und Korrespondenzen an das<br />
Archiv zu übergeben. Die Bemühungen zur Sicherung des Archivgutes<br />
konnten jedoch schon damals Verluste in der Überlieferung nicht verhindern.<br />
Sie resultierten vor allem aus der Tatsache, dass die leitenden Akademiemitglieder<br />
nicht auf eine Trennung zwischen der im Auftrag der Akademie<br />
geführten dienstlichen Korrespondenz und ihrer privaten<br />
Korrespondenz achteten. Die dienstliche Korrespondenz gelangte so in<br />
der Folgezeit oft als Teil der Nachlässe an Aufbewahrungsorte außerhalb<br />
der Akademie. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden die Aufgaben des<br />
Archivars erweitert. Er war nun auch für die Bibliothek, für den Druck der<br />
akademischen Schriften und für die Verwaltung und Inventarisierung des<br />
Kunstbesitzes der Akademie zuständig.<br />
Während des Zweiten Weltkrieges waren die Archivbestände ausgelagert.<br />
Sie kehrten nach Kriegsende ohne große Verluste in die Obhut der<br />
Akademie zurück. Am 1. März 1952 wurde das Archiv als selbständige wis-<br />
9 Vgl. Konzept der Generalinstruktion in: ABBAW, Bestand PAW 1700-1811, I-I-2,<br />
Bl. 19ff.<br />
76 Universitätsreden 73<br />
Archiv ische Bew ertung<br />
senschaftliche Einrichtung wieder eröffnet. Es hatte – in Abstimmung mit<br />
der Staatlichen Archivverwaltung der DDR – „von Anfang an den Charakter<br />
eines Endarchivs mit der alleinigen Zuständigkeit für das aus der<br />
Tätigkeit der Akademie seit 1700 bereits erwachsene bzw. noch entstehende<br />
Schrift-, Bild- und Tonschriftgut“. 10 Es war ferner für die schriftlichen<br />
Nachlässe von Akademiemitgliedern und anderen bedeutenden Wissenschaftlern,<br />
die der Akademie durch Schenkung, als Depositum oder auf<br />
andere Weise übergeben wurden, zuständig. 11 Neben dieser Endarchivfunktion<br />
war es für die zentralen Leitungs- und Funktionalorgane der<br />
Akademie zugleich ein Verwaltungsarchiv.<br />
Die im Jahr 1946 mit der Wiedereröffnung der Akademie beginnende<br />
Umwandlung der Akademie von einer Gelehrtengesellschaft zur zentralen<br />
Forschungsinstitution der DDR beeinflusste die weitere Tätigkeit des<br />
Akademiearchivs. Die Angliederung und Neugründung von Instituten<br />
und Einrichtungen, die sich über das gesamte Territorium der DDR erstreckten,<br />
stellte die Archivare des Akademiearchivs vor völlig neue Aufgaben.<br />
Da eine zentrale Aufbewahrung des archivwürdigen Schriftgutes<br />
der Akademie im Akademiearchiv aufgrund der beschränkten Magazinund<br />
Personalkapazitäten nicht möglich war, wurde Ende der 1950er Jahre<br />
mit dem Aufbau eines Archivnetzes nach dem Territorialprinzip begonnen.<br />
In den Ballungszentren der Akademieforschung wurden zentrale<br />
Institutsarchive gebildet, die für mehrere in einem bestimmten Sprengel<br />
gelegene Registraturbildner – unabhängig von ihrer Forschungsrichtung –<br />
zuständig waren und diese archivisch betreuten. In größeren Akademieinstituten<br />
bestanden daneben gesonderte Archive. Bereits 1964 gab es insgesamt<br />
25 solcher Zwischenarchive, ca. 65 ehrenamtlich und vier hauptamtlich<br />
tätige Archivbeauftragte der Akademie. Fünf Institutsarchive<br />
10 Vgl. „Vorschläge zum Aufbau des Akademie-Archivs“ vom 6.11.1952, die die mit der<br />
Hauptabteilung Archivwesen im Ministerium des Innern getroffenen Absprachen wiedergeben,<br />
in: ABBAW, Bestand Akademieleitung, Nr. 213. Vgl. ferner: Wolfgang Knobloch:<br />
Das Akademiearchiv – Grundzüge seiner Entwicklung, in: Berlin-Brandenburgische<br />
Akademie der Wissenschaften, Jahrbuch 1995, S. 435-436.<br />
11 Vgl. Wolfgang Knobloch: Das Zentrale Archiv der Akademie der Wissenschaften der<br />
DDR, in: Archivmitteilungen 39 (1989), Heft 4, S. 132.<br />
Universitätsreden 73 77
Vera Enke<br />
waren für Institutskomplexe zuständig. 12 Dem Akademiearchiv oblag – als<br />
einzig zuständigem Endarchiv – die fachliche Anleitung und Kontrolle der<br />
in den Institutsarchiven eingesetzten Archivbeauftragten. Die Kassationen<br />
waren grundsätzlich genehmigungspflichtig. Der Aufbau funktionsfähiger<br />
Institutsarchive gestaltete sich sehr schwierig. Es waren vor allem fehlende<br />
Räumlichkeiten, fehlende Fachkräfte und ein mangelndes Verständnis der<br />
Institutsdirektoren für Fragen der Archivarbeit, die den Bemühungen des<br />
Akademiearchivs beim Aufbau und der Erweiterung funktionsfähiger<br />
Institutsarchive Grenzen setzten. 13<br />
3. Abwicklung der DDR-Akademie – Sicherungsaufgaben des<br />
Akademiearchivs<br />
Die Regelungen des Einigungsvertrages vom 31. August 1990 und die sich<br />
infolgedessen abzeichnende Auflösung der zentralen Leitungsorgane, Verwaltungsabteilungen<br />
und des Institutsverbundes der Akademie sowie erste<br />
Anzeichen von eigenmächtigen Aktenvernichtungen veranlassten das Akademiearchiv,<br />
den Direktor der Administration zu bitten, für den Erhalt<br />
des in den jeweiligen Struktureinheiten vorhandenen dienstlichen<br />
Schriftgutes Sorge zu tragen. Er forderte daraufhin in einem Schreiben die<br />
Leiter der Struktureinheiten und Direktoren der Institute und Einrichtungen<br />
der Akademie auf, das in ihrem Verantwortungsbereich vorhandene<br />
archivwürdige Schriftgut dem Akademiearchiv zu übergeben. Die Entscheidung<br />
über eine Archivierung oder Vernichtung des Schriftgutes lag<br />
nun jedoch bei den jeweiligen Struktureinheiten, so dass das Akademiearchiv<br />
wiederum Handlungsbedarf sah. Es wurde umgehend eine „Richtlinie<br />
für die Auswahl von historisch wertvollem Schriftgut aus den Instituten<br />
und Einrichtungen der ehemaligen AdW der DDR zum Zwecke der<br />
12 Vgl. Bericht „Tätigkeit des Akademie-Archivs vom Juli 1963 bis 31. Mai 1964“, in:<br />
ABBAW, VA 9288, und Konzept eines Vortrages der Archivdirektorin, Christa Kirsten,<br />
den sie 1965 vor Archivbeauftragten der Akademie hielt, in: ABBAW, Dienstregistratur.<br />
13 Vgl. Vera Enke: Sonderregistraturen an der Akademie der Wissenschaften der DDR<br />
1945-1991. Untersuchungen und Analysen zur Überlieferungslage, Band 1, S. 59/60,<br />
Dissertation. Berlin 2000.<br />
78 Universitätsreden 73<br />
Archiv ische Bew ertung<br />
Archivierung“ erarbeitet. Das Akademiearchiv bot zudem seine Hilfe und<br />
Unterstützung in allen die Archivierung und Aussonderung des Schriftgutes<br />
betreffenden Fragen an. 14<br />
Der im Einigungsvertrag festgelegte Übergang der Institute und Einrichtungen<br />
der Akademie in die Hoheit der Sitzländer führte dazu, dass das<br />
Akademiearchiv am 3. Oktober 1990 die Funktion eines Endarchivs für<br />
den Gesamtbereich der Akademie verlor. Es ging mit seinen bis zu diesem<br />
Zeitpunkt übernommenen Beständen in die Zuständigkeit des Landes Berlin<br />
über und unterstand verwaltungsmäßig einer Interimsadministration.<br />
In Abstimmung mit dem Landesarchiv Berlin, der Senatsverwaltung für<br />
Wissenschaft und Forschung und der Interimsadministration wurde dem<br />
Akademiearchiv 1991 die Aufgabe übertragen, die aktenmäßige Hinterlassenschaft<br />
der über 40 Berliner Institute und Einrichtungen der ehemaligen<br />
Akademie der Wissenschaften der DDR zu sichern. Im Herbst des<br />
Jahres bemühte sich das Akademiearchiv, eine zentrale Zusammenführung<br />
des Archivgutes aller, d. h. auch der außerhalb Berlins gelegenen Institute<br />
und Einrichtungen, zu erreichen. Das Bemühen resultierte aus der Kenntnis<br />
„des starken inhaltlichen Zusammenhangs zwischen der zentralen Akademieüberlieferung<br />
im Akademiearchiv und den Institutsüberlieferungen“.<br />
15 Obwohl auch das Bundesarchiv dies für die günstigste Lösung<br />
hielt, scheiterten die Bemühungen am Widerstand einiger Landesregierungen<br />
(Sachsen, Thüringen, Brandenburg), die die regionalen Bezüge höher<br />
bewerteten und auf dem Verbleib des in den jeweiligen Ländern entstandenen<br />
Schriftgutes bestanden. Keine Landesregierung war zudem bereit,<br />
sich an einer zentralen Lösung finanziell zu beteiligen. 16 Die Bestände der<br />
außerhalb Berlins gelegenen Institute und Einrichtungen bilden heute eine<br />
Lücke im Dokumentationsprofil des Akademiearchivs.<br />
14 Detaillierte Ausführungen ebd., S. 60.<br />
15 Wolfgang Knobloch: Vom Zentralen Archiv der Akademie der Wissenschaften der<br />
DDR zum Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, in:<br />
Friedrich Beck / Wolfgang Hempel / Eckart Henning (Hrsg.): Archivistica docet: Beiträge<br />
zur Archivwissenschaft und ihres interdisziplinären Umfelds. (Potsdamer Studien<br />
Bd. 9) Potsdam 1999, S. 265.<br />
16 In: ABBAW, Dienstregistratur.<br />
Universitätsreden 73 79
Vera Enke<br />
In den Jahren 1990 bis 1993 übernahm das Akademiearchiv im Zuge der<br />
Abwicklung der DDR-Akademie nahezu 2.500 lfm. Trotz der großen Anstrengungen<br />
der Mitarbeiter des Akademiearchivs, die schriftliche Überlieferung<br />
aus dem Berliner Raum zu sichern, sind Verluste, die Überlieferungslücken<br />
hinterlassen werden, eingetreten. „Den Tausenden von Mitarbeitern,<br />
die mit dem Ende der DDR-Akademie ihre Arbeit verloren, war<br />
– wenn überhaupt – nur schwer der Wert der schriftlichen Überlieferung<br />
ihrer Institute und Einrichtungen zu vermitteln. Nahezu 700 lfm völlig<br />
ungeordnetes, oft auch als lose Blattsammlung übernommenes dienstliches<br />
Schriftgut zeugten vom Desinteresse und der Frustration ehemaliger<br />
Akademiemitarbeiter. Die Abgabeverzeichnisse waren häufig unzureichend<br />
oder fehlten völlig. Die in den Instituten eingesetzten Abwicklungsteams,<br />
die unter anderem auch für eine ordnungsgemäße Archivierung Sorge zu<br />
tragen hatten, waren in der Regel durch die Vielzahl ihrer Aufgaben hoffnungslos<br />
überfordert oder fanden bereits nach eigenmächtigen Kassationen<br />
leere Aktenschränke vor.“ 17 In den zurückliegenden Jahren stand<br />
für die Mitarbeiter des Akademiearchivs die Überarbeitung der unzureichenden<br />
Ablieferungsverzeichnisse und die provisorische Ordnung und<br />
Verzeichnung des ungeordneten Schriftgutes im Vordergrund.<br />
Seit dem 1. Januar 1994 ist das Akademiearchiv eine wissenschaftliche<br />
Einrichtung der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.<br />
Es hat die bereits in ihrem Besitz befindlichen Bestände zu ergänzen, zu<br />
erschließen und für die Forschung zugänglich zu machen. Das Akademiearchiv<br />
hat ferner die Aufgabe, das historisch wertvolle Schriftgut der Berlin-Brandenburgischen<br />
Akademie der Wissenschaften, wissenschaftlich<br />
bedeutsame Nachlässe von Mitgliedern und für die Geschichte der Aka-<br />
17 Vera Enke: Sonderregistraturen an der Akademie der Wissenschaften der DDR 1945–<br />
1991. Untersuchungen und Analysen zur Überlieferungslage, Band 1, S. 62, Dissertation.<br />
Berlin 2000.<br />
18 Vgl. Ordnung für das Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften<br />
vom 17.12.1993, § 3.<br />
80 Universitätsreden 73<br />
demie bedeutsames Sammlungsgut zu übernehmen, zu erschließen und<br />
der Nutzung zugänglich zu machen. 18<br />
4. Aspekte der Bewertung in der Vergangenheit<br />
Archiv ische Bew ertung<br />
Im folgenden sollen einige Seiten der Bewertungspraxis des Akademiearchivs<br />
erläutert werden. Die gesamte – alle Abteilungen umfassende – Bewertungstätigkeit<br />
des Akademiearchivs darzulegen würde den Rahmen des<br />
Beitrages sprengen. Da die Bestandsergänzung sich in der DDR-Zeit vor<br />
allem auf die Abteilung Akademiebestände nach 1945 19 konzentrierte, die<br />
die größten Aktenzugänge zu verzeichnen hatte, wird die Bewertung des<br />
neueren Schriftgutes der Akademie im Vordergrund stehen.<br />
Umfasst der Umfang des im Akademiearchiv aufbewahrten dienstlichen<br />
Aktenschriftgutes der Zentralregistratur aus nahezu 250 Jahren Akademietätigkeit<br />
(1700-1945) 80 lfm, so entsprach diese Aktenmenge seit den<br />
1960er Jahren bis zur Abwicklung der Akademie dem durchschnittlichen<br />
jährlichen Aktenzugang. Aufgrund des vergleichsweise geringen Umfangs<br />
der Überlieferung aus der Zeit vor 1945 beschränkten sich die Kassationen<br />
in der Historischen Abteilung auf Mehrfachüberlieferungen, Finanzschriftgut<br />
und in geringem Umfang auch auf Arbeitsmaterialien. Das trifft auch<br />
– mit Ausnahme des hier nicht vorhandenen Finanzschriftgutes – auf die<br />
Abteilung Nachlässe zu, sofern bei den Nachlässen nicht depositarische<br />
Einschränkungen auferlegt wurden. Bei den Arbeitsmaterialien, die in beiden<br />
Abteilungen überliefert sind, erfolgten Kassationen nur dann, wenn es<br />
sich um Fragmente handelte, die von den entsprechenden Fachleuten als<br />
nicht mehr verwertbar und somit wertlos eingeschätzt wurden. Die Arbeitsergebnisse<br />
lagen hier zudem meist in Form von Veröffentlichungen vor.<br />
Bei der Bestandsergänzung der Abteilung Nachlässe, d. h. der Erwerbung<br />
von Nachlässen, spielten die Zuständigkeit des Akademiearchivs, das<br />
Dokumentationsprofil und die Einhaltung des Prinzips der positiven<br />
Wertauslese eine große Rolle. Die in anderen Archiven der DDR übliche<br />
19 Ehem. Abteilung III bzw. Abteilung Sozialismus.<br />
Universitätsreden 73 81
Vera Enke<br />
Praxis bei der Bewertung von Nachlässen (z. B. Einstufung in Wertkategorien,<br />
Möglichkeit der Kassation des hand- bzw. maschinenschriftlichen<br />
Originals, wenn die gedruckte Publikation vorliegt) 20 wurde im Akademiearchiv<br />
so nicht gehandhabt.<br />
In der Abteilung Akademiebestände nach 1945 stellten sich die Bewertungsfragen<br />
in besonderer Schärfe. Die Ausdehnung der Aufgabengebiete<br />
sowie der Mitarbeiterzahl der DDR-Akademie – von 1965 bis 1989 stieg<br />
die Mitarbeiterzahl von 11.000 auf nahezu 25.000 an – brachte eine stetig<br />
steigende Schriftgutflut. Da nur einem geringen Prozentsatz des dienstlichen<br />
Schriftgutes ein langfristiger historischer Wert zukommt, standen die<br />
Mitarbeiter des Akademiearchivs vor der Aufgabe, „im Zuge einer umfassenden<br />
Bewertung eine solche Auswahl von Dokumenten für die ständige<br />
archivische Aufbewahrung vorzunehmen, mit der eine ausreichende archivalische<br />
Quellenbasis für die Akademie- und Wissenschaftsgeschichte gesichert<br />
wird“. 21<br />
Bei der Ermittlung des historisch wertvollen Schriftgutes fanden solche<br />
Bewertungskriterien wie Funktion der Registraturbildner, Art und Charakter<br />
des Schriftgutes und Überlieferungslage Anwendung. Die Bewertung des<br />
Schriftgutes wurde durch die komplizierte verwaltungsstrukturelle Entwicklung<br />
der Akademie nach 1945 erschwert. „Häufige Strukturänderungen,<br />
begleitet von zahlreichen, vielfach personengebundenen Verlagerungen<br />
von fachlichen Aufgaben, haben im Leitungs- und Verwaltungsapparat der<br />
Akademie zu einer Diskrepanz von Aufgaben- und Verwaltungsgliederung<br />
und folglich in der Schriftgutüberlieferung der einzelnen aktenführenden<br />
Stellen zu beträchtlichen inhaltlichen Überschneidungen geführt.“ 22<br />
Um die Auswahl des dauernd aufzubewahrenden Schriftgutes aus der<br />
Masse des anfallenden Schriftgutes zu erleichtern, wurde 1969 eine Einteilung<br />
der Registraturbildner in verschiedene Wertkategorien vorgenom-<br />
20 Vgl. beispielhaft Erhard Hartstock: Nachlässe als ergänzende Bestandteile im Staatlichen<br />
Archivfonds der DDR, in: Archivmitteilungen 38 (1988). Heft 2, S. 50-52.<br />
21 Wolfgang Knobloch: Das Zentrale Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR,<br />
in: Archivmitteilungen 39 (1989), Heft 4, S. 133.<br />
22 Klaus Mlynek: Grundsätze für die weitere Arbeit der Abteilung Sozialismus, November<br />
1973, in: ABBAW, Dienstregistratur.<br />
82 Universitätsreden 73<br />
Archiv ische Bew ertung<br />
men. Der Registraturbildnertyp Akademieleitung erhielt die Wertkategorie<br />
I. Das bedeutete, dass das gesamte archivwürdige Registraturgut der Akademieleitung<br />
in das Akademiearchiv übernommen wurde. Der Registraturbildnertyp<br />
Forschungseinrichtungen (94 Registraturbildner) wurde der<br />
Wertkategorie III, zum Teil (42 Registraturbildner) aber auch der Wertkategorie<br />
I zugeordnet. Die Zuordnung zur Wertkategorie III resultierte<br />
aus der Erkenntnis, dass sich die wissenschaftsorganisatorische Tätigkeit<br />
der Forschungseinrichtungen in der Regel im Schriftgut der übergeordneten<br />
Registraturbildner in genügendem Maße widerspiegelt und daher kein<br />
Schriftgut in das zuständige Endarchiv übernommen werden muss. Es<br />
sollte in den jeweiligen Institutsarchiven (Zwischenarchiven) aufbewahrt<br />
werden. In einem nicht unbeträchtlichen Umfang erfolgte aber auch – wie<br />
die Einstufung von 42 Registraturbildnern in die Wertkategorie I zeigt –<br />
eine Übernahme des archivwürdigen Registraturgutes von Forschungseinrichtungen<br />
in das Akademiearchiv. Das betraf vor allem die Institute und<br />
Einrichtungen, die bis 1957 (Gründung der Forschungsgemeinschaft der<br />
naturwissenschaftlichen, technischen und medizinischen Institute) bzw.<br />
1963 (Gründung der Arbeitsgemeinschaft der gesellschaftswissenschaftlichen<br />
Institute und Einrichtungen) 23 gegründet oder der Akademie angeschlossen<br />
worden waren, da es bis zu diesem Zeitpunkt keine diese Forschungseinrichtungen<br />
betreffende zentrale Überlieferung gegeben hat. Der<br />
Registraturbildnertyp Wissenschaftliche Gesellschaften (9 Registraturbildner)<br />
erhielt die Wertkategorie III und der Registraturbildnertyp Nationalkomitees<br />
(21 Registraturbildner) die Wertkategorie II. Für das dienstliche<br />
Schriftgut der Wissenschaftlichen Gesellschaften und Nationalkomitees<br />
gab es eine Zuständigkeit „ex officio“ bis zur Abwicklung der DDR-Akademie<br />
nicht. Das Akademiearchiv konnte nur die Empfehlung aussprechen,<br />
das archivwürdige Schriftgut dem Akademiearchiv zu übergeben.<br />
Dem wurde zum Teil auch Folge geleistet. Der Registraturbildnertyp<br />
23 Diese Institutsgemeinschaften hatten Leitungsfunktionen inne und verfügten über<br />
einen sehr differenzierten großen Verwaltungsapparat.<br />
24 Vgl. Vorschlag für eine Registraturbildner-Musterliste Deutsche Akademie der Wissenschaften<br />
zu Berlin, August 1969, in: ABBAW, Dienstregistratur.<br />
Universitätsreden 73 83
Vera Enke<br />
Dienstleistungseinrichtungen und Druckereibetriebe (4 Registraturbildner)<br />
wurde der Wertkategorie III zugeordnet. 24 Das Schriftgut dieser Registraturbildner<br />
gelangte – mit Ausnahme der in Berlin gelegenen Dienstleistungseinrichtungen,<br />
deren Schriftgut im Zuge der Abwicklung der<br />
DDR-Akademie übernommen wurde – nicht ins Akademiearchiv. Als organisatorisches<br />
und methodisches Hilfsmittel wurde eine Registraturbildnerkartei,<br />
die zugleich als Aktennachweiskartei diente, für alle im Zuständigkeitsbereich<br />
des Akademiearchivs vorhandenen Registraturbildner erarbeitet.<br />
Die spätere strukturelle Entwicklung der Akademie zeigte, dass die<br />
überwiegende Einstufung der Forschungseinrichtungen in die Wertkategorie<br />
III nicht aufrechterhalten werden konnte. Das Akademiearchiv hatte<br />
daher schon vor der Abwicklung der DDR-Akademie archivwürdiges<br />
Schriftgut aus mehreren Instituten und Einrichtungen der Akademie in<br />
seine Obhut übernommen.<br />
Der größte Teil des dienstlichen Schriftgutes im Zuständigkeitsbereich<br />
des Akademiearchivs erwuchs in der Zeit von 1945 bis 1991 aus der Tätigkeit<br />
der Institute und Einrichtungen der Akademie, so dass sich die Bewertungstätigkeit<br />
auf diese Überlieferung konzentrierte. Da möglichst nur<br />
dauernd aufzubewahrendes Registraturgut in die Institutsarchive und in<br />
das Akademiearchiv übernommen werden sollte, standen die Aufgaben der<br />
positiven Wertauslese im Vordergrund. Die Erfassungstätigkeit hatte sich<br />
in den Instituten und Einrichtungen vorrangig auf das Schriftgut der<br />
Institutsleitungen zu konzentrieren, das wesentliche Sachverhalte aus der<br />
Tätigkeit der Institute optimal dokumentiert. 25 Die Erkenntnis, dass die<br />
Überlieferungssicherung bereits im Prozess der Schriftgutentstehung beginnen<br />
muss und eine positive Wertauslese durch eine funktionierende<br />
Schriftgutverwaltung erheblich erleichtert wird, veranlasste die Archivare<br />
des Akademiearchivs darüber hinaus, Aktenordnungen und Anfang der<br />
1970er Jahre einen Rahmenaktenplan für die Forschungseinrichtungen<br />
25 Vgl. Klaus Mlynek: Grundsätze für die weitere Arbeit der Abteilung Sozialismus,<br />
November 1973, in: ABBAW, Dienstregistratur.<br />
26 Vgl. Zentrales Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR: Materialien zur<br />
Verbesserung der Schriftgutverwaltung in den Forschungseinrichtungen der AdW der<br />
DDR, 1973, S. 3ff.<br />
84 Universitätsreden 73<br />
Archiv ische Bew ertung<br />
der Akademie zu erarbeiten. 26 Das Akademiearchiv half darüber hinaus<br />
bei der Erstellung von Aktenplänen.<br />
Das im Akademiearchiv und in den Institutsarchiven verwahrte dienstliche<br />
Schriftgut lässt sich in zwei große Schriftgutkomplexe, den wissenschaftsorganisatorischen<br />
und den wissenschaftlichen Dokumentenkomplex,<br />
einteilen. Während man in den Beständen der Institute und Einrichtungen<br />
beide Dokumentenkomplexe vorfindet, handelt es sich bei der<br />
aktenmäßigen Überlieferung der Leitungsorgane und Querschnittsabteilungen<br />
der Akademie ebenso wie bei den Aktenbeständen der wissenschaftlichen<br />
Gesellschaften und Nationalkomitees fast ausschließlich um<br />
wissenschaftsorganisatorisches Schriftgut. Der wissenschaftliche Dokumentenkomplex<br />
wurde in den Jahren 1979 bis 1985 von den Mitgliedern<br />
einer Arbeitsgruppe der Akademiearchive sozialistischer Länder zu Fragen<br />
der archivwissenschaftlichen Bewertung der verschiedenen Schriftgutarten<br />
wissenschaftlicher Dokumentation eingehend untersucht.<br />
Die Kooperationsbeziehungen des Berliner Akademiearchivs mit den<br />
Akademiearchiven in Mittel- und Osteuropa reichen bis zur Mitte der<br />
1960er Jahre zurück. In den Ländern Mittel- und Osteuropas war die<br />
Akademieentwicklung ähnlich wie in der DDR verlaufen. Die Gelehrtengesellschaften<br />
wurden nach sowjetischem Vorbild in Akademien mit eigenen<br />
Forschungseinrichtungen umgewandelt. 27 Die Archive dieser Akademien<br />
standen somit vor den gleichen Aufgaben und Problemen, was den<br />
Erfahrungsaustausch nicht nur begünstigte, sondern geradezu herausforderte.<br />
Eine erste Konferenz der Akademiearchive sozialistischer Länder<br />
fand 1965 in Warschau statt. Man vereinbarte eine wechselseitige Entsendung<br />
von Mitarbeitern zu Studienreisen in die Partnerarchive und die<br />
gemeinsame Bearbeitung archivischer Arbeitsthemen. In den folgenden<br />
Jahren fanden sechs Konferenzen statt. Die behandelten Themen reichten<br />
von Fragen der Schriftgutverwaltung über Probleme der Bestandsergänzung,<br />
Bewertung, Erschließung und Auswertung bis zu archivtechnischen<br />
27 Im Hinblick auf die Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin (ab 1972<br />
Akademie der Wissenschaften der DDR) muss erwähnt werden, dass die Preußische<br />
Akademie der Wissenschaften bereits 1930 in einer Denkschrift vom preußischen Staat<br />
die Bildung von geistes- und naturwissenschaftlichen Instituten an der Akademie gefordert<br />
hatte.<br />
Universitätsreden 73 85
Vera Enke<br />
Fragen. Für die gemeinsame Beratung wichtiger archivwissenschaftlicher<br />
Fragestellungen schuf man Arbeitsgruppen, die zwischen den Konferenzen<br />
spezielle Arbeitstreffen durchführten. 28<br />
Die Arbeitsgruppe zu Fragen der archivwissenschaftlichen Bewertung<br />
der verschiedenen Schriftgutarten wissenschaftlicher Dokumentation<br />
unterzog unter Anwendung der Bewertungskriterien „die verschiedenen<br />
wissenschaftlichen Dokumentenarten, wie Primär- 29 , Zwischen- 30 und<br />
Ergebnisdokumente 31 , einer archivwissenschaftlichen Bewertung“. 32 „Die<br />
Besonderheit bei der Dokumentierung von Forschungsprozessen zeigt sich<br />
in ganz bestimmten stabilen Dokumentenarten und in einer speziellen<br />
wechselseitigen Verbindung und Bedingtheit dieser Dokumente, die dem<br />
28 Vgl. Wolfgang Knobloch: Die Beziehungen des Archivs der Berliner Akademie der<br />
Wissenschaften zu den Archiven der Akademien der Wissenschaften in Mittel- und<br />
Osteuropa. Vortrag, gehalten am 17.9.1996 auf dem 67. Deutschen Archivtag in<br />
Darmstadt in der Sitzung der Fachgruppe 8.<br />
29 Primärdokumente sind alle schriftlichen, graphischen, maschinenlesbaren und sonstigen<br />
Aufzeichnungen, die als erste Ergebnisse auf der niedrigsten Stufe des Forschungsprozesses<br />
anfallen (z. B. Versuchsprotokolle, Laborhefte, Versuchstabellen etc.). Vgl.<br />
Wolfgang Knobloch: Probleme der Bewertung wissenschaftlicher Dokumentation aus<br />
den Einrichtungen der Akademie der Wissenschaften der DDR als Voraussetzung für<br />
die Bestandsergänzung des Akademie-Archivs, in: Archivmitteilungen 35 (1985),<br />
Heft 4, S. 116.<br />
30 Eine Zwischenstellung nehmen wissenschaftliche Dokumentenarten, wie z. B. Laborberichte<br />
und -mitteilungen ein. „Einerseits übernehmen die Laborberichte die in den<br />
Versuchsprotokollen, Laborbüchern und anderen Primärdokumenten enthaltenen<br />
Primärdaten und werten die erzielten Ergebnisse unter Einbeziehung der zu dieser<br />
Thematik erschienenen Literatur aus. … Andererseits wird der Informationsgehalt eines<br />
Großteils der Laborberichte wiederum mehr oder weniger vollständig in die Forschungsberichte<br />
übernommen. Entsteht kein Forschungsbericht und stellt der Laborbericht<br />
schon das eigentliche Abschlußdokument dar, so verliert er seinen Charakter<br />
als Zwischendokument und wird zum Ergebnisdokument.“ Ebd.<br />
31 „Die Wiedergabe und analytisch-synthetische Verarbeitung der in den einzelnen Stadien<br />
des Forschungsprozesses gewonnenen Primärdaten führt zur Entstehung von wissenschaftlichen<br />
Ergebnisdokumenten, die die Resultate von abgeschlossenen Forschungsprozessen<br />
widerspiegeln.“ Zu den wichtigsten Arten gehören Forschungs- und<br />
Entwicklungsberichte, Patente, Vorträge für Tagungen und Kongresse, Artikel und<br />
Monographien in Manuskriptform. Ebd., S. 116 und 118.<br />
32 Wolfgang Knobloch: Das Zentrale Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR,<br />
in: Archivmitteilungen 39 (1989), Heft 4, S. 133.<br />
86 Universitätsreden 73<br />
Archiv ische Bew ertung<br />
stufenweisen Prozess der Gewinnung wissenschaftlicher Erkenntnisse entsprechen<br />
und jeweils bestimmte Etappen und Seiten des einheitlichen Forschungsprozesses<br />
widerspiegeln. Im Zusammenhang damit entsteht eine<br />
umfangreiche Informationswiederholung unter den im Ergebnis der wissenschaftlichen<br />
Forschungstätigkeit anfallenden Dokumentenarten.“ 33 Auf<br />
der Grundlage eines vom sowjetischen Akademiearchiv ausgearbeiteten<br />
Fragebogens wurden von den Mitarbeitern der Akademiearchive in einer<br />
Reihe von Akademieinstituten Erhebungen mit dem Ziel angestellt, den<br />
Entstehungsprozess von wissenschaftlichen Dokumenten von der Primärbis<br />
zur Ergebnisdokumentation zu verfolgen und dabei zu ermitteln, inwieweit<br />
der Informationsgehalt von Dokumentenarten der Primärdokumentation<br />
von der wissenschaftlichen Ergebnisdokumentation absorbiert<br />
wird und welche Formen der Doppelüberlieferung von wissenschaftlichen<br />
Dokumenten auftreten. 34<br />
Die Ergebnisse der Untersuchungsarbeit fanden ihren Niederschlag in<br />
der 1985 ausgearbeiteten „Richtlinie für die Bewertung der wissenschaftlichen<br />
Dokumentation im Zuständigkeitsbereich des Akademie-Archivs“. 35<br />
Für die Bestandsergänzung des Akademiearchivs kam demnach nur ein<br />
begrenzter Teil der wissenschaftlichen Primär- und Zwischendokumente in<br />
Frage. Als archivwürdig wurden z. B. die Primär- und Zwischendokumente<br />
bei herausragenden wissenschaftlichen Entdeckungen und einmaligen<br />
Erscheinungen in der Natur eingestuft oder wenn sie das Wirken herausragender<br />
Wissenschaftler von nationalem und internationalem Rang<br />
dokumentieren. Möglich war auch eine repräsentative Auswahl für die<br />
ständige archivische Aufbewahrung, um an einigen ausgewählten Institutsüberlieferungen<br />
den Forschungsprozess allseitig dokumentieren zu können.<br />
Die wissenschaftliche Ergebnisdokumentation wurde als die wichtigste<br />
archivalische Informationsquelle für die Geschichte der Wissenschaft<br />
und des wissenschaftlich-technischen Fortschritts eingestuft, innerhalb<br />
33 Richtlinie für die Bewertung der wissenschaftlichen Dokumentation im Zuständigkeitsbereich<br />
des Akademie-Archivs, Sonderdruck, S. 2.<br />
34 Vgl. Christa Kirsten: Das Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR, in:<br />
Archivmitteilungen 29 (1979), Heft 5, S. 191.<br />
35 Sonderdruck.<br />
Universitätsreden 73 87
Vera Enke<br />
derer die Forschungs- und Entwicklungsberichte die wichtigste Quellenkategorie<br />
bilden. „Sie fixieren die Ergebnisse der Forschungsarbeit zum<br />
jeweiligen Forschungsthema, enthalten Ausführungen zur Zielsetzung der<br />
F/E-Aufgabe, zu den angewandten Forschungsmethoden, zum Verlauf und<br />
zu den Lösungsvarianten der Forschungsarbeit sowie Schlußfolgerungen<br />
für die praktische Anwendung der erzielten Ergebnisse.“ 36 Ihr Informationsgehalt<br />
wird nur zu 10 bis 15 Prozent durch die entsprechende wissenschaftliche<br />
Fachliteratur abgedeckt. 37 Das Akademiearchiv legte daher<br />
größtes Augenmerk auf eine geschlossene Forschungs- und Entwicklungsberichtsüberlieferung<br />
im Bereich der Akademie. 38 Mit einer Anordnung<br />
des Ministers für Wissenschaft und Technik waren die Institute und<br />
Einrichtungen bereits 1979 verpflichtet worden, die in ihrer Forschungseinrichtung<br />
entstehenden Forschungs- und Entwicklungsberichte aufzubewahren<br />
und auf Anforderung zur Verfügung zu stellen. 39<br />
In der Folgezeit konzentrierte sich die Bewertungstätigkeit auf den<br />
Schriftgutkomplex wissenschaftsorganisatorisches Schriftgut. Es sollte ein<br />
Schriftgutbewertungsverzeichnis erarbeitet werden, in dem die dauernd<br />
aufzubewahrenden Schriftgutkategorien sowie diejenigen mit befristetem<br />
Wert unter Angabe ihrer Aufbewahrungsfristen aufgeführt sind. Aufgrund<br />
der gesellschaftlichen Umbruchszeit in der DDR und den übrigen Ländern<br />
Mittel- und Osteuropas seit 1989 kam es dazu nicht mehr.<br />
Bei der Ausscheidung der Masse des kurzfristig aufzubewahrenden<br />
Schriftgutes im Bereich der Akademie war das 1973 von der Staatlichen<br />
Archivverwaltung der DDR herausgegebene „Rahmenverzeichnis für die<br />
36 Richtlinie für die Bewertung der wissenschaftlichen Dokumentation im Zuständigkeitsbereich<br />
des Akademie-Archivs, Sonderdruck, S. 8/9.<br />
37 Ebd., S. 9.<br />
38 Die detaillierten Untersuchungsergebnisse des Akademiearchivs finden sich in:<br />
Wolfgang Knobloch: Probleme der Bewertung wissenschaftlicher Dokumentation aus<br />
den Einrichtungen der Akademie der Wissenschaften der DDR als Voraussetzung für<br />
die Bestandsergänzung des Akademie-Archivs, in: Archivmitteilungen 35 (1985),<br />
Heft 4, S. 115-119.<br />
39 Vgl. „Anordnung zur Bereitstellung von Informationen über wissenschaftlich-technische<br />
Ergebnisse“ vom 20. Juni 1979, in: Gesetzblatt der DDR, Teil I, Nr. 19 (1979),<br />
S. 164 f.<br />
88 Universitätsreden 73<br />
vereinfachte Kassation typischer Schriftgutkategorien“ ein wichtiges<br />
Hilfsmittel.<br />
5. Aspekte der Bewertung in der Gegenwart<br />
Archiv ische Bew ertung<br />
Die Überlieferungslücken in der Abteilung Akademiebestände nach 1945,<br />
die vor allem im Zuge der Abwicklung der Akademie der Wissenschaften<br />
der DDR entstanden sind, zwingen die Archivare des Akademiearchivs, die<br />
Fragen der Bewertung des dienstlichen Schriftgutes zum Teil völlig neu zu<br />
stellen. Es kann heute z. B. nicht mehr davon ausgegangen werden, dass<br />
sich die wissenschaftsorganisatorische Tätigkeit der Forschungseinrichtungen<br />
in der Regel im Schriftgut der übergeordneten Registraturbildner<br />
in genügendem Maße widerspiegelt. Da die aktenführenden Stellen nicht<br />
mehr existieren, ist es darüber hinaus nicht möglich, sie – wie in früheren<br />
Jahren üblich – in die Bewertungsentscheidung einzubeziehen, indem man<br />
sie nach dem Informationsgehalt und der Aussagekraft der verschiedenen<br />
Quellenkategorien ihrer Überlieferung befragt.<br />
In der Wendezeit hatten die Mitarbeiter des Akademiearchivs – wie bereits<br />
erwähnt – eine „Richtlinie für die Auswahl von historisch wertvollem<br />
Schriftgut aus den Instituten und Einrichtungen der ehemaligen AdW der<br />
DDR zum Zwecke der Archivierung“ erarbeitet, die 1991 auch dem „Abwicklungsleitfaden“<br />
für die Institute und Einrichtungen beigefügt worden<br />
war. 40 Sie enthält alle aus der Sicht des Akademiearchivs archivwürdigen<br />
Schriftgutkategorien und bietet daher eine gute Orientierung für die Mitte<br />
der 1990er Jahre eingeleiteten Untersuchungen zur Quellensituation. Diese<br />
Untersuchungen sind unerlässlich, da erst die Kenntnis der vorhandenen<br />
Überlieferungslücken fundierte Bewertungsentscheidungen ermöglicht. Sie<br />
werden begleitet von einer systematischen Befragung der Archivnutzer<br />
nach dem Ergebnis der Recherche, dem Informationsgehalt und der Aus-<br />
40 Vera Enke: Sonderregistraturen an der Akademie der Wissenschaften der DDR 1945–<br />
1991. Untersuchungen und Analysen zur Überlieferungslage, Band 2 (Anlagen), S. 67-<br />
69, Dissertation. Berlin 2000.<br />
41 Die Abteilung I koordinierte Forschungsaufgaben militärischen Charakters und Forschungsaufgaben,<br />
die Schlüsseltechnologien betrafen.<br />
Universitätsreden 73 89
Vera Enke<br />
sagekraft der verschiedenen Überlieferungen. Die Untersuchungen zur<br />
Überlieferungslage konzentrierten sich zunächst auf die Sonderregistraturen<br />
(v. a. Verschlusssachen, SED-Parteischriftgut, Abteilung I 41 ), da es<br />
sich hier um einen elitären Teil des dienstlichen Schriftgutes der Akademie<br />
handelt, und die Frage, ob sich diese Verluste kompensieren lassen. Die<br />
Untersuchungsergebnisse wurden im Rahmen einer Dissertationsschrift<br />
vorgestellt. 42 Sie schlossen bei den Verschlusssachen unter anderem Untersuchungen<br />
zu folgenden Quellenkomplexen ein: Dokumente zur Landesverteidigung<br />
43 , Dissertationen 44 , Kaderstatistiken 45 und Reiseberichte. 46<br />
Im folgenden soll beispielhaft auf die Reiseberichte eingegangen werden.<br />
Innerhalb der Reiseberichtsdokumentation wurden nur bestimmte<br />
Dokumentenkategorien als archivwürdig eingestuft. Dazu gehörten der<br />
Reiseantrag, die Reisedirektive und der Reisebericht, dem insbesondere in<br />
den 1980er Jahren vielfach ein Sofortbericht vorausging. Alle Akademiemitarbeiter<br />
hatten ihre Berichte der Hauptabteilung Internationale Beziehungen<br />
– einem der größten Aktenproduzenten der DDR-Akademie –<br />
in mehreren Exemplaren zu übergeben. Die Reiseberichte des Teilbestandes<br />
Hauptabteilung Internationale Beziehungen liegen für den Zeitraum<br />
bis 1986 bereits erschlossen vor und umfassen insgesamt 133 lfm. Reiseberichte<br />
finden sich aber auch in den Überlieferungen der Leitungsorgane,<br />
der Forschungseinrichtungen, wissenschaftlichen Gesellschaften und<br />
Nationalkomitees. Bei den Mitarbeitern des Akademiearchivs gab es in<br />
früheren Jahren hinsichtlich der Archivwürdigkeit der Reiseberichte unterschiedliche<br />
Auffassungen. Glücklicherweise konnten sich die Archivare,<br />
die eine dauernde Aufbewahrung befürworteten, durchsetzen, da der<br />
Quellenkomplex Reiseberichte heute einen wichtigen Platz unter den wissenschaftshistorischen<br />
Quellen einnimmt. Die Untersuchungen ergaben,<br />
42 Vera Enke: Sonderregistraturen an der Akademie der Wissenschaften der DDR 1945–<br />
1991. Untersuchungen und Analysen zur Überlieferungslage, Band 1 und 2, Dissertation.<br />
Berlin 2000.<br />
43 Ebd., Band 1, S. 162-169.<br />
44 Ebd., Band 1, S. 169-177.<br />
45 Ebd., Band 1, S. 177-182.<br />
46 Ebd., Band 1, S. 182-188.<br />
90 Universitätsreden 73<br />
Archiv ische Bew ertung<br />
dass nur ca. 80 Prozent der Reiseberichte in der Überlieferung der Hauptabteilung<br />
Internationale Beziehungen enthalten sind. Es ist daher nicht<br />
möglich, entsprechende Überlieferungen bei anderen Registraturbildnern<br />
komplett zu kassieren. Bei der Erschließung der Forschungsbereiche z. B.,<br />
die in den letzten Jahren erfolgte, musste bei jedem einzelnen Reisebericht<br />
geprüft werden, ob es sich um Mehrfachüberlieferung handelt. Die Mehrzahl<br />
der Reiseberichte konnte hier kassiert werden, andere kompensierten<br />
die Überlieferungslücken im Teilbestand Hauptabteilung Internationale<br />
Beziehungen.<br />
In der Abteilung Akademiebestände nach 1945 muss heute in der Regel<br />
im Vorfeld der Erschließung von Beständen die Überlieferungslage analysiert<br />
werden. So konnte beispielsweise bei der gegenwärtigen Erschließung<br />
der Sitzungsprotokolle der Akademie (Plenum, Präsidium, Kollegium,<br />
Senat, Klassen etc.) aus dem Zeitraum 1969 bis 1991 festgestellt werden,<br />
dass sie in den Überlieferungen des Präsidenten, der zahlreichen Vizepräsidenten,<br />
des Generalsekretärs und des Justitiars vorhanden sind. Da es sich<br />
eindeutig um Mehrfachüberlieferungen im zusammengefassten Bestand<br />
Akademieleitung 1969-1991 handelt, können diese kassiert werden.<br />
Verlorengegangene Akten können vielfach in der Vertikale partiell durch<br />
die Gegenüberlieferung höherer und nachgeordneter Stellen rekonstruiert<br />
werden. Aber auch auf der horizontalen Ebene bieten sich Möglichkeiten<br />
zur Substitution von Verlusten. Die Bewertungsdiskussion über den Quellenwert<br />
einzelner Bestände wird daher im Akademiearchiv im Einklang<br />
mit der Erschließung der einzelnen Bestände erfolgen. Man wird unter<br />
anderem gezwungen sein, Bestände, die man bei einer vollständigen Überlieferung<br />
durchkassiert hätte, als Ersatzüberlieferung komplett aufzubewahren.<br />
Als Ersatzdokumentation für verlorengegangenes Aktenmaterial<br />
kommt im Akademiearchiv auch Sammlungsgut (z. B. Zeitungsausschnitte)<br />
in Frage. Eine besondere Bedeutung haben Erinnerungsberichte,<br />
die nicht nur nicht mehr vorhandene Akten teilweise ersetzen können,<br />
sondern darüber hinaus vieles, was innerhalb der Akademie geschah und<br />
im allgemeinen nicht aktenkundig wurde, überliefern. Eine weitere Möglichkeit,<br />
Überlieferungslücken zu schließen, stellt die Überprüfung der im<br />
Akademiearchiv vorhandenen Nachlässe dar, da sich in ihnen oft dienstliches<br />
Schriftgut befindet, das in den jeweiligen Beständen fehlt. Das Aka-<br />
Universitätsreden 73 91
Vera Enke<br />
demiearchiv wird in Zukunft auch – wenn entsprechende Angebote erfolgen<br />
– sogenannte private Archive übernehmen. Nach der Wende wurden<br />
vielfach dienstliche Unterlagen aus den Registraturen oder Institutsarchiven<br />
entnommen und von ehemaligen Akademiemitarbeitern oder<br />
fremden Personen widerrechtlich in Besitz genommen.<br />
92 Universitätsreden 73<br />
Künstler-Archive – ein Sammlungsziel?<br />
Zur Strategie des Archivs der Universität der Künste<br />
Berlin<br />
Dietmar Schenk<br />
Vor wenigen Tagen, am 8. März 2006, nahmen wir aus der Schweiz neben<br />
historischem Mobiliar, Graphiken und Teilen der Privatbibliothek des<br />
Geigers und Violinpädagogen Max Rostal auch die Zimelien seines Archivs<br />
in Empfang: an ihn gerichtete Briefe von Béla Bartók, Pablo Casals,<br />
Vaughan Williams, George Enescu und anderen. Erwähnt sei ein ausführliches<br />
Schreiben Bartóks aus dem Jahre 1931 über sein 1. Streichquartett<br />
(1908), in dem er ältere Metronomangaben widerruft. 1 Ferner gehören<br />
Autographe dazu, die Rostal selbst gesammelt hat: etwa von Paganini und<br />
Debussy. 2 Den Hauptteil des Archivs – Manuskripte, Korrespondenzen,<br />
Fotografien, Tonaufnahmen, Musikalien – besitzen wir seit mehreren<br />
Jahren; die Erschließung im Rahmen eines DFG-Projekts ist abgeschlossen,<br />
das zweibändige Inventar wurde im vergangenen Jahr publiziert. 3 Beim<br />
kommenden Max-Rostal-Wettbewerb werden wir die kostbaren Neuzugänge<br />
vorstellen und demnächst Rostals Autobiographie Violin-Schlüssel-<br />
Erlebnisse. Achtzig Jahre mit v ier Saiten im Verlag Ries & Erler, Berlin, herausgeben.<br />
4<br />
1 Die Anfrage Rostals, auf die Bartók reagiert, ist bereits publiziert bei Deniys Dille<br />
(Hrsg. im Auftrag der Ungarischen Akademie der Wissenschaften – Bartók Archivum,<br />
Budapest): documenta bartókiana. Mainz 1968, S. 164 (Nr. 108).<br />
2 Diese Sammlung werde ich an anderer Stelle noch genauer beschreiben.<br />
3 Antje Kalcher (Bearb.): Nachlass Max Rostal. Inventar. (Schriften aus dem Archiv der<br />
Universität der Künste Berlin, hrsg. v. Dietmar Schenk. Inventare Bd. 2.1 und 2.2) Berlin<br />
2005.<br />
4 Hrsg. und bearbeitet von Dietmar Schenk und Antje Kalcher, Berlin 2007. Es handelt<br />
sich, genau genommen, um eine ‚Doppelbiographie‘: um die Autobiographie von Max<br />
Rostal und die seines Bruders Leo, eines Cellisten, der in die USA emigrierte, und die<br />
wir aus dem Englischen übersetzen.<br />
Universitätsreden 73 93
Dietmar Schenk<br />
Dieser erfreuliche Abschluss der schrittweise erfolgten Übergabe eines<br />
bedeutenden Musikernachlasses ist das Ergebnis eines über Jahre gewachsenen<br />
Vertrauens von Rostals Witwe Marion Rostal-Busato, Bern, zur Universität<br />
der Künste (UdK) und ihrem Archiv. Auf dem Weg liegen zahlreiche<br />
Aktivitäten: die mehrmalige Austragung des Wettbewerbs in Berlin<br />
und – seitens des Archivs – etwa die Publikation des Briefwechsels von<br />
Max Rostal mit seinem Lehrer Carl Flesch. 5 Max Rostal musste Deutschland<br />
als Jude nach der nationalsozialistischen Usurpation der Macht verlassen;<br />
1931 berufen, bekleidete er kaum zwei Jahre seine Professur an der<br />
Berliner Hochschule für Musik, einer Vorgängerinstitution der UdK, und<br />
fühlte sich ihr doch zeitlebens verbunden, so dass sein Nachlass zu uns<br />
kam.<br />
Dieses ganz aktuelle Beispiel mag hier als Beleg dafür stehen, dass unser<br />
Archiv auf dem Gebiet des Erwerbs von Künstler-Archiven, seien es Voroder<br />
Nachlässe, überraschend erfolgreich ist. Zugänge wie diese stellten<br />
sich gerade in jüngster Zeit so zahlreich ein, dass sie das Profil des Archivs<br />
verändert haben.<br />
Als erstes möchte ich die hervorhebenswerten unter den Vor- und Nachlässen<br />
sowie den Sammlungen privater Provenienz aufführen, mit deren<br />
Übernahme wir seit 2004/05 begonnen haben:<br />
– das Archiv Hardt-Waltherr Hämer,<br />
– als weitere architekturbezogene Bestände die Archive von Bruno Flierl<br />
und Jonas Geist,<br />
– das Archiv des Schreker-Schülers Kurt Fiebig,<br />
– die Sammlung der Friedrich-Kiel-Gesellschaft e.V. über Friedrich Kiel<br />
und seinen internationalen Schülerkreis, von Paderewski bis Nordraak<br />
6 ,<br />
– die fotografiegeschichtliche Sammlung Diethart Kerbs<br />
sowie<br />
5 Dietmar Schenk / Wolfgang Rathert (Hrsg.): Carl Flesch und Max Rostal. Aspekte der<br />
Berliner Streichertradition. (Schriften aus dem Archiv der Universität der Künste<br />
Berlin Bd. 4) Berlin 2002.<br />
94 Universitätsreden 73<br />
Künstler-Archiv e – ein Sammlungsziel?<br />
– Sammlungen und Teilarchive aus dem Gebiet der visuellen Kommunikation,<br />
der Graphik und des Designs: von Ludwig Thürmer, Herbert<br />
W. Kapitzki und Christian Gellner.<br />
Als weiterer Erfolg sei der Erwerb der Schreker-Bibliothek genannt, der im<br />
Neubau der Universitätsbibliothek aufgestellt worden ist. 7 Ich trete den<br />
Kollegen in der Bibliothek nicht zu nahe, wenn ich konstatiere, dass diese<br />
Übernahme ausschließlich dank der Archivarbeit möglich wurde und jetzt<br />
dem nüchternen Bibliotheksneubau in der Charlottenburger Fasanenstraße<br />
die Aura einer beinahe noch großbürgerlichen Epoche, jedenfalls<br />
der Tradition, verleiht.<br />
Zunächst eine sehr allgemeine Bemerkung zu den Sammlungszielen des<br />
UdK-Archivs: Für Archive ist es zweifellos ein Ausnahmefall, dass potentielles<br />
Archivgut nicht durch die fest definierte Zuständigkeit für bestimmte<br />
Registraturbildner geregelt ist; die Konkurrenzsituation, die gerade auf<br />
dem Gebiet der Künstler-Archive und innerhalb einer so stark ausdifferenzierten<br />
Archivlandschaft wie in Berlin besteht, ist eher ungewöhnlich.<br />
Die Archive von Künstlern, die an der UdK gelehrt haben, sind für das<br />
Universitätsarchiv selbstverständlich von Interesse, da anhand der in ihnen<br />
enthaltenen Dokumente die künstlerische Lehre in ganz anderer, nicht<br />
weniger inhaltsreicher Perspektive in den Blick rückt als in den behördlichen<br />
Dokumenten. Papiere privater Provenienz gewähren oft Einblicke<br />
ins ‚Innere‘ des Unterrichts, das mit Hilfe von Verwaltungsunterlagen oft<br />
nicht greifbar ist. 8<br />
Manche Geber entscheiden sich aufgrund ihres Verständnisses vom Profil<br />
eines Universitätsarchivs für eine themenbezogene Abgabe und vertrauen<br />
6 Die Feier zur Übergabe des Archivs ist dokumentiert in: Peter Pfeil (Hrsg.): Mitteilungen<br />
der Friedrich-Kiel-Gesellschaft e.V. Nr. 30, 15. Dezember 2005. Coppenbrügge<br />
2005.<br />
7 Vgl. Dietmar Schenk (Hrsg.): Franz Schrekers Bibliothek / The Schreker Library.<br />
(Schriften aus dem Archiv der Universität der Künste Berlin Bd. 9) Berlin 2005. Die<br />
Übergabe der Schreker-Bibliothek erfolgte, nachdem im Oktober 2003 ein von mir<br />
angeregtes Internationales Symposium „Franz Schreker und seine Schüler“ die<br />
atmosphärischen Voraussetzungen geschaffen hatte.<br />
8 In einem Buch über die Kompositionsklasse Franz Schrekers haben wir einen solchen<br />
Einblick zu gewinnen versucht – und festgestellt, wie schwierig das ist: Dietmar Schenk /<br />
Universitätsreden 73 95
Dietmar Schenk<br />
dem UdK-Archiv einen Teil ihres Vorlasses bzw. einen Teilnachlass an.<br />
Das älteste Beispiel für diese Vorgehensweise ist der Teilnachlass des<br />
‚Gründers‘ der Berliner Hochschule für Musik, Joseph Joachim, dessen<br />
Sohn im Gefolge der Feiern zum 100. Geburtstag 1931 die Betreffe übergab,<br />
die sich auf die Hochschule bezogen. 9 Die Teilung von Nachlässen<br />
raten Archivare freilich nicht an. In anderen Fällen sieht der Geber die<br />
ungeteilte Übertragung des gesamten persönlichen Archivs vor: so Hardt-<br />
Waltherr Hämer, auf dessen Archiv ich exemplarisch eingehen möchte.<br />
Der 1922 geborene Architekt und Stadtplaner Hardt-Waltherr Hämer<br />
hat sich durch das Konzept der behutsamen Stadterneuerung einen Namen<br />
erworben. 10 Er studierte an der Hochschule für Bildende Künste (HBK)<br />
Berlin, ebenfalls eine Vorgängerinstitution der UdK, baute noch als<br />
Student die Schifferkirche im Ostseebad Ahrenshoop, erwarb sich dann als<br />
Theaterarchitekt einen Namen 11 und nahm 1967 den Ruf auf eine Professur<br />
an der HBK an. Angeregt und herausgefordert durch die Studentenbewegung<br />
und seine Arbeit mit Studenten an der HBK wandte er sich früh<br />
gegen die großflächigen Abrisse von Altbausubstanz in West-Berlin und<br />
führte weithin beachtete, modellhafte Sanierungsvorhaben durch. Zu nennen<br />
sind der Block 118 am Klausener Platz in Berlin-Charlottenburg (1974-<br />
1980) und die „IBA-Alt“, das heißt die Erneuerung ganzer Stadtquartiere<br />
in der Luisenstadt und im südöstlichen Kreuzberg (SO 36) im Rahmen der<br />
Internationalen Bauausstellung 1984/1987. 12 Das Hämer-Archiv umfasst<br />
Markus Böggemann / Rainer Cadenbach (Hrsg.): Franz Schrekers Schüler in Berlin.<br />
Biographische Beiträge und Dokumente. (Schriften aus dem Archiv der Universität der<br />
Künste Berlin Bd. 8) Berlin 2005.<br />
9 Er wurde inzwischen im Rahmen eines DFG-Projekts erschlossen. Vgl. Antje Kalcher<br />
(Bearb.): Teilnachlass Joseph Joachim. (Schriften aus dem Archiv der Universität der<br />
Künste Berlin, Inventare Bd. 1) Berlin 2004.<br />
10 Vgl. allgemein: Manfred Sack (Hrsg.): Stadt im Kopf. Hardt-Waltherr Hämer. Berlin<br />
2002. Inzwischen ist erschienen: Michael Bollé (Hrsg.) / Karl-Robert Schütze (Bearb.):<br />
Hardt-Waltherr Hämer. Architekt HBK: Behutsame Stadterneuerung (Schriften aus<br />
dem Archiv der Universität der Künste Berlin Bd.12) Berlin 2007.<br />
11 Über Hämer als Theaterarchitekten fand in diesem Frühjahr eine – vom Archiv konzipierte<br />
– Ausstellung an der UdK statt. Das Museum für Konkrete Kunst Ingolstadt hat<br />
diese Ausstellung übernommen. Vgl. die Begleitpublikation Michael Bollé (Hrsg.) /<br />
96 Universitätsreden 73<br />
Künstler-Archiv e – ein Sammlungsziel?<br />
Pläne, Akten und Fotografien über alldies und geht damit über eine streng<br />
hochschulbezogene Dokumentation sehr weit hinaus; sein Umfang ist<br />
beträchtlich.<br />
Sollte ein Universitätsarchiv einen solchen Fonds annehmen, der zwar von<br />
einem der Professoren stammt, dessen sachliche Bedeutung und thematische<br />
Reichweite aber den Umkreis der Hochschule sprengt? Wenn es dies<br />
nicht wollte und könnte, müsste es auf wesentliche Hochschulbetreffe verzichten.<br />
Überdies ist es schlicht attraktiv, besonders für die Architekturhistoriker<br />
des Hauses, ein solches Archiv zu beheimaten – sofern die erforderlichen<br />
räumlichen und personellen Kapazitäten bereitgestellt werden<br />
können. Für die UdK ergibt sich die Möglichkeit, durch dieses Archiv ihre<br />
Beteiligung an einem zentralen Aspekt der Stadtentwicklung West-Berlins<br />
öffentlich herauszustellen: ein von Hämer initiierter Forschungsschw erpunkt<br />
Stadterneuerung an der damaligen Hochschule der Künste (HdK) ging der<br />
IBA-Alt voraus.<br />
So waren hochschulpolitische, Forschungs- und Archivinteressen bei der<br />
Entscheidung für die Übernahme des Hämer-Archivs gleichermaßen wirksam.<br />
Für die Archiventwicklung innerhalb der UdK ist die Übernahme<br />
eines solchen Archivs vorteilhaft, weil es den internen Stellenwert des<br />
Archivs unterstreicht. Was die Bearbeitung angeht, so wird ein Präzedenzfall<br />
geschaffen für die Integration von archivischer Erschließung und<br />
architekturhistorischer Auswertung in der Kooperation des Universitätsarchivs<br />
mit einer Fakultät, hier der Fakultät Gestaltung. 13<br />
Überraschend ist die eingetretene Entwicklung gemessen an der Ausgangslage,<br />
in der das Archiv 1991 gegründet wurde und in der ich meine<br />
Tätigkeit aufnahm. Dass der Bereich der Nachlässe und Sammlungen in<br />
einigen Jahren ein wesentliches Aufgabengebiet sein würde, konnte ich in<br />
den neunziger Jahren nicht annehmen, und zwar aus zwei Gründen: Ich<br />
Karl-Robert Schütze (Bearb.): Hardt-Waltherr Hämer. Architekt HBK. Theaterbau.<br />
(Schriften aus dem Archiv der Universität der Künste Berlin Bd. 11) Berlin 2006. –<br />
Weitere Veranstaltungen und Publikationen sind geplant.<br />
12 Vgl. zum Beispiel Wolfgang Pehnt: Deutsche Architektur seit 1900. Ludwigsburg, München<br />
2005, S. 359, 389 und 399.<br />
Universitätsreden 73 97
Dietmar Schenk<br />
fand einen gänzlich unbearbeiteten, umfangreichen Altbestand aus dem<br />
19. und frühen 20. Jahrhundert vor, dessen archivische Sicherung und Erschließung<br />
vorrangig sein musste. Um die Einwerbung von Vor- und Nachlässen<br />
konnte ich mich deshalb nicht intensiv kümmern. Zum anderen<br />
gibt es in Berlin benachbarte Archive, die einem ‚kleinen‘ Universitätsarchiv<br />
haushoch überlegen zu sein schienen. Hierzu einige Bemerkungen.<br />
Die an der UdK lehrenden renommierten Künstler besitzen, was ihre<br />
institutionellen Zugehörigkeiten und Loyalitäten angeht, in aller Regel<br />
mehr als ein Standbein, und das wirkt sich auf ihre Präferenzen in archivischer<br />
Hinsicht aus. Es gibt die – mit der UdK geschichtlich verwobene 14 –<br />
Akademie der Künste, der eine ganze Reihe von Professoren angehören, mit<br />
ihrem auf Künstler-Nachlässe des 20. Jahrhunderts spezialisierten, großen<br />
Archiv. Die Berlinische Galerie sammelt als Landesmuseum für Moderne Kunst,<br />
Fotografie und Architektur speziell zeitgenössische Berliner Kunst und unterhält<br />
auch ein Archiv. Hinzu kommen die Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer<br />
Kulturbesitz mit ihrer Handschriften- und ihrer Musikabteilung, die<br />
Kunstbibliothek der Staatlichen Museen zu Berlin Preußischer Kulturbesitz und<br />
andere Einrichtungen mehr, denen das UdK-Archiv in der finanziellen<br />
Potenz und in der personellen wie sächlichen Ausstattung unterlegen ist.<br />
Manche Künstler-Nachlässe aus der Hauptstadt bleiben nicht einmal in<br />
Berlin: das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg besitzt ein namhaftes<br />
Archiv für Bildende Kunst mit zahlreichen schriftlichen Nachlässen von<br />
Künstlern, Architekten, Kunsthistorikern und Galeristen; die Paul-Sacher-<br />
Stiftung in Basel sammelt als Internationales Forschungsarchiv und -bibliothek<br />
zur Musik des 20. und 21. Jahrhunderts Musiker-Nachlässe in großem Umfang.<br />
Wie aber gelingt es einem kleinen Universitätsarchiv, in diesem Markt<br />
der Künstler-Archive, in dem es um viel Prestige und oft auch um viel<br />
Geld geht, überhaupt hineinzukommen? Und welche Bedeutung haben<br />
13 Seit 2005 besteht ein auf drei Jahre veranschlagtes Forschungsprojekt, in dem die archivische<br />
Erschließung, Zeitzeugengespräche und eine erste wissenschaftliche<br />
Aufarbeitung in Verbindung mit Ausstellungen Hand in Hand gehen.<br />
14 Vgl. Akademie der Künste / Hochschule der Künste Berlin (Hrsg.): „Die Kunst hat nie<br />
ein Mensch allein besessen“. 300 Jahre Akademie der Künste und Hochschule der<br />
Künste Berlin, 1696-1996. (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, 9. Juni bis 15. Sep-<br />
98 Universitätsreden 73<br />
Künstler-Archiv e – ein Sammlungsziel?<br />
Nachlässe und Sammlungen für die Archiventwicklung? Zu diesen Fragen<br />
möchte ich einige Überlegungen anstellen, die sich aus der Erfahrung<br />
beim Aufbau des UdK-Archivs in den letzten fünfzehn Jahren ergeben.<br />
Wie erwähnt, gehörte es nicht zu den Sammlungszielen, die ich mir realistischerweise<br />
anfangs stecken konnte, wichtige Künstler-Archive zu erlangen.<br />
Wie kam es dennoch dazu? Zur Beantwortung dieser Frage und zum<br />
Nutzen solcher Zugänge möchte ich einige Thesen formulieren, die den<br />
indirekten Weg zu den skizzierten Sammlungserfolgen verständlich<br />
machen.<br />
Erstens: Die nicht unbedeutenden Künstler-Archive, die das UdK-Archiv<br />
gewonnen hat, sind dank eines Netzwerks persönlicher Kontakte zu uns<br />
gekommen. Das Ereignis einer interessanten Übernahme tritt ein, wenn<br />
das Archiv in der Welt der Kunst und der Wissenschaft als eine Art historisches<br />
Kompetenzzentrum wahrgenommen wird. Das lässt sich vor allem<br />
durch die Mitwirkung an Projekten und Veranstaltungen erreichen: durch<br />
Editionen, Ausstellungen, Vorträge, Führungen, also durch alles das, was<br />
über die Erschließung im engeren Sinn und eine formalistische Auffassung<br />
des Archivarsberufs hinausgeht. Die Strategie, die ich einschlug,<br />
war nicht eigentlich eine Sammlungsstrategie, sondern eine Strategie des<br />
Sichtbar-Machens des Archivs im umfassenden Sinn. Die Angebote attraktiver<br />
Vor- und Nachlässe, die wir entgegennehmen konnten, beruhen fast<br />
ausschließlich auf persönlichen Begegnungen und Empfehlungen und setzen<br />
in jedem Fall eine ganz persönlich gefärbte Vertrauensbasis voraus. Das<br />
Moment des persönlichen Vertrauens relativiert meiner Erfahrung nach<br />
selbst den Aspekt des Renommees, den ein Archiv als Institution und<br />
durch die Institution des Archivträgers besitzt.<br />
Zweitens: Was ein Universitätsarchiv wie das der UdK zu bieten hat, ist<br />
gerade das Übergewicht des ‚Nicht-Archivischen‘ innerhalb der Träger-<br />
Institution, der Universität – also die atmosphärische Gegenwärtigkeit einer<br />
Ausbildungsstätte, die Ansehen genießt, die in gewisser Weise Jugendlichkeit<br />
verkörpert und in die sich das Archiv als eine mit ‚Altertümern‘ befasste<br />
Einrichtung als ein gewisser Kontrapunkt einfügt. Das Archiv soll<br />
und kann in diesem Kontext ein Ort unbefangenen Forschens und Arbeitens<br />
sein, unkompliziert in den Benutzungsvorgängen, jederzeit bereit zur<br />
Mitarbeit in der Ausbildungs- und Veranstaltungspraxis der künstlerischen<br />
Universitätsreden 73 99
Dietmar Schenk<br />
Hochschule, der es angehört. Oder wie es die Tochter und Erbin des Komponisten<br />
Justus Hermann Wetzel, dessen Nachlass sich bei uns befindet,<br />
Frau Ruth Ruiz-Pipó, Paris, schrieb: als ein Ort, an dem historische<br />
Dokumente eben nicht durch Archivierung „wie begraben“ sind. 15 Das<br />
Moment des Anti-Musealen, das ein solches Universitätsarchiv zur Geltung<br />
bringen kann, ist für manche Archivgeber gerade reizvoll. Kein Pantheon,<br />
sondern eine Werkstatt!<br />
Drittens: Künstler-Archive sind – auch im Vergleich zu behördlichen<br />
Unterlagen – in besonderem Maße geeignet, der Integration zwischen<br />
Archiv, künstlerischer Praxis und wissenschaftlicher Forschung an einer<br />
Kunst-Universität dienlich zu sein. Sie sind farbenreich genug und besitzen<br />
eine hinreichende Gegenwartsnähe, um auch für historisch wenig<br />
geschulte Personen, wie es die meisten Künstler sind, eindrucksvoll zu<br />
sein. Die Chancen, die für den Erwerb solcher Archive bestehen, sind vom<br />
historischen Gewicht der Hochschule und ihrer Leistungsfähigkeit in der<br />
Gegenwart mit abhängig, nicht nur von der Attraktivität des Archivs.<br />
In diesen drei Thesen ist, wenn man so will, auch eine Sammlungsstrategie<br />
enthalten. Von Strategie spricht man heute gern, ohne dass immer<br />
präzise bestimmt wäre, was damit gemeint ist. Meist versteht man unter<br />
Strategie schlicht ein über einen längeren Zeitraum hinweg durchgehaltenes,<br />
zielgerichtetes und reflektiertes Handeln. Bekanntlich wird der Ausdruck<br />
in der militärischen Sphäre gebraucht. Um den älteren Moltke zu<br />
zitieren: „Die Strategie ist ein System von Aushülfen. Sie ist mehr als Wissenschaft,<br />
ist die Uebertragung des Wissens auf das praktische Leben, die<br />
Fortbildung des ursprünglich leitenden Gedankens entsprechend den sich<br />
ändernden Verhältnissen, ist die Kunst des Handelns unter dem Druck der<br />
tember 1996) Berlin 1996. – Die Hochschule der Künste erhielt 2001 den Namen<br />
Univ ersität der Künste Berlin.<br />
15 So formuliert in einem privaten Brief anlässlich der Archivübergabe. – Vgl. Nancy Rudloff<br />
[Tanneberger] / Klaus Martin Kopitz / Dietmar Schenk (Hrsg.): Justus Hermann<br />
Wetzel. Komponist, Schriftsteller und Lehrer. (Schriften aus dem Archiv der Universität<br />
der Künste Berlin Bd. 7) Berlin 2004. Diese Publikation begleitete eine gleichnamige<br />
Ausstellung im Museum Mitte von Berlin, Palais am Festungsgraben (2004)<br />
und im Stadtmuseum Überlingen (2005/06). – In Verbindung mit der Fakultät Musik<br />
sind jetzt Liedkompositionen Wetzels ediert worden: Klaus Martin Kopitz (Hrsg.):<br />
Justus Hermann Wetzel. Lieder nach Gedichten von Hermann Hesse. Berlin 2006.<br />
100 Universitätsreden 73<br />
Künstler-Archiv e – ein Sammlungsziel?<br />
schwierigsten Bedingungen.“ 16 Geschicktes strategisches Handeln besteht<br />
also gerade darin, ein auf Erfolg hin angelegtes Agieren in einer unübersichtlichen,<br />
aber der Analyse von Faktoren zugänglichen Situation zu gewährleisten.<br />
Hierfür ist das UdK-Archiv, über den Einzelfall hinaus, ein gutes Beispiel,<br />
weil es mit einer Situation zu tun hatte, die in der Tat durch eine hohe<br />
Komplexität und durch Verwicklungen mit unbekanntem Ausgang<br />
gekennzeichnet war. Es war mir nicht möglich, eine auf bestimmte Inhalte<br />
und Personengruppen bezogene Sammlungsstrategie, die – wie rudimentär<br />
auch immer – eine Vorstellung von Dokumentationszielen voraussetzt,<br />
gleichsam auf dem Reißbrett zu konzipieren, ohne dass zugleich an eine<br />
Strategie der Archivarbeit insgesamt gedacht war. Was ich als ‚Gründungsarchivar‘<br />
tat, diente ganz unmittelbar wie auch vorausschauend der<br />
Selbstbehauptung des Archivs. Dieses Vorgehen ist auch aus übergeordneter<br />
Sicht gerechtfertigt, schon weil die Erhaltung möglichst vieler Archive<br />
zu einer differenzierten Geschichtskultur beiträgt, die durch zentralistische<br />
Modelle der Archivierung beeinträchtigt würde. Das strategische Handeln,<br />
von dem ich spreche, impliziert auch, dass die Prioritäten archivarischer<br />
Arbeit durch Notwendigkeiten der Selbstbehauptung, durch das<br />
äußere Zur-Geltung-Bringen des Archivs mit definiert sind. Ich hatte nicht<br />
das Glück, in eine stabile Institution zu geraten, aber auch vermeintliche<br />
Stabilität kann sich als trügerisch erweisen: das Beharrungsvermögen der<br />
Institution kann mit der Zeit aufgebraucht werden, wenn nicht ständig ein<br />
Zufluss an Legitimität erfolgt. Dann wird ein Archiv vielleicht sang- und<br />
klanglos geschlossen, wenn der dort tätige Archivar in Pension geht.<br />
Angesichts der angedeuteten Voraussetzungen überrascht es mich selbst,<br />
welchen Stellenwert der Bereich Nachlässe und Sammlungen binnen kurzem<br />
angenommen hat, und dass es gelungen ist, in ein Werkstatt-Archiv –<br />
wie ich das von mir betreute Archiv bezeichnen möchte – auf diesem<br />
Gebiet eine Schwelle an Prominenz und Bedeutung zu überschreiten, die<br />
für unüberwindbar gehalten werden musste.<br />
Die erzielten Resultate sprechen für eine Strategie der Archivarbeit, die<br />
im Grunde nur einen Leitsatz kannte: das Archiv nicht nur als ein ordnungsgemäß<br />
verwaltetes Depot zu betrachten, sondern als ein ‚Geschichtsforum‘<br />
mit möglichst weiter Ausstrahlung. Die für ein Hochschularchiv<br />
Universitätsreden 73 101
Dietmar Schenk<br />
besonders relevante Personengruppe ist die Professorenschaft, mit der<br />
intensive Gespräche und ein gegenseitiger geistiger Austausch stattfinden<br />
müssen. Für den Archivar ist es in diesem Zusammenhang hilfreich, wenn<br />
er auch als Wissenschaftler ausgewiesen ist.<br />
Die vorgetragenen Thesen möchte ich durch eine Skizze des Archivaufbaus<br />
und seines Kontextes illustrieren. 17 Als ich 1991 nach Berlin an die<br />
damalige Hochschule der Künste (HdK) kam, stellte sich bald heraus, dass<br />
die Archivgründung in doppelter Hinsicht prekär war. Das erst noch aufzubauende<br />
Archiv, aber auch die HdK insgesamt gerieten in den Sog der<br />
Strukturveränderungen, die im Zuge der Vereinigung der beiden Stadthälften<br />
anstanden und die durch die Haushaltsmisere Berlins nach dem<br />
abrupten Abzug von Fördermitteln des Bundes forciert wurden. Ich hatte<br />
gewissermaßen Pech, dass ich nach der sogenannten „Wende“, der Öffnung<br />
der Berliner Mauer und der Auflösung der DDR, eine Stelle antrat, die v or<br />
der „Wende“ geplant und eingerichtet worden war. Gerade etwas neu<br />
Geschaffenes war einem rauen Wind ausgesetzt.<br />
Ich schildere die Konstellation in aller Kürze. Zunächst zur Entwicklung<br />
der Hochschule der Künste unter geschichtspolitischem Aspekt. Sie entstand<br />
in einer Zeit, in der Organisationsreformen en vogue waren, nämlich<br />
1975, aus der Vereinigung der damaligen Hochschule für Bildende Künste<br />
und der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst. Diese Gründung war<br />
umstritten. Zwar konnte mit der HdK-Gründung das abstruse Vorhaben<br />
einer Fusion beider künstlerischer Hochschulen mit der Technischen<br />
Universität verhindert werden. Doch geschah die Vereinigung gegen den<br />
Willen großer Teile der Hochschule für Musik. 18 Der Abschied von dem<br />
herkömmlichen institutionellen Typus der Akademie beziehungsweise der<br />
Musikhochschule war nicht nur von Hoffnungen begleitet, sondern auch<br />
16 Stig Förster (Hrsg.): [Helmuth Graf von] Moltke. Vom Kabinettskrieg zum Volkskrieg.<br />
Eine Werkauswahl. Bonn 1992, S. 632. Es handelt sich um den Schlusspassus des<br />
Aufsatzes „Über Strategie“ aus dem Jahr 1871.<br />
17 Einen ganz anderen Aspekt des Archivaufbaus an der UdK habe ich erst vor kurzem<br />
beleuchtet: Dietmar Schenk: Ein Knotenpunkt der Berliner Musikgeschichte. Das<br />
Archiv der Universität der Künste als Musikarchiv, in: Forum Musikbibliothek 4<br />
(2005), S. 396-404.<br />
18 Ein Vierteljahrhundert später war ich an der Umbenennung des Freundeskreises der<br />
Hochschule für Musik, dessen anachronistischer Name sich demonstrativ auf eine<br />
102 Universitätsreden 73<br />
Künstler-Archiv e – ein Sammlungsziel?<br />
schmerzvoll. Die Umbenennung und Statusverbesserung von HdK zu<br />
UdK – Universität der Künste – entspricht vor diesem Hintergrund einer<br />
politischen Flucht nach vorne.<br />
Pointiert und mit Bezug auf Geschichtsarbeit ausgedrückt: Nach dem<br />
institutionellen Kontinuitätsbruch bot sich die Möglichkeit einer ins<br />
Neue immer weiter vorstoßenden Politik. Was die Vergangenheit betraf, so<br />
bestand jenes Vakuum, das für die kriegs- und nachkriegszerstörte Stadt<br />
Berlin überhaupt kennzeichnend und schon im Stadtbild abzulesen ist:<br />
vieles von dem, was der Krieg verschonte, wurde in der Nachkriegszeit aus<br />
Achtlosigkeit und Geschichtsvergessenheit zerstört. Auch die paradoxe<br />
Modernitätsnostalgie der achtziger Jahre – die Reminiszenz der ‚goldenen‘<br />
zwanziger Jahre – kann mit einer soliden historischen Identität nicht verwechselt<br />
werden. Doch gibt es in der Geschichte der UdK sehr beachtenswerte<br />
Kapitel, gerade in der Kaiserzeit und in der Zeit der Weimarer<br />
Republik.<br />
Mit der Öffnung der Mauer entstand eine völlig neue Situation. In Ost-<br />
Berlin gab es nämlich gleich drei künstlerische Spartenhochschulen, die<br />
nun vom maroden Gesamt-Berlin zu tragen waren: der Größe nach geordnet,<br />
die Hochschule für Musik „Hanns Eisler“, die Kunsthochschule Berlin in<br />
Weißensee und die Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“. Mit Blick<br />
auf die Geschichte muss festgehalten werden, dass sich die Berliner Kulturpolitik<br />
in der Konkurrenz der ehemals westlichen und der ehemals östlichen<br />
Institutionen – in Anbetracht jener Doppelung, die als Erbe der Teilung<br />
zu bewältigen ist – überwiegend für die Standorte in der alten Mitte,<br />
also im ehemaligen Ost-Berlin entschied; im Falle der künstlerischen<br />
Hochschulen sprach die Anciennität aber für die HdK. Um die Entwicklung<br />
zusammenzufassen: Schließungen ganzer Hochschulen gab es nicht.<br />
Die HdK büßte aber im Zuge mehrerer Sparauflagen in den neunziger<br />
Jahren ungefähr ein Drittel ihres Haushalts und ihrer Personalstellen ein.<br />
Unter diesen Zwängen verordnete sie sich radikale Strukturreformen,<br />
durch die eine deutliche Konsolidierung erreicht wurde.<br />
Von Anfang an habe ich das – erst noch aufzubauende – Archiv, für das<br />
ich die fachliche Verantwortung übernahm, im Lichte der geschichtspolitischen<br />
Situation der HdK betrachtet. Das Verhältnis zur Geschichte war<br />
Universitätsreden 73 103
Dietmar Schenk<br />
an HdK bzw. UdK durch zwei Faktoren geprägt: den Verlust des Rückhalts<br />
an einer Tradition durch die geschichtlichen Katastrophen des 20. Jahrhunderts,<br />
den die West-Berliner Konstituierung der neuartigen HdK noch<br />
vertiefte, und das Potential einer Betonung historischer Bezüge angesichts<br />
einer verhältnismäßig langen, bemerkenswerten Geschichte mit manchen<br />
Höhepunkten. Es ist völlig klar: das Schicksal einer Hochschule entscheidet<br />
sich nicht an der Bedeutung ihrer Vergangenheit. Diese aber in die<br />
Gegenwart einzubringen, ist eine Aufgabe, die im günstigen Fall zu mehr<br />
führt als lediglich zu Sonntagsreden. 19<br />
Um nun – zweitens – auf die Situation des HdK-Archivs zu kommen. Seit<br />
den achtziger Jahren gab es an der HdK ein Forschungsprojekt über die<br />
Vorgängerinstitutionen in der Zeit des Nationalsozialismus, das dann<br />
durch eine Studie zur Nachkriegszeit fortgesetzt wurde. 20 Aus dieser historischen<br />
Arbeit entstand der Gedanke eines HdK-Archivs; problematisch<br />
nicht mehr bestehende Einrichtung bezog, mit einem Gutachten beteiligt. Daran mag<br />
man ermessen, wie tief die Vorbehalte verankert waren. Heute heißt der sehr rege gewordene<br />
Freundeskreis Paul-Hindemith-Gesellschaft in Berlin.<br />
19 In meinem Buch über die Hochschule für Musik habe ich eines der glanzvollsten<br />
Kapitel der verzweigten Hochschulgeschichte behandelt. Vgl. Dietmar Schenk: Die<br />
Hochschule für Musik zu Berlin. Preußens Konservatorium zwischen romantischem<br />
Klassizismus und Neuer Musik. (Pallas Athene. Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte<br />
Bd. 8) Stuttgart 2004. Und es zeigt sich gerade in diesen Tagen, dass<br />
es an der Zeit war, dieses geschichtliche Kapitel in den Blick zu rücken: Einer der<br />
Konzertsäle der UdK wird am 24. Mai 2006 als Carl-Flesch-Saal benannt. Es ist zu vermuten,<br />
dass weitere Schritte einer symbolischen ‚Geschichtsnutzung‘ folgen werden.<br />
Ein instruktives Beispiel für Geschichtspolitik unter Mitwirkung des UdK-Archivs ist<br />
das folgende: Das erfolgreiche Julius-Stern-Institut für musikalische Nachw uchsförderung der<br />
UdK besitzt, unterstützt durch einen Freundeskreis, eine große Präsenz in der Öffentlichkeit.<br />
Die geschichtliche Herkunft des Instituts aus dem – schon 1850 gegründeten,<br />
international ausstrahlenden – Stern’schen Konserv atorium der Musik, einem Privatkonservatorium<br />
in jüdischem Besitz, ist so interessant und erinnernswert, dass sich immer<br />
wieder Gelegenheiten für historisch-musikalische Interdependenzen ergeben, zuletzt<br />
mit einer Festschrift: Ottokar Hahn (Hrsg.): Das Julius-Stern-Institut. Gegenwart und<br />
Geschichte. (Schriften aus dem Archiv der Universität der Künste Berlin Bd. 10) Berlin<br />
2005. – Vgl. auch Dietmar Schenk: Das Stern’sche Konservatorium der Musik in Berlin<br />
1850-1915, in: Michael Fend / Michel Noiray (Hrsg.): Musical Education in Europe<br />
(1770-1914). Compositional, Institutional, and Political Challenges. Bd. 1. Berlin 2005,<br />
S. 275-297.<br />
104 Universitätsreden 73<br />
Künstler-Archiv e – ein Sammlungsziel?<br />
war natürlich, dass eine durch die Hochschule privilegierte Einzelnutzung<br />
wichtiger Bestände der archivischen Sicherung vorausging. Die elementare<br />
Voraussetzung für ein Archiv: das Vorhandensein von Archivalien, war<br />
aber in hohem Maße gegeben. Seit die „Unterrichtsanstalten“ der 1696 gestifteten<br />
Berliner Akademie der Künste einen halbselbständigen Status erhielten,<br />
das heißt seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, gab es eine<br />
von der Gesamtakademie (oder ‚Rest-Akademie‘) separate Aktenüberlieferung,<br />
die sich ohne allzu große Kriegsverluste an der UdK bewahrt hat.<br />
Die Unterlagen der verschiedenen Vorgängerinstitutionen waren über die<br />
Häuser verteilt. Die Archivgründung hatte dann das Handicap, dass sie<br />
mit nur geringer Verankerung in der Hochschule und in einem ungeklärten<br />
Verhältnis zu dem genannten Forschungsprojekt aus der Initiative der<br />
Hochschulbibliothek erfolgte.<br />
Für die Strategie des Sichtbar-Machens des Archivs hat glücklicherweise<br />
die geringe Zeit, die zur Verfügung stand, ausgereicht. Das Archiv wurde<br />
mit der fachlich benachbarten Sammlung für Graphik und Fotografie zusammengelegt;<br />
sie besteht in ihrem Kern aus Bildvorlagen (Reproduktionsgraphik<br />
und Fotografien) der Vorgängereinrichtungen und weist als Relikt<br />
einer älteren Praxis von Kunstlehre archivische Strukturen auf. 21 Diese<br />
Vereinigung veränderte das Profil des Universitätsarchivs und nähert es<br />
jenem an den Kunsthochschulen geläufigen Typus an, der Archiv und<br />
Kustodie zusammenfasst. 22 Worüber ich eingangs summarisch berichtete,<br />
die Hinzufügung eines dritten Schwerpunkts Vor- und Nachlässe, Samm-<br />
20 Vgl. Christine Fischer-Defoy: Kunst, Macht, Politik. Die Nazifizierung der Kunst- und<br />
Musikhochschulen in Berlin. Berlin 1988, und dies.: „Kunst, im Aufbau ein Stein“. Die<br />
Westberliner Kunst- und Musikhochschulen im Spannungsfeld der Nachkriegszeit.<br />
Berlin 2001.<br />
21 Vgl. zu diesen Beständen: Dietmar Schenk: Vorlagensammlungen für den Unterricht<br />
gewerblicher und akademischer Künstler. Zu den Beständen an Fotografien und Druckgraphik<br />
im Archiv der Berliner Universität der Künste, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte<br />
6 (2003), S. 234-250, und ders.: „Hilfsmittel … in ausgiebigster Weise“. Fotografien<br />
in den Sammlungen der Berliner Kunstakademie und Kunstgewerbeschule, in:<br />
Ulrich Pohlmann / Johann Georg Prinz von Hohenzollern (Hrsg.): Eine neue Kunst?<br />
Eine andere Natur! Fotografie und Malerei im 19. Jahrhundert. (Publikation zur gleichnamigen<br />
Ausstellung in der Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung München, 1. Mai bis<br />
Universitätsreden 73 105
Dietmar Schenk<br />
lungen hat das UdK-Archiv arrondiert und in den Augen der Universität<br />
noch einmal gestärkt.<br />
Um zum Schluss zu kommen: Meine Ausführungen sind in eine kursorische<br />
Archivgeschichte eingemündet, in einen Abriss der bewegten Jahre<br />
des Archivaufbaus an der UdK. Doch zeigt sich heute: Was eine Verteidigungsstrategie<br />
des Archivs an sich war, entwickelte eine erfreuliche Eigendynamik;<br />
sie erwies sich plötzlich und entgegen meinen Erwartungen als<br />
eine veritable Sammlungsstrategie 23 .<br />
23 An diese kursorische Geschichte eines Archivaufbaus ließen sich weitere Reflexionen,<br />
auch sehr allgemeiner Art, anknüpfen. Ich habe sie in eine Studie aufgenommen, die<br />
zur Jahreswende im Franz Steiner-Verlag, Stuttgart, unter dem Titel „Kleine Theorie des<br />
Archivs“ erscheinen wird; dort ist ein „Bericht aus der Werkstatt“ enthalten (S. 89-99),<br />
106 Universitätsreden 73<br />
Wo Kunst entsteht.<br />
Die Sammlung der Burg Giebichenstein<br />
Hochschule für Kunst und Design Halle<br />
Angela Dolgner<br />
Die Geschichte der Burg Giebichenstein – Hochschule für Kunst und<br />
Design Halle – und ihrer Vorgängereinrichtungen reicht zurück bis in das<br />
Jahr 1879, als die Provinzial-Gewerbeschule (seit 1852) mit der gewerblichen<br />
Zeichenschule (seit 1870) zur gewerblichen Zeichen- und Handwerkerschule<br />
zusammengeschlossen wurde. Im Grunde wird jedoch erst<br />
der Amtsantritt des Münchner Architekten Paul Thiersch (1879–1928) als<br />
Ausgangspunkt für die heutige Hochschule angesehen. Er übernahm 1915<br />
die hallesche Handwerkerschule und profilierte sie in den folgenden Jahren<br />
nach modernsten pädagogischen Gesichtspunkten zu einer seit 1918 staatlich<br />
anerkannten Handwerker- und Kunstgewerbeschule um. Von den Reformbestrebungen<br />
des Deutschen Werkbundes angeregt, ließ sich Thiersch<br />
bei der Umstrukturierung der Schule von ähnlichen Gedanken leiten, wie<br />
sie vier Jahre später Walter Gropius in seinem Bauhausprogramm formulierte.<br />
1 Die Unterburg Giebichenstein bot seit 1921/22 die notwendigen<br />
räumlichen Voraussetzungen und wurde zugleich zum Synonym für die<br />
Schule, die seither in der Umgangssprache kurz die „Burg“ genannt wird.<br />
Die Burg galt in den 1920er Jahren als eine der bedeutendsten und fortschrittlichsten<br />
deutschen Kunstschulen neben dem Bauhaus und gehörte<br />
auf Ausstellungen und Messen zu den wichtigsten Ausstellern. Sie zählt zu<br />
den wenigen künstlerischen Bildungseinrichtungen, die am angestammten<br />
Ort die wechselvolle deutsche Geschichte überdauerten. Ihr Status wandel-<br />
1 Wilhelm Nauhaus: Die Burg Giebichenstein. Geschichte einer deutschen Kunstschule<br />
1915-1933. Leipzig 1981; Katja Schneider: Burg Giebichenstein. Die Kunstgewerbeschule<br />
unter Leitung von Paul Thiersch und Gerhard Marcks 1915 bis 1933. Weinheim<br />
1992.<br />
Universitätsreden 73 107
Angela Dolgner Wo Kunst entsteht<br />
Erwin Hahs, Bleischnitt, 1923, Erwerbung 1988 (Druck) und 2004 (Druckplatte). Dargestellt<br />
ist die Unterburg Giebichenstein, die die hallesche Kunstschule 1921/22 beziehen konnte.<br />
Foto: Angela Dolgner<br />
te sich im Laufe der Jahre allerdings mehrfach: Handwerker- und Kunstgewerbeschule,<br />
Meisterschule des Deutschen Handwerks, Fachschule, Institut,<br />
Hochschule. Die hallesche Schule avancierte nach dem Zweiten Weltkrieg<br />
zur wichtigsten Designerschmiede der DDR und hat sich auch heute<br />
wieder einen festen Platz in der deutschen Kunsthochschullandschaft<br />
erobert. Sie stellt aber mit ihrem Ausbildungsprofil, mit der Verknüpfung<br />
von Kunst und Design, von freien und angewandten Disziplinen sowie in<br />
der Versammlung einer Vielzahl von künstlerischen Bereichen durchaus<br />
etwas Besonderes in Deutschland dar.<br />
Die Vielfalt der Ausbildungsrichtungen, wie sie von Paul Thiersch in<br />
den frühen Jahren bereits angelegt wurde, hat sich – von vorübergehenden<br />
Einschränkungen während der Zeit des Nationalsozialismus abgesehen –<br />
bis in die heutige Zeit erhalten. Unter den verschiedenen politischen Ver-<br />
hältnissen entfaltete die Burg ein jeweils zeittypisches Gesicht. 2 Charakteristisch<br />
ist vor allem das Miteinander, das Hinüber und Herüber zwischen<br />
freien und angewandten Gattungen – ein Standpunkt, den die Schule noch<br />
heute weiterhin behauptet. Die heutige Hochschule für Kunst und Design<br />
bietet ihren Studenten Ausbildungsmöglichkeiten an zwei Fachbereichen<br />
mit insgesamt 21 Studienrichtungen. Der Fachbereich Kunst umfasst die<br />
Fachrichtungen Malerei, Grafik, Textil, Glas, Buch, Bildhauerei, Keramik,<br />
Metall, Schmuck, Medienkunst sowie die Studiengänge Kunstpädagogik<br />
und Kunsterziehung (Lehramt), letzterer in Kooperation mit der Martin-<br />
Luther-Universität Halle-Wittenberg. Im Fachbereich Design gibt es die<br />
Ausbildungsrichtungen Industriedesign, Keramik-/Glasdesign, Kommunikationsdesign,<br />
Mode, Textildesign, Spiel- und Lernmitteldesign, Innenarchitektur,<br />
Multimedia/Virtual Reality-Design sowie Multimedia/Virtual<br />
Reality-Conception. Im Archiv der Hochschule und insbesondere in der<br />
angegliederten Kunst- und Designsammlung spiegelt sich diese Vielfalt<br />
wider.<br />
„Die Gegenwart ist in diesem Augenblicke das Wichtigste ...“, schrieb<br />
einst Heinrich Heine. 3 Ähnlich empfand es wohl auch der Schulgründer<br />
Paul Thiersch, denn ein Archiv oder gar eine Sammlung gab es zunächst<br />
nicht. Doch in den folgenden Jahrzehnten wurde die Einrichtung einer<br />
solchen Dokumentationsstelle mehrfach erwogen. Von ersten Anfängen<br />
zeugt die von Hans Finsler – er hatte ab 1926 eine Klasse für Fotografie aufgebaut<br />
– und seinen Schülern Ende der zwanziger Jahre begonnene Fotodokumentation<br />
der einzelnen Erzeugnisse der Werkstätten. Heute wird<br />
längst nicht mehr nur der geschichtliche Wert dieser Fotografien geschätzt,<br />
sondern es wird ihnen inzwischen vielfach zugleich der Rang eines<br />
Kunstwerkes beigemessen. 1944, mitten im Krieg, kam sogar der Gedanke<br />
auf, die Dachböden in der Unterburg für Sammlungszwecke auszubauen.<br />
Doch erst 1958 wurde Professor Wilhelm Nauhaus, der von 1945 bis zu<br />
ihrer Schließung 1958 die Klasse für Buchgestaltung geleitet hatte, mit<br />
dem Aufbau eines Archivs betraut. Mitte der sechziger Jahre war das<br />
2 Zur Geschichte der Schule siehe: Burg Giebichenstein – Die hallesche Kunstschule von<br />
den Anfängen bis zur Gegenwart. Halle und Karlsruhe 1993.<br />
3 Zit. nach Hermann Kant: Das Impressum, 6. Aufl. Berlin 1975, S. 5.<br />
108 Universitätsreden 73 Universitätsreden 73 109
Angela Dolgner Wo Kunst entsteht<br />
Interesse der inzwischen erneuerten Hochschulleitung an der eigenen Geschichte<br />
offenbar erloschen. Das Archiv ging wieder ein. Den von Nauhaus<br />
nach seiner Pensionierung privat gehüteten und ständig ergänzten<br />
Teil des Materials übergab er schließlich dem Stadtarchiv.<br />
1974 begann die damalige Sektion Bildende und angewandte Kunst, ein<br />
Archiv einzurichten (Archiv der Forschungsgruppe Kunsthandwerk). Gesammelt<br />
wurden neben Fotos und Dias der aktuellen Studienarbeiten<br />
Zeitungsartikel, Kataloge, Künstlerbiographien und anderes mehr. 4 Das<br />
heutige Burgarchiv existiert erst seit 1984. 5 Nach zögerlichen Anfängen<br />
wurden seit 1988 neben zahlreichen Akten, Dokumenten, Druckerzeugnissen<br />
und Fotos nun endlich auch Sachzeugen zusammengetragen. In den<br />
einzelnen Fachbereichen lagerten noch immer unzählige Dokumente und<br />
künstlerische Arbeiten aus vergangenen Jahrzehnten, und die Böden der<br />
Unterburg Giebichenstein gaben so manche Schätze frei. Der Kontakt zu<br />
ehemaligen Lehrern und Schülern erbrachte wie schon zu Nauhaus’ Zeiten<br />
weitere wertvolle Fakten und Dokumente sowie Kunst- und Design-<br />
Objekte. Inzwischen hat sich der Bestand vervielfacht.<br />
Während der Vorbereitung der Ausstellung zum 75jährigen Schuljubiläum<br />
1990 wurde deutlich, wie viele Exponate noch in den eigenen Werkstätten<br />
vorhanden waren. 1992 kam es schließlich zur Gründung einer<br />
eigenständigen hochschuleigenen Kunst- und Designsammlung (Kustodie),<br />
die heute dem Archiv angegliedert ist. Zwar lagert eine Vielzahl von<br />
Exponaten inzwischen in einem zentralen Depot, aber auch in den einzelnen<br />
Werkstätten werden Werke vergangener und gegenwärtiger Zeit aufbewahrt,<br />
die der Anschauung und Unterweisung dienen und die künstlerisch-schöpferische<br />
Atmosphäre prägen. In der DDR blieben die Diplomund<br />
Studienarbeiten Eigentum der Schule, und so wuchs der Bestand jähr-<br />
4 In loser Folge gab die Schule eine Reihe von sogenannten Fachbereichskatalogen mit<br />
historischer Einleitung heraus. Metall-Email (1983), Handeinband (1987), Schmuck<br />
(1989), Plastik (1990). Auch für die jüngeren Designbereiche edierte die Schule Kataloge.<br />
5 Zu den Beständen des Hochschularchivs siehe: http://www.burg-halle.de/kustodiearchiv.html.<br />
Zu Geschichte und Beständen des Hochschularchivs siehe außerdem:<br />
Burg Giebichenstein – Hochschule für Kunst und Design Halle. Geschichte und<br />
Geschichtsdokumentation einer Kunstschule, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 6<br />
(2003), S. 251-261.<br />
lich beträchtlich an. Der Umgang mit diesem Potential und dessen Wertschätzung<br />
war in den einzelnen Werkstätten jedoch sehr unterschiedlich,<br />
so dass es verschiedentlich größere Überlieferungslücken gibt. Manche<br />
Arbeit wurde verschenkt, an Mitarbeiter zu besonderen Anlässen oder an<br />
Funktionäre. Andere Werke wurden verkauft. Was aber vor allem fehlte,<br />
waren die Arbeiten vor 1958. Mit kriminalistischem Spürsinn konnten<br />
diverse Werke aufgefunden werden. Manche Lücke in der Sammlung<br />
wurde inzwischen durch großzügige Geschenke ehemaliger Absolventen<br />
oder mit Hilfe von privaten Spendern geschlossen. Dauerleihgaben ergänzen<br />
den heutigen Bestand (Land Sachsen-Anhalt, Stadt- und Saalkreissparkasse<br />
Halle, Privatpersonen). Der in den 90er Jahren eingerichtete Ankaufsfonds,<br />
der denkbar knapp bemessen war, bot die Möglichkeit, wichtige<br />
Arbeiten für die Schule zu erwerben. Einen solchen Fonds gibt es<br />
inzwischen nicht mehr, und die Sammlung ist ausschließlich auf Spenden<br />
und Sponsoren angewiesen. Doch wo Kunst entsteht, kommen auch ständig<br />
neue Arbeiten hinzu, wenngleich diese Art der Bestandserweiterung<br />
heute schwieriger ist als vor 1989, da sich die rechtlichen und finanziellen<br />
Grundlagen verändert haben.<br />
Die Kunst- und Designsammlung setzt sich aus Arbeiten aller Werkstätten<br />
bzw. Fachgebiete und aller Zeitabschnitte künstlerischen Schaffens<br />
an der Burg zusammen. Zum Kunstgut der Hochschule zählen Kunst- und<br />
Designobjekte, Sachgegenstände, Originale, Modelle, Pläne, Zeichnungen<br />
und Entwürfe, die im wesentlichen während des Aufenthaltes von Lehrkräften,<br />
Studenten und Schülern an der Schule entstanden sind. Dazu<br />
gehören auch Kunst- und Designobjekte aus ehemals angegliederten<br />
Betrieben und Werkstätten der Hochschule.<br />
Die werbegrafische Sammlung umfasst heute 1500 verschiedene Plakate<br />
und andere gebrauchsgrafische Arbeiten. Mitte der zwanziger Jahre hatten<br />
Erwin Hahs und Hans Finsler eine Werbeklasse gegründet. In der Zeit des<br />
Nationalsozialismus wurden Werbeentwürfe und Akzidenzen in der<br />
Druckwerkstatt unter der Leitung von Herbert Post entworfen. 1946 eröffnete<br />
der ehemalige Bauhäusler Walter Funkat eine Klasse für Gebrauchsgrafik,<br />
später übernahmen seine Schüler Gerhard Voigt und Helmut Brade,<br />
letzterer bis 2003, die Leitung. Die Sammlung beinhaltet Künstlerplakate<br />
und solche, die eher nur dokumentarischen Charakter haben. Es handelt<br />
110 Universitätsreden 73 Universitätsreden 73 111
Angela Dolgner Wo Kunst entsteht<br />
sich um Plakate von Burglehrern und Burgstudenten, aber auch um<br />
Plakate, die inhaltlich auf die Hochschule Bezug nehmen und von anderen<br />
Künstlern entworfen wurden. Die meisten Plakate werben für Ausstellungen<br />
und mancherlei andere Veranstaltungen oder Theateraufführungen.<br />
Zu den größten Konvoluten zählen Gerhard Voigts Plakate für die<br />
Händelfestspiele in Halle, Dietrich Kaufmanns Schöpfungen für die<br />
Komische Oper in Berlin, Karl Heinz Dreschers Arbeiten für das Berliner<br />
Ensemble und Helmut Brades Ausstellungs- und Theaterplakate für die<br />
unterschiedlichsten Häuser im In- und Ausland.<br />
Die Kustodie der Burg beherbergt rund 600 Grafiken und Gemälde,<br />
ebenso über 100 Holzstöcke und Druckplatten verschiedener Art. Dabei<br />
sind nahezu alle malerischen und grafischen Techniken vertreten. Zu den<br />
frühesten grafischen Blättern gehören Modezeichnungen der Wiener Werkstätten,<br />
die durch die aus Wien stammende Leiterin der Fachklasse für<br />
Kunstgewerbliche Frauenarbeiten Maria Likarz an die Burg kamen. Die<br />
stilistische Vielfalt der zwanziger Jahre zeigt sich in den Bildern von Erwin<br />
Hahs, Charles Crodel und deren Schülern. In der Zeit des Nationalsozialismus<br />
waren die freien Klassen geschlossen worden. Doch nach 1945 gelangten<br />
Malerei und Grafik zu neuer Blüte, wovon die Sammlung der<br />
Burg ein eindrucksvolles Zeugnis abzulegen vermag. Hierfür stehen<br />
Namen wie Hahs und Crodel, aber auch die ihrer Schüler Ulrich Knispel,<br />
Kurt Bunge, Hannes H. Wagner und Otto Möhwald, die die Ausbildung<br />
mitbestimmten. Zu den Lehrenden gehörten ebenso Willi Sitte, Dieter Rex<br />
und Frank Ruddigkeit.<br />
Von ähnlichem Umfang, es sind rund 600 Exponate, ist der Bestand an<br />
Arbeiten aus den Bereichen Schrift, Buchdruck und Bucheinband. Vertreten<br />
sind mit ihren Werken Johanna Schütz-Wolff, Otto Pfaff, Friedel<br />
Thomas, Dorothea Freise, Herbert Post, Wilhelm Nauhaus und Ingrid<br />
Schultheiß, um nur die wichtigsten Lehrer zu nennen. Es handelt sich um<br />
handgeschriebene Blätter und Bücher, Schriftentwürfe, Akzidenzen, Einblattdrucke,<br />
gedruckte Bücher und Broschüren, Einbände und Papierobjekte.<br />
Zu den jüngsten Erwerbungen zählt der künstlerische Nachlass<br />
des Schriftgestalters Günter Gnauck mit weiteren 700 Exponaten.<br />
Die Textilsammlung verfügt über etwa 500 Wandteppiche, Stoffe, Proben,<br />
Musterbücher und Entwürfe. Erste Arbeiten entstanden in der Fach-<br />
klasse für Kunstgewerbliche Frauenarbeiten unter Maria Likarz, aus der<br />
später die Weberei hervorging, der zunächst Johanna Schütz-Wolf vorstand.<br />
Es folgten Benita Koch-Otte, Edith Eberhard und Hedwig Fischer<br />
in der Leitung. Mit Irmgard Glauche und Willi Sitte gewann die Hochweberei<br />
an Bedeutung. Im Mittelpunkt stand die Gobelinweberei. Die<br />
Bildteppichgestaltung wurde bis 2004 unter Inge Götze fortgeführt. Die<br />
Belegstücke aus dem 1968 abgekoppelten designorientierten Fachgebiet<br />
Flächengestaltung, derzeit noch in einem eigenen kleinen Archiv verwaltet,<br />
werden in Kürze in den zentralen Fundus übernommen werden.<br />
Das Spektrum im Metall, über Jahrzehnte von Karl Müller und bis 2002<br />
durch Irmtraud Ohme bestimmt, reicht vom Gefäß über die figürliche<br />
Plastik bis zu freiplastischen Arbeiten. Eine ähnliche Vielfalt weisen die<br />
Emailarbeiten auf: Bildplatten, Gefäße und Gerät, plastische Figuren, Einrichtungsgegenstände,<br />
Industrieemailarbeiten. Als erste hatte Klara Kuthe<br />
der Werkstatt vorgestanden, Lili Schultz bestimmte die Ausbildung zwischen<br />
1925 und 1958. 1965 übernahm Irmtraud Ohme die Werkstattleitung.<br />
Über viele Jahrzehnte entstanden in der Email- wie in der Metallwerkstatt<br />
Schmuckstücke. Seit 1968 gibt es Schmuck als eigenständige Ausbildungsrichtung.<br />
Schmuck ist inzwischen zur Kleinkunst geworden. Die<br />
Kette ist nicht unbedingt nur noch Kette, sondern zugleich Objektkunst.<br />
Ebenso gehören heute kleinplastische Arbeiten und Installationen zum<br />
Repertoire der Ausbildung. Die Sammlung beinhaltet über 300 Metall-,<br />
Email- und Schmuckarbeiten.<br />
Zwar beherbergt die Kustodie nur etwa 100 Gefäße, Vasen, Services aus<br />
keramischem Material oder Porzellan, doch handelt es sich hierbei nahezu<br />
ausnahmslos um Stücke, die vor 1970 entstanden sind. Ihre Autoren<br />
sind Gustav Weidanz, Marguerite Friedlaender-Wildenhain, Hubert<br />
Griemert, Erika Gravenstein, Hans Merz, Hubert Petras, Ilse Decho und<br />
deren Schüler. Jüngere Arbeiten werden als Lehrsammlung vom Fachgebiet<br />
Keramik-/Glasdesign eigenständig betreut.<br />
Eher unterrepräsentiert ist in der Hochschulsammlung die Bildhauerkunst.<br />
Dennoch reicht die Spanne von der Medaille bis zur Großplastik<br />
im Freiraum. Der künstlerische Nachlass von Gustav Weidanz wird laut<br />
testamentarischer Verfügung in der Stiftung Moritzburg – Kunstmuseum<br />
112 Universitätsreden 73 Universitätsreden 73 113
Angela Dolgner Wo Kunst entsteht<br />
des Landes Sachsen-Anhalt – verwahrt. Die Plastiken von Gerhard Marcks<br />
wurden 1953 in den Westen abtransportiert und zählen heute zum Bestand<br />
des Gerhard-Marcks-Hauses in Bremen. So sind es vor allem Schülerarbeiten,<br />
die den Sammlungsinhalt der Burg heute bestimmen.<br />
Aus der schon 1915 gegründeten Fachklasse für Architektur und Raumausstattung<br />
haben sich nur einige Möbel und Holzarbeiten im Bestand der<br />
Hochschule erhalten, unter anderem Ausstattungsteile für die zwei<br />
Wohnungen im Haus von Peter Behrens in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung,<br />
der Werkbundausstellung von 1927. Bis 1933 bestimmten neben<br />
dem Schulgründer Paul Thiersch vor allem Johannes Niemeyer, Hans<br />
Wittwer, Friedrich Brunner und Erich Dieckmann die Ausbildung. Nach<br />
1946 begann Hanns Hopp gemeinsam mit Friedrich Engemann die<br />
Architektenausbildung neu zu beleben. In den 1960er Jahren verlagerte<br />
sich das Schwergewicht mehr und mehr auf die Möbel- und Ausbaugestaltung.<br />
Erhalten haben sich Entwürfe, Modelle und Möbel.<br />
Nachdem bereits 1957 an der Burg ein Institut für Entwurf und Entwicklung<br />
gegründet und 1959 ein Studiengang für technische Formgestaltung<br />
eingerichtet worden war, entwickelte sich die Schule zum wichtigsten<br />
Ausbildungszentrum für Designer der DDR. Die Sammlung umfasst zahlreiche<br />
Objekte, Modelle, Entwurfszeichnungen zu Objekten des täglichen<br />
Bedarfs bis hin zu Fahrzeugen, Arbeitsmitteln, Maschinen und Werkseinrichtungen,<br />
ja bis zu Umweltgestaltungsprojekten.<br />
Der Fundus wird bis heute größtenteils noch vom Fachgebiet selbst verwaltet<br />
und als Lehrsammlung genutzt.<br />
Da die Sammlung im Grunde nicht kontinuierlich gewachsen ist, sondern<br />
erst in den letzten Jahren durch intensive Arbeit und in Abhängigkeit<br />
vom Glück des Entdeckers und von den zur Verfügung stehenden finanziellen<br />
Möglichkeiten zusammengetragen wurde, haben sich die einzelnen<br />
Sammlungsgebiete unterschiedlich entwickelt. Während Malerei und Grafik<br />
verhältnismäßig gut dokumentiert sind, klaffen in anderen Bereichen<br />
noch erhebliche Lücken, so beispielsweise in der Plastik und im Design.<br />
Ziel ist es, die Kunst- und Designsammlung in den kommenden Jahren so<br />
zu vervollständigen, dass sie einen der Schulentwicklung adäquaten, repräsentativen<br />
Querschnitt des künstlerischen und gestalterischen Schaffens<br />
bietet. Um Aktualität zu wahren, wurden die Professoren gebeten, neue<br />
Blick in die Ausstellung „Ans Licht gebracht – Aus den Beständen des Hochschularchivs.<br />
Erwerbungen eines Jahrzehnts“, Halle 2001. Foto: Angela Dolgner<br />
Studienarbeiten und eigene Werke der Sammlung zu übergeben. Die zu<br />
übernehmenden Objekte sollen möglichst nicht nur künstlerischen<br />
Ansprüchen genügen, wichtige Lehrer- und Studentenpersönlichkeiten vertreten,<br />
sondern auch Lehrinhalte und -methoden transportieren sowie<br />
typische Merkmale der einzelnen Zeitabschnitte und Stilrichtungen aufweisen.<br />
Dabei unterliegen die Bewertungskriterien weit stärker als bei<br />
Archivalien durchaus auch subjektiven Faktoren.<br />
Eine wertvolle Hilfestellung für die Ergänzung der Kunst- und Designsammlung<br />
leistet die Fotosammlung. Mit ihren 35.000 Positiven, 23.000<br />
Ektachromen und Negativen und 16.000 Kleinbilddias, liefert sie ein anschauliches<br />
Bild bisher an der Burg entstandener künstlerischer Werke.<br />
Zudem wird der Kontakt zu ehemaligen Lehrern und Studenten systematisch<br />
ausgebaut, um weitere Sekundärquellen zu erschließen und Objekte,<br />
die ihren Ursprung an der Burg haben, zu dokumentieren.<br />
114 Universitätsreden 73 Universitätsreden 73 115
Angela Dolgner<br />
Der Sammlungsbestand bot in den vergangenen Jahren eine wichtige<br />
Grundlage für eine Reihe von Ausstellungsvorhaben der Burg, vielfach<br />
auch in Zusammenarbeit mit anderen wissenschaftlichen, musealen und<br />
künstlerischen Institutionen. 6 Durch diese Projekte gelang es gleichzeitig,<br />
weitere Werke für die Sammlung zu erhalten. Viele der im Katalog zur<br />
Ausstellung „Burg-Giebichenstein – Die hallesche Kunstschule von den<br />
Anfängen bis zur Gegenwart“ 1993 in Halle und Karlsruhe noch als Privatbesitz<br />
aufgeführten Arbeiten sind heute Eigentum der Hochschulsammlung.<br />
Weitere Vorhaben sind in Vorbereitung, unter anderem auch ein<br />
Sammlungskatalog, der die bedeutendsten Stücke aus dem Bestand vorstellen<br />
und zugleich einen komprimierten historischen Überblick zur<br />
Schulgeschichte leisten soll.<br />
Archiv und Sammlung stehen allen Professoren, Mitarbeitern und Studenten<br />
der Hochschule, aber ebenso allen anderen Benutzern mit einem<br />
wissenschaftlichen oder künstlerischen Anliegen offen. Immer häufiger<br />
bitten renommierte Museen um Leihgaben für die verschiedensten Ausstellungen<br />
(Stiftung Moritzburg Halle, Grassimuseum Leipzig, Apeldoorns<br />
Museum (NL), Kestner-Museum Hannover, Pinakothek der Moderne<br />
München, Schmuckmuseum Pforzheim, Galerie der Stadt Stuttgart, Vitra<br />
Design Museum Weilheim a. R., Galerie am Ringturm in Wien u. a.m.).<br />
6 Erich Dieckmann. Praktiker der Avantgarde (1990 Vitra Design Museum in Weil a. R.);<br />
Johannes Niemeyer. Architekt und Maler (1990 Berlinische Galerie und 1995 Hallescher<br />
Kunstverein); Hans Wittwer (1894–1952). Architekt des Neuen Bauens (1990<br />
ETH Zürich, gta-Institut und Staatliche Galerie Moritzburg Halle); Burg Giebichenstein.<br />
Die hallesche Kunstschule von den Anfängen bis zur Gegenwart (1993 Staatliche<br />
Galerie Moritzburg Halle und Badisches Landesmuseum Karlsruhe); Gertraud Herzger<br />
von Harlessem. Malerei und Grafik (1995 Universitätsmuseum Halle); Herbert Post.<br />
Schrift – Typographie – Grafik (1997–2006, Wanderausstellung Halle, München, Karlsruhe,<br />
Frankfurt am Main, Oldenburg, Eutin, Hamburg, Leipzig,<br />
Pettenbach/Österreich); Wilhelm Nauhaus. Bucheinbände (2000 Staatliche Galerie<br />
Moritzburg Halle); Walter Herzger. Zeichnungen und Druckgrafik (2001 Hallescher<br />
Kunstverein); Paul Zilling. Malerei und Zeichnungen (2004 Galerie Marktschlößchen<br />
und Hallescher Kunstverein); Hans Sperschneider. Malerei und Grafik (2005<br />
Hallescher Kunstverein); Erwin Hahs / Doris Keetman. Die frühen Jahre (2005/06<br />
Kunstverein „Talstraße“ Halle, Potsdamer Kunstverein, Bergische Kunstgenossenschaft<br />
Wuppertal); Johanna Jura. Plastik und Zeichnungen (Galerie Marktschlößchen Halle<br />
und Hallescher Kunstverein).<br />
116 Universitätsreden 73<br />
Bestandsprofil des Archivs in der Bibliothek für<br />
Bildungsgeschichtliche Forschung des Deutschen<br />
Instituts für Internationale Pädagogische Forschung<br />
Ursula Basikow<br />
1. Zur historischen Entwicklung der Einrichtung<br />
Der 1.1. 1876 war der offizielle Gründungstag jener Bibliothek, die, zunächst<br />
unter dem Namen Deutsches Schulmuseum und 1908 in Deutsche<br />
Lehrerbücherei umbenannt, nicht nur unter Pädagogen bekannt wurde.<br />
Ihre Gründungsväter waren die Volksschullehrer Hermann Gallee (1834-<br />
1918) und Adolf Rebhuhn (1854-1924). Rebhuhn beschrieb sein Wirken<br />
mit den Worten: „Nicht ich ergriff den Gedanken der Bücherei, sondern<br />
die Idee packte mich und ließ mich nicht wieder los. Die Deutsche Lehrerbücherei<br />
wurde mein Schicksal.“ 1<br />
Bis 1943 wuchs die Deutsche Lehrerbücherei mit knapp 200.000 Bänden<br />
zur zweitgrößten pädagogischen Bibliothek Deutschlands heran. Dies ist<br />
um so bemerkenswerter, als sie sich lange Zeit nahezu ausschließlich durch<br />
Beiträge der Mitglieder des Berliner und des Deutschen Lehrervereins<br />
finanzierte.<br />
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde die Bibliothek nach<br />
einer Zeit der Treuhänderschaft 1951 in die Pädagogische Zentralbibliothek<br />
integriert und unterstand zunächst dem Ministerium für Volksbildung, ab<br />
1971 der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der DDR. Nach der<br />
Abwicklung der Akademie fand die Bibliothek 1992 einen neuen Träger<br />
im Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung.<br />
1 Max Laesch / Adolf Rebhuhn (Hrsg.): Pädagogisches Druckgut vergangener Jahrhunderte:<br />
ein erziehungsgeschichtlicher Quellennachweis aus den Beständen der Deutschen<br />
Lehrer-Bücherei anläßlich ihres 50jährigen Bestehens. Berlin 1925, S. XII.<br />
Universitätsreden 73 117
Ursula Basikow Bestandsprofil des Archiv s in der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung<br />
Im Verlauf ihrer 130jährigen Geschichte gab es Brüche und Gefährdungen.<br />
Die Bibliothek wechselte im Zuge gesellschaftspolitischer Wandlungen<br />
nicht nur ihren Namen, sondern auch ihr Profil und ihre Aufgaben. Seit<br />
nunmehr vierzehn Jahren führt sie ihren heutigen Namen. Mit ihrer Umbenennung<br />
1992 hat sich das Aufgabenspektrum und das Sammlungsprofil<br />
der Bibliothek geändert. Sie ist nicht mehr vornehmlich eine Bibliothek<br />
für Lehrer und Pädagogikstudenten, die die neueste pädagogische Literatur<br />
benötigen, sondern ist mit rund 700.000 Bänden die umfangreichste pädagogische<br />
Spezialbibliothek in Deutschland und gehört neben der<br />
Uschinskij-Bibliothek in Moskau und der Danmarks Pædagogiske Bibliothek<br />
in Kopenhagen zu den größten in Europa. Die Neuerwerbungen werden<br />
seit 1998 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft bezuschusst<br />
und beziehen sich auf Bildungsgeschichte in einem weiten Rahmen.<br />
Seit Januar 1992 gehört wieder ein bildungsgeschichtliches Archiv zur<br />
Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung. Sein Ursprung war eng<br />
mit der Bibliothek verbunden, denn eine wichtige Zielsetzung der Gründer<br />
des Deutschen Schulmuseums war es, neben der pädagogischen Bibliothek<br />
auch ein Archiv aufzubauen. So wurden von Anfang an handschriftliche<br />
Quellen, vor allem Briefe von Lehrern und pädagogischen Schriftstellern,<br />
Berichte von Schulinspektoren, Zeugnisse und Arbeiten von Schülern,<br />
Urkunden für Lehrer, Nachlässe bekannter Pädagogen sowie Bestände<br />
pädagogischer Organisationen zusammengetragen. 1943 besaß die Deutsche<br />
Lehrerbücherei eine Handschriftensammlung mit ca. 8.000 Dokumenten<br />
sowie eine umfangreiche Bilder- und Münzsammlung.<br />
Als während des Zweiten Weltkrieges die Bombenangriffe auf Berlin zunahmen,<br />
entschloss sich der damalige Leiter der Deutschen Lehrerbücherei,<br />
besonders wertvolle Teile des Bestandes auszulagern. Dazu gehörten<br />
der Archivbestand sowie 72.000 Bücher, darunter die Sammlung „Alte<br />
Drucke“. Nach dem Krieg kehrten die Bücher und ein Teil der Handschriftensammlung<br />
nach Berlin zurück, während der größere Teil der<br />
Handschriften sowie die Bild- und Münzsammlungen bis heute als verschollen<br />
gelten. Lediglich 1.200 Stücke der Handschriftensammlung sind<br />
jetzt noch im Archiv vorhanden, darunter der (unechte) Nachlass von<br />
Adolph Diesterweg.<br />
Es ist ein neues Verzeichnis in Arbeit, das den tatsächlichen Bestand an<br />
noch vorhandenen Stücken aus der Handschriftensammlung der<br />
Deutschen Lehrerbücherei wiedergibt.<br />
Eine weit größere Bestandsgruppe des heutigen Archivs geht auf das<br />
Verwaltungsarchiv des 1949 gegründeten Deutschen Pädagogischen Zentralinstituts<br />
und seiner Nachfolgeeinrichtung, der 1970 gegründeten Akademie<br />
der Pädagogischen Wissenschaften der DDR zurück. Als diese Einrichtung<br />
am 31.12.1990 geschlossen wurde, ging der Archivbestand in den<br />
Besitz des Bundesarchivs über, blieb aber als Depositum zunächst bei der<br />
weiterbestehenden und vom Berliner Senat zwischenfinanzierten Pädagogischen<br />
Zentralbibliothek und nach endgültiger Regelung über den<br />
Verbleib der Bestände in der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche<br />
Forschung.<br />
Das ehemalige Akademiearchiv umfasst heute ca. 16.500 erschlossene<br />
Akten, davon ca. 7.000 aus der Zeit des Deutschen Pädagogischen Zentralinstituts<br />
und ca. 9.500 aus der Zeit der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften.<br />
Somit kann für die Forschung zur Bildungsgeschichte der<br />
DDR umfangreiches Material zur Verfügung gestellt werden, das häufig<br />
benutzt wird.<br />
Ergänzt wird diese Überlieferung durch 66 Nachlässe von Pädagogen,<br />
darunter 30, die in der DDR gewirkt haben. Auch der sogenannte Berliner<br />
Nachlass des wohl bekanntesten deutschen Pädagogen, Friedrich Fröbel,<br />
gehört zum Bestand des ehemaligen Akademiearchivs.<br />
2. Zum Profil des Archivs<br />
Zum Profil der archivischen Sammlungen der Deutschen Lehrerbücherei<br />
Ziel zunächst des Deutschen Schulmuseums und dann der Deutschen<br />
Lehrerbücherei war es, die Bildungssituation der Volksschullehrer zu verbessern,<br />
die von der universitären Ausbildung und von der Benutzung der<br />
Universitätsbibliotheken ausgeschlossen waren. Die Lehrer wollten sich<br />
über neue Lehrmittel informieren und Bücher für ihre Weiterbildung erhalten.<br />
Die Unterstützung durch die Stadt Berlin und durch den Staat<br />
118 Universitätsreden 73 Universitätsreden 73 119
Ursula Basikow<br />
blieb über Jahrzehnte instabil, denn dem wachsenden Selbstbewusstsein<br />
und dem professionellen Begehren der Berliner Lehrer wurde von seiten<br />
der Obrigkeit mit Misstrauen begegnet. So war die Deutsche Lehrerbücherei<br />
über lange Zeit eine Laienbibliothek, in der zumindest in den<br />
ersten Jahrzehnten ihrer Existenz alle Arbeit ehrenamtlich geleistet wurde<br />
und in der der von der Stadt und dem Staat gewährte geringe Etat zum<br />
Erwerb von Büchern, Handschriften und anderen Beständen aus Mitteln<br />
des Berliner Lehrervereins aufgestockt wurde. Seit 1901 wurden der Bücherei<br />
von den Beiträgen je Mitglied jährlich 50 Pfennig zugeführt.<br />
Welches Konzept verfolgten nun die Gründungsväter beim Aufbau des<br />
Bestandes?<br />
Zwei Forderungen waren zu bedienen: zum einen die Bildung für die<br />
gegenwärtigen Aufgaben des Berufs und zum anderen die Dokumentation<br />
der Geschichte der Schule und des Lehrerberufs. Damit hatte die Bücherei<br />
neben der aktuellen auch eine historische Orientierung, die die Lehrer als<br />
Forscher und Sammler im Blick hatte, die eine Dokumentationsstätte von<br />
alten und seltenen Büchern, Handschriften, Bildnissen und Gedenkmünzen<br />
wurde und mit diesen Sammlungen auch einen gewissen Stolz auf den<br />
Berufsstand zum Ausdruck brachte.<br />
Rebhuhn rechtfertigte den „starken geschichtlichen Einschlag“ der Deutschen<br />
Lehrerbücherei: „Ist das geschichtliche Forschen notwendig, so müssen<br />
Stellen da sein, die das notwendige Quellengut möglichst vollständig<br />
bereitstellen. Für die Erziehungswissenschaft bemühen sich darum außer<br />
uns die Schwesternanstalten in Leipzig (die Comenius Bücherei U. B.) und<br />
München (die Süddeutsche Lehrerbücherei U. B.). Nur haben wir den Begriff<br />
des Quellenmaterials weit gefaßt, – und das drückt unserer Anstalt<br />
ihren Eigenstempel auf –, indem wir alten Druckschriften eine Sammlung<br />
von pädagogischen Handschriften und Bildwerken (einschließlich Schulmedaillen)<br />
angliederten.“ 2<br />
2 Ebd., S. XIV f.<br />
120 Universitätsreden 73<br />
Bestandsprofil des Archiv s in der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung<br />
Die Abteilung der Deutschen Lehrerbücherei, die den Grundstock für das<br />
heutige Archiv bildet, beschreibt Rebhuhn 1922 in dem von ihm herausgegebenen<br />
Quellenverzeichnis „Handschrift und Bild als pädagogische<br />
Geschichtsquelle“: „Zum ersten: sie (die Sammlung U. B.) ist in reichlich<br />
drei Jahrzehnten mit ganz bescheidenen Aufwendungen zustande gekommen,<br />
– und zum andern: wesentlich pädagogische Beziehungen der einzelnen<br />
Stücke entschieden (mit wenigen Ausnahmen) über ihre Einreihung.<br />
... Der Begriff Pädagogik ist ... nicht eng gefaßt; denn auch Jugendschriftsteller,<br />
Hochschullehrer, Unterrichtsminister und Schulfreunde von Verdienst<br />
haben Aufnahme gefunden. Ein auch nur flüchtiges Durchmustern<br />
der Namenreihe lehrt außerdem, daß nicht bloß die anerkannten Größen<br />
im Bereiche der theoretischen und praktischen Pädagogik, sondern auch<br />
Leute vertreten sind, die nur in engeren Fachkreisen genannt werden.“ 3<br />
Rebhuhn spricht in seinem Verzeichnis nicht von Handschriften, sondern<br />
er bringt „Handschriftliches“ im, wie er sagt, „landläufigen Wortsinne“<br />
und will in Briefen und sonstigen Schriftstücken „von Männern<br />
der Schule“... „einen Hauch des Geistes ihrer Urheber verspüren lassen oder<br />
wenigstens einen Beitrag zur Kenntnis ihrer Lebensumstände liefern.“ 4<br />
Mit den einzelnen Handschriften begnügten sich die Gründerväter des<br />
heutigen Archivs der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung<br />
aber keineswegs, sondern sie trugen zu bestimmten Anlässen wie runden<br />
Geburtstagen bedeutender Pädagogen mit Hilfe von Aufrufen in der pädagogischen<br />
Presse regelrechte unechte Nachlässe zusammen wie den von<br />
Adolph Diesterweg anlässlich seines 100. Geburtstages im Jahre 1886. Die<br />
hauptsächlich auf seine Initiative zusammengekommenen Briefe hat Rebhuhn<br />
1907 herausgegeben. In diesem Büchlein spricht er von 159 unter<br />
der deutschen Lehrerschaft verstreuten Briefen Diesterwegs, die in der<br />
Deutschen Lehrerbücherei eingegangen sind. Um den Wert dieser Briefsammlung<br />
hervorzuheben, charakterisiert Rebhuhn Diesterweg als eine<br />
„keck zugreifende, langen Erwägungen abholde, sich ungeschminkt geben-<br />
3 Adolf Rebhuhn (Hrsg.): Handschrift und Bild als pädagogische Geschichtsquelle; ein<br />
Nachweis von Quellen aus der Deutschen Lehrer-Bücherei. Berlin 1922, Zum Geleit,<br />
S. 1.<br />
4 Ebd.<br />
Universitätsreden 73 121
Ursula Basikow<br />
de Natur, ... die sich bereits in seinen zahlreichen Aufsätzen und Gelegenheitsschriften<br />
offenbart, in den Briefen aber noch deutlicher zum Ausdruck<br />
kommt. ... Reich sind seine Briefe an intimen Zügen, die zur Abrundung<br />
seines Bildes nicht unwesentlich beitragen. Auf seine Charaktereigenschaften<br />
wird vielfach ein verstärktes Licht geworfen. Sein lebhaftes<br />
Interesse für sozial- und schulpolitische Fragen tritt überall hervor ... Urteile<br />
über bekannte Persönlichkeiten werden in unverblümter Form gefällt.<br />
Die Lehrer des Volks, die er gern herausheben wollte aus der Bildungsnot,<br />
bekommen keine Schmeicheleien zu hören. Ihre Unfreiheit, die innere<br />
und äußere macht ihm Sorge. Ihren Zusammenschluß zu Lehrer- und<br />
Pestalozzivereinen sucht er kräftig zu fördern.“ 5<br />
Mit der Gleichschaltung der Lehrerverbände im Nationalsozialistischen<br />
Lehrerbund 1933 wurde in einem längeren Prozess 1937 die Deutsche<br />
Lehrerbücherei dem NSLB zugeschlagen. 1942 wurde der Nationalsozialist<br />
Hanns Beckmann Leiter der Bibliothek, der fortan seine Spuren in den<br />
Beständen der Bücherei und des Archivs hinterließ. Er kümmerte sich besonders<br />
um die Handschriftensammlung und ergänzte sie um Schriftstücke<br />
deutschnational und nationalsozialistisch gesinnter Autoren wie<br />
dem Dichter des Sturmliedes der NSDAP „Deutschland erwache“, Dietrich<br />
Eckart.<br />
Abgerundet werden soll der Ausflug in die frühe Geschichte der Deutschen<br />
Lehrerbücherei und ihres Archivs mit einem Auszug aus dem Neuköllner<br />
Tageblatt vom 30. 5. 1943, in dem unter der Überschrift „8000<br />
Handschriften berühmter Männer. Einmaligkeiten in der Bücherei der<br />
Lehrer“ über das Archiv berichtet wurde: „Das historische Archiv der deutschen<br />
Erzieher, das in einem besonderen Saal untergebracht ist, enthält<br />
allerlei einmalige Kostbarkeiten. In großen Glaskästen sind hier rund 8000<br />
Original-Handschriften bedeutender deutscher Männer ... ausgestellt.<br />
Künstlerische Schriftproben sogenannter Schreibmeister aus vergangenen<br />
Jahrhunderten bilden eine weitere Sehenswürdigkeit. Einmalig in der Welt<br />
ist die Sammlung pädagogischer Schaumünzen.“ 6<br />
5 Adolf Rebhuhn (Hrsg.): Briefe Adolf Diesterwegs. Leipzig 1907, S. IV.<br />
122 Universitätsreden 73<br />
Bestandsprofil des Archiv s in der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung<br />
Schicksal und Profil der archivischen Sammlungen in der DDR<br />
Über lange Jahre führte das noch aus Zeiten der Deutschen Lehrerbücherei<br />
vorhandene Archivgut in der Pädagogischen Zentralbibliothek ein Schattendasein,<br />
wenn auch einer ihrer Leiter, Leo Regener, dafür sorgte, dass der<br />
eine und andere Nachlass oder Teilnachlass in die Bibliothek überführt<br />
wurde. Für die Bearbeitung und sachgerechte Lagerung der Archivbestände<br />
fühlte sich jedoch niemand verantwortlich.<br />
Das änderte sich 1976, als das bisher als Verwaltungsarchiv geführte<br />
Archiv der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der DDR den<br />
Status eines Endarchivs erhielt. In diesem Zusammenhang wurden die in<br />
der Pädagogischen Zentralbibliothek vorhandenen älteren und neueren<br />
Archivbestände in das Akademiearchiv überführt. Erschlossen und in Findbüchern<br />
verzeichnet wurden der schon kurz nach der Gründung der<br />
Akademie der Pädagogischen Wissenschaften aus dem Archiv der Akademie<br />
der Wissenschaften in das Archiv der Pädagogischen Akademie gelangte<br />
Berliner Nachlass Friedrich Fröbels und der von der Deutschen Lehrerbücherei<br />
zusammengetragene Nachlass Adolph Diesterwegs sowie der des<br />
Thüringer Reformpädagogen und Verfechters des Arbeitsschulgedankens<br />
Carl Rössger.<br />
In einer 1982 erschienenen Selbstdarstellung des Archivs wird das nunmehr<br />
angestrebte Profil umrissen: „Die Zuständigkeit des Akademiearchivs<br />
erstreckt sich seit seiner Bestätigung als Endarchiv im Jahre 1976 auf das<br />
Archivgut der Leitungsorgane, Institute, Arbeitsstellen, zentralen Arbeitsgemeinschaften<br />
und sonstigen Einrichtungen der Akademie der Pädagogischen<br />
Wissenschaften, auf Archivgut pädagogischer Gesellschaften, Vereinigungen<br />
und Stiftungen und – soweit es ihm übergeben wird – auf persönliches<br />
Archivgut von Akademiemitgliedern (Nachlässe) und anderen<br />
bedeutenden Pädagogen der Vergangenheit und Gegenwart. Aufgrund dieser<br />
Funktion wurde die Zusammenführung der im Besitz von Einrichtungen<br />
der Akademie befindlichen Archivalien ins Akademiearchiv und das<br />
Bemühen um Bestandsergänzung durch erziehungsgeschichtlich aussagekräftige<br />
Quellen, insbesondere durch persönliche Archivbestände und<br />
Einzelquellen, intendiert.“ 7<br />
Universitätsreden 73 123
Ursula Basikow<br />
Ein weiteres Eingreifen in die archivischen Altbestände geschah im Zusammenhang<br />
mit der Gründung des Schulmuseums der Akademie der<br />
Pädagogischen Wissenschaften, das 1987 eröffnet wurde. Jetzt wurden die<br />
noch vorhandenen Stücke der Handschriftensammlung der Deutschen<br />
Lehrerbücherei gewaltsam auseinandergerissen und zusammen mit den<br />
Resten ihrer einstigen Bildsammlung in das Museum überführt. Es ging<br />
hierbei besonders um Dokumente mit einem gewissen Schauwert für die<br />
Ausstellungen des Museums. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des<br />
künftigen Schulmuseums stützten sich bei ihrer Sammlungstätigkeit auf<br />
eine Mitteilung des Ministeriums für Volksbildung, in der es hieß: „Alle<br />
Volksbildungseinrichtungen werden ersucht, den Aufbau des Schulmuseums<br />
durch Bereitstellung und Überlassung von geeignetem Sammlungsgut<br />
zu unterstützen ... Mitarbeiter der Ständigen Ausstellung des Volksbildungswesens<br />
sind befugt, geeignetes Sammlungsgut von Volksbildungseinrichtungen<br />
gegen einen durch den zuständigen Vizepräsidenten der Akademie<br />
der Pädagogischen Wissenschaften der DDR gezeichneten Beleg entgegenzunehmen.“<br />
8<br />
Bestrebungen, die Bestände wenigstens virtuell wieder zusammenzuführen,<br />
haben bis heute zu keinem Ergebnis geführt.<br />
Schicksal und Profil der Bestände im wiedervereinigten Deutschland seit<br />
1990<br />
Im wiedervereinigten Deutschland hatte die Akademie der Pädagogischen<br />
Wissenschaften der DDR als Vertreterin und Produzentin sozialistischer<br />
bzw. kommunistischer Vorstellungen von Bildung und Erziehung keinen<br />
Platz mehr und wurde demzufolge als eine der ersten Einrichtungen überhaupt<br />
geschlossen. Etwa ein Jahr vor der Schließung gab es bereits Überlegungen<br />
darüber, was mit den in der Pädagogischen Zentralbibliothek, im<br />
6 Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung des Deutschen Instituts für Internationale<br />
Pädagogische Forschung / Archiv, Bestand Deutsche Lehrerbücherei, Signatur:<br />
DLB 67.<br />
7 Roswitha Wollkopf: Das Archiv der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der<br />
DDR. Berlin 1982, S. 3f.<br />
124 Universitätsreden 73<br />
Bestandsprofil des Archiv s in der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung<br />
Archiv und im Schulmuseum befindlichen kulturell und wissenschaftsgeschichtlich<br />
bedeutsamen Sammlungen geschehen soll. Dazu wurden viele<br />
Ideen entwickelt, darunter die einer Stiftung Pädagogisches Kulturgut.<br />
Letztlich setzten sich alle Vorschläge für eine autarke Lösung überwiegend<br />
aus Gründen der Finanzierbarkeit nicht durch.<br />
Die schließlich gefundene Lösung, die Bereiche Pädagogische Zentralbibliothek<br />
und Akademiearchiv an das Deutsche Institut für Internationale<br />
Pädagogische Forschung anzugliedern und somit eine Außenstelle des<br />
in Frankfurt am Main beheimateten Instituts in Berlin zu schaffen,<br />
besteht bis heute. 9<br />
Während die Bibliothek noch um ein neues Profil ringen musste, war<br />
das Profil des Archivs von vornherein deutlich. Es bot und bietet als<br />
Dienstleistung die Übernahme von Beständen nicht abgabepflichtiger bildungsgeschichtlich<br />
relevanter Institutionen, Vereine, Gesellschaften und<br />
Verbände sowie von Personennachlässen an und ergänzt bereits vorhandene<br />
Bestände durch gezieltes Ansprechen von Bestandsbildnern. Dabei<br />
galt von Anfang an das Ziel, auf der Grundlage der Bestände mehr und<br />
mehr die Sicht auf die gesamtdeutsche Bildungsgeschichte zu ermöglichen.<br />
Das geschieht zunehmend durch die Übernahme von Beständen aus den<br />
alten Bundesländern.<br />
Bestandsübernahme und Bestandsabgrenzung sowie auch Bestandsbereinigung<br />
erfolgen in enger Zusammenarbeit mit dem Bundesarchiv und<br />
dem Berliner Landesarchiv. So ist das Archiv der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche<br />
Forschung z. B. nicht in der Lage, die Schularchive der<br />
Berliner Schulen zu übernehmen. Das regelt nach wie vor das Berliner<br />
Landesarchiv.<br />
8 Mitteilung über die Einrichtung einer Ständigen Ausstellung des Volksbildungswesens<br />
der DDR (Schulmuseum) vom 2. Mai 1986 in: Verfügungen und Mitteilungen des<br />
Ministeriums für Volksbildung XXXIV(1986)5, S. 72.<br />
9 Die wesentlichen Stationen der Entscheidungsfindung sind in der zweiten Auflage des<br />
Buches: Wege des Wissens. 125 Jahre Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung.<br />
Berlin 2003 nachzulesen, die um ein Zeitzeugeninterview zu eben diesen Vorgängen ergänzt<br />
wurde. Das Schulmuseum hatte sich während dieser Entscheidungsprozesse abge-<br />
Universitätsreden 73 125
Ursula Basikow<br />
Erstmalig in der hier skizzierten wechselvollen Geschichte des Archivs gibt<br />
ein 2004 erschienenes Bestandsverzeichnis Auskunft über die vorhandenen<br />
Bestände. 10 Die aktualisierten Zahlen sprechen von 66 Personennachlässen,<br />
41 Körperschaftsnachlässen und 17 Sammlungen. Ein großer<br />
Teil dieser Bestände ist, ebenfalls erstmalig, in der allegrobasierten Datenbank<br />
HANS verzeichnet und über das Internet zu recherchieren.<br />
Die vorhandenen Nachlässe werden an die Zentrale Nachlassdatenbank<br />
des Bundesarchivs gemeldet. Darüber hinaus erfolgt seit einiger Zeit eine<br />
Zusammenarbeit mit der von der Staatsbibliothek zu Berlin betriebenen<br />
Datenbank Kalliope, in die die konventionellen Findbücher zu den Nachlässen<br />
Friedrich Fröbels und Adolph Diesterwegs im Rahmen eines dort<br />
angesiedelten DFG-Projekts übertragen werden.<br />
Gegenwärtig laufende Projekte:<br />
Gerade abgeschlossen wurden die Arbeiten an einem Inventar zu den im<br />
Archiv überlieferten Nachlässen der Schwestern Adelheid (1884-1968) und<br />
Marie (1888-1989) Torhorst, das mit Mitteln des „Berliner Programms zur<br />
Förderung der Chancengleichheit für Frauen in Forschung und Lehre“<br />
finanziert wurde. Gegenwärtig wird an zwei von der DFG geförderten<br />
Hybrideditionen gearbeitet, nämlich an einer Werkausgabe der Schriften<br />
Adolf Reichweins und einer Briefausgabe sämtlicher Briefe Friedrich<br />
Fröbels, deren Grundlage die entsprechenden Archivbestände bilden.<br />
Zur Zeit laufen zwei große Digitalisierungsprojekte, die mit Hilfe von<br />
Vergabe ABM realisiert werden. Sie betreffen umfangreiche Sammlungen<br />
von Personaldaten der Lehrer und Lehrerinnen Preußens. Es handelt sich<br />
zum einen um die sogenannte Volksschullehrerkartei, die ca. 138.000 einseitig<br />
beschriebene Karteikarten im Format A5 enthält, die alle gescannt<br />
und von denen bereits ca. 90 Prozent über die Archivdatenbank auffindbar<br />
sind: http://www.bbf.dipf.de/VLK/.<br />
spalten und gehört heute als Museum für Kindheit und Jugend zur Museumslandschaft<br />
Berlins.<br />
10 Nachlässe, Autographen und Sammlungen als Quellen für die bildungsgeschichtliche<br />
Forschung. Bestandsverzeichnis des Archivs der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche<br />
126 Universitätsreden 73<br />
Bestandsprofil des Archiv s in der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung<br />
Der Rest wird in einem sich unmittelbar anschließenden Folgeprojekt in<br />
die Datenbank eingearbeitet.<br />
Zum anderen geht es um die Sammlung der Personalbögen der Lehrer und<br />
Lehrerinnen der höheren Schulen Preußens. Sie besteht aus ca. 85.000,<br />
meist vierseitigen Bögen in Folioformat. Auch hiervon ist bereits der größte<br />
Teil gescannt. Die Eingabe in die Datenbank hat begonnen und wird im<br />
Folgeprojekt zum Abschluss gebracht werden: (http://www.bbf.<br />
dipf.de/peb/).<br />
Forschung / bearb. von: Ursula Basikow und Ilka Lenze. (Bestandsverzeichnisse zur<br />
Bildungsgeschichte Bd. 11) Berlin 2004.<br />
Universitätsreden 73 127
Archive im Wandel.<br />
Dokumentations- und Sammlungsstrategien<br />
bei kultureller Überlieferung<br />
Sabine Brenner-Wilczek<br />
Beim Thema Bewertung muss man der gewandelten Funktion von Archiven<br />
allgemein und speziell von Literatur- und Kulturarchiven Rechnung<br />
tragen. Bevor ich auf die Genese des Heinrich-Heine-Instituts in Düsseldorf<br />
und die Bewertungspraxis in unserem Archiv eingehe, möchte ich zu<br />
Beginn in zugespitzter Form fünf Grundaxiome herausstellen. Diese wirken<br />
sich letztlich auch auf die konkrete Arbeit in Düsseldorf aus.<br />
1. Die modernen Vervielfältigungstechniken führten zu einer Überlieferungsflut.<br />
Während der Kassationsanteil bei Massenakten oft bei über 90<br />
Prozent liegt, wird bei Nachlässen und Sammlungen nur höchst selten in<br />
einem solchen Umfang kassiert. Bei (Literatur-) Nachlässen geht es nicht<br />
um das Herausfiltern der Unikatüberlieferung aus der Masse von redundantem<br />
Mehrfachschriftgut. Ein quantitatives Sampleverfahren führt zu<br />
keinem Ergebnis und auch andere Bewertungsmodelle greifen hier nicht<br />
in ausreichendem Maße. 1<br />
2. Robert Kretzschmar und viele andere Archivare mit ihm weisen zu<br />
Recht auf die erhöhte Bedeutung von nichtstaatlicher Überlieferung und<br />
die damit verbundene Bewertungsproblematik hin. 2 Insbesondere seit der<br />
1 Auch die von Robert Kretzschmar entwickelte „Grundstruktur einer Checkliste für die<br />
Bewertung“ ist für den Bereich der (Literatur-) Nachlässe nur schwierig übertragbar.<br />
Vgl. Robert Kretzschmar: Spuren zukünftiger Vergangenheit. Archivische Überlieferungsbildung<br />
im Jahr 2000 und die Möglichkeiten einer Beteiligung der Forschung, in:<br />
Der Archivar 53, Heft 3 (2000), S. 215-222.<br />
2 Vgl. ebd.<br />
Universitätsreden 73 129
Sabine Brenner-Wilczek Archiv e im Wandel<br />
elektronischen Revolution werden von Einzelpersönlichkeiten strukturierte<br />
Nachlässe immer wichtiger für die kulturhistorische Forschung. Aufgrund<br />
ihres Quellenwerts sollten Nachlässe und Sammlungen nicht mehr<br />
nur als Ersatzüberlieferung angesehen werden. Diese unglückliche Bezeichnung<br />
legt den Schluss nahe, es handle sich lediglich um eine Überlieferung<br />
zweiter Wahl. Eine Umbenennung zugunsten einer positiven fachspezifischen<br />
wie öffentlichen Wahrnehmung wäre daher vonnöten.<br />
3. Bei Nachlässen und Sammlungen ist ein aktives Archivmarketing zu<br />
betreiben. Schließlich existiert bei (Literatur-) Nachlässen keine Anbietungspflicht<br />
an das zuständige Archiv. Daher ist es wichtig, Nachlässe aktiv aufzuspüren<br />
und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Um die Bestände<br />
eines Archivs zu präsentieren, stehen neben den traditionell gedruckten<br />
Findmitteln mittlerweile auch Online-Findbücher, Mailinglisten, Portale<br />
und elektronische Zeitschriften zur Verfügung. Arbeitsprozesse innerhalb<br />
eines Archivs können aber erst dann der Öffentlichkeit vermittelt werden,<br />
wenn Sammlungsziele abgesteckt worden sind. Zu einem neuen, nach<br />
außen kommunizierten Archivbegriff gehören daher auch Dokumentationsprofile<br />
und -strategien, die eine erhöhte Transparenz gewährleisten.<br />
4. Nicht nur die Arbeits- und Kommunikationsmittel des Archivars haben<br />
sich verändert. Gleichsam haben sich mit den Möglichkeiten der neuen<br />
Speichermedien auch die Profile der Kulturschaffenden gewandelt. In<br />
Fragen der Bewertung müssen daher Festplatten, CDs, Disketten und<br />
E-mail Accounts genauso berücksichtigt werden wie die herkömmliche<br />
Papierüberlieferung. Im Unterschied zur Verwaltungsüberlieferung ist die<br />
(mediale) Überlieferungsbildung von Einzelpersonen jedoch individueller<br />
und vielgestaltiger. Während in Verwaltungen standardisiert jeweils dieselben<br />
Programme benutzt werden und die Rechner über das Intranet verbunden<br />
sind, nutzt ein Kulturschaffender im Laufe seines Lebens die<br />
unterschiedlichsten Hersteller, Programme und Rechner.<br />
5. Mit den neuen Medien hat sich auch der Werkbegriff verändert und<br />
damit die Bandbreite dessen, was in Kulturarchiven gesammelt werden<br />
könnte und sollte. Der äußerst schnelllebige Bereich der Pop-Kultur bei-<br />
spielsweise ist mit einer traditionellen Herangehensweise nicht abzudecken.<br />
Hörbücher, Songtexte und Performances sind zentrale Bestandteile<br />
der Gegenwartsliteratur geworden, die in Literaturarchiven dokumentiert<br />
werden sollten. Eine Neuorientierung im Hinblick auf die Dokumentationsprofile<br />
und -strategien von (Literatur-) Archiven ist daher dringend<br />
geboten.<br />
Diese kurz skizzierten, allgemeinen Faktoren schlagen sich auch auf die<br />
Arbeit des Düsseldorfer Heinrich-Heine-Instituts nieder. Das Heinrich-<br />
Heine-Institut ist aus der Neueren Handschriftenabteilung der alten Landes-<br />
und Stadtbibliothek Düsseldorf hervorgegangen. Bereits 1970 konnte<br />
die Landes- und Stadtbibliothek auf eine 200jährige Geschichte zurückblicken.<br />
Gegründet wurde die älteste Vorgängereinrichtung als öffentliche<br />
Bibliothèque durch den Kurfürsten Carl Theodor von der Pfalz-Sulzbach,<br />
der ihr hauptsächlich Dubletten aus seinem Privatbestand zur Verfügung<br />
stellte. 3 Anfang des 19. Jahrhunderts avancierte die bis dato eher unbedeutende<br />
Bibliothek „im Zuge der Säkularisation zum Sammelbecken der<br />
Stifts- und Klosterbibliotheken aus der niederrheinisch-bergischen<br />
Region“. 4 Zu den Benutzern dieser wertvollen Bestände zählten unter<br />
anderen Heinrich Heine und Robert Schumann. Als 1965 in Düsseldorf<br />
eine Hochschule gegründet wurde, die aus der Medizinischen Akademie<br />
hervorging, übertrug die alte Landes- und Stadtbibliothek der neu gegründeten<br />
Universitätsbibliothek wenige Jahre später ihre Buchbestände. Auch<br />
die Inkunabeln und Wiegendrucke wurden, allerdings als Dauerleihgabe,<br />
von der Stadt- an die Universitätsbibliothek übergeben. Aus der Neueren<br />
Handschriftenabteilung der Landes- und Stadtbibliothek ging das Heinrich-Heine-Institut<br />
hervor: „Die Quellen zur Literatur, Kunst, Musik und<br />
Wissenschaft der niederrheinisch-bergischen Region sind so seit 1970 in<br />
3 Vgl. hierzu Sabine Brenner-Wilczek: Die öffentliche Bibliothèque in Düsseldorf und ihre<br />
Beiträger. Denkmodelle zwischen Ancien Régime und Aufklärung, in: Anke Hufschmidt<br />
(Hrsg.): Planspiele. Stadtleben und Stadtentwicklung im 18. Jahrhundert.<br />
Düsseldorf 2006, S. 47-59.<br />
4 Bernd Kortländer / Joseph A. Kruse: Das Archiv des Heinrich-Heine-Instituts. Geschichte<br />
und Bestand, in: Heine-Jahrbuch 32 (1993), S. 158-171, hier: S. 158.<br />
130 Universitätsreden 73 Universitätsreden 73 131
Sabine Brenner-Wilczek<br />
einem verselbständigten Literaturarchiv dokumentiert, das durch eine<br />
Spezialbibliothek und ein Museum zusätzlich vielfältige Möglichkeiten<br />
der Forschung und Vermittlung bietet.“ 5<br />
Aus dieser grob umrissenen Genese des Instituts haben sich drei Säulen<br />
entwickelt: Das Archiv mit seinen ca. 150 Nachlässen, Teilnachlässen und<br />
Sammlungen, die Bibliothek mit ihren speziellen Sammlungen, vor allem<br />
der Heine-Sammlung und ihren Zeitungs- und Programmdokumentationen,<br />
sowie das Museum mit seinem graphischen Bestand. Zu den Kernaufgaben<br />
des Instituts zählt die Sammlungstätigkeit im Bereich des Heine-<br />
Archivs. Bislang liegen im Institut über 4.000 Werkmanuskriptseiten, ca.<br />
300 Briefe von Heinrich Heine, ca. 900 Briefe an ihn sowie zahlreiche<br />
Widmungsexemplare und die Bücher aus seiner Nachlassbibliothek. Damit<br />
bewahrt das Institut über 60 Prozent der heute bekannten Heine-<br />
Handschriften auf, ca. 25 Prozent liegen in der Pariser Bibliothèque nationale<br />
de France, und die restlichen Autographen befinden sich in öffentlichen<br />
wie privaten Sammlungen in den USA.<br />
Ergänzt wird der Heine-Bestand des Instituts zumeist durch Ankäufe, sei<br />
es auf Auktionen im Autographenhandel, vermittelt durch Händler oder<br />
direkt von Privatpersonen. Ein eigenes Dokumentationsprofil für diese<br />
Abteilung zu erstellen, erübrigt sich, da von Heinrich Heine grundsätzlich<br />
alles archivwürdig ist bzw. gesammelt wird, auch im gegenständlichen<br />
Bereich. So konnte beispielsweise vor wenigen Jahren eine Schreibfeder<br />
Heines aus Privatbesitz erworben werden. Hier sieht sich das Heine-Institut<br />
nicht zuletzt dem Reliquiencharakter der Gegenstände verpflichtet. Die<br />
Aura, die von solchen Originalen ausgeht, lässt sich insbesondere bei Ausstellungen<br />
nutzen, zumal das Institut auch über ein eigenes Museum verfügt.<br />
Ergänzt wird das Heine-Archiv in optimaler Weise durch weitere<br />
Sammlungen zu Autoren des Vormärz bzw. des Jungen Deutschland.<br />
Die Nachlässe aus dem 19. und 20. Jahrhundert weisen regionale Bezüge<br />
auf, so beispielsweise der Teilnachlass des gebürtigen Düsseldorfers Heinrich<br />
Spoerl (Die Feuerzangenbow le) oder der Nachlass von Herbert Eulenberg,<br />
den Thomas Mann einst „Ehrenbürger der Welt“ nannte. Das Insti-<br />
5 Ebd. S. 159.<br />
132 Universitätsreden 73<br />
Archiv e im Wandel<br />
tut hat seinen regionalen Sammelschwerpunkt in den letzten Jahren erfolgreich<br />
ausgebaut. Im Rheinischen Literaturarchiv des Heinrich-Heine-Instituts<br />
wurde ein eigener Lesesaal mit einem speziellen Buchbestand zur<br />
rheinischen Literatur-, Kultur- und Sozialgeschichte eingerichtet, Arbeitsplätze<br />
für Benutzer zur Verfügung gestellt und die Zusammenarbeit mit<br />
verschiedenen Partnern gesucht. 6 Insbesondere der Landschaftsverband<br />
Rheinland fördert die Aktivitäten des Rheinischen Literaturarchivs, das<br />
sich auch als Service- und Beratungsstelle versteht.<br />
Die Themen Bewertung und Dokumentationsstrategien werden in erster<br />
Linie für die Arbeit des Rheinischen Literaturarchivs virulent. Was aber<br />
bedeutet in diesem Zusammenhang die magische Vokabel rheinisch? Die<br />
naheliegende Antwort, dass im Rheinischen Literaturarchiv rheinische<br />
Autoren gesammelt werden, löst das Problem nur scheinbar. Schließlich<br />
bleibt immer noch zu klären, was sich hinter dem Begriff rheinisch verbirgt.<br />
Ist ein rheinischer Autor jemand, der über den Rhein als Thema geschrieben<br />
haben muss? Diese Kategorie erweist sich als sehr problematisch. Hier<br />
bliebe ja die Frage offen, ob nicht einfach alles andere aus einem Nachlass,<br />
das nicht das Thema Rhein betrifft, kassiert werden kann. Außerdem gelangt<br />
man, führt man diesen Gedanken zu Ende, zu weiteren absonderlichen<br />
Schlussfolgerungen. Schließlich müsste man konsequenterweise<br />
Karl May mit seinen Geschichten rund um Winnetou und Old Shatterhand<br />
als bekanntesten amerikanischen Autor bezeichnen.<br />
Ist ein rheinischer Autor also jemand, der im Rheinland geboren wurde?<br />
Ganz so einfach ist das Problem nicht zu lösen, wobei natürlich die<br />
Geografie einerseits wichtige Anhaltspunkte liefert. Andererseits müsste<br />
Wilhelm Schäfer dann als hessischer Autor gelten, obwohl er nur wenige<br />
Wochen nach seiner Geburt im hessischen Ottrau mit seinen Eltern ins<br />
Rheinland zog und viele Jahrzehnte dort als Autor tätig war. Auch die<br />
Wirkungsorte eines Schriftstellers ergeben nur bedingt ein Differenzierungskriterium.<br />
Schließlich müsste man sich entscheiden, wie lange je-<br />
6 Vgl. zur Aufbauphase des Rheinischen Literaturarchivs: Volker Kaukoreit: Fragen an<br />
Dr. Bernd Kortländer, Leiter des Archivs des Heinrich-Heine-Instituts in Düsseldorf,<br />
in: Archiv – Bibliothek – Literaturwissenschaft. Internationales Jahrbuch des Österreichischen<br />
Literaturarchivs 1 (1998), S. 131-134.<br />
Universitätsreden 73 133
Sabine Brenner-Wilczek<br />
mand in einer Region oder an einem Ort gelebt haben muss, um ihn sinnvoll<br />
in die Rubrik rheinisch einordnen zu können. Pragmatische Lösungen<br />
sind also auf jeden Fall vonnöten. Das zweibändige Kölner Autorenlexikon<br />
beispielsweise löst das Dilemma mit der Festlegung: „[...] der Eintrag<br />
erfolgt dann, wenn jemand in Köln in seinen heutigen Stadtgrenzen geboren<br />
ist oder sich längere Zeit hier aufgehalten hat und dabei mindestens<br />
ein Buch, gemeint als selbständige Monographie im bibliographischen<br />
Sinne, veröffentlicht hat oder drei Beiträge [...]“. 7 Durch diese Setzungen<br />
werden auch Autoren im Lexikon verzeichnet, die man zunächst nicht im<br />
Kölner Kontext vermutet hätte, unter ihnen Karl Marx – die wahrscheinlich<br />
größte Überraschung.<br />
Und noch ein Aspekt ist zu bedenken: Wie ist das Rheinland geographisch<br />
gefasst? Legt man heute die Grenzen des Landschaftsverbandes<br />
Rheinland zugrunde? Wenn ja, was ist dann mit den historischen<br />
Territorialgrenzen der preußischen Rheinprovinz? Allein diese Fragestellungen<br />
geben Einblick in die Wandelbarkeit regionaler Zuschreibungen.<br />
Aber sind Autoren, die im wie auch immer gefassten Rheinland geboren<br />
wurden, automatisch auch rheinische Autoren? In Sammelbänden oder<br />
Anthologien, auch in denen neueren Datums, geht es zunächst immer um<br />
Autoren aus dem Rheinland und weniger um rheinische Dichter.<br />
Das macht auf eine Gefahr aufmerksam, die sich mit dem Einbezug<br />
eines inhaltlichen Kriteriums ergibt: Man gelangt mit den Zuschreibungen,<br />
was als rheinisch bezeichnet werden kann, allzu leicht in die Nähe einer<br />
wie auch immer gearteten „Wesenheit“ oder einer „rheinischen Volksseele“.<br />
Das stammesbiologistische Instrumentarium, das in der Germanistik durch<br />
August Sauer und seinen akademischen Schüler Josef Nadler geprägt<br />
wurde, ist selbstverständlich untragbar. Sauer und Nadler benutzten die<br />
vermeintliche „Verwurzelung“ der Autoren im Volkstum als normatives<br />
Selektionskriterium, um auf künstliche Weise die Homogenität einer überlieferten<br />
Textlandschaft herzustellen. Nadlers Literaturgeschichte der Stämme<br />
und Landschaften, erstmals 1911 erschienen, erwies sich als besonders wir-<br />
7 Enno Stahl: Editorische Notiz, in: Kölner Autoren-Lexikon, Bd. 1. 1750-1900. Köln<br />
2000, S. 12-19, hier: S. 13.<br />
134 Universitätsreden 73<br />
Archiv e im Wandel<br />
kungsmächtig. Wie stark das völkisch-rassische Gedankengut auch in die<br />
spezifisch rheinische Literaturgeschichtsschreibung eingegangen ist, zeigt<br />
Walter Lindens Literaturgeschichte Deutsche Dichtung am Rhein von 1944.<br />
Zu Recht sind diese Ansätze ins wissenschaftliche Abseits gedrängt worden.<br />
Gleichzeitig wurde aber auch die regionale Literaturgeschichtsschreibung<br />
und -erforschung tabuisiert. Erst im Zuge der allgegenwärtigen Europäisierungsbestrebungen<br />
rückten wieder Fragen nach der kulturellen Prägung<br />
der Region(en) in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses. Die<br />
Kulturraumforschung untersuchte literarisches Leben in einem Mikrokosmos.<br />
Forscherinnen und Forscher wie Renate von Heydebrand, Norbert<br />
Oellers und Norbert Mecklenburg analysierten in Fallstudien literarisches<br />
Leben in einer Region als „verkleinertes Modell der<br />
,Literaturgesellschaft‘“, als „Form geschichtlichen Handelns und als gesellschaftliches<br />
Subsystem.“ 8<br />
Neue Impulse erhielt die regionale Perspektive auf Literatur durch den<br />
Cultural Turn in den Geisteswissenschaften und die Forschungen zum kulturellen<br />
Gedächtnis: „An die Stelle eines homogenen und ganzheitlichen<br />
Kulturbegriffs [...] ist ein Verständnis von ,Kultur‘ als Austausch und Aneignungsprozeß<br />
[getreten], der unterschiedlichsten Einflüssen unterworfen<br />
ist, bei denen Gruppenstrategien, Machtverhältnisse und Hierarchien mitgedacht<br />
werden.“ 9 Mit Blick auf den jüngsten Forschungsdiskurs erweisen<br />
sich daher Fragestellungen wie „Gibt es rheinische Autoren?“ als zu einseitig.<br />
Eine solche Herangehensweise ließe insbesondere die historische<br />
Dimension („Wann gab es rheinische Autoren?“), die Veränderbarkeit der<br />
kulturellen Identität („Unter welchen soziokulturellen Bedingungen gab es<br />
rheinische Autoren?“) sowie die Eigen- und Fremdzuschreibungen („Gegen<br />
wen grenzten sich die rheinischen Autoren ab?“) außer acht. Das heißt, dass<br />
8 Norbert Mecklenburg: Stammesbiologie oder Kulturraumforschung? Kontroverse Ansätze<br />
zur Analyse regionaler Dimensionen der deutschen Literatur, in: Albrecht Schöne<br />
(Hrsg.): Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses Bd.1, Göttingen 1985,<br />
S. 3-15, hier: S. 9.<br />
9 Michael Lackner / Michael Werner: Der cultural turn in den Humanwissenschaften.<br />
Aera Studies im Auf- oder Abwind des Kulturalismus? Bad Homburg 1999, S. 27.<br />
Universitätsreden 73 135
Sabine Brenner-Wilczek<br />
es sehr verschiedene Begriffe des Rheinischen geben kann, die jeweils auf<br />
unterschiedliche Gruppen, Zeiten und auch Räume bezogen sein können.<br />
Für die Überlieferungsbildung des Rheinischen Literaturarchivs sind diese<br />
Forschungen von großer Relevanz. Anzusetzen ist auf der mittleren Ebene<br />
eines Dokumentationsprofils. 10 Dies bedeutet, das Rheinische Literaturarchiv<br />
bewahrt die Überlieferung der Protagonisten und Institutionen<br />
des literarisch-kulturellen Handelns auf. Es dokumentiert literarisches<br />
Leben in einer Region. 11 Damit sieht sich das Rheinische Literaturarchiv<br />
einem weit gefassten Literaturbegriff verpflichtet, ganz im Sinne von<br />
Renate von Heydebrands Konzept eines „literarischen Subystems“. Drei<br />
grobe Eckpunkte können an dieser Stelle festgehalten werden:<br />
1. Es gilt, den Sammelfokus auch auf Autorengruppen und literarisch-kulturelle<br />
Gesellschaften zu richten. Durch ihre Aktivitäten haben sie ein<br />
spezifisches Verständnis des „Rheinischen“ propagiert und das kulturelle<br />
Leben der Region bestimmt.<br />
2. Literatur- und Kulturzeitschriften, auch Fanzines und Underground-<br />
Zeitschriften, sind wichtige kulturelle Speichermedien. In den Nachlassbibliotheken<br />
der Herausgeber und Mitarbeiter sollten diese verstärkt<br />
bewahrt und, falls möglich, kontinuierlich ergänzt werden.<br />
3. Kleine Verlagsarchive mit ihren regional wirksamen Publikationen sollten<br />
auch gesammelt werden. Insbesondere aus den Sammelschriften und<br />
den sie begleitenden Briefwechseln, Einladungskarten zu Buchvorstellungen<br />
und Lesungen u.Ä. ergibt sich ein gutes Bild der persönlichen<br />
und institutionellen Verflechtungen in einer Region.<br />
Dokumentationsziele sind jedoch immer „Work in progress“, benötigen<br />
Werkstattberichte, die Kretzschmar „Motivenberichte“ nennt, und den<br />
10 Hierfür hat Max Plassmann in seinem Beitrag auf der Saarbrücker Tagung zu Recht<br />
plädiert.<br />
11 Die Frage, was dann im geographischen Sinne als „rheinisch“ verstanden werden kann,<br />
ist damit aber noch nicht geklärt. Bei Projekten des Rheinischen Literaturarchivs, beispielsweise<br />
bei dem Internetportal „www.rheinische-literaturnachlaesse.de“, hat man<br />
die Grenzen des Landschaftsverbandes Rheinland zugrunde gelegt.<br />
136 Universitätsreden 73<br />
Archiv e im Wandel<br />
gegenseitigen Austausch. Der alte Booms’sche Ansatz, dazu einen runden<br />
Tisch mit verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zu bilden, ist sicher<br />
nicht praktikabel. Nicht zu Unrecht hat man Booms polemisch geantwortet:<br />
„Wieviel Zeit sollen da wieviel Leute in endlosen Sitzungen miteinander<br />
verbringen und derweilen keinen praktischen Ansatz leisten können?“<br />
12 Es wird eine zukünftige Aufgabe sein, den großen Runden Tisch<br />
durch ein besseres Konzept zu ersetzen.<br />
Dabei bietet sich aus der Sicht des Heine-Instituts ein regional zentriertes<br />
Vorgehen an. Das Rheinische Literaturarchiv versteht sich als Service-<br />
Instanz zwischen der oft zu versteckten lokalen und der zu ausufernden<br />
nationalen bzw. internationalen Ebene. Es vermittelt Informationen zwischen<br />
den einzelnen Archiven und den Benutzern und macht mit dem<br />
Internetportal Literarische Nachlässe in rheinischen Archiv en und der E-Zine<br />
w w w .literatur-archiv -nrw .de entsprechende Service-Angebote.<br />
In einer Workshop-Sitzung im Sommer 2006 hat das Heine-Institut die<br />
Gründung einer Arbeitsgruppe zum Thema Kulturelle Überlieferung auf<br />
regionaler Ebene angeregt, um im Mikrokosmos der Region das kulturelle<br />
Subystem nachzeichnen zu können. Zunächst ist ein Zusammenschluss<br />
der Archivare wichtig, aber auch eine Rückkoppelung an die Forschung ist<br />
nicht zu vernachlässigen. Zwar sehen die Archivgesetze keine Abstimmung<br />
mit der Forschung vor, aber, um hier wiederum Kretzschmar zu zitieren:<br />
„Sie ist auch nicht verboten!“ Daher veranstaltete das Rheinische Literaturarchiv<br />
im Heinrich-Heine-Institut mit Unterstützung des Landschaftsverbandes<br />
Rheinland im Herbst 2006 eine Tagung zum Thema<br />
Kulturelle Überlieferung. Vereine, Verbände, Gesellschaften, um Archivare und<br />
Forscher zu einem gemeinsamen Diskurs anzuregen. Ein zweiter Teil des<br />
Kolloquiums zum Thema Literarisches Leben ist im Jahr 2007 gefolgt. 13<br />
12 Gerhard Granier: Die archivische Bewertung von Dokumentationsgut – eine ungelöste<br />
Aufgabe, in: Der Archivar 27 (1974), S. 231-240, hier: S. 239.<br />
13 Vgl. zu dem vom Landschaftsverband Rheinland geförderten Gesamtprojekt: Enno<br />
Stahl: Literarisches Leben am Rhein. Quellen zur literarischen Infrastruktur im Rheinland<br />
(Beitrag vom 19.5.2006).<br />
Universitätsreden 73 137
Bestandsbildung im Archiv des Deutschen Museums<br />
Wilhelm Füßl<br />
Die Fachgruppe 8 des Verbands deutscher Archivarinnen und Archivare<br />
umfasst neben den Universitäts- und Hochschularchiven eine Reihe von<br />
Archiven an Museen, an wissenschaftlichen und sonstigen Einrichtungen.<br />
Bei den letzteren steht beim Bestandsaufbau in der Regel nicht primär die<br />
Übernahme amtlichen Schriftguts einer zugeordneten Behörde im Vordergrund.<br />
Natürlich übernehmen auch sie die Akten ihrer eigenen Verwaltung,<br />
doch ist bei ihnen das Verhältnis von Verwaltungsakten zum Gesamtbestand<br />
prozentual meist genau umgekehrt zu den Universitätsarchiven, bei<br />
denen das Behördenschriftgut dominiert. Hinsichtlich der Bestandsbildung<br />
stehen bei den Archiven an Museen, wissenschaftlichen und sonstigen<br />
Einrichtungen solche Unterlagen im Vordergrund, die dem nichtamtlichen<br />
Archivgut zuzurechnen sind. Um ein Beispiel zu geben: Im Archiv<br />
des Deutschen Museums 1 liegt der Anteil des nichtamtlichen Schriftguts<br />
bei 85 Prozent oder 3,8 Regalkilometern (bei einem Gesamtbestand von<br />
4,5 Regalkilometern). In anderen Archiven der Fachgruppe bewegt sich der<br />
Prozentsatz des amtlichen Archivguts in vergleichbaren Dimensionen. 2<br />
1 Zum Archiv des Deutschen Museums vgl.: Wilhelm Füßl / Eva A. Mayring: Eine<br />
Schatzkammer stellt sich vor. Das Archiv des Deutschen Museums zu Naturwissenschaft<br />
und Technik. München 1994; Wilhelm Füßl: Das Verwaltungsarchiv des Deutschen<br />
Museums, in: Archiv und Wirtschaft 27 (1994), S.112-116; ders.: Technischwissenschaftliche<br />
Bestände im Museum. Das Archiv des Deutschen Museums, in:<br />
Naturwissenschaften und Archive. Naturwissenschaftliche und technische Überlieferungen<br />
wissenschaftlicher Einrichtungen. Frühjahrstagung der Fachgruppe 8 des<br />
Verbands deutscher Archivarinnen und Archivare am 27. März 2001 in Rostock.<br />
Rostock 2001, S. 7-15.<br />
2 In der Dokumentesammlung des Herder-Instituts in Marburg liegt beispielsweise der<br />
Anteil der Geschäftsakten des Instituts am Gesamtbestand bei 10 Prozent;<br />
Universitätsreden 73 139
Wilhelm Füßl<br />
Dies bedeutet, dass bei einer Reihe von Archiven der Schwerpunkt der<br />
Arbeit nicht in erster Linie auf der Übernahme, Bewertung, Kassation und<br />
Verzeichnung des ihnen zuwachsenden Schriftguts liegt, sondern dass sie<br />
von sich aus aktiv tätig werden müssen, um Bestände, in der Regel Sammlungsgut,<br />
an ihre Einrichtung zu holen. Um dieser Gruppe von Archiven<br />
eine zusammenfassende Bezeichnung zu geben, soll hier der Begriff<br />
„Sammelnde Archiv e“ verwendet werden. Beim „sammelnden Archiv “ spielt<br />
weniger die klassische Frage des „woher?“ eine Rolle, also „der besondere<br />
funktionale Zusammenhang des organisch erwachsenen Archivguts“ 3 (Behörden,<br />
Einrichtungen, Einzelpersonen), als vielmehr das Kriterium, w as<br />
überhaupt gesammelt werden soll. Die grundlegende Funktion sammelnder<br />
Archive ist demnach primär nicht die Bewertung von Schriftgut auf<br />
Archivwürdigkeit – diese Frage stellt sich nur in eingeschränktem Maße,<br />
da ohnehin nur ins Archiv kommt, was man wirklich haben will. Ihre zentrale<br />
Aufgabe besteht vielmehr in der gezielten Einwerbung. Um eine<br />
effektive Erwerbungspolitik zu gewährleisten, ist es aber unabdingbar, ganz<br />
konkret eine Sammlungspolitik zu formulieren, die als Ausgangspunkt und<br />
Argumentationshilfe bei Einwerbungen bzw. umgekehrt bei Ablehnungen<br />
hilft. Eine ausgefeilte Sammlungspolitik setzt eine klare Zielorientierung<br />
voraus. Letztere definiert sich im wesentlichen aus dem allgemeinen Selbstverständnis<br />
der jeweiligen Einrichtung.<br />
Zur Bedeutung von Sammlungsgut<br />
In seinem bemerkenswerten Eröffnungsvortrag anlässlich des 71. Deutschen<br />
Archivtages in Nürnberg im Jahr 2000 zum Thema „Die Zukunft<br />
der Vergangenheit“ hat Professor Hermann Lübbe einige für das deutsche<br />
Archivwesen wichtige Fragen aufgeworfen. Eine seiner Thesen war, dass es<br />
künftig zu einer Abnahme der „relativen Zuständigkeit der öffentlichen<br />
vgl. Dorothee M Goeze: In Grenzen unbegrenzt / „Sammeln“ im Archiv. Die<br />
Dokumentesammlung im Herder-Institut Marburg und ihr Sammlungsprofil (im<br />
Druck). Ich danke der Verfasserin für die Überlassung des Typoskripts.<br />
3 Eckhart G. Franz: Einführung in die Archivkunde. 4. Aufl. Darmstadt 1993, S. 2.<br />
140 Universitätsreden 73<br />
Bestandsbildung im Archiv des Deutschen Museums<br />
Archive für das Schriftgut nichtstaatlicher Stellen“ kommen werde. 4 Dahinter<br />
steht die Überlegung, dass staatliche und kommunale Archive<br />
schon heute allein bei der Übernahme der Akten aus den ihnen zugeordneten<br />
Stellen an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit arbeiten. Hartmut<br />
Weber hat dieses Problem kurz nach seiner Amtsübernahme auch für das<br />
Bundesarchiv betont: „Die Gesamtsituation ist jedoch gekennzeichnet<br />
durch eine sich zunehmend weiter öffnende Schere der in der Tendenz<br />
abnehmenden Ressourcen einerseits und andererseits der allein durch den<br />
zwangsläufigen Zugang an Archivgut sowie durch wachsende Nutzungsanforderungen<br />
zunehmenden Aufgaben“. 5 Als Folge dieser Situation sind<br />
viele staatliche, kommunale und körperschaftliche Archive heute nur sehr<br />
eingeschränkt in der Lage, nichtstaatliches Archivgut zu übernehmen.<br />
Führt man Lübbes Aussage gedanklich weiter, so bedeutet dies, dass Schriftund<br />
Sammlungsgut außerhalb der Zuständigkeit staatlicher Einrichtungen<br />
künftig in ganz erheblichem Maße von Verlust bedroht sein wird. Dieser<br />
Beobachtung kann man sich im übrigen nur anschließen, wenn man sieht,<br />
in welchem Umfang Einzelpersonen, Verbände, Vereine, Institutionen<br />
oder Industrieunternehmen ihre Akten und anderes Archivgut vernichten.<br />
In der Konsequenz von Lübbes Ansichten wird den Archiveinrichtungen<br />
außerhalb der staatlichen und kommunalen Zuständigkeit künftig<br />
eine größere Rolle bei der Sicherung von Schrift- und Sammlungsgut<br />
erwachsen. Damit sind die Archive der politischen Parteien, Stiftungen<br />
und Verbände, der Wirtschaft oder auch der Kreis der Archive an Hochschulen<br />
und wissenschaftlichen Institutionen besonders gefordert. Hier<br />
liegen neue Aufgaben und Herausforderungen. In besonderer Weise gilt<br />
dies für den Bereich des Sammlungsgutes bei Nachlässen, Fotos, Plakaten,<br />
Plänen, technischen Zeichnungen, AV-Materialien, Software etc.<br />
4 Vgl. den Tagungsbericht von Diether Degreif in: Der Archivar 54 (2001), S. 6.<br />
5 Hartmut Weber: Die Entwicklung des Bundesarchivs in der Wissensgesellschaft, in:<br />
Mitteilungen aus dem Bundesarchiv 9, Heft 1 (2001), S. 5.<br />
Universitätsreden 73 141
Wilhelm Füßl<br />
Das Archiv des Deutschen Museums und seine Sammlungspolitik<br />
Das Sammlungsprofil des Archivs des Deutschen Museums definiert sich<br />
in erster Linie aus der Tatsache, dass es als Archiv an einem der weltweit<br />
größten Technik- und Wissenschaftsmuseen angesiedelt ist. Seit seiner<br />
Gründung im Jahr 1903 erwirbt das Deutsche Museum herausragende und<br />
zeittypische Objekte, die für die Entwicklung der Naturwissenschaft und<br />
der Technik von hoher Bedeutung sind. 6 In seinem breiten Anspruch, eine<br />
zentrale Sammelstelle für die technisch-wissenschaftliche Kultur in<br />
Deutschland zu sein, war bereits in den ersten Aufrufen zur Gründung<br />
eines „Museums von Meisterwerken der Wissenschaft und Technik“ auch<br />
die Schaffung einer Bibliothek und eines Archivs explizit erwähnt. 7 In<br />
mehr als 100 Jahren Sammlungsgeschichte haben das Museum und das<br />
Archiv zentrale Objekte und Archivalien zur Wissenschafts- und Technikgeschichte<br />
zusammengetragen.<br />
Das Sammlungsprofil des Archivs kann heute auf die Erwerbungen seit<br />
1903 aufsatteln, muss diese aber nach definierten Sammlungsschwerpunkten<br />
schärfer konturieren. Letztlich orientiert sich eine stringente Sammlungspolitik<br />
an den heute vorhandenen Beständen, an allgemeinen Vorgaben<br />
der Museumsleitung, an Forschungsinteressen und an der Verzahnung<br />
mit den Objektsammlungen des Museums. Gleichzeitig schärft<br />
sich das Profil durch die Einbindung in die deutsche Archivlandschaft.<br />
Die Notwendigkeit der Konkretisierung und Definition einer Sammlungspolitik<br />
ergibt sich zum einen aus dem Anspruch des Archivs des<br />
Deutschen Museums, ein zentrales Archiv für Technik- und Wissenschaftsgeschichte<br />
in Fragen der Archivierung und Forschung zu sein. Darüber<br />
hinaus kommt dem Archiv des Deutschen Museums in dem Bereich der<br />
Technik- und Wissenschaftsgeschichte eine besondere Aufgabe zu: Es<br />
6 Museum von Meisterwerken der Naturwissenschaft und Technik. Satzung Allerhöchst<br />
genehmigt [...] am 28. Dezember 1903. München 1903. § 1.<br />
7 Deutsches Museum, Archiv, VA 3969. Vgl. Wilhelm Füßl / Helmut Hilz / Helmuth<br />
Trischler: Forschung, Bibliothek und Archiv. Der Wissenschaftsstandort Deutsches<br />
Museum, in: Wilhelm Füßl / Helmuth Trischler (Hrsg.): Geschichte des Deutschen<br />
Museums. Akteure, Artefakte, Ausstellungen. München u. a. 2003, S. 323-361.<br />
142 Universitätsreden 73<br />
Bestandsbildung im Archiv des Deutschen Museums<br />
sichert und erschließt Schriftgut, das außerhalb des Blickwinkels und der<br />
Zuständigkeit staatlicher und kommunaler Archive sowie von Wirtschaftsarchiven<br />
liegt. Es übernimmt insofern eine zentrale Verantwortung für die<br />
Bewahrung und Erschließung spezifisch technik- und wissenschaftshistorischen<br />
Schriftguts.<br />
Vor diesem Hintergrund lassen sich einige allgemeine Leitsätze und<br />
Grundbedingungen der Sammlungspolitik formulieren:<br />
1. Qualität des Schriftguts<br />
Das Archiv des Deutschen Museums konzentriert sich auf die Sammlung<br />
zentraler Originaldokumente, welche entscheidende und markante Entwicklungsschritte<br />
der Technik und Naturwissenschaften dokumentieren<br />
und insofern große Relevanz für die historische Forschung besitzen. Der<br />
Anspruch des Deutschen Museums, ein Museum von „Meisterwerken“ zu<br />
sein, spiegelt sich auch in der Erwerbung hochkarätiger Bestände für das<br />
Archiv wider. Daraus leitet sich das Prinzip ab, Quellen und Dokumente<br />
zu sammeln, die überregionale, ja internationale Bedeutung für die Technik-<br />
und Wissenschaftsgeschichte besitzen.<br />
2. Fokussierung des Sammelns<br />
Der Anspruch, hochkarätige Bestände zu sammeln, führt notwendigerweise<br />
zu einer Fokussierung der Sammlungspolitik, da nicht alle Gebiete<br />
in Naturwissenschaft und Technik gleichmäßig gut abzudecken sind. Das<br />
Archiv beschränkt seine aktive Erwerbungsstrategie auf fachliche Schwerpunkte,<br />
die sich in der Geschichte des Museums besonders herausgebildet<br />
haben und in denen heute ein Fundus von hoher Qualität vorhanden ist.<br />
Solche traditionellen Prioritäten liegen in der Physik- und Chemiegeschichte,<br />
im Maschinenbau und Verkehrswesen oder in der Luft- und<br />
Raumfahrt. Gleichzeitig fokussiert sich die Sammlungspolitik auf neue<br />
Felder, die aktuelle und neueste Entwicklungen in Technik und Naturwissenschaft<br />
reflektieren. Besondere Bedeutung haben dabei Leittechnologien<br />
bzw. Leitwissenschaften. Dazu gehören u. a. die Informatik und alternative<br />
Energietechnik. Die Konzentration auf ausgewählte Sammlungsschwerpunkte<br />
bedingt im umgekehrten Fall, dass andere Bereiche zurückstehen<br />
müssen, wie z. B. Haustechnik und Landtechnik.<br />
Universitätsreden 73 143
Wilhelm Füßl<br />
3. Gattungsspezifisches Sammeln<br />
Das Archiv ist bemüht, neben fachlichen Schwerpunkten auch Quellengattungen<br />
verstärkt zu sammeln, die für die wissenschafts- und technikhistorische<br />
Forschung von zentraler Bedeutung sind. Dazu gehören selbstverständlich<br />
Nachlässe, aber auch die Erweiterung einer für Deutschland<br />
nahezu einmaligen Sammlung an Firmenschriften; diese sind für Objektwie<br />
Restaurierungsforschung gleichermaßen relevant. Auch Pläne und<br />
technische Zeichnungen zählen zu den Spezifika technikhistorischer Forschung.<br />
Eine historisch breitere Einordnung ermöglichen geschlossene Bestände<br />
von Firmenarchiven bedeutender Unternehmen.<br />
4. Forschungsrelevanz<br />
Die Einordnung des Deutschen Museums als Forschungseinrichtung 8<br />
impliziert die primäre Orientierung des Archivs an Forschungsinteressen.<br />
Dementsprechend ist die Zielgruppe des Archivs der forschende Benutzer.<br />
Neu zu erwerbende Bestände müssen eine hohe Forschungsrelevanz und<br />
ein ausgeprägtes Forschungspotenzial besitzen. Auch hier bedingt der Umkehrschluss,<br />
dass rein illustrierende Bestände, wie Marken, Medaillen,<br />
Plakate, Grafik etc. nicht weiter aktiv gesammelt werden. Ausgenommen<br />
sind jedoch Fotografien und Porträts, die als Bildquellen zu einem wichtigen<br />
Instrument der Forschung geworden sind.<br />
5. Original statt Sekundärmaterial<br />
Ein hoher Anspruch an die Qualität von Dokumenten und die Forderung<br />
nach Forschungsrelevanz bedeutet, dass im Archiv des Deutschen Museums<br />
das eindeutige Schwergewicht auf der Akquirierung von Originalquellen<br />
liegt. Nur aus ihnen können neue Impulse und verifizierbare Erkenntnisse<br />
geschöpft werden, die auch zu wichtigen Forschungsergebnissen führen.<br />
Zudem benötigt die Erschließung von sekundärem Dokumentationsmaterial<br />
nahezu die gleiche Zeit wie die Erfassung einer Originalquelle.<br />
Museumsintern wurde daher bereits vor einigen Jahren der Beschluss gefasst,<br />
künftig keine Dokumentationen zu übernehmen.<br />
8 Das Deutsche Museum zählt als Forschungsmuseum zu den Mitgliedern der Wissenschaftsgemeinschaft<br />
Gottfried Wilhelm Leibniz.<br />
144 Universitätsreden 73<br />
Bestandsbildung im Archiv des Deutschen Museums<br />
6. Konvolute statt Einzelstücke<br />
Ein weiteres Kriterium der Sammlungspolitik gerade in Hinblick auf<br />
Forschungsinteressen ist die Priorisierung geschlossener Bestände gegenüber<br />
der Erwerbung von isolierten Einzelstücken. So soll z. B. der Erwerbung<br />
von Nachlässen gegenüber der Erwerbung von Einzelhandschriften<br />
der Vorzug gegeben werden. Ähnlich verhält es sich bei Archiven von<br />
Firmen und Institutionen oder geschlossenen Zeichnungssätzen.<br />
7. Archiv und Museum<br />
Das Archiv des Deutschen Museums ist kein isoliertes Archiv, sondern,<br />
wie gesagt, seit seiner Gründung eng mit der Sammlung von Objekten für<br />
das Museum verknüpft. Gleichzeitig nimmt die technik- und wissenschaftsgeschichtliche<br />
Forschung in den letzten Jahren eine stärkere Rolle<br />
ein. Daraus ergeben sich einige zusätzliche Kriterien, die die Sammlungsstrategie<br />
des Archivs bestimmen. Besondere Aufmerksamkeit gilt der<br />
Sammlung von Archivgut, das in organischem Zusammenhang mit wichtigen<br />
Objektbeständen steht, diese für die Forschung ergänzt bzw. erst<br />
erklärt. In der künftigen Erwerbungsstrategie sollen Dokumente, die für<br />
die Objektgeschichte und die am Deutschen Museum laufenden Objektforschungen<br />
von besonderer Bedeutung sind, mit stärkerer Betonung als<br />
bisher gesammelt werden. Dies bedeutet auch eine enge Abstimmung zwischen<br />
Archiv, Forschung und Kuratoren.<br />
8. Zielperspektive<br />
Das Archiv hat bisher kaum unter sozial-, wirtschafts- oder alltagsgeschichtlichen<br />
Aspekten gesammelt. Eine radikale Umstellung dieser Sammlungspraxis<br />
ist nicht zu leisten. Generell hat eine gravierende Veränderung<br />
von Sammlungsstrategien – z. B. Aufbau neuer Bereiche (wie Gentechnik,<br />
Nanotechnik) – weitreichende Konsequenzen für die Arbeit des Archivs<br />
(personell, räumlich) und auf bisher gesammelte Bereiche. Grundsätzliche<br />
Änderungen des Erwerbungsprofils können nur nach intensiver Diskussion<br />
auf der Basis schlüssiger Sammlungskonzepte angegangen werden.<br />
Universitätsreden 73 145
Wilhelm Füßl<br />
Aus diesen Grundsätzen leitet das Archiv des Deutschen Museums eine<br />
aktiv e Sammlungspolitik ab, die sich genau überlegt, welche Bestände relevant<br />
sind und welche nicht. Im Gegensatz zu zufälligen Angeboten im<br />
Auktionshandel oder durch überraschende Angebote von Privatpersonen<br />
versucht das Archiv, interessantes archivisches Sammlungsgut zu identifizieren,<br />
aufzufinden und gezielt zu übernehmen.<br />
Seit einigen Jahren arbeitet das Archiv des Deutschen Museums daran,<br />
seine Sammlungspolitik und die damit verknüpfte Erwerbungspolitik konsequent<br />
zu verschriftlichen. Hintergrund ist, dass nur eine schriftlich<br />
fixierte und öffentlich bekannte Sammlungspolitik interessierten Stiftern,<br />
Kollegen aus dem Archiv-, Bibliotheks- und Museumsbereich, der Forschung,<br />
der allgemeinen Öffentlichkeit und Förderinstitutionen als Grundlage<br />
für eine sachgerechte Zusammenarbeit dienen kann. Ganz generell<br />
wäre zu wünschen, dass auch andere „sammelnde Archiv e“ entsprechende<br />
Sammlungskonzepte entwickeln, aus denen sich dann Absprachen ableiten<br />
ließen. Obwohl derartige „collecting policies“ eng mit der Aufgabenstellung<br />
der jeweiligen übergeordneten Einrichtung verbunden sind – Universitäts-<br />
und Hochschularchive konzentrieren sich z. B. neben ihrer Funktion<br />
als Behördenarchive bei der Erwerbung von Sammlungsgut auf<br />
Unterlagen, die für die Geschichte ihrer Häuser von besonderer Bedeutung<br />
sind, so auf die Sammlung von Nachlässen ihrer Hochschullehrer, von<br />
Fotos zu Ereignissen aus der Hochschulgeschichte, von Flugblättern und<br />
Wandzeitungen der verschiedenen studentischen Gruppen, Plakate, Tonund<br />
Filmdokumente –, fehlen sie im nationalen wie internationalem<br />
Raum fast völlig. Ein frühes Beispiel ist das Archiv des National Air and<br />
Space Museum (NASM) in Washington, das erstmals 1993 seine Sammlungspolitik<br />
niedergelegt hat. 9<br />
9 National Air and Space Archives. Collections Management Policy. Prepared by NASM<br />
Archives Advisory Committee. Washington 1993 (27 S. ms.).<br />
146 Universitätsreden 73<br />
„Verteiltes Sammeln“<br />
Bestandsbildung im Archiv des Deutschen Museums<br />
Eine tiefgreifende und längerfristig akzeptierte Sammlungspolitik des<br />
Archivs des Deutschen Museums kann letztlich nur im Verbund mit anderen<br />
Einrichtungen funktionieren. Je mehr Spezialarchive (oder auch<br />
Bibliotheken und wissenschaftliche Einrichtungen) ihre Sammlungsprofile<br />
offenlegen, um so wirkungsvoller kann dem von Lübbe befürchteten<br />
Kulturgutverlust entgegengewirkt werden. In einigen Einrichtungen lassen<br />
sich jetzt ähnliche Überlegungen beobachten. Ein Beispiel zu einer konzentrierten<br />
Verständigung über gegenseitige Sammlungsprofile lässt sich<br />
bei einigen Archiven der Gottfried Wilhelm Leibniz Gemeinschaft (WGL)<br />
beobachten. Die Leibniz-Gemeinschaft ist 1995 aus der Arbeitsgemeinschaft<br />
Blaue Liste hervorgegangen, einem losen Zusammenschluss von<br />
Forschungsmuseen, -instituten und Serviceeinrichtungen. Hier hat sich im<br />
April 2005 eine Reihe interessierter Archive offiziell zu einer „Arbeitsgruppe<br />
Archive“ innerhalb der WGL zusammengeschlossen. 10 Im Rahmen<br />
ihrer regelmäßigen Treffen werden hier auf Anregung des Archivs des<br />
Deutschen Museums seit September 2006 die jeweiligen Sammlungsprofile<br />
und mögliche Absprachen bei der Übernahme diskutiert. Hilfreich ist<br />
dabei, dass die AG Archive unterschiedliche Spektren abdeckt. So übernimmt<br />
u. a. das Archiv des Deutschen Museums nichtstaatliches Archivgut<br />
zu Naturwissenschaft und Technik, die Archive des Deutschen Schifffahrtsmuseums<br />
in Bremerhaven bzw. des Deutschen Bergbaumuseum in<br />
Bochum wiederum sind, wie ihre Namen schon ausdrücken, auf Schifffahrt<br />
und Bergbau spezialisiert. Andere Einrichtungen haben geographische<br />
Schwerpunkte oder sie konzentrieren sich auf Bildung, Film oder<br />
Kunst und Gewerbe. Insgesamt dokumentieren sie „exemplarisch die<br />
gesamtgesellschaftliche Relevanz und nationale wissenschaftspolitische<br />
Bedeutung“ der WGL. 11 Der Generalsekretär der Gemeinschaft, Dr.<br />
Michael Klein, hat im Jahr 2005 in einem Vortrag anlässlich des vom<br />
10 Michael Farrenkopf: AG Archive der Leibniz-Gemeinschaft gegründet, in: Der Archivar<br />
59 (2006), S. 68-69.<br />
11 Ebd. S. 69.<br />
Universitätsreden 73 147
Wilhelm Füßl Bestandsbildung im Archiv des Deutschen Museums<br />
Archiv des Deutschen Museums organisierten internationalen Treffens<br />
von CASE (Cooperation of Archives of Science in Europe) ein<br />
„Distributing Collecting“ und eine Strategie eines „Archive Networking“<br />
ausdrücklich angemahnt. 12 Die Archive der Leibniz-Gemeinschaft haben<br />
beschlossen, hier erste gemeinsame Schritte zu einem „verteilten<br />
Sammeln“ zu unternehmen. Als Kompetenzzentren für spezialisierte<br />
Bereiche unserer technisch-wissenschaftlichen Kultur sammeln sie neben<br />
schriftlichen, zeichnerischen und fotografischen Quellen teilweise auch<br />
dreidimensionale Objekte in ihren Segmenten, wo sie einen einzigartigen<br />
nationalen Fundus zusammengetragen haben.<br />
Fazit<br />
Gerade aufgrund ihrer unterschiedlichen Forschungseinrichtungen<br />
erscheint die Leibniz-Gemeinschaft besonders geeignet zu sein, eine übergeordnete<br />
nationale Rolle bei der Archivierung wissenschaftlich-technischen<br />
Sammlungsguts für ganz Deutschland zu übernehmen. Ziel eines<br />
solchen Vorhabens wäre, eine über die Leibniz-Archive hinaus gehende,<br />
abgestimmte, zumindest allgemein bekannte „collecting policy“ für Sammlungsgut<br />
in Deutschland zu entwickeln. Bislang fehlt so etwas wie ein<br />
„nationales Sammlungskonzept für Archiv- und Sammlungsgut“. Nur<br />
wenigen deutschen Archiven (und Bibliotheken) ist es bisher gelungen,<br />
eine anerkannte und – geförderte – nationale Sammelstelle für einen bestimmten<br />
Bereich zu sein. Hier könnte die Leibniz-Gemeinschaft eine<br />
Diskussion anstoßen, die von weitreichender nationaler Bedeutung wäre.<br />
Schon aufgrund ihrer Struktur mit den fünf Sektionen der Leibniz-Gemeinschaft<br />
deckt sie eine Spannbreite von kulturwissenschaftlichen Instituten<br />
bis hin zu naturwissenschaftlich-technischen Einrichtungen ab.<br />
12 Michael Klein: „Distributed Collecting“? Strategies for Archive Networking in Germany;<br />
in: CASE Newsletter, Nr. 11, Juni 2005; http://www.bath.ac.uk/nuacs/FP2_<br />
Klein.htm<br />
Auch lagert in den Archiven ihrer Einrichtungen bereits heute archivisches<br />
Sammlungsgut von nationaler, ja internationaler Bedeutung.<br />
Auf dieser Basis einer abgestimmten nationalen Sammlungspolitik könnten<br />
dann künftig Bestände gezielt eingeworben und genau den Einrichtungen<br />
zugewiesen werden, die auf einem Spezialgebiet über das anerkannt<br />
größte Know-how verfügen. Ein praktikables Vorbild könnten die<br />
von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten „Sondersammelgebiete“<br />
für den Bibliotheksbereich sein. Ähnlich dazu könnten innerhalb<br />
und außerhalb der Leibniz-Gemeinschaft Aufgabenschwerpunkte für<br />
Archive mit bestimmten Sammlungsschwerpunkten definiert werden, die<br />
dann analog zu den Bibliotheken mit Sondersammelgebieten mit entsprechenden<br />
Fördergeldern ausgestattet würden. Diese Sammlungsschwerpunkte<br />
sollten natürlich mit den Zielsetzungen und Forschungsschwerpunkten<br />
der jeweiligen Institute eng abgestimmt sein. Ziel wäre ein Netzwerk<br />
von Archiveinrichtungen, ein „verteiltes Sammeln“.<br />
148 Universitätsreden 73 Universitätsreden 73 149
Werkstattbericht:<br />
„Der Nachlass des Soziologen und Universitätsplaners<br />
Helmut Schelsky im Universitätsarchiv Bielefeld“<br />
„Zur Verwendung in der Darstellung der Gründungsgeschichte der Universität<br />
Bielefeld hat mir Helmut Schelsky neben anderen Unterlagen drei<br />
blaue Sammelmappen übergeben, die er als die Summe seiner hochschulpolitischen<br />
Arbeit nach 1965 bezeichnete, als wir sie, nach langer Suche<br />
auf dem großen Dachboden seines Hauses im Pleistermühlenweg schließlich<br />
fanden. Immer bestürzter hatte er reagiert, je länger die Suche vergeblich<br />
war, und ungeheuer erleichtert war er, als die Mappen sich schließlich<br />
hinter einem Schornstein fanden.“<br />
So Dr. Klaus-Dieter Bock, ein<br />
Schüler Helmut Schelskys, in<br />
einem ersten Entwurfspapier zu<br />
seiner in den frühen 1980er<br />
Jahren geplanten und letztlich<br />
nicht realisierten Dokumentation<br />
des Aufbaus der Universität<br />
Bielefeld. Die obengenannten<br />
blauen Mappen sind das<br />
Herzstück des Teilnachlasses des<br />
Soziologen und Universitätsplaners<br />
Helmut Schelsky im<br />
Universitätsarchiv Bielefeld.<br />
Abb. 1: Prof. Dr. Helmut Schelsky<br />
(Aufnahme von 1966)<br />
Martin Löning<br />
Universitätsreden 73 151
Martin Löning Werkstattbericht<br />
Einführung<br />
Nachlässe stellen für Hochschularchive eine bedeutende Ergänzung der<br />
amtlichen Überlieferung dar, in der sich das mannigfache Wirken im<br />
Wissenschaftsbetrieb Universität dokumentiert. Hochschularchive werden<br />
gerade durch Nachlässe von Wissenschaftlern oder andere die Geschichte<br />
und Entwicklung der Institution prägende Persönlichkeiten lebendig. Das<br />
Dokumentationsprofil eines Hochschularchivs wird deshalb immer auch<br />
Vor- und Nachlässe bedeutender Wissenschaftler oder Mitglieder der<br />
betreffenden Universität enthalten. Die Frühjahrstagung unserer Fachgruppe<br />
in Potsdam im letzten Jahr hat noch einmal gezeigt, wie interessant<br />
und wichtig Nachlässe sind, aber auch wie problematisch der Umgang<br />
und der Erwerb von Nachlässen mitunter sein kann. Insbesondere der<br />
Beitrag von Winfried Schultze von der Humboldt-Universität in Berlin<br />
hat deutlich gemacht, dass Nachlasseinwerbung, wenn sie nicht ganz dem<br />
Zufall überlassen bleiben soll, mit permanenter Kontaktpflege, dem Aufbau<br />
von Vertrauen und mitunter dem Bohren „dicker Bretter“ verbunden<br />
ist. Bündnispartner für die Archive sind rar; in Bielefeld unterstützt gelegentlich<br />
die Universitätsgesellschaft das Universitätsarchiv beim Ankauf<br />
von für die Universitätsgeschichte wichtigen Fotonachlässen. Nachlässe<br />
kommen entweder bereits „vorsortiert und bewertet“ ins Archiv oder man<br />
übernimmt im Falle des plötzlichen Todes des Lehrstuhlinhabers ein völlig<br />
ungeordnetes Konvolut unterschiedlichster Materialien. Sinnvolle Hinweise,<br />
wie bei der Bewertung verfahren werden könnte, hat dankenswerterweise<br />
der Düsseldorfer Kollege Max Plassmann im Bewertungsforum<br />
im Internet gegeben.<br />
Das Universitätsarchiv Bielefeld wurde 1996 auf Anregung des ersten<br />
Bielefelder Universitätskanzlers Dr. Eberhard Firnhaber eingerichtet, der<br />
sich in den folgenden zwei Jahren als Aufbaubeauftragter des Rektorats für<br />
das Universitätsarchiv insbesondere darum bemühte, die Mitglieder des<br />
Gründungsausschusses und des Wissenschaftlichen Beirats zu einer Abgabe<br />
ihrer Unterlagen, die den Gründungsprozess der Universität Bielefeld<br />
betrafen, zu bewegen. Ins Universitätsarchiv sind so u. a. Teilnachlässe der<br />
Theologen Johann Baptist Metz und Trutz Rendttorff, des Gründungsrektors<br />
und Juristen Ernst-Joachim Mestmäcker, des Mathematikers Friedrich<br />
Hirzebruch oder des Historikers Reinhart Koselleck gelangt. Weitere Nachlässe<br />
von am Gründungsprozess beteiligten Professoren waren zum Zeitpunkt<br />
der Etablierung des Universitätsarchivs bereits in andere Archive<br />
gewandert, wie der Nachlass des Philosophen Hermann Lübbe (Archiv der<br />
ETH Zürich) oder des Pädagogen Hartmut von Hentig (Marbach), oder<br />
aber sie waren bereits vernichtet worden.<br />
Auch in der Folgezeit ist – und das wird in allen Archiven ähnlich sein –<br />
Nachlasseinwerbung eine Geschichte von Erfolgen 1 und Misserfolgen. 2<br />
Ein großer Erfolg war die Übernahme des Teilnachlasses von Helmut<br />
Schelsky, der nach fast sechs Jahren Überzeugungsarbeit endlich in mehreren<br />
Abgaben von Juni 2002 bis März 2003 ins Universitätsarchiv Bielefeld<br />
gelangte.<br />
Der Schelsky-Nachlass<br />
Helmut Schelsky und die Universität Bielefeld<br />
Helmut Schelsky, am 14. Oktober 1912 in Chemnitz geboren, studierte<br />
Philosophie, Germanistik, Geschichte und Kunstgeschichte an den Universitäten<br />
Königsberg und Leipzig, vor allem bei Arnold Gehlen und Hans<br />
Freyer. 1935 promovierte er mit dem Thema „Die Theorie der Gemein-<br />
1 U.a. sind Teilnachlässe des Philosophen von Savigny, der Soziologen Kaufmann und<br />
Rammstedt, der Biologen von Sengbusch, Breckle und Jockusch, der Juristen Wieland,<br />
Frehsee und Weber, des Physikers Welge oder des Wirtschaftswissenschaftlers Kistner<br />
ins Universitätsarchiv gelangt.<br />
2 Ein Misserfolg war die Aktenvernichtung eines bedeutenden Bielefelder Lehrstuhlinhabers.<br />
Schreiben nach dessen Emeritierung blieben unbeantwortet, und auch Versuche,<br />
über ihm nahestehende Personen eine Abgabe an das Archiv zu erreichen, führten<br />
zu keinem Ergebnis. Ein erneutes Schreiben des Archivars, das im Hinblick auf<br />
einen geplanten Umzug erfolgte, wurde bereits nach wenigen Tagen beantwortet. Der<br />
Inhalt: „Lieber Herr Löning, besten Dank für Ihren Brief vom 30.10. Die freundliche<br />
Aufforderung kam zu spät, denn ich habe alle Unterlagen aus der Zeit zwischen 1952<br />
und 2000 in den Schredder gegeben. Es wäre mir ziemlich eitel vorgekommen, die<br />
rund 400 Leitz-Ordner noch länger zu verwahren. Mit der Bitte um Verständnis und<br />
freundlichen Grüßen von Ihrem ...“<br />
152 Universitätsreden 73 Universitätsreden 73 153
Martin Löning<br />
schaft nach Fichtes ‚Naturrecht‘ von 1796“. Von 1938 bis 1940 war er<br />
Assistent von Arnold Gehlen an der Universität Königsberg und 1939 habilitierte<br />
er sich mit der Schrift „Thomas Hobbes, eine politische Lehre“.<br />
1940/41 war er Assistent von Hans Freyer an der Universität Budapest,<br />
bevor er Mitte 1943 zum außerordentlichen Professor der Soziologie und<br />
Staatsphilosophie an die Universität Straßburg berufen wurde, die Stelle<br />
allerdings kriegsbedingt nicht mehr antrat. 3 Von 1949 bis 1953 war er<br />
Direktor der von den Gewerkschaften, der Konsumgenossenschaft und<br />
dem Senat der Freien Hansestadt Hamburg neu gegründeten Akademie für<br />
Gemeinwirtschaft, danach ordentlicher Professor für Soziologie an der<br />
Universität Hamburg. 1960 wurde er Professor der Soziologie an der Universität<br />
Münster und zugleich Direktor der Sozialforschungsstelle Dortmund<br />
der Universität Münster.<br />
Als der Wissenschaftsrat Anfang der 1960er Jahre vor dem Hintergrund<br />
der „deutschen Bildungskatastrophe“ (Georg Picht) und einer zu erwartenden<br />
Studentenschwemme die Gründung neuer Universitäten, u. a. in<br />
Nordrhein-Westfalen, anregte, wurde der nordrhein-westfälische Kultusminister<br />
Prof. Dr. Paul Mikat auf Schelsky aufmerksam, der 1963 mit seinem<br />
Werk „Einsamkeit und Freiheit. Idee und Gestalt der deutschen<br />
Universität und ihrer Reformen“ ein grundlegendes Werk über die seiner<br />
Meinung nach noch immer gültigen Humboldt’schen Bildungsideale und<br />
die Notwendigkeit höchstrangiger interdisziplinärer Forschungsinstitutionen<br />
vorgelegt hatte. Den Titel „Einsamkeit und Freiheit“ wählte Schelsky<br />
in Analogie zu Wilhelm von Humboldt, der diese Formel prägte, als er<br />
1809 den Planungsauftrag zur Neugründung der Berliner Universität erhielt.<br />
Nach zwei Vorgesprächen beauftragte Mikat am 9. März 1965<br />
Schelsky offiziell, die vorbereitende Planung zum Aufbau einer Universität<br />
in Ostwestfalen zu übernehmen.<br />
Helmut Schelsky ging mit einem unvorstellbarem Elan und einer enormen<br />
Produktivität ans Werk, was sich in der übergroßen Fülle der Materialien<br />
nur unzureichend widerspiegelt. 4 Die ostwestfälische Universität<br />
3 Schelsky wurde bereits 1939 zur Infanterie eingezogen und machte nahezu den ganzen<br />
Krieg an der Front mit, wobei er dreimal verwundet wurde.<br />
154 Universitätsreden 73<br />
Werkstattbericht<br />
Abb. 2: Teil der Gruppenuniversität. Helmut Schelsky, ganz rechts, in einer Fakultätskonferenz<br />
der Soziologen am 17. November 1969, zwischen Studenten,<br />
wissenschaftlichen Mitarbeitern und Professoren. Neben ihm der erste Professor der<br />
Bielefelder Universität, Prof. Dr. Niklas Luhmann. Die Aufnahme befand sich in<br />
einer Mappe mit ungeordnetem Material im Nachlass Schelsky.<br />
sollte von einem durchaus kühn zu nennenden Reformkonzept getragen<br />
werden. Schelskys Idee war, im deutschen Universitätssystem eine Ausnahmeuniversität<br />
zu schaffen, die durch das Primat der Forschung, der<br />
Einheit von Forschung und Lehre sowie der Verbindung von Wissenschaft<br />
und Praxis gekennzeichnet war. Hinzu kam – seinerzeit einmalig in<br />
Deutschland – das Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF), das For-<br />
4 Bereits am 1. Juli 1966 legte Schelsky zusammen mit Paul Mikat die Schrift „Grundzüge<br />
einer neuen Universität“ vor. Darüber hinaus produzierte er Papiere, korrespondierte<br />
eifrig, nahm Vortrags- und Informationsveranstaltungen, Arbeits- und Gremiensitzungen<br />
sowie etliche Gesprächstermine wahr und erfüllte darüber hinaus seine üblichen<br />
Verpflichtungen als Direktor der Sozialforschungsstelle, Professor und ab 1967<br />
auch als Vorsitzender des Planungsbeirats in Nordrhein-Westfalen.<br />
Universitätsreden 73 155
Martin Löning Werkstattbericht<br />
schung über die Fächergrenzen hinweg initiieren und fördern sowie die<br />
Isolierung der einzelnen Wissenschaftsdisziplinen verhindern sollte.<br />
Abb. 3: Handschriftlicher Entwurf Schelskys zum Dokument XV „Ziele und Zeitpläne des<br />
Aufbaus (Wissenschaftliche Planung) der Universität Ost-Westfalen“ vom 20.<br />
November 1965 (Universitätsarchiv Bielefeld, NL Schelsky 1).<br />
In den vier Jahren von der Planungsbeauftragung durch Mikat im März<br />
1965 bis zur Gründung der Universität Bielefeld im November 1969 ist<br />
der größte Teil des Materials des Teilnachlasses entstanden. Schelsky fungierte<br />
in dieser Zeit als stellvertretender Vorsitzender des Gründungsausschusses<br />
und Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der Universität<br />
Bielefeld. Darüber hinaus war er von 1970 bis 1971 Geschäftsführender<br />
Direktor des ZiF und von 1970 bis 1973 Professor für Soziologie der Universität<br />
Bielefeld, bevor er sich Ende 1973 bei zunehmender Distanz zu seinem<br />
Reformprojekt und entnervt von den Niederungen der Fakultätsarbeit<br />
zurück nach Münster versetzen ließ, wo er 1978 emeritiert wurde.<br />
Die Universität Bielefeld ernannte ihn am 16. Februar 1983 zusammen<br />
mit den anderen „Gründervätern“ der Universität (Kultusminister Paul<br />
Mikat, Gründungsrektor Ernst-Joachim Mestmäcker und der „Beauftragte<br />
des Landes Nordrhein-Westfalen für die Organisations- und Verwaltungsplanung<br />
der Universität im ostwestfälischen Raum“, der Bonner Universitätskanzler<br />
Eberhard Freiherr von Medem) zum Ehrensenator. Die feierliche<br />
Verleihung der Ehrensenatorwürde am 4. Mai 1984 – von der Presse<br />
als „Versuch einer Versöhnung“ interpretiert – erlebte Schelsky allerdings<br />
nicht mehr. Helmut Schelsky starb am 24. Februar 1984 in Münster. Bis<br />
dahin hatte er die Entwicklung der Universität Bielefeld weiter verfolgt.<br />
Anfang der 1980er Jahre dachte er sogar darüber nach, zusammen mit dem<br />
anfangs erwähnten Bielefelder Soziologen Klaus-Dieter Bock, die Entstehungsgeschichte<br />
der Universität Bielefeld von 1965 bis 1970 in einem<br />
größer angelegten Forschungsprojekt zu beleuchten, wie eine Forschungsskizze<br />
vom 26. April 1982 belegt.<br />
Umfang und Zustand des Materials<br />
Legen wir das Bewertungsschema Max Plassmanns zugrunde, gehört der<br />
Nachlass des „Universitätsgründers“ Helmut Schelsky für das Universitätsarchiv<br />
Bielefeld eindeutig in die höchste Kategorie („Grundsätzlich kommen<br />
alle angebotenen Unterlagen für eine Archivierung in Frage; Nachlass<br />
sehr bedeutender Wissenschaftler oder sehr wichtiger Persönlichkeiten der<br />
Universitätsgeschichte“), was die Bewertung einfach macht.<br />
156 Universitätsreden 73 Universitätsreden 73 157
Martin Löning Werkstattbericht<br />
Die Abgaben umfassten insgesamt 13 Umzugskartons. Klaus-Dieter Bock<br />
erhielt bei der anfangs erwähnten Begebenheit auf dem Dachboden von<br />
Schelskys Münsteraner Wohnung nicht nur die umfangreichen Materialien<br />
von Schelsky selbst, sondern trug darüber hinaus auch Verwaltungsakten<br />
aus der Zentralverwaltung der Universität, aus der Fakultät für<br />
Soziologie, Handakten von einzelnen am Universitätsaufbau beteiligten<br />
Personen, wie z. B. Eberhard Freiherr von Medem, zusammen. Schließlich<br />
fertigte er Kopien von Ministerialakten an. Dieses Material sollte dem<br />
schon erwähnten Forschungsvorhaben dienen, aber auch der Grundstock<br />
für ein noch zu errichtendes Universitätsarchiv sein.<br />
Teile des Materials waren bei der Abgabe durch Helmut Schelsky „vorgeordnet“<br />
und von Klaus-Dieter Bock so belassen und lediglich in Mappen<br />
abgelegt worden. Andere Teile waren von Bock entsprechend seines<br />
Forschungsinteresses unter bestimmten Ordnungskriterien strukturiert<br />
worden. Darüber hinaus machten zeitlich oder thematisch gänzlich ungeordnete<br />
und aufeinandergeschichtete Papierstapel und Lose-Blatt-Sammlungen<br />
bestehend aus Briefen, Universitätsunterlagen, Publikationen und<br />
Zeitungsausschnitten einen nicht unwesentlichen Teil der Schelsky-Abgabe<br />
aus.<br />
Mitunter war es bei der Sichtung schwierig, wenn nicht gar unmöglich,<br />
die genaue Provenienz der Materialien festzustellen. Eindeutig nicht in<br />
den Teilnachlass gehörende Unterlagen wurden hier ausgesondert und<br />
werden in die entsprechenden Bestände (Fakultät für Soziologie, ZiF,<br />
Kanzler, Abgabe Bock usw.) eingegliedert.<br />
Bevor das Material verzeichnet wurde, wurden nichtarchivwürdige<br />
Unterlagen kassiert. So war Schelsky insbesondere in den Jahren 1970 bis<br />
1973 – bei zunehmender Distanz zu „seinem“ Universitätsprojekt – vielfach<br />
lediglich Empfänger von Rundschreiben, Protokollen und Sitzungsunterlagen<br />
von Universitäts- und Fakultätsgremien, die bereits im Universitätsarchiv<br />
vorhanden sind; hier ist es zu kleineren Kassationen (auch von<br />
Dubletten) gekommen. Da, wo handschriftliche Notizen und Bemerkungen<br />
Schelskys enthalten sind, – seine ausführlichen oder pointierten und<br />
teilweise bissigen Anmerkungen durchziehen die gesamte Abgabe –, wurden<br />
auch diese Unterlagen aufbewahrt, so dass die Aussonderungen insgesamt<br />
minimal sind.<br />
Schließlich sind über die allgemeine Strukturierung des Bestandes hinaus<br />
Ordnungsmaßnahmen Klaus-Dieter Bocks, die im Hinblick auf seine persönlichen<br />
Forschungsmotivationen erfolgt waren, revidiert worden, wenn<br />
die ursprüngliche Ordnung eindeutig festzustellen war.<br />
Der Nachlass ist somit unter Bewertungsmaßstäben wenig bemerkenswert.<br />
Der Teilnachlass umfasst nach der Verzeichnung 82 Archivalieneinheiten<br />
mit einem zeitlichen Schwerpunkt der Bielefelder Jahre Schelskys<br />
von 1965 (Gründungsauftrag) bis 1973 (Rückkehr an die Universität<br />
Münster).<br />
Inhalt des Nachlasses<br />
Ist der Teilnachlass unter Bewertungsaspekten eher unspannend, so ist er<br />
doch in mehrfacher Hinsicht bedeutend.<br />
Schelsky ist der ‚Spiritus rector‘ der Bielefelder Universität und galt nach<br />
der Planungsbeauftragung als der künftige Rektor der Universität. 5 Eine<br />
Universitätsgeschichte der „Reformuniversität“ Bielefeld ohne Schelsky ist<br />
schlichtweg nicht denkbar. Die Universität Bielefeld hält mit dem Nachlass<br />
einen nicht unwesentlichen Teil ihrer Vor- und Gründungsgeschichte,<br />
das Universitätsarchiv einen zentralen Bestand in den Händen. Darüber<br />
hinaus beleuchtet der Nachlass intensiv die Konzeption und den Aufbau<br />
des Zentrums für interdisziplinäre Forschung (ZiF). Das ZiF, ein zentraler<br />
Bestandteil der Universitätskonzeption Schelskys und dem Vorbild des<br />
Center for Advanced Studies in Princeton folgend, sollte nach Schelsky<br />
quasi den ideologischen Überbau der Universität Bielefeld bilden. Schließlich<br />
ist die Überlieferung zu Deutschlands bis dato einziger Fakultät für<br />
Soziologie, der Schelsky bis 1973 angehörte und der er neben dem ZiF sein<br />
besonderes Augenmerk widmete, umfangreich und dicht.<br />
5 Das Amt wurde 1969 von Ernst-Joachim Mestmäcker, der seit 1967 Vorsitzender des<br />
Gründungsausschusses war, wahrgenommen. Den Vorsitz des Gründungsausschusses<br />
hatte Schelsky 1967 mit Hinweis auf seine Tätigkeit als Planungsbeiratsvorsitzender des<br />
Landes Nordrhein-Westfalen abgelehnt. Unklar ist, ob eine bereits zunehmende<br />
Distanz zu seinem Reformvorhaben oder auch der „Schelsky-Skandal“ dafür mitverantwortlich<br />
war, der ihn im November 1965 dazu veranlasst hatte für vier Monate<br />
158 Universitätsreden 73 Universitätsreden 73 159
Martin Löning<br />
Das Material macht einerseits deutlich, mit welchem Eifer Schelsky in den<br />
ersten Jahren das Projekt der ersten Fakultät für Soziologie in Deutschland<br />
anging, andererseits aber auch, dass dem Planer der Universität Bielefeld<br />
in den letzten Jahren seiner Bielefelder Zeit die Niederungen der<br />
Fakultätsarbeit und daraus resultierende Konflikte mit Fakultätskollegen<br />
und Studierenden nicht erspart blieben. Hier dokumentiert sich insbesondere<br />
in den zunehmenden Kontroversen und den ungehalteneren<br />
Reaktionen Schelskys – was sich unter anderem auch in den handschriftlichen<br />
Notizen und Randbemerkungen zeigt – eine größer werdende<br />
Distanz zu seinem Reformprojekt. 6<br />
Aber auch im Hinblick auf die allgemeine Universitätsgeschichte und<br />
die Bildungs- und Hochschulreform der 1960er Jahre ist der Teilnachlass<br />
wichtig. Helmut Schelsky hatte 1963 in „Einsamkeit und Freiheit“ auf die<br />
Möglichkeiten der Hochschulreform“ und die erheblichen Freiheitsspielräume<br />
in den Universitäten hingewiesen. 7 Das Einmalige des Nachlasses<br />
ist nun, dass er die in den hochschul- und bildungspolitisch bewegten<br />
Zeiten der 1960er und frühen 1970er Jahre fast schon anachronistisch<br />
anmutende „Hochschulgründung auf eigene Faust“ umfassend dokumentiert.<br />
Im Vorfeld und parallel zu den Bielefelder Universitätsplanungen<br />
sammelte Schelsky Materialien zur Hochschulreform und Hochschulplanung<br />
in Nordrhein-Westfalen, der Bundesrepublik und im Ausland.<br />
Enthalten sind Unterlagen zu Hochschulneugründungen nach 1945, wie<br />
Bochum, Dortmund, Konstanz, Regensburg oder Bremen, sowie allgemeinere<br />
Unterlagen zur Reform der Universität in der Bundesrepublik, zur<br />
deutschen Hochschul- und Bildungspolitik oder zur Wissenschafts- und<br />
Hochschulorganisation.<br />
seine Tätigkeit im Gründungsausschuss niederzulegen. Zum „Schelsky-Skandal“ siehe<br />
unten.<br />
6 U. a. findet sich in den Fakultätsakten eine Liste mit den Sitzungsterminen der Fakultätskonferenz,<br />
an denen Schelsky teilgenommen hat (mit genauer Uhrzeit, ob er zu<br />
spät kam oder zu früh ging) und – in diesem Zusammenhang wichtiger –, wann er<br />
nicht teilnahm oder sogar unentschuldigt fehlte, was zuletzt den übergroßen Teil ausmachte.<br />
Universitätsarchiv Bielefeld, SOZ 85 (Personalnebenakte Helmut Schelsky).<br />
160 Universitätsreden 73<br />
Werkstattbericht<br />
Abb. 4: Handschriftliche Unterstreichungen und Notizen Schelskys zum Dokument XXVId<br />
vom 6. November 1966 (Universitätsarchiv Bielefeld, NL Schelsky 1).<br />
Universitätsreden 73 161
Martin Löning Werkstattbericht<br />
Besonderheiten<br />
Den zentralen Bestandteil des Nachlasses insgesamt bilden die „Dokumente<br />
zum Aufbau einer Universität in Ostwestfalen/Bielefeld“, die Helmut<br />
Schelsky in drei blauen Mappen gesammelt hat (NL Schelsky 1). Sie<br />
enthalten eigene Papiere, Denkschriften, Briefe und wichtige Gremienpapiere<br />
aus der Gründungsphase der Universität Bielefeld von 1965 bis<br />
1969. Wenige Wochen, nachdem Helmut Schelsky von Kultusminister<br />
Mikat den Planungsauftrag für die Universität in Ostwestfalen erhalten<br />
hatte, begann Schelsky die Dokumente als „Dok.“ mit fortlaufenden römischen<br />
Ziffern zu bezeichnen und zu sammeln. Schelsky ging es, so Bock,<br />
um die Dokumentation seiner Arbeit zur späteren wissenschaftlichen Verwendung,<br />
und zwar nicht erst nachträglich, sondern von vornherein. So<br />
sind schließlich 44 Dokumente zusammengekommen, die Schelsky als die<br />
Summe seiner Arbeit als Hochschulreformer bezeichnete. Schelsky selbst<br />
hat der ersten Mappe eine Liste mit den für die Universitätsgründung<br />
wichtigen Dokumenten I bis XX und eine Liste mit insgesamt 71 Terminen<br />
beigefügt, die er zwischen dem 20. Januar 1965 und dem 6. Januar<br />
1966 im Zusammenhang mit der Universitätsgründung wahrnahm und<br />
die wohl ebenfalls der Dokumentation seiner Arbeit in dem wichtigsten<br />
Jahr seiner hochschulpolitischen Betätigung dienen.<br />
Von besonderem Interesse sind die Materialien zum „Fall Schelsky“, der<br />
um den Jahreswechsel 1965/66 für bundesweite Beachtung sorgte. Konkret<br />
ging es im „Fall Schelsky“ oder auch „Schelsky-Skandal“ um eine Veröffentlichung<br />
aus dem Jahr 1934, die den Hochschulreformer in den Augen<br />
seiner Kritiker für eine prominentere Rolle beim Aufbau der ostwestfälischen<br />
Universität untragbar machte. Insgesamt ist die Episode aber auch<br />
ein Beispiel für die Vergangenheitsbewältigung in den 1960er Jahren im<br />
allgemeinen und deshalb wert, in diesem Zusammenhang intensiver<br />
betrachtet zu werden.<br />
Am Rande einer CDU-Monatsversammlung am 26. November 1965 in<br />
Paderborn wurde Schelsky während einer Aussprache über die Standortentscheidung<br />
der neuen Universität wegen seiner Veröffentlichung „Sozialistische<br />
Lebenshaltung“ aus dem Jahr 1934 heftig angegriffen und als „führender<br />
Nazi-Ideologe“ bezeichnet. Offensichtlich sahen die Paderborner,<br />
Abb. 5: Von Schelsky angefertigte Liste mit den für die Universitätsgründung wichtigen<br />
Dokumenten I bis XX (Universitätsarchiv Bielefeld, NL Schelsky 1).<br />
162 Universitätsreden 73 Universitätsreden 73 163
Martin Löning Werkstattbericht<br />
Abb. 6: In Anlehnung an Rembrandts „Anatomie des Dr. Tulp“ (1632) erstellte Schelsky<br />
eine „medizinsoziologische Darstellung des ‚Falles Schelsky‘“ und ließ sie am 27.<br />
Dezember 1965 dem designierten Vorsitzenden der Universitätsgesellschaft Rudolf<br />
August Oetker zukommen (Universitätsarchiv Bielefeld, NL Schelsky 61).<br />
die sich ebenfalls Hoffnungen auf den Standort der „ostwestfälischen<br />
Landesuniversität“ gemacht hatten, in Helmut Schelsky die treibende Kraft<br />
hinter der nordrhein-westfälischen Kabinettsentscheidung vom 9. November<br />
1965 für den Raum Bielefeld-Herford. Schelsky bezeichnete in einer<br />
ersten Reaktion die Schrift, die seinen Fachgenossen längst bekannt gewesen<br />
sei, als „politische Unreife eines jungen Mannes“ von 21 Jahren,<br />
sprach von einer „Hexenjagd“ und trat Ende November aus dem Gründungsausschuss<br />
der Universität aus. Der größte Teil der Medien verurteilte<br />
das Vorgehen in Paderborn als inszenierten Angriff „enttäuschter Lokalpatrioten“.<br />
Unterstützung erfuhr Schelsky von Kultusminister Mikat, von<br />
Vertretern der Politik und der Studentenschaft sowie fast allen Vertretern<br />
des Gründungsausschusses, die in der Aktion gegen Schelsky auch einen<br />
Angriff auf die fortschrittlichen und reformorientierten Universitätspläne,<br />
ja sogar einen Angriff auf die „freie Wissenschaft“ sahen. Die vom<br />
Gründungsausschuss mit der Anfertigung eines Gutachtens zu Schelskys<br />
Publikationen in der NS-Zeit beauftragten Mitglieder des Bielefelder<br />
Gründungsausschusses Werner Conze und Hermann Lübbe kamen –<br />
nicht überraschend – im Januar 1966 zu dem Ergebnis, dass Schelskys<br />
publizistische Tätigkeit in der Zeit des Nationalsozialismus einer weiteren<br />
Mitarbeit im Gründungsausschuss nicht im Wege stünde und der „Fall<br />
Schelsky“ somit abgeschlossen sei. 8 Am 1. März meldeten die Zeitungen<br />
nach der 4. Sitzung des Ausschusses „Schelsky gründet wieder mit“.<br />
Der Nachlass enthält zum „Fall Schelsky“ eine vollständige Sammlung<br />
aller Publikationen Schelskys von 1934 bis 1940, die rege Korrespondenz<br />
um den Jahreswechsel 1965/66 zu diesem Thema, u. a. mit Ralf Dahrendorf<br />
7 Helmut Schelsky: Einsamkeit und Freiheit. Idee und Gestalt der deutschen Universität<br />
und ihrer Reformen. Reinbek 1963, S. 311.<br />
8 Am Rand des Vortrages berichtete der Heidelberger Universitätsarchivar Prof. Dr.<br />
Werner Moritz, dass ein lange Zeit als verschollen geltender Nachlass des Historikers<br />
Werner Conze im Jahre 2003 aus dem Haus der (inzwischen ebenfalls verstorbenen)<br />
Witwe ins dortige Universitätsarchiv übernommenen werden konnte und mittlerweile<br />
in einem Bestand Rep 101 mit ca. 165 Verzeichnungseinheiten grob, d. h. vorläufig erschlossen<br />
ist. Darüber hinaus habe sich herausgestellt, dass in einer älteren Abgabe des<br />
164 Universitätsreden 73 Universitätsreden 73 165
Martin Löning<br />
oder Theodor Schieder, sowie eine umfangreiche Sammlung von Zeitungsausschnitten<br />
und Pressemitteilungen. 9<br />
Von besonderem Interesse ist schließlich eine Archiveinheit, die die umstrittene<br />
Versetzung Schelskys nach Münster 1973/74 beleuchtet, mit der<br />
er die Konsequenz aus dem seiner Meinung nach gescheiterten Reformvorhaben<br />
in Bielefeld zog.<br />
Schluss<br />
Die Überlieferung ist – wie bereits erwähnt – insgesamt ungemein dicht,<br />
Schelsky produzierte Texte am laufenden Band, und führte eine überaus<br />
rege und breitgefächerte Korrespondenz. Der Nachlass zeigt einen produktiven<br />
Menschen, der stark in personellen Zusammenhängen dachte.<br />
Mit einer Handvoll Gleichgesinnter versuchte er seine Idee einer Universität,<br />
die einerseits die Hochschultraditionen seit Humboldt aufgriff<br />
und andererseits starke Reformimpulse gab, in die Tat umzusetzen. Schließlich<br />
aber scheiterte er an Strukturen, sich verändernden Rahmenbedingungen,<br />
einzelnen Personen und dem „Alltag“ und zog sich frustriert und<br />
resigniert von seinem Projekt zurück. Der Nachlass zeigt all dies sehr<br />
detailliert. Mit ihm kamen die zentralen Dokumente des Gründungsprozesses<br />
der Universität Bielefeld als Originale, Entwurfsskizzen, Korrekturexemplare<br />
und Manuskripte ins Archiv.<br />
Der Teilnachlass Helmut Schelskys ist insgesamt nicht unbedingt geeignet,<br />
im Rahmen des Tagungsthemas „Dokumentationsziele und Aspekte<br />
der Bewertung in Hochschularchiven und Archiven wissenschaftlicher<br />
Institutionen“ eine beispielhafte Diskussion über Bewertung von Nachlässen<br />
zu führen. Gleichwohl ist es für einen Archivar eine Freude, wenn<br />
man zentrale Dokumente der Geschichte seines Arbeitsbereichs im Original<br />
in der Hand hält, die zudem von allgemeinem Interesse für die<br />
Instituts für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte aus dem Jahr 2002 (Acc.54/02) im<br />
Mixtum mit Institutsakten ebenfalls noch Conze-Materialien enthalten seien.<br />
9 Enthalten sind auch zwei Karikaturen, die erste von Schelsky selbst (ein Schreiben an<br />
den designierten Vorsitzenden der Universitätsgesellschaft, Rudolf August Oetker, vom<br />
166 Universitätsreden 73<br />
Werkstattbericht<br />
Wissenschafts- und Universitätsgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts<br />
sein dürften. Die Materialien eines der bedeutendsten Soziologen<br />
der jüngeren Vergangenheit sind somit für die Forschung zugänglich.<br />
Universitätsreden 73 167
Platzraubendes Ärgernis oder Wissenspool?<br />
Zur Bewertungspraxis von Prüfungsakten im<br />
Universitätsarchiv Köln<br />
Dr. <strong>Andreas</strong> <strong>Freitäger</strong><br />
Zu Beginn ein – nicht mehr ganz taufrisches – Zitat aus der regionalen<br />
Presse, der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung“ von 2001:<br />
„Ein Großteil deutscher Diplom- und Magisterarbeiten verschwindet in<br />
den Archiven und bleibt für die deutsche Wirtschaft weitgehend ungenutzt.<br />
Auf diesen Mißtand wies eine Hamburger Unternehmensberatung<br />
hin. Im Jahr 2000 wanderten Arbeiten, deren Erstellung nach Berechnung<br />
der Wirtschaftsexperten rund 1,85 Mrd. Euro kosteten, in die Universitätsbibliotheken<br />
– und verstaubten. Nur selten würden Diplomarbeiten gezielt<br />
vermarktet, meist bleibe die monatelange Mühe der Absolventen ein Lesevergnügen<br />
für die Prüfer. [...] Dabei brauche die deutsche Wirtschaft die<br />
Ideen junger Hochschulabgänger.“ 1<br />
Bei dieser (gekürzten) Pressenotiz möchte ich auf zwei Aspekte hinweisen,<br />
die unmittelbar zum Thema meines Vortrags hinführen: Welcher<br />
Stellenwert wird hier Abschlussarbeiten – egal ob Diplom, Magister oder<br />
Staatsexamen – zugeschrieben?<br />
1. Der Artikel suggeriert, dass es sich immer um grundlegend<br />
Neues handelt.<br />
Nach den Prüfungsordnungen dienen die schriftlichen Hausarbeiten im<br />
Rahmen des ersten Studienabschlusses nur dem Nachweis der Fähigkeit zu<br />
wissenschaftlicher Arbeit. In der Theorie sollen die Themen so gestellt wer-<br />
1 Westdeutsche Allgemeine Zeitung (WAZ) vom 17.12.2001.<br />
Universitätsreden 73 169
<strong>Andreas</strong> <strong>Freitäger</strong> Platzraubendes Ärgernis oder Wissenspool?<br />
den, dass sie auf der Grundlage begrenzter empirischer bzw. sonstiger Erhebungen<br />
(Literatursuche) während einer Höchstdauer von drei bis sechs<br />
Monaten zu bearbeiten sind. Im Gegensatz zur Promotion sind hier<br />
„erhebliche, neue Erkenntnisse“ nicht gefordert.<br />
Dass die Realität anders aussieht, dass Magistranden für ihre Arbeit teilweise<br />
monatelang umfängliche Archivstudien anstellen, steht auf einem<br />
anderen Blatt.<br />
2. Es wird ferner suggeriert, dass die Arbeiten uneingeschränkt<br />
nutzbar sind.<br />
Wieder im Gegensatz zur Promotion unterliegen die ersten Abschlussarbeiten<br />
aber keiner Veröffentlichungspflicht, gelten also als unveröffentlicht<br />
im Sinne des Urheberrechts mit unmittelbaren Folgen für die archivische<br />
Nutzung: Wir dürfen diese Arbeiten ohne weiteres also nicht vorlegen.<br />
Immerhin bleibt es den Absolventen unbenommen, aus ihren Ergebnissen<br />
eine Publikation zu machen und der Fachwelt so zur Kenntnis zu<br />
bringen oder sie über Diplomarbeitenagenturen zu vermarkten.<br />
Sie sind überdies Teil der Prüfungsakte und von daher im Zusammenhang<br />
mit den übrigen, im Rahmen des Prüfungsverfahrens entstehenden<br />
Unterlagen zu sehen. Sie unterliegen damit der allgemeinen 30jährigen<br />
Sperrfrist sowie der personenbezogenen Sperre von 10 Jahren nach Tod<br />
des Betroffenen nach dem nordrhein-westfälischen Archivgesetz (§ 7<br />
Abs. 2). Vor diesem Hintergrund erscheint es mir fraglich, ob eine Akkumulation<br />
von mehreren Hundert oder gar Tausend Prüfungsakten, wie sie<br />
wohl viele Hochschularchive in den Magazinen lagern haben, als „Wissenspool“<br />
anzusehen ist.<br />
Wie soll man also als Archivar mit nicht mehr aufbewahrungspflichtigen<br />
Prüfungsakten umgehen? Hierzu möchte ich Ihnen einen Werkstattbericht<br />
aus dem von mir geleiteten Universitätsarchiv Köln liefern.<br />
Zunächst einige Worte zum rechtlichen Rahmen.<br />
Ich lebe in Köln sozusagen in einem „archivarischen Schlaraffenland“:<br />
Gesetzlich oder sonstwie angeordnete Aufbewahrungsfristen habe ich<br />
nicht (mehr) zu beachten. Diese waren für den Geschäftsbereich des nord-<br />
rhein-westfälischen Ministeriums für Wissenschaft und Forschung in den<br />
„Richtlinien über Aufbewahrungsfristen, Aussonderung und Vernichtung<br />
von Akten“ vom 17. Februar 1978 geregelt (Az. Z A 7 – 2023.0). 2 Der<br />
Erlass schrieb den Prüfungsämtern Aufbewahrungsfristen von 50 Jahren<br />
für die Prüfungsunterlagen bzw. 5 Jahre für die Hausarbeiten und Klausuren<br />
vor. In der Praxis musste das Universitätsarchiv Köln jahrzehntelang<br />
als verlängerter Aktenkeller der Prüfungsämter herhalten, was uns (bei<br />
einer mittelfristig nicht ausbaufähigen Magazinkapazität von 3.000 Regalmetern)<br />
zeitweise an den Rand der Handlungsfähigkeit brachte.<br />
Die Regelungen von 1978 wurden mit Runderlass des damaligen nordrhein-westfälischen<br />
Ministeriums für Schule, Wissenschaft und Forschung<br />
vom 7. Oktober 2002 (Az. 415.1-1.08.03.06) ersatzlos aufgehoben. Eine<br />
neue Regelung ist von der nun selbst zuständigen Universität trotz mehrfacher<br />
Hinweise seitens des Archivs nicht ergangen.<br />
Es gelten subsidiär für die Prüfungsämter die verlängerte Widerspruchsfrist<br />
von einem Jahr gemäß dem Verwaltungsverfahrensgesetz – welches<br />
Prüfungszeugnis trägt schon eine Widerspruchsbelehrung? – bzw. fünf<br />
Jahren als längste Rechtsmittelfrist nach den in Köln gültigen akademischen<br />
Prüfungsordnungen. Entsprechend können die Prüfungsämter nach<br />
Ablauf dieser Fristen die Prüfungsakten dem Universitätsarchiv anbieten.<br />
Im Falle der Anbietung wird das Universitätsarchiv diese Bestände endgültig<br />
bewerten; übernommen werden sollen hieraus aber nur noch Ausschnitte,<br />
weil eine vollständige Lagerung nicht mehr zu gewährleisten ist.<br />
Ich stehe mit meiner skeptischen Haltung gegenüber einem vermeintlichen<br />
„Wissenspool Prüfungsakten“ in einigen Punkten im Gegensatz zu<br />
meiner Düsseldorfer Kollegin Kathrin Pilger, die sich mit dem Komplex<br />
der Bewertung von Prüfungsarbeiten befasst hat. 3 Zwischen den Abläufen<br />
des von ihr untersuchten Bereichs staatlicher Lehrsamtsprüfungen und<br />
den Prüfungen der akademischen Prüfungsämter sehe ich keinen wesent-<br />
2 GABl. NW (Jg. 1978), S. 100.<br />
3 Kathrin Pilger: Bewertung von Lehrerprüfungsakten. Vortrag auf der Sitzung des VdA-<br />
Arbeitskreises „Archivische Bewertung" in Wiesbaden am 12. März 2002 (URL:<br />
http://www.forum-bewertung.de/beitraege/8004.pdf, Zugriff: 23.6.2006). Daraus die<br />
folgenden beiden Zitate.<br />
170 Universitätsreden 73 Universitätsreden 73 171
<strong>Andreas</strong> <strong>Freitäger</strong> Platzraubendes Ärgernis oder Wissenspool?<br />
lichen Unterschied, so dass ihr Verfahren grundsätzlich auch auf universitäre<br />
Prüfungen anwendbar ist. Mit ihrem Ansatz möchte ich mich jedoch<br />
im zweiten Teil meiner Ausführungen anhand zweier Prüfungsaktenbestände<br />
auseinandersetzen, wie sie verschiedener nicht sein können.<br />
Einige Worte zum Ansatz von Kathrin Pilger, den ich – dies gleich vorweggeschickt<br />
– für fachlich äußerst durchdacht und sinnvoll, aber in der<br />
alltäglichen Praxis leider nur für begrenzt durchführbar halte: Frau Pilger<br />
schlägt vor, von den Prüfungsberechtigten ausgehend in zeitlichen Schnitten<br />
von etwa drei Jahren jeweils eine Prüfungsakte jedes Prüfungsberechtigten<br />
aufzubewahren. Damit bildet sie – und hier stimme ich ihr gerade<br />
für den uns betreffenden Bereich der akademischen Prüfungen zu, „die<br />
Vielfalt der Fächer, die Verschiedenheit der Prüfer und das breite Spektrum<br />
von Themen und Methoden ab“, plastisch gesprochen: so gelangten<br />
proportional die wegen der geringeren Zahl von Studierenden seltenen<br />
Arbeiten von Ur- und Frühgeschichtlern neben den viel zahlreicheren germanistischen<br />
Arbeiten in das Universitätsarchiv. „Diese Auswahl […], von<br />
der empirischen Sozialforschung als ‚disproportional geschichtete‘ Stichprobe<br />
bezeichnet, strebt ausdrücklich keine Repräsentativität im statistischen<br />
Sinne an.“<br />
Anders als Pilger finde ich aber angesichts des in der Prüfungsordnung<br />
normierten Verfahrensablaufs die Variablen wie „Themensteller“ oder<br />
„Prüfungsverhalten“ nicht von so großer Bedeutung, dass sich Prüfungsakten<br />
von anderen massenhaft gleichförmigen Akten des staatlichen<br />
Verwaltungsbereichs wesentlich abhöben.<br />
Wie gehen wir in Köln nun konkret vor?<br />
Aus unserer ältesten Fakultät, der Wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen<br />
Fakultät kann ich Ihnen leider keine Zahlen nennen, ich möchte<br />
hier statt dessen mit dem Befund beginnen: Aus der Zeit von 1902 bis<br />
1952 liegen Akten von etwa 6.300 Prüfungsverfahren im Archiv. Dieser<br />
Altbestand ist – einer Abrede in unserem Archiv entsprechend, wonach<br />
Akten bis 1945 nicht bewertet werden – weitgehend sakrosankt.<br />
Nach einer Phase, in der meine Vorgängerin ca. 15 Jahre überhaupt keine<br />
Prüfungsakten abgeschlossener Verfahren vom WiSo-Prüfungsamt über-<br />
nommen hat, habe ich anstelle wilder Kassationen durch das Prüfungsamt<br />
im vorletzten Jahr mit dem Leiter folgende Absprache getroffen: Das<br />
Prüfungsamt erstellt nach Abschluss jedes Prüfungstermins eine Liste, in<br />
die alle erfolgreich geprüften Kandidaten aufgenommen sind.<br />
An das Archiv übergeben werden (inkl. Diplomarbeit) die Akten der beiden<br />
Ersten und beiden Letzten auf diesem Ranking, die jeweils besonders<br />
kurz bzw. lange studiert haben; so ist nach Auskunft des Prüfungsamtes<br />
die Sortierfunktion eingestellt. Übergeben wird je eine Akte einer Kandidatin<br />
und eines Kandidaten. Einfluss darauf, ob eine VWL- oder eine<br />
BWL-Prüfung ans Archiv übergeben wird, nehme ich nicht. So gelangen<br />
pro Jahr acht Prüfungsakten dieses großen Prüfungsamtes ins Universitätsarchiv.<br />
Im Prüfungsamt verbleiben dauerhaft die Prüfungsbogen, auf<br />
denen das Ergebnis jeder studienbegleitend erbrachten Teilprüfung notiert<br />
wird; Zweitschriften von verlorenen Diplomurkunden werden im Prüfungsamt<br />
der WiSo-Fakultät ohnehin nicht erstellt, sondern nur Bescheinigungen,<br />
aus denen die Prüfungsergebnisse hervorgehen. Der Rechtssicherung<br />
und dem Nachweis der Führungsberechtigung eines akademischen<br />
Grades wird damit genügt. Dieses Abgabeverfahren funktioniert reibungslos<br />
und ist dem großen Arbeitsanfall im WiSo-Prüfungsamt geschuldet.<br />
Diese Praxis entspricht weitgehend den Empfehlungen des „Benchmarking<br />
Clubs Fachhochschulen“ des Centrums für Hochschulentwicklung<br />
(CHE) in Gütersloh. 4 Dessen Abschlußbericht für den Arbeitsbereich<br />
Prüfungswesen vom März 2002 formulierte mit Blick auf die Verschlankung<br />
der Verfahrensabläufe eine sehr radikale Regelung:<br />
„Auch der Bezug auf die rentenrechtliche Relevanz von Prüfungen<br />
würde diesen Aufwand kaum rechtfertigen. Zum einen sind die Bürger<br />
auch in anderen Kontexten gehalten, entsprechende Bescheinigungen in<br />
eigener Verantwortung aufzubewahren. Zum anderen müsste eine<br />
Routinemeldung der Hochschule an die BfA oder andere Rententräger zur<br />
Wahrung der Ansprüche genügen. Und obendrein wären die Prüfungsämter<br />
erheblich entlastet, wenn sie lediglich einen einzigen Datenbogen<br />
4 Abrufbar unter URL: http://www.che.de/downloads/BMCFH020313_B_49.pdf (Zugriff:<br />
17.3.2006).<br />
172 Universitätsreden 73 Universitätsreden 73 173
<strong>Andreas</strong> <strong>Freitäger</strong><br />
mit den rentenrechtlich wichtigen Informationen über jeden Prüfling aufbewahren<br />
müssten – diesen dann wegen der Soft- und Hardware-Fluktuation<br />
durchaus auch in Papierform.“<br />
Aus unserer Rechtswissenschaftlichen Fakultät erhalte ich in den nächsten<br />
Monaten die Akten der universitären Prüfung zum Magister legum,<br />
die erst seit den 1990er Jahren angeboten wird und nur ausländischen<br />
Studierenden offensteht, die kein Staatsexamen ablegen können. Akten der<br />
juristischen Staatsprüfungen gelangen naturgemäß nicht in unser Archiv,<br />
sie können daher hier unbeachtet bleiben.<br />
Auch die Medizinische Fakultät bietet seit wenigen Jahren neben der<br />
ärztlichen Staatsprüfung auch universitäre Prüfungen an; Akten dazu sind<br />
noch nicht ins Archiv gelangt.<br />
An unserer größten Fakultät, der Philosophischen Fakultät mit derzeit<br />
über 13.000 Studierenden, legen durchschnittlich 250 Studierende pro<br />
Semester eine Magisterprüfung ab, die ab 2006/07 durch das gestufte BA/<br />
MA Studium abgelöst wird und 2011 endgültig auslaufen soll. Allein die<br />
bloße Menge steht in diesem Fall gegen Frau Pilgers Ansatz: Die bisher gut<br />
7.500 an das Archiv abgegebenen Prüfungsakten von 1960 bis 1999 sind<br />
durch Karteien erschlossen, alphabetisch nach den Prüflingen geordnet.<br />
Für diese große Zahl von Prüfungsakten kann ich aber nicht entsprechend<br />
den Vorschlägen von Kathrin Pilger retrograd die Prüfer ermitteln, um<br />
dann in zeitlichen Schnitten einzelne Akten zu ziehen. Dies würde unseren<br />
Archivbetrieb auf Monate und Jahre hinaus lahmlegen für eine<br />
Materie, die ich im Vergleich zu anderer Personalüberlieferung nicht höher<br />
einschätze.<br />
Ich habe daher mit dem Magisterprüfungsamt das voraussichtliche Gesamtaufkommen<br />
bis zum Auslaufen der Magisterprüfung anhand des<br />
Durchschnittswertes von 250 Prüfungen pro Semester hochgerechnet und<br />
bin auf etwa 13.000 Prüfungsverfahren gekommen. Entsprechend den von<br />
5 Matthias Buchholz: Überlieferungsbildung bei massenhaft gleichförmigen Einzelfallakten<br />
im Spannungsfeld von Bewertungsdiskussion, Repräsentativität und Nutzungsperspektive.<br />
Eine Fallstudie am Beispiel von Sozialhilfeakten der oberbergischen Gemeinde<br />
Lindlar. (Rheinisches Archiv- und Museumsamt – Archivberatungsstelle Archiv-<br />
174 Universitätsreden 73<br />
Platzraubendes Ärgernis oder Wissenspool?<br />
Matthias Buchholz ermittelten Werten 5 habe ich eine statistisches Sample<br />
von 3,1 Prozent, das sind 403 Akten, gebildet.<br />
Anhand eines Zufallszahlengenerators wurde eine entsprechende Menge<br />
Zufallszahlen ermittelt und die ersten 214 Prüfungsnummern aus den<br />
bereits im Archiv liegenden Beständen in das Sample übernommen. Für die<br />
kommenden Jahre bis zum Auslaufen der Magisterprüfung gibt das<br />
Prüfungsamt nur noch jene Prüfungsnummern ab, die bereits vorab ermittelt<br />
wurden und führt die übrigen einer datenschutzkonformen Vernichtung<br />
zu.<br />
Auch im Archiv werden die übrigen knapp 97 Prozent der Akten ersatzlos<br />
vernichtet. Eine Basisdokumentation ist in Form der Prüfungsbücher<br />
im Magisterprüfungsamt vorhanden, so dass die Kandidaten im Verlustfalle<br />
noch eine Bescheinigung über die erfolgreich abgelegte Prüfung<br />
und die Berechtigung zur Führung des Grades erhalten, aber keine Zweitschriften<br />
der Urkunden mehr.<br />
Um es nochmals zu wiederholen: Ich halte Kathrin Pilgers Ansatz für<br />
sinnvoll, aber er ist bei großen Beständen nicht retrograd anwendbar.<br />
Anwendbar ist er auch nicht bei ganz kleinen Beständen. Dazu möchte ich<br />
abschließend meine Bewertung der Überlieferung des Diplomprüfungsamtes<br />
Pädagogik vorstellen, das aus den 30 Jahren seines Bestehens von<br />
1971 bis zur Auflösung 2002 an das Archiv alle 377 Prüfungsakten abgegeben<br />
hat.<br />
Ich habe ich nach den Überlegungen von Kathrin Pilger hieraus zunächst<br />
ein Sample von 52 Diplomarbeiten gemäß den Betreuern der Hausarbeiten<br />
als Erstprüfern gebildet, da die Akten nach den damals geltenden<br />
Rechtsvorschriften 50 Jahre aufzubewahren waren. Aufgrund der nun herrschenden<br />
Rechtslage werde ich nur die zu den gesampelten Diplomarbeiten<br />
gehörenden Akten aufbewahren, aber mangels einer Basisüberlieferung<br />
aus den kassablen Akten die Prüfungszeugnisse ausheften und in<br />
der alten Archivnummernfolge ablegen.<br />
hefte 35) Köln 2001. Zentrale methodische Aspekte bei dems.: Mehr als nur Sampling<br />
– Ein Arbeitsbericht zur Bewertung von Sozialhilfeakten, in: Übernahme und Bewertung<br />
von kommunalem Schriftgut, Datenmanagement Systeme. Redaktion: Rickmer<br />
Kießling. (Texte und Untersuchungen zur Archivpflege 12) Münster 2000, S. 86-98.<br />
Universitätsreden 73 175
<strong>Andreas</strong> <strong>Freitäger</strong><br />
Was war nun mit Blick auf den Ansatz von Pilger an diesem kleinen<br />
Bestand festzustellen? Es war in vielen Fällen gar nicht möglich, die zeitlichen<br />
Schnitte von drei Jahren einzuhalten, weil der Prüfer lediglich zwei<br />
Prüfungen betreut hatte – im Extremfall am Beginn und am Ende seiner<br />
Zugehörigkeit zum Prüfungsamt. Die Vielzahl der Prüfungsberechtigten –<br />
nämlich alle habilitierten Fachvertreter der Erziehungswissenschaft – bedingte<br />
eine im Vergleich zum statistischen Sample deutlich höhere Zahl<br />
von archivwürdigen Akten. Nur noch einmal zur Erinnerung:<br />
Aus rund 7.500 Magisterprüfungsakten wurden statistisch 214 durch<br />
Zufallszahl ausgewählt, aus 377 Diplomprüfungsakten 52 anhand des<br />
Prüferkriteriums. Die Zahl der archivwürdigen Akten ist hier zu Anfang<br />
der Tätigkeit des Prüfungsamtes recht hoch, reguliert sich aber im Fortschreiten<br />
der Jahre. Diese Beobachtung habe ich anhand der Bewertung<br />
von Prüfungsakten der Diplomstudiengänge Regionalwissenschaften<br />
bestätigt gefunden, die erst seit zwei Jahren sukzessive an das Archiv abgegeben<br />
werden und nach dem Pilger’schen Modell bewertet werden sollen.<br />
Ich fasse abschließend zusammen:<br />
Prüfungsakten der ersten Abschlussprüfungen sind wie alle massenhaft<br />
gleichförmigen Akten (Sozialhilfe, Wohngeld, Führerschein) zu bewerten.<br />
Einen besonderen Stellenwert als „Wissenspool“ vermag ich ihnen nicht<br />
beizumessen. Zum Zwecke der wissenschaftsgeschichtlichen Forschung<br />
bedarf es aber einer Samplebildung.<br />
Dabei erwies sich das Modell von Kathrin Pilger aus arbeitsökonomischen<br />
Gründen bei uns retrograd auf den großen Bestand an Magisterprüfungen<br />
nicht anwendbar. Bei einem kleinen Bestand von unter 400<br />
Akten stieß dieser Ansatz auch an die methodischen Grenzen. Ich halte<br />
ihn gleichwohl für einen wohlfundierten Ansatz, dem bei der fortlaufenden<br />
Übernahme neuer Prüfungsämter aus meiner Sicht der Vorzug vor<br />
einem statistischen Auswahlverfahren zu geben ist.<br />
176 Universitätsreden 73<br />
Bewertung von Prüfungsarbeiten<br />
im Universitätsarchiv Augsburg<br />
Werner Lengger<br />
In der Presse tauchen von Zeit zu Zeit Klagen darüber auf, dass alljährlich<br />
Hunderttausende von Magister- und Diplomarbeiten nach dem Abschluss<br />
des Prüfungsverfahrens in den dunklen Kellern der Prüfungsämter und<br />
Fakultäten verschwinden – und mit ihnen die darin niedergelegten Forschungsergebnisse,<br />
die zuvor mit großem Aufwand – und wenigstens teilweise<br />
auch mit öffentlichen Mitteln 1 – erarbeitet wurden. 2 Diese Kritik<br />
mag etwas überspitzt formuliert sein und auch nicht in allen Fällen zutreffen.<br />
Sie lenkt freilich den Blick auf ein Problem, das an vielen Universitäten<br />
noch immer einer sinnvollen Lösung harrt.<br />
Auch das Universitätsarchiv Augsburg sah sich kurz nach seiner Errichtung<br />
im Sommer 2000 mit der Anforderung seitens der Universitätsverwaltung<br />
konfrontiert, rasch ein Archivierungskonzept für die aus Platzmangel<br />
bereits auf den Gängen lagernden Prüfungsarbeiten zu entwickeln.<br />
Die daraus resultierenden Überlegungen zu Fragen der Bewertung und der<br />
Benützung der Prüfungsarbeiten aus rechtlicher Sicht wurden bereits im<br />
Jahre 2001 im Internet zugänglich gemacht – nicht zuletzt mit dem Ziel,<br />
eine fachliche Diskussion anzuregen. 3 Bereits 1989 hatte sich Klaus Graf<br />
1 Für die an der Fachhochschule des Bundes (Fachbereich Allgemeine Innere Verwaltung)<br />
in Brühl eingereichten Diplomarbeiten werden die anteiligen Kosten auf 6.000-<br />
11.000 € geschätzt, was rund 5 Prozent der Gesamtkosten pro Absolvent von 120.000-<br />
200.000 € entspricht (Burkhart Krems: Ein sinnvoller Qualifikationsbeitrag? Erfahrungen<br />
mit Diplomarbeiten an der FH Bund, Brühl, in: Spectrum FH. Zeitschrift der<br />
Verwaltungsfachhochschule in Wiesbaden, Heft 2004/1, S. 8f.).<br />
2 Siehe etwa http://www.archiv.twoday.net/stories/640906/ und http://www.archiv.<br />
twoday.net/stories/145219/.<br />
3 Werner Lengger: Überlegungen zu Fragen der Archivierung von Prüfungsarbeiten<br />
(Magister-, Diplom-, Staatsexamensarbeiten), 2001. Der Text ist im Internet abrufbar<br />
Universitätsreden 73 177
Werner Lengger<br />
mit Fragen der Archivierung von Prüfungsunterlagen – also nicht nur Prüfungsarbeiten<br />
– beschäftigt. 4 Ihm verdanke ich viele wertvolle Erkenntnisse<br />
und Anregungen.<br />
Meine damaligen Überlegungen zur Bewertung von Prüfungsarbeiten<br />
möchte ich heute noch einmal resümieren und ergänzend kurz vom aktuellen<br />
Stand der Archivierung von Prüfungsarbeiten im Universitätsarchiv<br />
Augsburg berichten. Das Verfahren, das in Augsburg zur Anwendung<br />
kommt, ist – insgesamt betrachtet – sicherlich kein allgemeingültiges<br />
Modell, weil es von den lokalen Gegebenheiten ausgeht und auch mit vielen<br />
Kompromissen behaftet ist. Dennoch können von diesem Archivierungskonzept<br />
vielleicht manche Impulse ausgehen.<br />
Am Beginn meiner Ausführungen soll eine kurze definitorische Klärung<br />
stehen. Unter Prüfungsarbeiten sind hier weder Dissertationen, noch<br />
Habilitationsschriften, sondern ausschließlich Magisterarbeiten, Diplomarbeiten<br />
sowie die im Rahmen der Ersten Staatsprüfung für die Lehrämter<br />
zu verfassenden Hausarbeiten, die sogenannten Zulassungsarbeiten, zu verstehen.<br />
5 Dass wir uns auch mit den Zulassungsarbeiten beschäftigen, ist<br />
ein Augsburger Sonderfall, von dem später noch zu sprechen sein wird.<br />
Eine der ersten Fragen, die wir uns im Rahmen der Bewertung stellen<br />
müssen, ist die Frage nach der Zuständigkeit. Klaus Graf sieht hinsichtlich<br />
der Aufbewahrung der Prüfungsarbeiten in erster Linie die Bibliotheken in<br />
der Pflicht. 6 Das ist in diesem Zusammenhang einer der wenigen Punkte,<br />
in denen ich mit ihm nicht übereinstimme. Auch wenn das buchförmige<br />
Erscheinungsbild für die Einstellung in eine Bibliothek sprechen mag, so<br />
handelt es sich bei den Prüfungsarbeiten doch eindeutig um Archivgut.<br />
unter der Adresse http://www.uni-augsburg.de/einrichtungen/archiv/download/<br />
ueberlegungen.doc. Eine Überarbeitung und elektronische Publikation über den<br />
OPUS-Server der Universitätsbibliothek Augsburg ist in Vorbereitung.<br />
4 Klaus Graf: Zur archivischen Problematik von Prüfungsarbeiten, 1989. Dieser Beitrag<br />
steht als elektronisches Dokument im Internet unter der Adresse http://www.dbthueringen.de/servlets/DocumentServlet?id=4165<br />
zur Verfügung.<br />
5 Da alle Dissertationen, die an der Universität Augsburg angefertigt wurden, der Publikationspflicht<br />
unterliegen und jeweils mindestens ein Exemplar in der Universitätsbibliothek<br />
verfügbar ist, archiviert das Universitätsarchiv Augsburg keine Dissertationen,<br />
sehr wohl aber die hier eingereichten Habilitationsschriften.<br />
6 Klaus Graf (wie Anm. 4), S. 14.<br />
178 Universitätsreden 73<br />
Bew ertung v on Prüfungsarbeiten im Univ ersitätsarchiv Augsburg<br />
Die folgenden Gründe für dieses Urteil möchte ich nennen:<br />
1. Die Arbeiten entstehen im Zuge eines Verwaltungsvorgangs, nämlich<br />
der Prüfung, wie etwa auch die Klausuren.<br />
2. Sie sind damit Bestandteil der Prüfungsakten.<br />
3. Sie werden in der Regel in einer Registratur abgelegt.<br />
4. Sie sind zu keinem Zeitpunkt für eine Veröffentlichung bestimmt, sondern<br />
dienen ausschließlich dem Prüfungszweck.<br />
Als personenbezogene Unterlagen, als die sie zu gelten haben, unterliegen<br />
sie grundsätzlich den einschlägigen archivrechtlichen Schutzfristen. 7<br />
Wenn ich hier so klar und eindeutig für die Einordnung als Archivgut<br />
plädiere, so will ich natürlich nicht ausschließen, dass Prüfungsarbeiten<br />
sehr wohl auch in einer Bibliothek aufgestellt und – die entsprechende<br />
Zustimmung der Verfasser vorausgesetzt – für Benutzer zugänglich sein<br />
können. In erster Linie zuständig aber ist das Archiv. Eine Absprache mit<br />
der Universitätsbibliothek, wie sie etwa an der Universität Regensburg 8<br />
erzielt werden konnte, nämlich in der Form, dass die dortige Universitätsbibliothek<br />
die von den Verfassern freigegebenen Arbeiten übernimmt, das<br />
Universitätsarchiv hingegen jene Arbeiten, bei denen diese Freigabe nicht<br />
erteilt wurde bzw. bei denen keine Äußerungen der Verfasser vorliegen, ist<br />
in diesem Zusammenhang durchaus positiv zu bewerten. In Augsburg war<br />
und ist eine solche grundsätzliche Lösung angesichts der fehlenden Bereitschaft<br />
der Universitätsbibliothek jedoch nicht möglich. 9<br />
7 In einem im Auftrag des Universitätsarchivs erstellten Gutachten des Datenschutzbeauftragten<br />
der Universität Augsburg stellte dieser fest, dass der Begriff des personenbezogenen<br />
Archivguts aufgrund der bestehenden rechtlichen Unklarheiten in diesem<br />
Zusammenhang weit auszulegen sei. Damit falle ein Großteil der Prüfungsarbeiten<br />
unter diese Kategorie.<br />
8 Freundliche Mitteilung von Herrn Kollegen Dr. Martin Dallmeier (Universitätsarchiv<br />
Regensburg).<br />
9 In der Teilbibliothek Naturwissenschaften der Universitätsbibliothek Augsburg wurden<br />
über einige Jahre hinweg Diplomarbeiten aus der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen<br />
Fakultät mit Zustimmung der Verfasser in einem verschlossenen Raum<br />
verwahrt und auf Antrag zugänglich gemacht. Dieses Verfahren wurde auf Veranlassung<br />
der Bibliotheksleitung und nach Rücksprache mit dem Universitätsarchiv mittlerweile<br />
wieder beendet. Für die Archivierung der Diplomarbeiten aus dem mathema-<br />
Universitätsreden 73 179
Werner Lengger<br />
Da für den Bereich der Universität Augsburg also die Zuständigkeit des<br />
Universitätsarchivs für die Prüfungsarbeiten festgestellt wurde, ergab sich<br />
für dieses die Notwendigkeit, eine effiziente und nachhaltige Bewertungsund<br />
Archivierungsstrategie zu entwickeln. Unsere Überlegungen gingen<br />
dabei von folgenden Grundsätzen aus:<br />
1. Den Prüfungsarbeiten ist grundsätzlich die Archivwürdigkeit zu<br />
unterstellen, eine Totalkassation scheidet aus.<br />
2. Eine vollständige Archivierung aller vorhandenen und der zukünftig<br />
hinzukommenden Arbeiten ist aus Kapazitätsgründen nicht möglich<br />
und erscheint darüber hinaus auch nicht sinnvoll.<br />
3. Ziel ist die Archivierung ausgewählter Arbeiten, was aber in bestimmten<br />
Bereichen bewusst herbeigeführte Überlieferungslücken einerseits<br />
und Archivierungsschwerpunkte andererseits nicht ausschließt.<br />
4. Eine Beschränkung auf Arbeiten aus bestimmten Fachgebieten bzw.<br />
ein bewusster Verzicht auf Arbeiten bestimmter Gattungen oder aus<br />
bestimmten Fachgebieten ist nicht sinnvoll. Vielmehr muss es darauf<br />
ankommen, möglichst alle Fakultäten und Disziplinen der<br />
Universität angemessen zu dokumentieren.<br />
Wird eine Auswahlarchivierung angestrebt, stellt sich zunächst die Frage<br />
nach den Auswahlkriterien. Die Archivwissenschaft stellt bekanntlich verschiedene<br />
Wertmodelle und -kategorien zur Verfügung. 10 Ich bin nach wie<br />
vor ein Anhänger und Verfechter der von Schellenberg entworfenen Wert-<br />
tisch-naturwissenschaftlichen Bereich ist nun ausschließlich das Universitätsarchiv<br />
zuständig.<br />
10 Aus der Fülle der Literatur zur archivischen Bewertung seien hier nur einige wenige<br />
Titel genannt: Andrea Wettmann (Hrsg.): Bilanz und Perspektiven archivischer<br />
Bewertung. (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg Bd 21) Marburg 1994;<br />
Robert Kretzschmar (Hrsg.): Historische Überlieferung aus Verwaltungsunterlagen.<br />
Zur Praxis der archivischen Bewertung in Baden-Württemberg. (Werkhefte der Staatlichen<br />
Archivverwaltung Baden-Württemberg A 7) Stuttgart 1997; ders: Die „neue<br />
archivische Bewertungsdiskussion“ und ihre Fußnoten. Zur Standortbestimmung einer<br />
fast zehnjährigen Debatte, in: Archivalische Zeitschrift 82 (1999), S. 8-40; Barbara<br />
Craig: Archival appraisal. Theory and practice. München 2004. Verschwindend gering<br />
nimmt sich demgegenüber die Zahl der Beiträge aus, die sich mit Fragen der Bewertung<br />
in den Universitätsarchiven beschäftigen. Zu nennen ist hier z. B. Wolfgang Müller:<br />
180 Universitätsreden 73<br />
Bew ertung v on Prüfungsarbeiten im Univ ersitätsarchiv Augsburg<br />
kategorien, die ich deshalb auch in diesem Zusammenhang zur Anwendung<br />
bringen möchte. 11<br />
Zunächst kommt den Prüfungsarbeiten der von Schellenberg so genannte<br />
Primärwert zu, den sie für die Entstehungsstelle im Rahmen des Prüfungsverfahrens<br />
haben. Dieser Primärwert ist zeitlich auf den Prüfungsvorgang<br />
und die rechtlich vorgeschriebene Aufbewahrungsfrist – in Bayern<br />
beträgt sie fünf Jahre – beschränkt. Danach werden die Arbeiten zum<br />
Ballast in den Registraturen der Prüfungsämter und sollten einer sinnvollen<br />
Archivierungslösung zugeführt oder kassiert werden.<br />
Für die Bewertung ist der Sekundärwert von zentraler Bedeutung. Hierbei<br />
unterscheidet Schellenberg einen Informationswert und einen Evidenzwert.<br />
Beide Wertkategorien können auch bei der Bewertung der Prüfungsarbeiten<br />
Anwendung finden. Blicken wir zunächst auf den Informationswert:<br />
Da mit den Arbeiten gemäß den Prüfungsordnungen die Befähigung<br />
zu wissenschaftlichem Arbeiten nachgewiesen werden soll, ist den Prüfungsarbeiten<br />
grundsätzlich eine gewisse wissenschaftliche Qualität nicht<br />
abzusprechen. In nicht wenigen Fällen handelt es sich um relevante wissenschaftliche<br />
Beiträge zur jeweiligen Forschungssituation. 12 Allein aus diesem<br />
Grund ist eine dauernde Aufbewahrung grundsätzlich – was selbstverständlich<br />
nicht jede einzelne Arbeit einschließen kann und muss – begründet.<br />
Bewertung im Universitätsarchiv, in: Unsere Archive. Mitteilungen aus rheinland-pfälzischen<br />
und saarländischen Archiven, Nr. 47, April 2002, S. 4-11.<br />
11 Theodore R. Schellenberg: Die Bewertung modernen Verwaltungsschriftguts.<br />
(Veröffentlichungen der Archivschule Marburg Bd. 17) Marburg 1990.<br />
12 Dass den Prüfungsarbeiten auch von der Forschung durchaus Bedeutung zugemessen<br />
wird, zeigt sich unter anderem auch an veröffentlichten Überblicken über Prüfungsarbeiten<br />
aus bestimmten Disziplinen, wie z. B. der Landesgeschichte und der Kunstgeschichte:<br />
Franz Quarthal: Landesgeschichtliche Zulassungs-, Magister- und Diplomarbeiten<br />
an der Universität Tübingen aus den Jahren 1960-1981, in: Zeitschrift für<br />
württembergische Landesgeschichte 39 (1980), S. 294-302; Johannes Zahlten: Stuttgarter<br />
Magisterarbeiten zur Kunstgeschichte Württembergs, in: Zeitschrift für württembergische<br />
Landesgeschichte 45 (1986), S. 375-390. Quarthal und Zahlten unterstreichen die<br />
Bedeutung vieler Prüfungsarbeiten als eigenständige und gewichtige Forschungsleistungen,<br />
die aufgrund der schwierigen Zugänglichkeit vielfach verloreng ingen.<br />
An der Universität Augsburg wird derzeit über die Möglichkeit der elektronischen<br />
Publikation von Prüfungsarbeiten über den OPUS-Server der Universitätsbibliothek<br />
Universitätsreden 73 181
Werner Lengger<br />
Ein ausgeprägtes Interesse insbesondere der Forschung, aber auch der<br />
Wirtschaft, an den Prüfungsarbeiten darf also durchaus unterstellt werden.<br />
Die in der Praxis daraus resultierende Nachfrage muss in das Bewertungsverfahren<br />
als gewichtiges Kriterium einfließen. 13 Die Universitätsarchive<br />
bzw. gegebenenfalls die Universitätsbibliotheken stehen entsprechend in<br />
der Pflicht, den Benutzungswünschen potentieller Interessenten – selbstverständlich<br />
innerhalb des hier relativ engen Rahmens der archivgesetzlichen<br />
Bestimmungen – entgegenzukommen.<br />
Den Arbeiten kommt aber auch ein weiterer archivischer Wert zu, den<br />
ich in Anlehnung an Schellenberg als Evidenzwert bezeichnen möchte.<br />
Hier sind wiederum verschiedene Bereiche anzusprechen, die alle der<br />
Dokumentation einzelner Aspekte dienen, die aus der Sicht eines Universitätsarchivs<br />
als relevant eingestuft werden können. So sind die Arbeiten<br />
etwa dazu geeignet, die Art und Qualität studentischer Prüfungsarbeiten<br />
in den verschiedenen Studienfächern im zeitlichen Ablauf abzubilden.<br />
Aus meiner Sicht aber fast noch wichtiger ist die Möglichkeit, mit ihnen<br />
Forschungsschwerpunkte und auch inhaltliche Standpunkte von Professoren,<br />
Instituten und Fakultäten abzubilden. Nicht selten werden derartige<br />
Arbeiten im Rahmen größerer Forschungsprojekte oder bestimmter<br />
Forschungsschwerpunkte vergeben. Anhand der Prüfungsarbeiten lässt<br />
sich einerseits zeigen, inwieweit die Verfasser Einflüsse und Meinungen<br />
ihrer akademischen Lehrer aufnehmen; nicht selten profitieren aber auch<br />
die Professoren von den Forschungen ihrer Schüler, so dass auch ein gewisser<br />
Wissenstransfer in der umgekehrten Richtung zu unterstellen ist. Die<br />
Prüfungsarbeiten können insofern durchaus als Quellen für universitätsund<br />
wissenschaftsgeschichtliche Forschungen dienen. Das insbesondere in<br />
den letzten Jahren stark gestiegene Interesse verschiedener Wissenschaftsdisziplinen<br />
an der Geschichte ihres Faches wird sich auch auf die Prüfungs-<br />
nachgedacht, um den Zugang zu den darin dokumentierten Forschungsergebnissen<br />
weiter zu erleichtern.<br />
13 So erreichen etwa das Universitätsarchiv Augsburg jährlich zahlreiche diesbezügliche<br />
Anfragen, die dank der weit vorangeschrittenen archivischen Erschließung mittlerweile<br />
in vielen Fällen positiv beantwortet werden können. Diese relativ große Nachfrage war<br />
auch eines der ausschlaggebenden Kriterien für die Entscheidung, im Universitäts-<br />
182 Universitätsreden 73<br />
Bew ertung v on Prüfungsarbeiten im Univ ersitätsarchiv Augsburg<br />
arbeiten als wissenschaftsgeschichtliche Quellen richten, sofern die Universitätsarchive<br />
und -bibliotheken diese Quellengruppe nicht aus den Augen<br />
verlieren. 14 Nicht zu vernachlässigen ist sicherlich auch der personengeschichtliche<br />
Aspekt, auch wenn nicht aus jedem Studenten ein Nobelpreisträger<br />
werden kann.<br />
Als gravierendes Problem für die Ermittlung des bleibenden Werts einer<br />
Arbeit stellt sich in der Praxis die in sehr vielen Fällen fehlende fachliche<br />
Kompetenz des Archivars dar. Als Historiker, der er in der Regel ist, stößt<br />
er naturgemäß auf große Schwierigkeiten, soll er über Arbeiten aus ihm<br />
gänzlich fremden Wissenschaftsdisziplinen urteilen. Da liegt der Gedanke<br />
nahe, zu diesem Zweck den an der Universität vorhandenen Sachverstand<br />
„anzuzapfen“. In dem Fall, mit dem sich das Universitätsarchiv Augsburg<br />
vor einiger Zeit konfrontiert sah, ging es um die Bewertung von rund 120<br />
lfm Diplomarbeiten aus der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät. Unser<br />
Ansinnen, die Fachleute aus der Fakultät in die Bewertung der bereits im<br />
Archiv verwahrten Arbeiten einzubinden, wurde relativ kühl zurückgewiesen.<br />
Statt dessen empfahl der Fachbereichsrat einstimmig, die Diplomarbeiten<br />
aus der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät vollständig zu kassieren.<br />
Mangels Alternativen haben wir nun begonnen, nach und nach die<br />
Diplomarbeiten zu kassieren, sofern die rechtlichen Aufbewahrungsfristen<br />
abgelaufen waren. Um jedoch nicht einen kompletten Überlieferungsstrang<br />
zu verlieren, wurden zunächst 10 Prozent der Arbeiten, die in Form<br />
einer Zufallsstichprobe ausgewählt wurden, zurückbehalten. Gerade im Bereich<br />
der Wirtschaftswissenschaften ist die schiere Menge an Prüfungsarbeiten<br />
freilich so enorm, dass selbst die Überlieferung einer Stichprobe<br />
von 10 Prozent mit Blick auf die hierfür erforderliche Lagerkapazität zu<br />
einem Problem zu werden droht. Es kann sich daher unter Umständen die<br />
Notwendigkeit ergeben, diese Stichprobe noch weiter zu verringern.<br />
archiv Augsburg im Bereich der Prüfungsarbeiten eine relativ dichte Überlieferung<br />
anzustreben.<br />
14 Möglichkeiten und Wege eines institutionengeschichtlichen Zugangs anhand von<br />
Prüfungsarbeiten zeigt Reimund Haas: „Der von der Kirche bezeugte Glaube und die<br />
Wirklichkeit des Menschen“. 25 Jahre überdiözesanes Studienhaus St. Lambert am<br />
Beispiel der theologischen Abschlußarbeiten, in: ders. (Hrsg.): Wege zum Priestertum:<br />
25 Jahre überdiözesanes Studienhaus St. Lambert. Grafschaft 1997, S. 57-78.<br />
Universitätsreden 73 183
Werner Lengger<br />
Hinsichtlich der Quantitäten weitaus unproblematischer stellt sich die<br />
Situation bei den anderen Diplomstudiengängen und bei den Magisterarbeiten<br />
dar. Da nach den Erfahrungen mit der Wirtschaftswissenschaftlichen<br />
Fakultät an eine Hinzuziehung der jeweiligen Fachvertreter zur Bewertung<br />
der bereits vorhandenen Arbeiten realistischerweise nicht zu denken<br />
ist, wurde bei den Magisterarbeiten die vollständige Archivierung der<br />
bislang vorliegenden ca. 1.600 Arbeiten beschlossen. Deren Erschließung<br />
bis zum Prüfungsjahrgang 2000 ist mittlerweile abgeschlossen.<br />
Eine Besonderheit stellen die im Universitätsarchiv verwahrten Lehramts-Zulassungsarbeiten<br />
dar. Es handelt sich um die Hausarbeiten, die im<br />
Rahmen der Ersten Staatsprüfung für ein Lehramt anzufertigen sind. Da<br />
es sich um ein Staatsexamen handelt, wurden und werden diese Arbeiten<br />
im Rahmen des Prüfungsverfahrens von den jeweiligen örtlichen Prüfungsämtern<br />
der bayerischen Universitäten an das Bayerische Staatsministerium<br />
für Unterricht und Kultus weitergeleitet und dort abgelegt. In<br />
regelmäßigen Abständen werden die Arbeiten vom Ministerium dem<br />
zuständigen Bayerischen Hauptstaatsarchiv München zur Archivierung<br />
angeboten. Dieses wählt vorrangig Arbeiten mit landesgeschichtlicher oder<br />
zumindest historischer Fragestellung aus, die aus archivischer Sicht von<br />
bleibendem Wert sind. Alle übrigen Arbeiten werden kassiert. Aufgrund<br />
einer Sonderregelung wurden bislang die von der Universität Augsburg<br />
stammenden Arbeiten jedoch nicht vernichtet, sondern wieder an die Universität<br />
zurückgegeben. So verfügt das Universitätsarchiv über eine weitgehend<br />
vollständige Überlieferung der in Augsburg entstandenen Zulassungsarbeiten,<br />
die im Fall des Lehramts für Volksschulen sogar bis 1946,<br />
also in die Zeit der Vorgängereinrichtungen 15 der Universität auf dem<br />
Gebiet der Lehrerbildung, zurückreicht. Bei den übrigen Lehrämtern setzt<br />
die Überlieferung in den 1980er Jahren ein. Aufgrund einer jüngst getroffenen<br />
Übereinkunft zwischen dem Universitätsarchiv Augsburg und dem<br />
Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus werden die Zu-<br />
15 Es handelt sich in erster Linie um die Lehrerbildungsanstalt Lauingen (bis 1954), das<br />
Institut für Lehrerbildung Lauingen /Augsburg (1954-1958) und die Pädagogische<br />
Hochschule Augsburg (1958-1972).<br />
184 Universitätsreden 73<br />
Bew ertung v on Prüfungsarbeiten im Univ ersitätsarchiv Augsburg<br />
lassungsarbeiten aus Augsburg künftig nicht mehr nach München weitergeleitet,<br />
sondern verbleiben in Augsburg und werden im Universitätsarchiv<br />
archiviert.<br />
Trotz des nicht geringen Umfangs – für den Zeitraum 1946 bis 2000<br />
handelt es sich um ca. 10.000 Arbeiten mit einem Umfang von über 160<br />
lfm – haben wir uns aus ganz konkreten Überlegungen heraus dafür entschieden,<br />
bei den Arbeiten aus dem genannten Zeitraum keine<br />
Kassationen vorzunehmen. So ist in Augsburg eine bayernweit einzigartige,<br />
weil weitgehend vollständige und alle Fachdisziplinen abdeckende<br />
Überlieferung vorhanden, die – wie gesehen – für den Bereich des<br />
Lehramts für Volksschulen sogar bis in die unmittelbare Nachkriegszeit<br />
zurückreicht. Ferner fügen sich die Arbeiten hervorragend in den im<br />
Universitätsarchiv gebildeten Dokumentationsschwerpunkt „Lehrerbildung“<br />
ein, zu dem neben den Zulassungsarbeiten unter anderem eine<br />
bis in die Anfänge der institutionellen Lehrerbildung in Bayern im ersten<br />
Drittel des 19. Jahrhunderts zurückreichende Aktenüberlieferung sowie<br />
herausragende Nachlässe von in der Lehrerbildung tätigen Professorinnen<br />
und Professoren zählen. Diese Schwerpunktbildung erfolgte nicht zuletzt<br />
auf dem Hintergrund, dass die Universität Augsburg zu den Zentren der<br />
Lehrerausbildung in Bayern gehört. Mittlerweile konnte auch die<br />
Erschließung der bis zum Jahr 2000 eingereichten Zulassungsarbeiten<br />
abgeschlossen werden.<br />
Bislang war vor allem von unserem Modell für die Archivierung des<br />
„Altbestandes“ an Arbeiten, die bis Anfang 2001 in das Universitätsarchiv<br />
gelangten, die Rede. Wir haben uns dabei – wie gesehen – für eine<br />
Mischung aus vollständiger und stichprobenartiger Überlieferung entschieden.<br />
Ich gebe durchaus zu, dass es sich dabei um kein ideales und<br />
kein verallgemeinerungsfähiges Modell handelt, sondern auf die konkreten<br />
Gegebenheiten in Augsburg abgestimmt ist und mit vielen Kompromissen<br />
einhergeht. Weil es sich aber auch unserer Sicht nicht um eine optimale<br />
Lösung handelt, war und ist es unser Bestreben, für die Zukunft, also<br />
für die künftig an das Archiv abzugebenden Prüfungsarbeiten, eine andere,<br />
eine bessere Lösung zu finden. Die Verbesserung sollte insbesondere<br />
darin bestehen, dass die Auswahl der archivwürdigen Arbeiten auf der<br />
Basis einer fundierten Bewertung erfolgt. Künftig soll es also weder eine<br />
Universitätsreden 73 185
Werner Lengger<br />
vollständige Archivierung, noch eine lediglich auf einer Zufallsstichprobenziehung<br />
basierende Auswahlarchivierung geben. Um den Historiker-Archivar<br />
dabei nicht wieder über kryptischen Diplomarbeiten aus der<br />
Informatik oder Physik verzweifeln lassen zu müssen, bestand von vornherein<br />
darüber Klarheit, dass die jeweiligen Fachvertreter in die Bewertung<br />
einzubeziehen waren. Wenn schon eine rückwirkende Bewertung unter<br />
ihrer Beteiligung nicht möglich war, so könnte man – so unsere Überlegung<br />
– diesen Schritt zeitlich vorziehen, d. h. ihn mit der Bewertung der<br />
Arbeit durch den Gutachter im Zuge des Prüfungsverfahrens vereinen. So<br />
entstand die Idee, den Gutachtern zukünftig zusammen mit der Arbeit<br />
und dem Formular für die Benotung vom Zentralen Prüfungsamt einen<br />
Fragebogen zur Archiv w ürdigkeit 16 zuleiten zu lassen, in dem die Gutachter<br />
unmittelbar nach der Lektüre und Benotung einige Fragen zu der jeweiligen<br />
Arbeit beantworten und so dem Archivar eine wichtige Hilfestellung<br />
für eine fundierte Bewertungsentscheidung geben sollen. Der Fragebogen<br />
sollte dabei so aufgebaut sein, dass er den Gutachter mittels der Beantwortung<br />
einiger Fragen abschließend selbst zu einer Empfehlung für oder<br />
gegen die Archivierung führt. Weil das Formular aber eben nicht auf eine<br />
Ja/Nein-Alternative reduziert ist, sondern der Gutachter einige gezielte<br />
Fragen beantworten muss, liefert er zugleich dem Archivar, der natürlich<br />
die letzte Entscheidung über Archivierung oder Kassation hat, zusätzlich<br />
die Basis für eine eigene Meinungsbildung, die im Resultat durchaus von<br />
der Empfehlung des Gutachters abweichen kann. Insgesamt soll auf diese<br />
Weise – so unsere Überlegung und Hoffnung – wenigstens für die zukünftig<br />
eingereichten Arbeiten eine vernünftige Bewertung möglich werden.<br />
Der Fragebogen versucht, das Problem der Bewertung von verschiedenen<br />
Seiten anzugehen. Eine selbstverständlich nicht geringe Bedeutung kommt<br />
dabei dem Informationswert zu. Auf ihn beziehen sich auch die meisten<br />
Fragen. Es versteht sich von selbst, dass unter diesem Aspekt vor allem herausragende<br />
Arbeiten, die auch einen relevanten Forschungsbeitrag liefern,<br />
archiviert werden. Erfüllt die Arbeit allerdings gerade einmal den prü-<br />
16 Der Fragebogen zur Archivwürdigkeit ist abrufbar unter http://www.uni-augsburg.de/<br />
einrichtungen/archiv/download/Fragebogen_ zur_Archivwuerdigkeit.pdf. .<br />
186 Universitätsreden 73<br />
Bew ertung v on Prüfungsarbeiten im Univ ersitätsarchiv Augsburg<br />
fungstechnischen Zweck, d. h. reicht sie gerade aus, die Fähigkeit zu wissenschaftlichem<br />
Arbeiten zu belegen, dürfte in vielen Fällen die Kassation<br />
die geeignete Maßnahme sein. Da im Fragebogen die Note aus datenschutzrechtlichen<br />
Gründen nicht abgefragt werden konnte, haben wir uns<br />
bemüht, mit Fragen zur Qualität der Bearbeitung und zur Forschungsrelevanz<br />
zu den für uns wichtigen Informationen zu gelangen.<br />
Dass der Bezug auf die Region Bayerisch-Schwaben, die Stadt Augsburg<br />
bzw. die Universität und ihre Vorläufer als ein Kriterium unter vielen<br />
angesprochen wird, soll keinesfalls bedeuten, dass a priori nur Arbeiten<br />
mit einer solchen thematischen Ausrichtung Berücksichtigung finden<br />
können. Vielmehr soll die gesamte Bandbreite, die von den Diplomarbeiten<br />
aus den naturwissenschaftlichen, wirtschaftswissenschaftlichen,<br />
geisteswissenschaftlichen und theologischen Fächern über die Magisterarbeiten<br />
aus den Philosophischen Fakultäten bis hin zu den genannten<br />
Lehramts-Zulassungsarbeiten mit einem Schwerpunkt in den Bereichen<br />
Pädagogik und Didaktik reicht, angemessen und sinnvoll dokumentiert<br />
werden.<br />
Es kann aus unserer Sicht aber auch nicht darum gehen, nur die „Highlights“<br />
zu archivieren. Insofern geht der Ansatz, z. B. nur die mit „sehr<br />
gut“ bewerteten Arbeiten für die Archivierung vorzusehen, aus unserer<br />
Sicht in die Irre. Von nicht geringerer Bedeutung ist der Evidenzwert, d. h.<br />
vor allem die Dokumentation von Forschungsschwerpunkten, die sich aus<br />
den von den Betreuern vergebenen Themenstellungen und ihrer Bearbeitung<br />
ergeben. In den Arbeiten spiegelt sich zudem die Rezeption des an<br />
der Universität erlernten Wissens durch die Studenten. Auch wenn der Informationswert<br />
einer Arbeit im Einzelfall nicht für die Archivierung ausreichen<br />
mag, so dürfen die forschungs- und wissenschaftsgeschichtlichen<br />
Rückschlüsse, die aus ihr gezogen werden können, aus meiner Sicht nicht<br />
unterschätzt werden. Die akademischen Abschlussarbeiten der Studentinnen<br />
und Studenten können so ihrerseits zu Quellen für die Wissenschaftsgeschichte<br />
werden.<br />
Einen weiteren Aspekt, den ich bisher noch nicht erwähnt habe, der aber<br />
durchaus auch in die Bewertung einbezogen werden sollte, will ich noch<br />
kurz ansprechen: Aus archivrechtlicher Sicht sind die Prüfungsarbeiten<br />
mit einigen Problemen hinsichtlich ihrer Benützbarkeit behaftet. 17 Sie<br />
Universitätsreden 73 187
Werner Lengger<br />
haben als personenbezogene Unterlagen zu gelten und können daher gemäß<br />
Art. 10 Abs. 3 Satz 2 bzw. Art. 10 Abs. 4 Satz 2 des Bayerischen<br />
Archivgesetzes Benützern frühestens 10 Jahre nach dem Tod des Verfassers,<br />
ansonsten nur mit dem Einverständnis des Verfassers vorgelegt werden.<br />
18 Da an der Universität Augsburg in den meisten Studiengängen bis<br />
vor wenigen Jahren darauf verzichtet wurde, die Prüflinge eine Erklärung<br />
unterschreiben zu lassen, ob sie mit einer späteren Einsichtnahme in ihre<br />
Arbeit durch Dritte einverstanden sind, fehlt diese wichtige Voraussetzung<br />
für die Zulassung zur Benützung in den allermeisten Fällen. Lassen wir die<br />
Möglichkeit, von den genannten Ausnahmetatbeständen des Art. 10 Abs. 4<br />
Satz 2 Bayerisches Archivgesetz Gebrauch zu machen, einmal beiseite, so<br />
ist natürlich zu fragen, inwiefern es Sinn macht, Magister- und Diplomarbeiten<br />
in größerer Zahl zu archivieren, wenn diese frühestens 10 Jahre<br />
nach dem Tod des Verfassers eingesehen werden können. Eine heute eingereichte<br />
Arbeit könnte erst in ca. 60 bis 70 Jahren vorgelegt werden. Der<br />
Informationswert, d. h. der Wert für die aktuelle Forschung, wird dann<br />
wahrscheinlich gegen Null tendieren, allein der Evidenzwert könnte noch<br />
von Bedeutung sein. Die Argumente, die grundsätzlich für die Archivierung<br />
sprechen, sind damit weitgehend entkräftet, wenn eine Vorlage an<br />
Benützer aus rechtlichen Gründen nicht möglich ist. Auch wenn das<br />
Bayerische Archivgesetz die genannten Ausnahmetatbestände kennt, die<br />
eine Einsichtnahme Dritter auch ohne Zustimmung des Verfassers erlauben,<br />
so erwachsen hier doch für den verantwortlichen Archivar eine Reihe<br />
17 Entgegen vielfach geäußerten Bedenken spielen Fragen des Urheberrechts bei der Benutzung<br />
von Prüfungsarbeiten im Archiv nicht die wichtigste Rolle. Vgl. dazu Winfried<br />
Veelken: Schutzrechtsfragen im Hochschulbereich – Studien- und Diplomarbeiten,<br />
in: Wissenschaftsrecht, Wissenschaftsverwaltung, Wissenschaftsförderung 26<br />
(1993), S. 93-135.<br />
18 Falls beide genannte Voraussetzungen nicht erfüllt sind, erlaubt Art. 10 Abs. 4 Satz 2<br />
BayArchivG eine Einsichtnahme auch dann, wenn sie „zur Erreichung des beabsichtigten<br />
wissenschaftlichen Zwecks […] oder sonstigen im überwiegenden Interesse der<br />
abgebenden Stelle oder eines Dritten liegenden Gründen unerlässlich ist und sichergestellt<br />
ist, daß schutzwürdige Belange des Betroffenen oder Dritter nicht beeinträchtigt<br />
werden.“ Dies ist in jedem Fall für den Archivar eine schwierige Ermessensentscheidung,<br />
weshalb das Vorliegen einer Einverständniserklärung der Verfasserin<br />
bzw. des Verfassers - wo immer möglich - anzustreben ist.<br />
188 Universitätsreden 73<br />
Bew ertung v on Prüfungsarbeiten im Univ ersitätsarchiv Augsburg<br />
von Problemen – zumal man sich der Tatsache bewusst sein muss, dass die<br />
diesbezügliche Zustimmung der Verfasser keineswegs stillschweigend vorausgesetzt<br />
werden kann. Zwar geben fast alle Lehramtsstudentinnen und -<br />
studenten ihre Zulassungsarbeiten für die Benützung frei, bei den<br />
Diplomarbeiten aus den Wirtschaftswissenschaften zum Beispiel ist es aber<br />
nur rund die Hälfte. Das ergab eine stichprobenartige Auswertung der<br />
diesbezüglichen Erklärungen der Prüfungskandidatinnen und -kandidaten<br />
aus den letzten beiden Jahren, die dem Universitätsarchiv vom Zentralen<br />
Prüfungsamt der Universität Augsburg zur Verfügung gestellt wurden.<br />
Persönlich neige ich dazu, Prüfungsarbeiten, die von ihren Verfassern ausdrücklich<br />
nicht freigegeben werden, zu kassieren.<br />
Da der Fragebogen zur Archiv w ürdigkeit in Augsburg erst 2002 eingeführt<br />
wurde, eine Bewertung der Arbeiten aber frühestens nach dem Ablauf der<br />
fünfjährigen Aufbewahrungsfrist möglich ist, kann noch kein abschließendes<br />
Urteil über die Praxistauglichkeit des Fragebogens gefällt werden.<br />
Ich kann Ihnen aber an dieser Stelle die Ergebnisse einer ersten groben<br />
statistischen Auswertung der Fragebögen für einige Gruppen von<br />
Prüfungsarbeiten kurz vorstellen. Dabei ist als erstes Ergebnis festzuhalten,<br />
dass offenbar nur ein Teil der Gutachter bereit ist, den zusätzlichen Zeitund<br />
Arbeitsaufwand für das Ausfüllen des Fragebogens in Kauf zu nehmen.<br />
So fehlte bei den wirtschaftswissenschaftlichen Diplomarbeiten der<br />
Fragebogen in rund der Hälfte der Fälle, bei den Magisterarbeiten in rund<br />
einem Drittel der Fälle. Bei den Zulassungsarbeiten für die Lehrämter lag<br />
diese Quote dagegen bei nur rund 5 Prozent. Es ist zu befürchten, dass<br />
unter den Gutachtern aus den naturwissenschaftlichen Disziplinen, für die<br />
noch keine Zahlen vorliegen, die Ablehnung des Fragebogens noch höher<br />
als bei ihren Kollegen aus den Wirtschaftswissenschaften ausfallen wird.<br />
Das sind wenigstens teilweise unbefriedigende Werte, und wir werden auf<br />
jeden Fall versuchen, hier für eine Verbesserung zu sorgen, wenngleich<br />
natürlich nicht zu erwarten war, dass alle Gutacher sich voller<br />
Begeisterung dieser zusätzlichen Arbeit unterziehen würden.<br />
Erfreulicher, weil – wenigstens zum Teil – durchaus plausibel und nachvollziehbar,<br />
fielen die Empfehlungen der Gutachter hinsichtlich der<br />
Archivwürdigkeit aus. Für die Archivierung empfohlen wurden 38 Prozent<br />
der Magisterarbeiten, 21 Prozent der wirtschaftswissenschaftlichen Diplom-<br />
Universitätsreden 73 189
Werner Lengger<br />
arbeiten, 50 Prozent der Zulassungsarbeiten für das Lehramt an Gymnasien,<br />
32 Prozent der Zulassungsarbeiten für das Lehramt an Realschulen,<br />
23 Prozent der Zulassungsarbeiten für das Lehramt an Hauptschulen und<br />
14 Prozent der Zulassungsarbeiten für das Lehramt an Grundschulen.<br />
Interessant ist hier vor allem die von den Grundschulen bis zum Gymnasium<br />
ansteigende Quote der als archivwürdig empfohlenen Arbeiten.<br />
Überraschend niedrig fällt vor allem die Quote für die Magisterarbeiten<br />
aus. Hier wäre eigentlich mit einem höheren Anteil zu rechnen gewesen,<br />
da das Magisterstudium auch im Selbstverständnis der Universität doch<br />
das eigentlich „wissenschaftliche“ Studium ist, weshalb man a priori auch<br />
den Abschlussarbeiten ein höheres Niveau zu unterstellen geneigt ist.<br />
Die vorgeschlagenen Archivierungsquoten sind aus meiner Sicht insgesamt<br />
und vor allem für einzelne Teilbereiche noch zu hoch. Insbesondere<br />
können sie mit Blick auf die verfügbaren Lagerungskapazitäten kaum die<br />
Grundlage für eine langfristige und nachhaltige Archivierungsstrategie<br />
sein. Genaueres kann freilich erst gesagt werden, wenn die ersten tatsächlichen<br />
Bewertungen auf der Grundlage der Sichtung der Arbeiten und des<br />
jeweiligen Fragebogens stattgefunden haben, was ab 2007 der Fall sein<br />
wird. Ein erster wirklicher Erfahrungsbericht wird in jedem Fall folgen.<br />
190 Universitätsreden 73<br />
Studentenakten: Fluch oder Segen? 1<br />
Stephan Luther<br />
Das Thema meines kleinen Beitrages impliziert zwei Schwerpunkte. Zum<br />
einen meine ich die Massenhaftigkeit der studentischen Unterlagen mit all<br />
den damit verbundenen Problemen. Zum anderen meine ich aber auch<br />
den Nutzen für das Archiv und die Forschung, der aus diesen Unterlagen<br />
erwachsen kann. Diese beiden Aspekte möchte ich nun etwas näher beleuchten.<br />
Zunächst einmal zur Klarstellung und Definition, welche Unterlagen<br />
ich unter dem Begriff „Studentenakten“ fasse. Mit den Studentenakten, die<br />
bei uns im Universitätsarchiv unter dem Bestandskürzel 203 erfasst sind,<br />
meine ich nicht nur die Studentenakten an sich, sondern auch die Prüfungsakten.<br />
Wir subsumieren also im Bestand 203 quasi eine erweiterte<br />
Studentenakte. Seine Ursache hat dies in der Tatsache, dass bis 1989 die<br />
Prüfungsakten nach der Exmatrikulation des Studenten durch die Prüfungsämter<br />
an das Studentensekretariat geschickt, dort mit der Studentenakte<br />
zusammengeführt und erst danach an das Archiv abgegeben wurden.<br />
Dies hat den unschätzbaren Vorteil, dass alle Angaben zum Studienverlauf<br />
einschließlich der Prüfungsergebnisse in einer Akte konzentriert sind.<br />
Heute haben wir aufgrund der geänderten Gesetzesgrundlage eine<br />
getrennte und zeitlich auseinanderklaffende Abgabe von Studenten- und<br />
Prüfungsakte. 2 Studentenakten müssen unmittelbar nach der Exmatrikula-<br />
1 Dieser Beitrag stellt die leicht überarbeitete und durch Fußnoten ergänzte Fassung<br />
meines Diskussionsbeitrages bei der Saarbrücker Frühjahrstagung der Fachgruppe 8 im<br />
VdA am 24.3.2006 dar.<br />
2 Zur Behandlung und Aufbewahrung von Prüfungsakten sind die verschiedensten Prüfungsordnungsordnungen<br />
heranzuziehen. Diese sind in bezug auf Fragen der Archivie-<br />
Universitätsreden 73 191
Stephan Luther<br />
tion abgegeben werden, da entsprechend der Studentendatenverordnung<br />
von 2000 die bei der Immatrikulation erhobenen Daten auf ein genau definiertes<br />
Maß reduziert werden müssen. Weil eine physische Trennung der<br />
zu löschenden Daten vom Rest der Akte kaum realisierbar und auch nicht<br />
gewünscht ist, wird die komplette Akte ins Archiv gegeben. Prüfungsakten<br />
verbleiben momentan fünf Jahre in den Prüfungsämtern, da der Prüfungsausschuss<br />
innerhalb dieser Frist ein Einspruchsrecht in bezug auf das<br />
Ergebnis besitzt. Die Abschlussarbeiten werden nach Ablauf dieser Frist<br />
nach Auswahl der für die Geschichte der Einrichtung und der Region relevanten<br />
Arbeiten kassiert. Darüber hinaus haben wir die Festlegung getroffen,<br />
dass die betreuenden Hochschullehrer bewahrenswerte Arbeiten kennzeichnen<br />
können. Seit dem Bestehen dieser Regelung gab es jedoch keine<br />
einzige solche Bewertung. Die Prüfungsakten selbst werden nach diesen<br />
fünf Jahren an das Universitätsarchiv abgegeben. 3<br />
Bei der Abgabe der beiden Aktenarten erhält das Universitätsarchiv<br />
neben der konventionellen Liste, auf der rechtsverbindlich die Übergabe<br />
nach Revision bestätigt wird, auch eine Datei, die aus dem Hochschulinformationssystem<br />
(HIS) ausgelesen wird. Diese Daten werden in eine<br />
vom Archiv selbst programmierte Datenbank auf Access-Basis eingelesen.<br />
Damit ist es möglich, die beiden oder auch mehrere Akten zu einer Person<br />
bei einer Recherche zumindest virtuell wieder zusammenzuführen sowie<br />
schnell recherchierbar zu halten.<br />
Selbst an unserer relativ kleinen Universität übernimmt das Archiv im<br />
Jahresdurchschnitt der letzten acht Jahre ca. 3.100 Archiveinheiten oder<br />
rung und der gesetzlichen Aufbewahrungsbestimmungen leider nicht immer eindeutig<br />
gefasst. Bezüglich der Studentenakten gibt es in Sachsen eine einheitliche Regelung<br />
durch die Verordnung des Sächsischen Staatsministeriums für Wissenschaft und Kunst<br />
zur Verarbeitung personenbezogener Daten der Studienbewerber, Studenten und Prüfungskandidaten<br />
für statistische und Verwaltungszwecke der Hochschulen (Sächsische<br />
Studentendatenverordnung – SächsStudDatVO) vom 19.7.2000, veröffentlicht in:<br />
Sächsisches Gesetz- und Verordnungsblatt, Jg. 2000, Nr. 11, S. 390ff.<br />
3 Momentan verhandelt das neu gebildete zentrale Prüfungsamt mit dem Universitätsarchiv,<br />
um eine frühere Abgabe der Prüfungsakten an das Universitätsarchiv zu erreichen.<br />
Gerechtfertigt wird dies durch die Erfahrung, dass die Einsicht unter rechtlichen<br />
Gesichtspunkten, wenn überhaupt, in der Mehrzahl innerhalb des ersten Jahres nach<br />
192 Universitätsreden 73<br />
Studentenakten: Fluch oder Segen?<br />
anders ausgedrückt 17 lfm. Damit kommt im Laufe der Zeit eine Menge<br />
an Schriftgut zusammen. Momentan verwahren wir im Bestand 203 rund<br />
400 lfm. studentischer Unterlagen, bei einer Gesamtüberlieferung von<br />
ca. 2.500 lfm. Aus diesen Zahlen wird schon deutlich, dass wir es mit<br />
einem Mengenproblem zu tun haben.<br />
Nun möchte ich zum Segen dieser Unterlagen kommen. Zum einen dienen<br />
sie natürlich zur Sicherung der rechtlichen Belange unserer ehemaligen<br />
Studenten. Ein großer Anteil der an uns gerichteten Anfragen bezieht<br />
sich auf die Erstellung von Studienbescheinigungen, den Ersatz von Urkunden<br />
und Zeugnissen, Auskünfte im Zuge der politischen Rehabilitation<br />
nach dem SED-Unrechtsbereinigungsgesetz oder die Unterstützung<br />
von Seminargruppentreffen. 4<br />
Unstrittig ist aber auch der Nutzen für die sozialhistorische und die biographische<br />
Forschung, wobei in der Nutzung allerdings die Bestimmungen<br />
des Datenschutzes zu beachten sind. Gerade die biographische Forschung<br />
ist auch hochschulintern immer stärker in das Blickfeld gerückt,<br />
versucht doch jede Hochschule, sich im stärker werdenden Wettbewerb<br />
durch die Präsentation von besonders bedeutenden Absolventen zu profilieren.<br />
Äußerer Ausdruck dessen sind die zahllosen Alumni-Netzwerke, die<br />
sich mit prominenten Politikern, Wirtschaftsbossen oder historischen Persönlichkeiten<br />
schmücken.<br />
Insgesamt kann für unser Archiv ein Absinken der inhaltlichen Qualität<br />
in der studentischen Überlieferung seit 1989 beobachtet werden. In der<br />
Abschluss erfolgt. Außerdem wird damit die Dokumentation des gesamten Studienverlaufs<br />
im Universitätsarchiv zeitnah ermöglicht.<br />
4 Das Universitätsarchiv ist der Meinung, dass eine Aufbewahrung dieser Unterlagen,<br />
auch bei Fehlen einer gesetzlich fixierten Aufbewahrungsfrist, notwendig ist. Nach § 20<br />
Abs. 4 Punkt 1 hat die Löschung von personenbezogenen Daten zu unterbleiben, wenn<br />
„Grund zu der Annahme besteht, dass durch sie schutzwürdige Interessen des Betroffenen<br />
beeinträchtigt würden“. Vgl. Gesetz zum Schutz der informationellen Selbstbestimmung<br />
im Freistaat Sachsen (Sächsisches Datenschutzgesetz – SächsDSG) vom 25.8.2003,<br />
veröffentlicht in: Sächsisches Gesetz- und Verordnungsblatt, Jg. 2004, Nr. 10, S. 330ff.<br />
Darüber hinaus sind nach dem Sächsischen Archivgesetz Unterlagen archivwürdig,<br />
denen ein „bleibender Wert … für die Sicherung berechtigter Belange betroffener Personen<br />
und Institutionen oder Dritter zukommt“. Vgl. Archivgesetz für den Freistaat<br />
Universitätsreden 73 193
Stephan Luther Studentenakten: Fluch oder Segen?<br />
DDR-Zeit sind erheblich mehr Angaben in die Studentenakten gelangt, als<br />
es heute nach den verschiedenen Bestimmungen möglich ist. Andererseits<br />
gibt es auch zunehmend Differenzen zwischen der schriftlichen Überlieferung,<br />
den Nachweisen in den HIS-Datenbanken und dem tatsächlichen<br />
Studienverlauf. Hier muss unbedingt gegengesteuert werden, um die rechtlich<br />
einwandfreie Kongruenz mit dem tatsächlich absolvierten Studium zu<br />
gewährleisten. Dazu reichen schon eine bessere Arbeitsorganisation in den<br />
mit der Führung der Akten befassten Stellen und eindeutige Festlegungen<br />
in der Arbeit mit diesen Daten. In die Erarbeitung der letzteren sollte sich<br />
das Archiv unbedingt einbringen. In Chemnitz befinden wir uns nach der<br />
Analyse des gegenwärtig unbefriedigenden Zustandes in genau diesem<br />
Prozess.<br />
Wenn ich als Archivar alle Forderungen der biographischen Forschung<br />
erfüllen wollte, hätte ich die komplette Überlieferung zu bewahren. Dann<br />
müsste ich aber entweder Maßnahmen der Bestandserhaltung oder aber<br />
der Ersatzverfilmung treffen. Beides ist angesichts des zu erwartenden<br />
Nutzens ein sehr teures und personalintensives Unterfangen. Man muss<br />
sich doch die Frage stellen: Wie häufig und wie intensiv wird diese Aktengruppe<br />
einmal genutzt werden? Kommt es auf den Einzelfall an, oder<br />
stehen eher gruppenbiographische Ansätze im Vordergrund? Kann ich es<br />
mir leisten, 10.000 Akten aufzubewahren, damit eine genutzt werden<br />
kann? Deshalb bin ich der Meinung, dass auch diese Unterlagen einer<br />
Bewertung und Kassation unterliegen müssen, auch auf die Gefahr hin,<br />
dass, überspitzt formuliert, die Akte eines künftigen Nobelpreisträgers mit<br />
kassiert wird und dann für die biographische Forschung nicht mehr zur<br />
Verfügung stehen würde. Allerdings dürfte dies in Chemnitz bei den relativ<br />
langen Aufbewahrungsfristen und der Medienpräsenz eines Nobelpreisträgers<br />
kaum passieren.<br />
Für die sozialhistorische Forschung dagegen ist es nicht notwendig, die<br />
Gesamtheit der Akten aufzubewahren. Man muss nur eine ausreichend<br />
große Gesamtmenge zur Verfügung haben. Es reicht dann aus, die mit<br />
unterschiedlichen Methoden gebildeten Stichproben der Forschung zur<br />
Verfügung zu stellen.<br />
Auf einem Vortrag auf dem sächsischen Archivtag 2002 in Plauen habe<br />
ich ein theoretisches Modell für die Bewertung dieser Aktengruppe ent-<br />
worfen. 5 Aufgrund der Wahrung von rechtlichen Belangen der Betroffenen<br />
beginnt die Bewertung in Chemnitz erst 50 Jahre nach der Exmatrikulation<br />
des Betroffenen. Eindeutige gesetzliche Regelungen zur Aufbewahrungsfrist<br />
solcher Akten gibt es dafür in Sachsen jedoch leider nicht.<br />
Bei der Bildung meiner Stichprobe verzichte ich bewusst auf Repräsentativität.<br />
Im Modell habe ich als erstes die Auswahl des Besonderen verankert. Für<br />
Chemnitz bedeutet dies die Totalarchivierung der Akten von ausländischen<br />
Studenten, da der Anteil nicht besonders hoch lag, aber andererseits<br />
diese v.a. unter den Bedingungen der DDR maßgeblichen Einfluss auf studentisches<br />
Leben hatten.<br />
Daneben sollen besondere Einzelfälle aus der Masse der Studenten selektiert<br />
werden. In erster Linie betrifft dies „bedeutende“ Absolventen. Diese<br />
Studenten werden in der Datenbank bei Bekanntwerden zeitnah mit einem<br />
entsprechenden Vermerk versehen. Natürlich würde ich nie die Akte eines<br />
mir bekannten Nobelpreisträgers, so Chemnitz jemals einen hervorbringen<br />
sollte, kassieren. Bedeutende Persönlichkeiten sind jedoch nicht nur in<br />
diesem Bereich zu suchen, sondern in allen Bereichen der Gesellschaft, im<br />
In- und im Ausland. Es ist wohl unmöglich, alle diese Einzelfälle zu beobachten<br />
und in die Auswahl einzubeziehen. Es kann mir also durchaus passieren,<br />
dass eine herausragende Persönlichkeit mit ihrer Akte der Kassation<br />
anheimfällt. Daneben bleibt hier immer auch ein subjektives Moment,<br />
welches ja schon mit der Festlegung der Kriterien für Bedeutung beginnt<br />
und beim Erfahrungs- und Bildungshorizont des Bewertenden noch lange<br />
nicht aufhört. Eine Vollständigkeit der „besonderen Fälle“ kann und soll<br />
nie erreicht werden.<br />
Sachsen, rechtsbereinigt mit dem Stand vom 1.1.2005, in: http://www.sachsen.de/de/<br />
bf/verwaltung/archivverwaltung/elemente/media/Archivgesetz.pdf (21.6.2006).<br />
5 Vgl. Stephan Luther: Das Problem Massenakten. Zwischen Aufbewahrung, Kassation<br />
und Selektion, in: Überlieferungsbildung an der Schwelle des 21. Jahrhunderts –<br />
Aktuelle Probleme der Bewertung. (Tagungsband des 11. Sächsischen Archivtages 2002<br />
in Bautzen) Dresden 2003, S. 47-57. Hier finden Sie auch weiterführende Literaturhinweise.<br />
Der Beitrag kann auch auf den Seiten des Landesverbandes Sachsen im VdA,<br />
allerdings unter Abänderung der Seitenzahlen, heruntergeladen werden. Vgl.<br />
http://www.vda.lvsachsen.archiv.net/archivtage/2002_bautzen/10-Luther.pdf<br />
194 Universitätsreden 73 Universitätsreden 73 195
Stephan Luther<br />
In einer zweiten Stufe soll es zeitliche Schichtungen geben, innerhalb deren<br />
ebenfalls eine Totalarchivierung oder zumindest umfangreichere Stichprobe<br />
erfolgen soll. Auf unsere Universität angewandt, ist das zum einen<br />
die Erstmatrikel nach Gründung der Hochschule für Maschinenbau Karl-<br />
Marx-Stadt (HfM) im Jahre 1953. Eine zweite Schicht soll mit der Matrikel<br />
1963, als die HfM zur TH erhoben wurde, gebildet werden. Dann soll für<br />
die Jahrgänge 1967-1970 eine größere Schicht gebildet werden, da sich mit<br />
der III. Hochschulreform einschneidende Veränderungen in der Studienorganisation<br />
ergaben, andererseits auch die Ereignisse in der `ĆSSR und<br />
Reflexionen der Studentenunruhen in der Bundesrepublik erfasst werden.<br />
Zwei weitere umfangreichere Schichten werden mit den Jahrgängen 1980<br />
und 1989 gebildet. Ansonsten werden wir wohl in Zehnjahresschichten<br />
weiterverfahren. Es sei denn, die Zukunft bringt gravierende Veränderungen,<br />
die sich auch in dieser Überlieferungsbildung niederschlagen müssten.<br />
Für den Rest der Akten soll eine statistische Zufallsauswahl in einer<br />
Größenordnung von ca. 5 Prozent gebildet werden. Bei einer ausreichend<br />
großen Grundgesamtmenge kann diese Quote eventuell noch reduziert<br />
werden.<br />
Die Metadaten aller Studienverläufe sollen jedoch auf Dauer bewahrt<br />
und in einer Datenbank gespeichert werden. Wir wollen natürlich auch<br />
nach jeder durchgeführten Bewertung in der Lage sein, jeden einzelnen<br />
immatrikulierten Studenten mit seinem Studium in Chemnitz/Karl-Marx-<br />
Stadt nachzuweisen. Der Grundstock dieser Datenbank ist bereits mit der<br />
oben erwähnten, schon bei der Abgabe gebildeten Datenbank gelegt. Im<br />
übrigen verweise ich auf meinen Beitrag von 2002, der auch online auf den<br />
Seiten des Landesverbandes Sachsen nachzulesen ist.<br />
In der Endkonsequenz entsteht eine Datenbank mit den Metadaten zum<br />
Studienverlauf jedes einzelnen Studenten, ähnlich unseren Matrikelbüchern<br />
des 19. Jahrhunderts, nur mit dem Vorteil, dass diese dann datenbankgestützt<br />
ausgewertet werden können. Der Fluch der Überfüllung unserer<br />
Magazine mit studentischer Überlieferung wäre gebannt und auf den<br />
Forschenden käme der Segen einer in vieler Hinsicht auswertbaren Datenbank<br />
mit einer stichprobenweise gebildeten Auswahlüberlieferung. Die<br />
praktische Umsetzung eines solchen Traumes erfordert jedoch eine Menge<br />
Kraft und Zeit, sollte aber unser Ziel sein.<br />
196 Universitätsreden 73<br />
Bewertung von Prüfungsakten<br />
der Prüfungsämter und Prüfungsausschüsse für<br />
akademische Fachprüfungen der Fakultäten und<br />
Fachbereiche der Universität Hamburg<br />
Heidelies Wittig<br />
Seit den 1950er Jahren liefert die 1919 gegründete Universität Hamburg<br />
kontinuierlich älteres Schriftgut ab, das Teile des im Staatsarchiv Hamburg<br />
formierten Universitätsarchivs bildet. 1980 wurden durch Dr. Hans-<br />
Wilhelm Eckardt vom Staatsarchiv Hamburg im Rahmen einer Archivpflege<br />
in der Universitätsverwaltung erstmals auch Promotionsakten,<br />
Magister- und Diplomprüfungsakten 1 begutachtet und als Ziel die Übernahme<br />
einer repräsentativen Auswahl von Prüfungsakten formuliert. 2<br />
Trotzdem lieferte die Universität im November 1984 ohne Absprache<br />
und ohne Ablieferungsverzeichnis 455 m Prüfungsakten verschiedener<br />
Fächer und unterschiedlicher Abschlüsse ab, von Vorprüfungen bis zu<br />
Habilitationen. Darunter waren allein 260 m Diplomprüfungsakten von<br />
Kaufleuten, Handelslehrern, Volkswirten, Soziologen, Politologen und<br />
Psychologen. Vor dem Hintergrund, dass die ebenfalls abgelieferten Promotionsakten<br />
der Philosophischen sowie der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen<br />
Fakultät seit Gründung der Universität bis 1971 insgesamt<br />
nur 45 m umfassten, zeigte sich ein deutliches Missverhältnis zwischen<br />
„Qualität“ und „Quantität“. Den Plänen der Universität, sämtliche Akten<br />
betreffend akademische Prüfungen unterhalb der Promotion aufzubewahren,<br />
konnte das Staatsarchiv nicht folgen, weder aus archivarischer noch<br />
aus historischer Sicht. Ziel archivarischer Tätigkeit war und ist es, hier wie<br />
auch in anderen Überlieferungsbereichen (z. B. Schul- und Sozialwesen)<br />
1 Eine Prüfungsakte besteht aus Akte und Prüfungsarbeit.<br />
2 GA (Geschäftsakte) 2111-02/1 Schreiben des Staatsarchivs an die Universitätsverwaltung<br />
vom 2.5.1980.<br />
Universitätsreden 73 197
Heidelies Wittig<br />
eine Reduzierung der Zahl der Einzelfallakten und damit eine verdichtete,<br />
repräsentative historische Dokumentation zu erreichen. 3<br />
Das Konzept der Universität, den Magister- und Diplomprüfungsakten<br />
die Urkunde, Klausuren und Gutachten zu entnehmen und zu archivieren<br />
und den restlichen Akteninhalt (Zulassungsantrag, Korrespondenz, Prüfungsprotokoll<br />
etc.) zu vernichten, wurde seitens des Staatsarchivs ebenfalls<br />
nicht akzeptiert. 4<br />
Nachdem sich 1992 wieder Aktenberge aus den vergangenen studentenstarken<br />
Prüfungsjahrgängen angesammelt hatten, kam es zu folgender<br />
Regelung für die Übernahme von Magister- und Diplomprüfungsakten.<br />
Der Präsident der Universität legte die Aufbewahrungsfrist für die Akten<br />
in den Prüfungsämtern auf 10 Jahre fest. 5 Vor Abgabe der Akten sollten<br />
die Prüfungsämter die jeweiligen Abschlusszeugnisse entnehmen, um sie<br />
dauernd aufzubewahren, zur Prüfungsakte sollte eine Kopie gelegt werden.<br />
Diese Verfügung des Präsidenten der Universität vom 28. August 1992 6<br />
lässt sich als Vereinbarung zwischen der Universität und dem Staatsarchiv<br />
im Sinne des Hamburgischen Archivgesetzes 7 verstehen. 8<br />
Da jedoch zwei Fachbereiche weiterhin die vollständige Archivierung<br />
der Magisterprüfungsakten anstrebten, kam es in der Folgezeit (1996-1998)<br />
nur zur Anbietung und Ablieferung von Diplomprüfungsakten. Die<br />
Diplomprüfungsakten der Fächer Physik, Biologie, Chemie und Mathematik<br />
aus den Jahren 1953-1985 wurden dabei für nicht archivwürdig<br />
erklärt.<br />
In Auswahl übernommen wurden dagegen Diplomprüfungsakten der<br />
Fächer Informatik, Geographie, Geologie-Paläontologie und Mineralogie<br />
3 GA 2111-02/1 Schreiben des Staatsarchivs an die Universitätsverwaltung vom 9.5.1988.<br />
4 vgl. Anm. 3.<br />
5 Das HambArchG sieht eine Aussonderung und Anbietung nach spätestens 30 Jahren<br />
vor (§ 3 Nr. 1).<br />
6 GA 2111-02/1.<br />
7 HambArchG § 3 Abs. 4 Nr. 2: Durch Vereinbarung zwischen dem Staatsarchiv und<br />
den in § 1 Abs. 1 genannten Stellen kann der Umfang der anzubietenden gleichförmigen<br />
Unterlagen, die in großer Zahl anfallen, im einzelnen festgelegt werden.<br />
8 GA 2111-02/1 Schreiben des Staatsarchivs an die Universitätsverwaltung vom 23.9.<br />
1992.<br />
198 Universitätsreden 73<br />
Bew ertung v on Prüfungsakten der Prüfungsämter und Prüfungsausschüsse<br />
der Jahre 1953-1985. Um die Entwicklung des neuen, zeittypischen Faches<br />
Informatik zu dokumentieren, wurden jeweils die ältesten und die jüngsten<br />
30 Prüfungsakten sowie die aller Kandidatinnen übernommen. Für die<br />
Fächer Geographie und Geologie-Paläontologie wurden Akten nach thematischen<br />
bzw. thematischen und personalen Gesichtspunkten ausgewählt,<br />
für das Fach Mineralogie ebenfalls nur thematisch relevante Akten<br />
sowie zusätzlich jeweils 18 Akten weiblicher und männlicher Kandidaten.<br />
Im Zuge der Umorganisation der Fachbereiche zu Fakultäten, durch die<br />
Einführung neuer Studienabschlüsse und die Streichung von Fächern sowie<br />
im Zusammenhang mit wiederholten Umzügen einzelner Prüfungsämter<br />
– der Fachbereich Biologie ist seit 1994 sechsmal umgezogen – kam<br />
es ab dem Jahre 2000 vermehrt zu Ablieferungen von Prüfungsakten und<br />
2005 erstmals auch zur Anbietung von Magisterakten aus den Jahren 1961-<br />
1993 und zwar durch den Fachbereich Philosophie und Sozialwissenschaften<br />
sowie durch die Fachbereiche Sprachwissenschaften, Geschichtswissenschaft,<br />
Kulturgeschichte und Kulturkunde sowie Orientalistik.<br />
Hierfür wurde das folgende Bewertungsmodell für Prüfungsakten der<br />
Prüfungsämter und Prüfungsausschüsse für akademische Fachprüfungen 9<br />
der Fakultäten / Fachbereiche der Universität Hamburg entwickelt:<br />
Danach sind Zwischenprüfungs- und Vordiplomprüfungsakten nicht<br />
archivwürdig. Von den Abschlüssen Baccalaureus, Bakkalaureat, Bachelor<br />
of Arts, Bachelor of Science, Magister, Diplom, Master of Arts und Master<br />
of Science sowie den nichtkonsekutiven Masterstudiengängen sollen<br />
2 Prozent der Prüfungsakten übernommen werden, d. h. jede 50. Akte. Zusätzlich<br />
werden weitere Akten nach folgenden Kriterien ausgewählt: bekannte<br />
Personen, „Orchideenfächer“ wie z. B. Altamerikanische Sprachen<br />
und Kulturen sowie Künstliche Intelligenz, Themen mit Hamburg-Bezug<br />
und Themen, die Geschlechtergeschichte, Umwelt, Alltagsgeschichte,<br />
Medien sowie die Zeit des Nationalsozialismus betreffen. Vollständig übernommen<br />
werden Promotionsakten und Habilitationsakten.<br />
9 Für die staatlichen Prüfungen gelangen seit Anfang der 1990er Jahre die „Kriterien für<br />
die Bewertung von Prüfungsakten und -arbeiten des Lehrerprüfungsamtes“ zur Anwendung<br />
(GA 2111-00/5 o.D.).<br />
Universitätsreden 73 199
Bewertung bei der Bundesbeauftragten<br />
für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes<br />
der ehemaligen DDR (BStU)<br />
Gerhard Neumeier<br />
Die Frage, welche Unterlagen des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit<br />
(MfS) der DDR auf Dauer aufbewahrt werden sollten und welche<br />
Unterlagen kassiert werden könnten, steht im Mittelpunkt dieses Beitrages.<br />
In der aktuellen Bewertungsdiskussion in Deutschland spielt die Frage, ob<br />
die Formulierung von Dokumentationszielen bei der Bewertung hilfreich<br />
sein kann, eine zentrale Rolle. 1<br />
Die hier gewählte Vorgehensweise gliedert sich in sechs Abschnitte:<br />
1. wird die Gründung des Ministeriums für Staatssicherheit sowie dessen<br />
Strukturen und Aufgaben dargestellt, 2. soll die Bedeutung der Revolution<br />
1989/90 für die Sicherung der Akten des MfS gezeigt werden, 3. wird die<br />
Vorgeschichte des Stasi-Unterlagen-Gesetzes (StUG) und dessen Formulierung<br />
als Grundlage für die Arbeit der BStU analysiert, 4. werden die Aufgaben<br />
und Ziele der BStU betrachtet und auf die Rolle der Archive in der<br />
BStU hingewiesen, 5. werden am Beispiel der Unterlagen der Abteilung VII<br />
der Außenstelle Suhl der BStU (Schutz des Innenministeriums bzw. der<br />
Polizei sowie „Politisch-operatives Zusammenwirken“ des MfS mit der<br />
Polizei) die Möglichkeiten der Erarbeitung von Dokumentationszielen diskutiert,<br />
und 6. werden die Schlussfolgerungen für die einzelnen Aspekte<br />
der Bewertung gezogen und Vorschläge für die Verfahrensweise bei der<br />
Bewertung am Beispiel der Universitäten gemacht.<br />
1 Siehe dazu beispielsweise die Frühjahrstagung der Fachgruppe 8 des Verbandes deutscher<br />
Archivarinnen und Archivare an der Universität des Saarlandes am 23./24. März<br />
2006.<br />
Universitätsreden 73 201
Gerhard Neumeier<br />
Die Gründung des Ministeriums für Staatssicherheit sowie<br />
dessen Strukturen und Aufgaben<br />
Das Ministerium für Staatssicherheit wurde am 8. Februar 1950 in Berlin<br />
gegründet. Aus der Richtlinie 1/58 ging unscheinbar und verharmlosend<br />
hervor: „Das Ministerium ist beauftragt, alle Versuche, den Sieg des<br />
Sozialismus aufzuhalten oder zu verhindern – mit welchen Mitteln und<br />
Methoden es auch sei –, vorbeugend und im Keim zu ersticken.“ 2 Tatsächlich<br />
handelte es sich beim MfS um einen geheimen Nachrichtendienst, um<br />
ein Untersuchungsorgan bei Straftaten und um eine politische Geheimpolizei.<br />
Im Mittelpunkt der Tätigkeit stand die Kontrolle und Überwachung<br />
der Bevölkerung der DDR. Der Gründungs- und Hauptzweck<br />
der Staatssicherheit lag in der Erkennung und Bekämpfung jeglicher<br />
Regung von Widerspruch und Aufbegehren gegen die SED-Herrschaft.<br />
Das Ziel bestand in der geheimdienstlichen Präsenz in allen Lebensbereichen,<br />
um abweichendes Denken und Handeln aufzuspüren und zu<br />
bekämpfen. 3 Das MfS war ein Organ des Ministerrates der DDR und eng<br />
mit der SED verzahnt. Die Staatssicherheit operierte „jenseits rechtsstaatlicher<br />
Legitimation und unter eklatanter Missachtung der Menschen- und<br />
Bürgerrechte“. 4 Die Zentrale des MfS in Berlin umfasste organisatorisch<br />
unter der Führung des Ministers fünf Geschäftsbereiche, wobei jeder<br />
Geschäftsbereich aus Hauptabteilungen, zentralen Arbeitsgruppen, Stäben<br />
und Verwaltungen bestand. 5 Die Hauptabteilungen waren zuständig für<br />
einzelne Aufgaben, so z. B. die Hauptabteilung XVIII für die „Sicherung“<br />
der Volkswirtschaft, die Hauptabteilung XX für den Staatsapparat, die<br />
Kirche, die Kunst, die Kultur und den „politischen Untergrund“, oder die<br />
Hauptabteilung VII für die Überwachung und die Zusammenarbeit mit<br />
2 Zitiert nach: Clemens Vollnhals: Das Ministerium für Staatssicherheit. Ein Instrument<br />
totalitärer Herrschaftsausübung, in: Hartmut Kaelble / Jürgen Kocka / Hartmut Zwahr<br />
(Hrsg.): Sozialgeschichte der DDR. Stuttgart 1994, S. 498.<br />
3 Jens Gieseke: Der Mielke-Konzern. Die Geschichte der Stasi 1945–1990. München<br />
2006, S. 77.<br />
4 Ebd. S. 19.<br />
5 Clemens Vollnhals: Das Ministerium für Staatssicherheit (wie Anm. 2), S. 501.<br />
202 Universitätsreden 73<br />
Bew ertung bei der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes<br />
der Deutschen Volkspolizei (DVP). Seit 1952 bestanden 15 Bezirksverwaltungen<br />
des MfS, analog dem staatlichen Gliederungsschema der DDR.<br />
Diese Bezirksverwaltungen entsprachen im wesentlichen der Gliederung<br />
der Zentrale und arbeiteten wie die Zentrale nach dem ‚Linienprinzip‘. „In<br />
der Zentrale gab es für jede dieser ‚Linien‘ eine Hauptabteilung …, in den<br />
Bezirksverwaltungen entsprechend jeweils eine Abteilung oder ein Referat.“<br />
6 Auf der dritten Ebene arbeiteten die Kreisdienststellen, von denen<br />
es im Jahr 1989 211 gab und die für die Territorien ihrer Kreise zuständig<br />
waren. Im Jahr 1989 hatte die Staatssicherheit – nach ständiger Aufblähung<br />
des Apparates – ca. 91.000 hauptamtliche Mitarbeiter und ca.<br />
173.000 Inoffizielle Mitarbeiter (IM). Die Akten, die im Verlauf der knapp<br />
40jährigen Existenz des MfS entstanden, dienten ihren Mitarbeitern als<br />
Arbeitsgrundlage und dokumentieren heute u. a. die Mittel und Methoden<br />
der Repression des Ministeriums für Staatssicherheit.<br />
Die Revolution 1989/90 in der DDR und die Bedeutung der<br />
Sicherung der Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit<br />
Im Verlauf der Revolution gehörte die Öffnung und die Auflösung des<br />
Ministeriums für Staatssicherheit sowie die Herausgabe der Akten dieses<br />
Ministeriums zu den zentralen Forderungen der Demonstranten und<br />
Bürgerkomitees, da die friedlich demonstrierenden Menschen die Funktion<br />
der Staatssicherheit als ein repressives Herrschaftsinstrument der SED<br />
kannten. Ab dem 4. Dezember 1989 wurden in „allen Bezirksstädten die<br />
Bezirksverwaltungen der Stasi von Bürgerkomitees besetzt“. 7 Auch die<br />
Unterlagen der Kreisdienststellen fielen damit in die Hände engagierter<br />
Bürgerinnen und Bürger. Dies geschah vor allem deshalb, weil die Bürgerinnen<br />
und Bürger der DDR seit dem Mauerfall am 9. November 1989<br />
sahen oder zumindest ahnten, dass die hauptamtlichen Mitarbeiter der<br />
6 Jens Gieseke: Der Mielke-Konzern (wie Anm.3), S. 137.<br />
7 David Gill: Von den Bürgerkomitees zur Gauckbehörde, in: Siegfried Suckut / Jürgen<br />
Weber (Hrsg.): Stasi-Akten zwischen Politik und Zeitgeschichte. Eine Zwischenbilanz.<br />
München 2003, S. 69.<br />
Universitätsreden 73 203
Gerhard Neumeier<br />
Staatssicherheit zur Vertuschung ihres Handelns begonnen hatten, in<br />
großem Stil Akten zu vernichten. Heute schätzt man, dass etwa ein Viertel<br />
des Gesamtmaterials des Ministeriums für Staatssicherheit vom MfS selbst<br />
vernichtet wurde. 8 Dies betraf vor allem die Unterlagen der Hauptverwaltung<br />
Aufklärung (HVA), also des Auslandsspionagedienstes der DDR.<br />
Die Vernichtung dieser Akten vollzog sich mit Billigung des Runden<br />
Tisches und der Bürgerkomitees vor allem im Frühjahr 1990, da die Angehörigen<br />
der demokratischen Opposition vor allem an Unterlagen, die die<br />
Überwachung der DDR-Bevölkerung dokumentierten, interessiert waren<br />
und sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen konnten, dass sich auch<br />
die Hauptverwaltung Aufklärung in vielfältiger Weise an den Aktivitäten<br />
der Staatssicherheit im Inland beteiligt hatte. Ansonsten betrafen die<br />
Aktenvernichtungen vor allem Akten aus den jeweiligen Dienstzimmern<br />
der hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit. Um diese Vernichtungen<br />
zu stoppen, wurden während der Auflösungsphase unter der Aufsicht<br />
der Bürgerkomitees aus den Diensträumen der ehemaligen MfS-Mitarbeiter<br />
die Unterlagen der Diensteinheiten geholt. 9 Anders ausgedrückt:<br />
„Emanzipierte Bürger verschafften sich Zugang zu einem noch arbeitenden<br />
Geheimdienst und übernehmen die Kontrolle seiner Tätigkeit“. 10 Die<br />
Bürgerkomitees bewachten daraufhin die Akten, um sie später zu nutzen.<br />
8 Jens Gieseke: Der Mielke-Konzern (wie Anm. 3), S. 18.<br />
9 Birgit Salamon: Das Archiv der Bundesbeauftragten (BStU) für die Stasiunterlagen –<br />
Die archivfachliche Arbeit an den MfS-Geheimdienstunterlagen – Fragen und Herausforderungen,<br />
Homepage der BstU.<br />
10 David Gill: Von den Bürgerkomitees (wie Anm.7), S. 69.<br />
204 Universitätsreden 73<br />
Bew ertung bei der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes<br />
Die Vorgeschichte des Stasi-Unterlagen-Gesetzes (StUG) und<br />
dessen Stellung als Grundlage für die Arbeit der<br />
Bundesbeauftragten für die Unterlagen des<br />
Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU)<br />
Das Stasi-Unterlagen-Gesetz (StUG) vom 20. Dezember 1991 regelt in § 1<br />
die „Erfassung, Erschließung, Verwaltung und Verwendung der Unterlagen<br />
des Ministeriums für Staatssicherheit und seiner Vorläufer- und<br />
Nachfolgeorganisationen (Staatssicherheitsdienst) der ehemaligen Deutschen<br />
Demokratischen Republik…“. Es soll „dem einzelnen Zugang zu<br />
den vom Staatssicherheitsdienst zu seiner Person gespeicherten Informationen<br />
… ermöglichen, damit er die Einflussnahme des Staatssicherheitsdienstes<br />
auf sein persönliches Schicksal aufklären kann.“ Neben dieser<br />
„persönlich-biografischen Dimension“ 11 soll die historische, politische<br />
und juristische Aufarbeitung der Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes gewährleistet<br />
und gefördert werden. Das StUG bildet die Grundlage für die<br />
Arbeit der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes<br />
der ehemaligen DDR.<br />
Wie kam es zum StUG? Wer war wann an dessen Formulierung beteiligt?<br />
Welche Ziele und Aufgaben beinhaltet das Gesetz? Angesichts der Aktenvernichtungsaktionen<br />
innerhalb des Ministeriums für Staatsicherheit und<br />
seiner Nachfolgeorganisation, dem „Amt für Nationale Sicherheit“, stellte<br />
sich bereits auf der ersten Sitzung des „Runden Tisches“ am 7. Dezember<br />
1989 die Frage nach der Zukunft der Akten, der materiellen Hinterlassenschaft<br />
des MfS. Ulrike Poppe von der Bürgerbewegung „Demokratie Jetzt!“<br />
forderte: „1. Die sofortige Auflösung des Amtes für Nationale Sicherheit,<br />
gegen die Absicht der Modrow-Regierung, die Arbeit des MfS im verkleinerten<br />
Maßstab fortzusetzen …, 2. die Sicherung der Archive der Staatssicherheit,<br />
gegen die im Gang befindlichen Aktenvernichtungen; 3. die<br />
Möglichkeit der Umschulung der ehemaligen Mitarbeiter der Staatssicherheit<br />
für eine gesellschaftlich nützliche Tätigkeit, gegen die in der revolu-<br />
11 Siebenter Tätigkeitsbericht der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes<br />
der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik. Berlin 2005, S. 10.<br />
Universitätsreden 73 205
Gerhard Neumeier<br />
tionären Situation drohende Gefahr der öffentlichen Ächtung und Verfolgung<br />
bis zur Lynchjustiz.“ 12 Hinsichtlich der MfS-Akten wurde folgender<br />
Beschluss gefasst: „Die Regierung der DDR wird aufgefordert, einen<br />
sofortigen Maßnahmeplan öffentlich bekanntzugeben, wie durch Sicherungskräfte<br />
des Ministeriums des Innern alle Dienststellen des Amtes für<br />
Nationale Sicherheit auf allen Ebenen unter Kontrolle gestellt werden,<br />
damit keine Vernichtung von Dokumenten beziehungsweise von Beweismaterial<br />
erfolgen kann und Mißbrauch ausgeschlossen wird.“ 13 Die Regierung<br />
Modrow fand sich schließlich nach heftigen Konflikten bereit, der<br />
Forderung des Runden Tisches nach Auflösung des Amtes für Nationale<br />
Sicherheit nachzukommen. Nach der Volkskammerwahl vom 18. März<br />
1990 und der Bildung der Regierung von Lothar de Maizière war Innenminister<br />
Peter-Michael Diestel für die Umsetzung des Auflösungsbeschlusses<br />
verantwortlich. Zwischenzeitlich wurden durch den Ministerratsbeschluss<br />
vom 16. Mai 1990 der staatlichen Archivverwaltung die Sicherung<br />
und Auswertung der MfS-Unterlagen übertragen. 14 Am 21. Juni 1990<br />
konstituierte sich der Sonderausschuss zur Kontrolle der Auflösung des<br />
MfS/AfNS, der Joachim Gauck zu seinem Vorsitzenden wählte. Der<br />
Sonderausschuss bestand aus elf Abgeordneten der Volkskammer und 16<br />
Vertretern der Bürgerkomitees. Dieser Ausschuss „spielte eine entscheidende<br />
Rolle bei der Formulierung des Stasi-Akten-Gesetzes des DDR-<br />
Parlaments“. 15 In Anlehnung an westdeutsches Datenschutzrecht wurde<br />
allen betroffenen Bürgern und Bürgerinnen ein Auskunftsrecht zugestanden.<br />
Im vom gesamtdeutschen Bundestag später mit großer Mehrheit verabschiedeten<br />
StUG wurde dann das allgemeine Auskunftsrecht zu einem<br />
allgemeinen Einsichtsrecht erweitert. Das StUG beinhaltet seither außerdem<br />
die Überprüfung von Personen auf eine MfS-Tätigkeit. Von dieser<br />
Regelung, die am 31.12.2006 teilweise auslief, waren alle Beschäftigten im<br />
12 Wolfgang Ullmann: Das Stasi-Unterlagen-Gesetz. Eine Demokratieinitiative der Friedlichen<br />
Revolution, in: Siegfried Suckut / Jürgen Weber (Hrsg.): Stasi-Akten (wie<br />
Anm. 7), S. 47.<br />
13 Wolfgang Ullmann, Das Stasi-Unterlagen-Gesetz (wie Anm.12), S. 47.<br />
14 Roger Engelmann: Der Weg zum Stasi-Unterlagen-Gesetz, in: Siegfried Suckut / Jürgen<br />
Weber (Hrsg.), Stasi-Akten (wie Anm. 7), S. 82.<br />
15 Ebd. S. 84.<br />
206 Universitätsreden 73<br />
Bew ertung bei der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes<br />
öffentlichen Dienst und in den Kirchen betroffen. Die Wahrnehmung dieser<br />
Aufgaben wurde einer speziell zu diesem Zweck geschaffenen<br />
Bundesoberbehörde übertragen – dem „Bundesbeauftragten für die<br />
Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen<br />
Republik“ (BStU).<br />
Aufgaben und Ziele der BStU<br />
Die BStU hat ihren Ursprung in der friedlichen Revolution von 1989/90<br />
und ist die einzige Verwaltung in der Bundesrepublik Deutschland, die<br />
ihre Existenz einer Bürgerbewegung verdankt. Die am 3. Oktober 1990<br />
gegründete Behörde gewährt jedem einzelnen Bürger ein Akteneinsichtsrecht;<br />
sie stellt auf private Antragstellung wie auf Ersuchen von Stellen<br />
Unterlagen für die Rehabilitierung im strafrechtlichen und beruflichen<br />
Bereich, für Zwecke der Regelung offener Vermögensfragen und für die<br />
Suche nach Vermissten und Verstorbenen bereit. 16 Um es nochmals zu<br />
wiederholen: Jeder einzelne Bürger der Bundesrepublik Deutschland hat<br />
ein Recht, Einsicht in die von der BStU aufbewahrten Akten des ehemaligen<br />
Ministeriums für Staatssicherheit zu seiner Person zu nehmen. Dies<br />
gilt für Betroffene wie in eingeschränktem Ausmaß auch für ehemalige<br />
Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes und für Begünstigte. Auch für die<br />
Erforschung der Tätigkeit des Ministeriums für Staatssicherheit stellt die<br />
BStU Archivalien für Wissenschaftler und Journalisten zur Verfügung. Zu<br />
diesem Zweck der Aufarbeitung der Geschichte des MfS unterhält die<br />
BStU eine eigene Abteilung Bildung und Forschung. Die größte Abteilung<br />
der BStU ist die Abteilung Auskunft, die im direkten Kontakt mit den<br />
Bürgerinnen und Bürger die Akteneinsicht und die Anfertigung von<br />
16 Wolfgang Brunner: Nutzung der Akten des Staatssicherheitsdienstes der DDR zur<br />
Rehabilitierung von Betroffenen, Vermissten und Verstorbenen, Diskussionsbeitrag<br />
der BStU zum 72. Deutschen Archivtag in Cottbus, vorgetragen am 19.9.2001 als Beitrag<br />
der Sektion IV (Archive und Wiedergutmachung), Homepage der BstU. Auch<br />
publiziert in: Archive und Herrschaft. Referate des 72. Deutschen Archivtags 2001 in<br />
Cottbus. (Der Archivar Beiband 7) Siegburg 2002, S. 252-261.<br />
Universitätsreden 73 207
Gerhard Neumeier Bew ertung bei der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes<br />
Kopien nach Maßgabe des Stasi-Unterlagen-Gesetzes gewährleistet. Zur<br />
Verwahrung, Erschließung und Bereitstellung der Akten des MfS unterhält<br />
die BStU ein Archiv in der Zentrale in Berlin und dreizehn Archive in den<br />
Außenstellen, welche insgesamt knapp 180 km Akten umfassen. Die Abteilung<br />
Verwaltung bildet die vierte Säule der BStU. Sowohl die Zentrale<br />
der BStU in Berlin als auch die 13 Außenstellen in den ehemaligen<br />
Bezirkshauptstädten der DDR – d. h. die Außenstellengliederung der BStU<br />
ist der territorialen Gliederung des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes<br />
angelehnt – sind nach diesem Prinzip gegliedert. Jede Außenstelle verfügt<br />
also über ein Sachgebiet Auskunft, über ein Sachgebiet Archiv, über das<br />
Sachgebiet Verwaltung; die Außenstelle Rostock hat auch ein Sachgebiet<br />
Bildung und Forschung. Die Stellung des Archivs resp. der Archive regelt<br />
indirekt der § 37 des Stasi-Unterlagen-Gesetzes, welcher vorschreibt, dass<br />
die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes erfasst werden und die Unterlagen<br />
nach archivischen Grundsätzen bewertet, geordnet, erschlossen, verwahrt<br />
und verwaltet werden. In den Archiven der BStU lagern die Unterlagen<br />
des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit und seiner Nachfolgeorganisation,<br />
des Amtes für Nationale Sicherheit.<br />
Die vom MfS übernommenen „Bestände“ enthalten erstens die Unterlagen<br />
des Archivs (Abteilung XII) des MfS und zweitens die Unterlagen der<br />
sog. Zentralen Materialablagen (ZMA), also des Informationsspeichers in<br />
den Auswertungs- und Informationsgruppen und operativen Diensteinheiten,<br />
d. h. den Unterlagen des Beauftragten des Leiters einer operativen<br />
Diensteinheit, welcher sich mit den inhaltlichen Problemen und Arbeitsprozessen<br />
der Auswertung und Information befasste. Die Zentralen<br />
Materialablagen enthalten also Informationen zu Personen, Objekten und<br />
Sachverhalten, vor allem jedoch Personendossiers. Die übernommenen<br />
Sachakten aus den einzelnen Diensteinheiten bilden den dritten Teil der<br />
vom MfS übernommenen Unterlagen. Während nahezu das komplette<br />
Archiv (Abteilung XII) des MfS in geordnetem Zustand und die Zentrale<br />
Materialablage in weitgehend geordnetem Zustand von der BStU übernommen<br />
werden konnten, waren die Sachakten der Diensteinheiten stark<br />
von den Vernichtungsaktionen 1989/90 durch die Mitarbeiter des MfS<br />
betroffen. Außerdem wurden die verbliebenen Unterlagen der Diensteinheiten<br />
vor der Übergabe an die Bürgerkomitees stark in Unordnung<br />
gebracht. Diesbezüglich herrschte also eine chaotische Überlieferungslage<br />
mit teilweise überdimensionierten und teilweise lückenhaften Teilbeständen,<br />
fehlenden Aktenplänen und kaum mehr nutzbaren Registraturordnungen<br />
des MfS. So konnten beispielsweise von den ca. 3.700 lfm. Unterlagen,<br />
die sich heute in der Außenstelle Suhl befinden, nur ca. 1.450 lfm.<br />
in geordnetem Zustand übernommen werden. Die Erschließung und<br />
Bereitstellung der nicht vom MfS archivierten Materialien bildet den<br />
Hauptschwerpunkt der Erschließungsarbeit in den Archiven. Nachdem<br />
die Unterlagen aus den Dienstzimmern des MfS und damit zumindest<br />
grob gegliedert nach Diensteinheiten in Säcken und anderen Behältnissen<br />
verpackt wurden, sichteten die Archivarinnen und Archivare der BStU die<br />
Unterlagen grob und verpackten sie, geordnet nach Diensteinheiten, in<br />
Archivkartons. Seither werden die Unterlagen, ausgehend von den Grobsichtungslisten,<br />
einschließlich der personenbezogenen Akten und Vorgängen<br />
in einer Datenbank verzeichnet.<br />
Bei den Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes handelt es sich um<br />
Materialien, deren Inhalt bis 1989/90 völlig unbekannt war. Erst durch die<br />
intensive Erschließung werden die Inhalte nach und nach bekannt, und so<br />
kam es zur berechtigten Strategie der BStU, Bewertungsentscheidungen im<br />
wesentlichen erst nach vollständiger Erschließung vorzunehmen. Die Bewertungsaufgaben<br />
sind wegen der Gültigkeit des STUG heute noch nicht<br />
abschließend zu beantworten, deshalb werden diese Fragen vorläufig durch<br />
die Verzeichnungsintensität gelöst. 17 Eine Arbeitsanordnung bzw. ein Bewertungskatalog<br />
aus dem Jahr 1997 legte die Kassation von Mehrfachüberlieferungen<br />
fest, außerdem sollen beispielsweise wertlose Materialen wie<br />
Vordrucke, Aktenbehältnisse, Briefumschläge und Verpackungsmaterial<br />
ohne auswertbare Beschriftungen oder Anträge zur Ausstellung von Personalausweisen,<br />
zu Hausausweisen oder Stempelbestellungen kassiert werden.<br />
Aufgrund der Erfahrungen, die im Laufe der Verzeichnung gemacht<br />
wurden, können also historisch nicht wertvolle Unterlagen bereits jetzt<br />
kassiert werden. Die im Juli 2003 erlassene interne Richtlinie zur Bewertung<br />
von Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes bildet bis heute die<br />
17 Birgit Salamon, Die Archive der Bundesbeauftragten (wie Anm.9).<br />
208 Universitätsreden 73 Universitätsreden 73 209
Gerhard Neumeier<br />
Grundlage des Umgangs mit den Archivalien. „Erst die vollständige und<br />
personenbezogene und sachliche Erschließung grundsätzlich aller vorhandenen<br />
Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes lässt eine verantwortungsbewusste<br />
Bewertung und ggf. Kassation zu.“ 18 Hierfür gibt es zudem eine<br />
juristische Begründung. „Die Festlegungen im STUG, dass Betroffene und<br />
Dritte, aber auch in gewissem Maße nahe Angehörige von Verstorbenen<br />
Rechte auf Akteneinsicht haben, lassen solange diese Festlegungen Bestandteil<br />
einer gesetzlichen Regelung im Hinblick auf die Unterlagen des<br />
Staatssicherheitsdienstes sind, Kassationen von personenbezogenen Unterlagen<br />
nicht zu.“ 19 Für die Erschließungsarbeiten von Archivarinnen und<br />
Archivaren der BStU findet die Bewertungsproblematik ihren Niederschlag<br />
in der Intensität und Tiefe der Verzeichnung jeder zu bildenden<br />
Akteneinheit. Intensiv verzeichnete Akteneinheiten lassen also Rückschlüsse<br />
auf hochwertige Inhalte der Akteneinheiten zu. Langfristig, d. h.<br />
nach Erlöschen des individuellen Wertes der vom Staatssicherheitsdienst<br />
selbst archivierten Unterlagen muss jedoch die Frage gestellt werden, ob<br />
diese Unterlagen komplett aufbewahrt werden sollen „oder ob eine quantifizierte<br />
und qualifizierte Auswahl für die historische Nutzung vorgenommen<br />
wird“. 20 Nach vollständiger Verzeichnung und einem Abgleich<br />
der überlieferten und verzeichneten Unterlagen sollten also Bewertungsmodelle<br />
in Form von Positivlisten erarbeitet werden. Oder anders ausgedrückt:<br />
„Die langfristig mögliche und notwendig grundsätzliche Bewertung<br />
von Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes erfordern …auch langfristige<br />
Überlegungen und Vorschläge, die auch Bewertungstheorien anderer<br />
Archivbereiche und wissenschaftlicher Forschungs- und Bildungseinrichtungen<br />
in die Analyse einbezieht und letztlich Modellvorschläge der<br />
Bewertung im Verantwortungsbereich der BStU vorlegt.“ 21<br />
18 Interne Bewertungsrichtlinie der BStU vom Juli 2003.<br />
19 Ebd.<br />
20 Ebd.<br />
21 Ebd.<br />
210 Universitätsreden 73<br />
Bew ertung bei der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes<br />
Mögliche Dokumentationsziele als Hilfsmittel zur Bewertung<br />
am Beispiel der Unterlagen der Abteilung VII der Außenstelle<br />
Suhl<br />
Der wichtigste Partner des Ministeriums für Staatssicherheit war die Deutsche<br />
Volkspolizei (DVP). Die Aufgaben der Hauptabteilung VII des<br />
Ministeriums für Staatssicherheit und damit auch der Abteilung VII der<br />
Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Suhl bestand in der „abwehrmäßige(n)<br />
Sicherung und Abschirmung des Ministeriums des Innern (MdI)<br />
und dessen nachgeordneter Organe und Dienstzweige – insbesondere der<br />
Deutschen Volkspolizei (DVP), der Volkspolizei- (VP) Bereitschaften, des<br />
Stabes der Zivilverteidigung und der Kampfgruppen der Arbeiterklasse –<br />
sowie der „zivilen“ Einrichtungen (wie Schulen des MdI, Staatliche<br />
Archivverwaltung)“. 22 Dies bedeutete einerseits die Kontrolle und Überwachung<br />
der Deutschen Volkspolizei und andererseits das sog. „Politischoperative<br />
Zusammenwirken“ mit der Deutschen Volkspolizei. In der<br />
Deutschen Volkspolizei war der Durchdringungs- und Verflechtungsgrad<br />
mit IM-Anteilen von zehn bis zwanzig Prozent unter dem Personal sehr<br />
hoch. 23 Die Durchdringung der Deutschen Volkspolizei gehörte zu den<br />
permanenten Schwerpunkten der Aktivitäten des Ministeriums für<br />
Staatssicherheit. Außerdem gehörte das Zusammenwirken der<br />
Hauptabteilung VII mit dem Arbeitsgebiet I der K (Kriminalpolizei), die<br />
abwehrmäßige Sicherung der Organe der Verwaltung Strafvollzug des MdI<br />
sowie die „operative Arbeit“ (Anwerbung) unter Strafgefangenen und<br />
Haftentlassenen sowie die abwehrmäßige Sicherung des Zentralen<br />
Aufnahmeheimes (ZAH) Röntgental und die Abwehrarbeit unter<br />
Rückkehrern und zuziehenden Ausländern zu den Aufgaben der<br />
Hauptabteilung VII. 24 Speziell für den Bezirk Suhl beinhaltete die<br />
22 Klaus-Dietmar Henke / Siegfried Suckut / Clemens Vollnhals / Walter Süß / Roger<br />
Engelmann (Hrsg.): Anatomie der Staatssicherheit. Geschichte – Struktur – Methoden.<br />
MfS-Handbuch. Die Organisationsstruktur des Ministeriums für Staatssicherheit 1989.<br />
Berlin 1995, S. 252.<br />
23 Jens Gieseke: Der Mielke-Konzern (wie Anm. 3), S. 141.<br />
24 Klaus-Dietmar Henke / Siegfried Suckut / Clemens Vollnhals / Walter Süß / Roger<br />
Engelmann (Hrsg.): Anatomie der Staatssicherheit (wie Anm. 22), S. 252.<br />
Universitätsreden 73 211
Gerhard Neumeier Bew ertung bei der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes<br />
„Sicherung“ der Organe der Verwaltung Strafvollzug die „Sicherung“ der<br />
Strafvollzugseinrichtung Untermaßfeld. Die Tätigkeiten der<br />
Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Suhl Abteilung VII schlagen sich in<br />
dem von der BStU übernommen Bestand nieder, der knapp 70 lfm. umfasst.<br />
Bei der bisherigen Verzeichnung dieses Bestandes kristallisierten sich<br />
einige inhaltliche Schwerpunkte heraus. Der Bestand besteht zunächst aus<br />
den Unterlagen zu dem Personal der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit<br />
Suhl Abteilung VII. Hierzu gehören die Personalakten der hauptamtlichen<br />
Mitarbeiter und der Inoffiziellen Mitarbeiter, Unterlagen zu Kontaktpersonen<br />
und zu Anwerbungsvorgängen sowie die Arbeits- und Aufzeichnungsbücher<br />
von MfS-Angehörigen. Ein zweiter Schwerpunkt besteht<br />
aus den Akten zu Angehörigen der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei<br />
(BdVP) Suhl, zu den Angehörigen der Volkspolizeikreisämter, zu<br />
den Angehörigen der Kriminalpolizei und zu den Angehörigen der<br />
13. Volkspolizeibereitschaft Meiningen. In den Akten zu sog. „Sicherheitsüberprüfungen“<br />
sind beispielsweise Personalakten der Angehörigen der<br />
Deutschen Volkspolizei und Ermittlungsberichte der Volkspolizeikreisämter<br />
über Familienmitglieder – manchmal Freunde und Nachbarn – der<br />
Angehörigen der Deutschen Volkspolizei enthalten. Hieraus sind Angaben<br />
zum Geburtstag und zum Geburtsort, zur sozialen Herkunft, zur Schulbildung,<br />
zur Ausbildung und zu den Arbeitsstellen sowie zu Mitgliedschaften<br />
in Parteien und Massenorganisationen resp. zu politischen Einstellungen<br />
zu entnehmen. Aus den ebenfalls überlieferten Beurteilungen<br />
des Arbeitgebers Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei (BdVP) lassen<br />
sich Schlüsse über den Arbeitsalltag der Angehörigen der Deutschen<br />
Volkspolizei ziehen. Über die 13. Volkspolizeibereitschaft Meiningen gibt<br />
es z. B. Abschlusseinschätzungen von Gesellschaftlichen Mitarbeitern (einer<br />
besonderen Form von Inoffiziellen Mitarbeitern), Monatsberichte, Karteikarten<br />
mit Kurzbiographien von Wehrpflichtigen, Operative Personenkontrollen<br />
und Unterlagen zu Volkspolizeiangehörigen der Kfz-Stützpunkte<br />
in Meiningen und Sonneberg. Umfangreiche Informationen zur<br />
Strafvollzugseinrichtung Untermaßfeld – zu Beschäftigten und zu Strafgefangenen<br />
oder Informationsberichte über Amnestien – vervollständigen<br />
die Akten zur Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei (BdVP) Suhl.<br />
Weitere Schwerpunkte der Überlieferung der Abteilung VII bestehen zur<br />
Zollverwaltung, zum Deutschen Roten Kreuz, zur Zivilverteidigung, zu<br />
Zivilbeschäftigten, zu Waffen, zu Ausbildung und Studium, zur Grenze,<br />
zu Kontakten zwischen Bürgern der DDR und Bürgern der BRD sowie zu<br />
Übersiedlern in die BRD und zu Rückkehrern in die DDR. Schließlich bildet<br />
das allgemeine Schriftgut der Abteilung VII wie die Schreiben an den<br />
Leiter der Abteilung, die Korrespondenz zwischen den Mitarbeitern oder<br />
die Arbeitsbücher der Mitarbeiter und des Leiters der Abteilung einen<br />
wichtigen Teil der Akten. Darüber hinaus enthalten die Unterlagen der<br />
Abteilung VII der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Suhl inhaltlich<br />
sehr disparates Material. Beispielsweise seien stichpunktartig Unterlagen<br />
zur Nationalen Volksarmee, Parteiinformationen, Fragebögen für Ausländer<br />
und Staatenlose, TH Ilmenau, Erdgastrasse Sowjetunion, Amnesty<br />
International, Monatsberichte der Kreisdienststellen, Junge Gemeinde<br />
Zella-Mehlis, Rechnungen und Quittungen, Eingaben von Bürgern an den<br />
Staatsrat der DDR oder Karteikarten des Arbeitsamtes Meiningen genannt.<br />
Im Bestand der Abteilung VII der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit<br />
liegen also vorwiegend Akten zur Polizei-, Alltags- und Sozialgeschichte.<br />
Jüngste Forschungen zur Deutschen Volkspolizei haben gezeigt, welche<br />
Ergebnisse möglich sind, mit welchen Akten bisher in erster Linie gearbeitet<br />
wurde und welche Akten wünschenswert sind. 25 Im Rahmen der<br />
Sozialgeschichte könnte Polizeigeschichte durch die Untersuchung von<br />
„Herrschaft als soziale Praxis“, also der Analyse des Interaktionsverhältnisses<br />
zwischen Herrschenden und Beherrschten, wertvolle Erkenntnisse<br />
liefern. 26 Es gibt jedoch noch weitere Forschungsfelder, die anhand der<br />
Akten der Abteilung VII bearbeitet werden könnten und die nicht unmittelbar<br />
mit der Herrschaftspraxis zusammenhängen. So sind beispielsweise<br />
Forschungen zu demographischen Fragestellungen genauso möglich wie<br />
zur Migrationsgeschichte, auch die Lebenslaufforschung könnte auf reichhaltiges<br />
Material zurückgreifen. Bei der etwaigen Formulierung von<br />
25 Thomas Lindenberger: Volkspolizei. Herrschaftspraxis und öffentliche Ordnung im<br />
SED-Staat 1952–1968. Köln 2003.<br />
26 Ralph Jessen: Polizei und Gesellschaft. Zum Paradigmenwechsel in der Polizeigeschichtsforschung,<br />
in: Gerhard Paul / Klaus Michael Mallmann (Hrsg.): Die Gestapo.<br />
Mythos und Realität. Darmstadt 1995, S. 21.<br />
212 Universitätsreden 73 Universitätsreden 73 213
Gerhard Neumeier<br />
Dokumentationszielen sollten sich also Archivare und Wissenschaftler aus<br />
vielen Disziplinen immer wieder austauschen und zusammenarbeiten.<br />
Dokumentationsziele gehen nicht von der Frage der dauernden Aufbewahrungswürdigkeit<br />
von Akten aus, sondern fragen umgekehrt, welche<br />
Akteninhalte sollen zur Klärung bestimmter Forschungsinteressen aufbewahrt<br />
werden. Die Formulierung von Dokumentationszielen hängt also<br />
von der Frage ab, welche Inhalte aufbewahrt werden sollten und gleicht<br />
diese dann mit den vorhandenen Inhalten der Akten ab. Notwendig hierfür<br />
ist eine Definition von positiven Zielen der Überlieferungsbildung. Bei<br />
der Erarbeitung positiver Ziele der Überlieferungsbildung ist jedoch deren<br />
Zeitabhängigkeit zu beachten. So könnten sich die Dokumentationsziele<br />
für die Akten des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes der DDR im Verlauf<br />
der Zeit mehrmals ändern, was zu Nachbewertungen führen würde.<br />
Die Sammlungsstrategien erfolgen somit aus den Dokumentationszielen.<br />
Zukünftige Sammlungsstrategien sind dagegen für die Unterlagen des ehemaligen<br />
Staatssicherheitsdienstes irrelevant, denn neue Akten werden den<br />
Archiven der BStU nicht mehr zugeführt. Die immer zu berücksichtigende<br />
Rechtssicherheit erfordert es, personenbezogene Akten mindestens solange<br />
vollständig aufzubewahren, solange die betroffenen Personen leben und<br />
Anträge auf Akteneinsichtsrecht stellen könnten, eventuell ist auch die<br />
Lebenszeit der Nachkommen zu berücksichtigen. Eine diesbezügliche Bewertungsentscheidung<br />
kann also erst von nachfolgenden Generationen<br />
getroffen werden.<br />
Die Frage nach dem Informationswert von Unterlagen in 50 oder 500<br />
Jahren muss bei jeder Bewertung gestellt werden.<br />
Bis jetzt bleiben der Forschung nach dem STUG die Akten für andere<br />
Zwecke als die der Aufarbeitung der Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes<br />
verschlossen, die Zweckbeschränkung wurde jedoch in einer Gesetzesnovellierung<br />
hinsichtlich der NS-Forschung gemildert. 27 Längst ist jedoch<br />
klar – wie oben bereits dargestellt –, dass sich die Unterlagen der BStU<br />
auch zur Erforschung vieler anderer Themen der DDR-Geschichte eignen.<br />
27 Jochen Hecht: Die Stasi-Unterlagen als Quelle zur DDR-Geschichte, in: Siegfried<br />
Suckut/Jürgen Weber (Hrsg.): Stasi-Akten (wie Am. 7), S. 213.<br />
28 Ebd. S. 214.<br />
214 Universitätsreden 73<br />
Bew ertung bei der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes<br />
„Dazu müsste der Vorbehalt des § 32 (STUG) entfallen.“ 28 Dieser Wegfall<br />
wäre eine Voraussetzung für eine qualitative und quantitative Bewertung,<br />
denn wenn „nur“ die Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes, die Mittel und<br />
Methoden der Überwachung der Bevölkerung, dokumentiert werden sollten,<br />
würden wir nur einen Bruchteil der Unterlagen aufbewahren müssen.<br />
Schlussfolgerungen für die Bewertung und Vorschläge zur<br />
Verfahrensweise bei der Bewertung<br />
Die Bewertungsüberlegungen sollten sich keinesfalls unter Zeitdruck vollziehen<br />
und Bewertungsentscheidungen erst dann getroffen werden, wenn<br />
biologisch keine Akteneinsichten zur eigenen Person mehr möglich sind.<br />
Interne und externe Diskussionen könnten dann hilfreich sein. „Dabei ist<br />
eine gesellschaftliche Diskussion darüber zu führen, ob langfristig für die<br />
historische Forschung alle Unterlagen des MfS aufbewahrt werden müssen<br />
oder ob eine Auswahl, über deren Kriterien dann zu entscheiden wäre, vorgenommen<br />
wird. Dies würde sowohl die personenbezogenen Unterlagen<br />
als auch die sogenannten Sachakten betreffen.“ 29 Zu beachten wäre allerdings<br />
immer die Einmaligkeit der Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes<br />
der DDR. Die Entscheidung darüber, welche Unterlagen langfristig aufbewahrt<br />
werden sollten, sollte vom aktuellen Forschungsstand der Geschichtswissenschaft<br />
und anderer Disziplinen wie der Soziologie, der Rechtswissenschaft,<br />
der Psychologie, der Medizin oder der Volks- und Betriebswirtschaftslehre<br />
ausgehen. Wissenschaftler dieser Disziplinen sollten also unbedingt<br />
in die Bewertungsentscheidungen einbezogen werden. Auch die<br />
Antizipation, welche zukünftigen Themen der Forschung mit den Unterlagen<br />
des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes bearbeitet werden könnten<br />
– so schwierig dies auch ist –, bedarf der Kooperation mit Historikern,<br />
Soziologen oder anderen Wissenschaftlern. Dies kann jedoch wiederum<br />
nur auf der gründlichen Kenntnis der Inhalte der Akten geschehen. Die<br />
Fokussierung auf inhaltliche Aspekte der Bewertung ist dabei unumgänglich,<br />
formale Kriterien können dagegen in den Hintergrund treten.<br />
29 Interne Bewertungsrichtlinie der BStU vom Juli 2003.<br />
Universitätsreden 73 215
Gerhard Neumeier Bew ertung bei der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes<br />
Unabdingbar ist ein Abgleich der Inhalte der einzelnen Abteilungen in<br />
den Außenstellen der BStU, denn jedes Archiv verwahrt beispielsweise<br />
Unterlagen der Abteilung VII (Schutz der Polizei). Für die zukünftige Forschung<br />
ist zu fragen, ob die Unterlagen aller 13 Abteilungen VII aufbewahrt<br />
werden müssen, oder ob nicht die Unterlagen einiger Abteilungen<br />
ausreichend sind. Auswahlkriterien könnten dabei die geographische Lage<br />
(Grenzbezirk – Nichtgrenzbezirk), die ökonomische Struktur (landwirtschaftliche<br />
Prägung – Industrieorientierung oder Vorherrschen von Großbetrieben<br />
– Vorherrschen von Klein- und Mittelbetrieben) oder die soziale<br />
Zusammensetzung der Bevölkerung (hoher Anteil an Staats- und Parteibediensteten<br />
– geringer Anteil an Staats- und Parteibediensteten) sein. Bei<br />
der Bewertung sollte auf jeden Fall berücksichtigt werden, dass die zentralen<br />
inhaltlichen Schwerpunkte der Überlieferung – wie beispielsweise die<br />
Personalunterlagen der Angehörigen der Deutschen Volkspolizei und die<br />
meistens dazugehörenden Ermittlungsberichte über deren Familienangehörige<br />
– aufbewahrt werden. Ein weiterer Aspekt der Bewertung ist der<br />
Abgleich mit den Unterlagen anderer Archivträger. So könnte der Abgleich<br />
der vorhandenen Personalunterlagen von Angehörigen der Deutschen<br />
Volkspolizei zwischen Staatsarchiven und den Außenstellen der BStU dazu<br />
führen, Doppelüberlieferungen zu vermeiden. Auch der Abgleich der<br />
Unterlagen der BStU mit den Akten der ehemaligen Betriebsarchive, die<br />
sich jetzt in den Staatsarchiven befinden, könnte zur Entstehung eines<br />
Wissenspools über Volkseigene Betriebe und andere Bereiche der Volkswirtschaft<br />
führen.<br />
Überlieferung zu Universitäten<br />
Dies gilt auch für die Unterlagen über Universitäten. Es gab keine eigene<br />
Diensteinheit des Ministeriums für Staatssicherheit, die für Universitäten<br />
zuständig war; die Universitäten wurden von mehreren Diensteinheiten<br />
des MfS bearbeitet, zumeist von den Abteilungen XX (Sicherung Staatsapparat,<br />
Kirchen, Kultur, „politischer Untergrund“). Der Vergleich der<br />
Unterlagen der BStU-Archive, die über Archivalien zu Universitäten verfügen,<br />
beispielsweise die Abteilungen XX (Sicherung Staatsapparat,<br />
Kirchen, Kultur, „politischer Untergrund“), die Abteilungen VII (Polizei),<br />
die Abteilungen VIII (Observation), die Abteilungen XV (Aufklärung) oder<br />
die Abteilungen XIV (Untersuchungshaftanstalten), mit den sich in den<br />
Universitätsarchiven befindlichen Unterlagen könnte darüber hinaus zur<br />
Vermeidung von Redundanzen führen. Allerdings wäre in jedem Fall darauf<br />
zu achten, dass die spezifischen Perspektiven der Staatssicherheit und<br />
der Universitäten resp. des zuständigen Ministeriums erhalten bleiben. So<br />
legte beispielsweise die Abteilung VII der Bezirksverwaltung Suhl zu den<br />
ausländischen Studenten der Technischen Hochschule Ilmenau individuelle<br />
Personendossiers an, Unterlagen, die in den Universitätsarchiven – so<br />
vorhanden – nicht zu erwarten sind. Auch Akten zur Kontrolle ausländischer<br />
Studenten, beispielsweise zu nationalen Hochschulgruppen, zu Reisetätigkeiten<br />
dieser Studenten oder zur Reise einer Studentenbaubrigade der<br />
TH Ilmenau an die Partnerhochschule Zielena Góra in Polen, dürften in<br />
dem für die Universitäten resp. Technischen Hochschulen zuständigen<br />
Ministerium – höchstwahrscheinlich – nicht vorhanden sein. Dies gilt auf<br />
alle Fälle für diejenigen Unterlagen der BStU, in denen Berichte von<br />
Inoffiziellen Mitarbeitern des MfS zu Universitätsangehörigen enthalten<br />
sind, denn diese Berichte dokumentieren das Ausmaß der Informationen,<br />
die das MfS über Professoren, Dozenten, Assistenten und andere Mitarbeiter<br />
der Universitäten an der DDR hatte, und gleichzeitig bildeten die<br />
Berichte der Inoffiziellen Mitarbeiter eine der Grundlagen für die Einflussmöglichkeiten<br />
des MfS auf das Universitätsleben. Auch die Unterlagen der<br />
„Offiziere im besonderen Einsatz“ (OibE), die hauptamtliche Mitarbeiter<br />
des MfS waren, die auf den Gebieten der Abwehr und der Aufklärung<br />
unter Legendierung der Dienstverhältnisse in sicherheitspolitisch relevanten<br />
Positionen im Staatsapparat, in der Volkswirtschaft oder an Universitäten<br />
eingesetzt wurden, sollten sicherlich ohne Abgleich mit anderen<br />
Archiven aufbewahrt werden, da in diesen Archivalien interessante Inhalte<br />
zur Rüstungsforschung resp. allgemein zu sicherheitsrelevanten Bereichen<br />
an der TH Ilmenau zu finden sind. Um zwei weitere Beispiele anzuführen:<br />
Der Einfluss des MfS auf die Mikroelektronik und die Raumfahrt könnte<br />
detailliert nachvollzogen werden. Auch die von der Abteilung XX der<br />
Bezirksverwaltung Suhl an der TH Ilmenau vorgenommenen sog. „Personenüberprüfungen“<br />
bieten reichhaltiges Material sowohl zu Biogra-<br />
216 Universitätsreden 73 Universitätsreden 73 217
Gerhard Neumeier<br />
phien, zu aktuellen Forschungsfeldern – und deren Relevanz für die Entwicklung<br />
der Volkswirtschaft und der Rüstung der DDR – und zur Lehre<br />
von Professoren, Assistenten, Doktoranden und anderen Mitarbeitern sowie,<br />
in Kurzform, zu Verwandten der Universitätsangehörigen. Sollte ein<br />
Dokumentationsziel zur TH Ilmenau die Darstellung von Forschung und<br />
Lehre sein, sollten diese Unterlagen in jedem Fall aufbewahrt werden.<br />
Andererseits legte das MfS zur TH Ilmenau auch Unterlagen an, die die<br />
Kontakte der TH Ilmenau zum Fraunhofer-Institut für Physikalische<br />
Messtechnik Freiburg dokumentieren. Zwar sind in der Akte „nur“ ein<br />
Profil der Fraunhofer-Gesellschaft und Informationen zum Fraunhofer-<br />
Institut für Informations- und Datenverarbeitung enthalten, trotzdem wirft<br />
die Existenz dieser Archivalien beim Ministerium für Staatssicherheit die<br />
Frage auf, inwieweit Akten, die die Beziehungen der TH Ilmenau zu Forschungsgesellschaften<br />
und zu Universitäten in die Bundesrepublik oder<br />
auch zu anderen, „nichtsozialistischen“ und zu sozialistischen Staaten,<br />
zum Inhalt haben, aufbewahrt werden sollten oder nicht – und wenn ja,<br />
von wem. Auf jeden Fall könnte Art und Umfang der Einbindung der TH<br />
Ilmenau in die internationale ‚scientific community‘ analysiert werden.<br />
Vor allem in den 1950er Jahren, in geringerem Ausmaß auch später, flohen<br />
Wissenschaftler aus der DDR in die BRD, auch diese Art der<br />
‚Wissenschaftsbeziehungen‘ verdienen Aufmerksamkeit, gerade aus der<br />
Perspektive des Ministeriums für Staatssicherheitsdienst. Einen sinnvollen<br />
Ausgangspunkt für die Formulierung von Dokumentationszielen hinsichtlich<br />
der Beziehungen zwischen dem MfS und den Universitäten in<br />
30 Eine Auswahl der Forschungen sei hier angeführt: German Studies Review, Special<br />
Issue: Totalitäre Herrschaft – totalitäres Erbe, 1994 Editor Wolfgang-Uwe Friedrich mit<br />
folgenden Beiträgen von Ilko-Sascha Kowalczuk: Anfänge und Grundlinien der<br />
Universitätspolitik der SED, S. 113-130. Hanna Labrenz-Weiss: Die Beziehungen zwischen<br />
Staatssicherheit, SED und den akademischen Leitungsgremien an der Humboldt-<br />
Universität zu Berlin, S. 131-146. Rainer Eckert: Die Diskussion um die Staatssicherheitsverstrickungen<br />
an der Berliner Humboldt-Universität zwischen 1989 und 1993, S.<br />
147-156. Außerdem Rainer Eckert / Hanna Labrenz-Weiss: Staatssicherheit an der<br />
Berliner Humboldt-Universität: Totalitäre Verstrickung und zögernde<br />
Auseinandersetzung, in: Wolfgang-Uwe Friedrich (Hrsg.): Die totalitäre Herrschaft der<br />
SED. Wirklichkeit und Nachwirkungen. München 1998, S. 67-80; Karl Wockenfuß:<br />
Die Universität Rostock im Visier der Stasi. Einblicke in Akten und Schicksale.<br />
218 Universitätsreden 73<br />
Bew ertung bei der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes<br />
der DDR bildet die bisherige Forschung zu diesem Themenkomplex. 30 Im<br />
wesentlichen sind zehn Grundformen der Zusammenarbeit der<br />
Universitäten mit dem Geheimdienst der DDR festzustellen: „1. Arbeit für<br />
die Auslandsspionage, 2. Unterdrückung von Dissidenz oder Opposition<br />
vor allem in der Studentenschaft, 3. Die Abschirmung der DDR-Forschung<br />
gegenüber ausländischen Geheimdiensten, 4. Die Gewinnung von<br />
Informationen über die Situation der Universitäten für die Berichterstattung<br />
des MfS an die SED-Führung, 5. Die Vergabe von Forschungsaufträgen<br />
durch das MfS, 6. Gutachten von Wissenschaftlern für den Staatssicherheitsdienst<br />
(wie auch für die Generalstaatsanwaltschaft der DDR),<br />
7. Einflussnahme des Staatssicherheitsdienstes auf die Personalentwicklung<br />
von der Verteilung von Studienplätzen bis zu Absolventenlenkung,<br />
8. Beeinflussung des gesellschaftlichen Lebens der Universitäten und des<br />
Unterrichts, 9. Hochschulen als Reservoir für den offiziellen und inoffiziellen<br />
Nachwuchs des Ministeriums für Staatssicherheit, 10. Überwachung<br />
der Auslandsbeziehungen und ausländischer Studenten sowie Wissenschaftler<br />
in der DDR; Genehmigung von Auslandsdienstreisen und Bespitzelung<br />
von Wissenschaftlern im Ausland.“ 31 Ausgehend von diesen Erkenntnissen<br />
kann für die Bewertung der Unterlagen an Universitäten in<br />
der DDR postuliert werden, dass diese Unterlagen in jedem Fall aufzubewahren<br />
sind. Auch der hierdurch mögliche Vergleich mit Universitäten in<br />
den anderen Staaten des Warschauer Paktes und mit Universitäten in der<br />
Zeit des Nationalsozialismus spricht für diese Bewertungspraxis.<br />
Rostock 2003; Carlo Jordan: Kaderschmiede Humboldt-Universität zu Berlin.<br />
Aufbegehren, Säuberungen und Militarisierung 1945–1989. Berlin 2001; Werner<br />
Fritsch / Werner Nöckel: (Hrsg.): Antistalinistische Opposition an der Universität Jena<br />
und deren Unterdrückung durch SED-Apparat und Staatssicherheit (1956–1958).<br />
Erfurt 2000; Agnes Charlotte Tandler: Geplante Zukunft. Wissenschaftler und<br />
Wissenschaftspolitik in der DDR 1955–1971. Freiberg 2000; Rainer Eckert: Die Rolle<br />
des Ministeriums für Staatssicherheit an den Hochschulen der DDR an den Beispielen<br />
der Humboldt-Universität zu Berlin und der Universität Rostock, in: Enquête-<br />
Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen<br />
Einheit“, Bildung, Wissenschaft, Kultur 2. Frankfurt am Main 1999, S. 1013-1070;<br />
Gerhard Kluge / Reinhard Meinel: MfS und FSU. Das Wirken des Ministeriums für<br />
Staatssicherheit an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Erfurt 1997.<br />
31 wie Anm. 30) S. 148.<br />
Universitätsreden 73 219
Universitätsgeschichtliche Forschung und<br />
archivische Vielfalt – mit einem besonderen Blick auf<br />
die Überlieferung des MfS<br />
Katharina Lenski / Tobias Kaiser<br />
Die Beiträge dieses Bandes, die vornehmlich aus archivarischer Sicht<br />
geschrieben wurden, sollen im folgenden ergänzt werden durch die Sicht<br />
zweier „Nutzer“, die an einem Projekt zur Jenaer Universitätsgeschichte<br />
arbeiten. 1 Dieses soll zunächst vorgestellt werden, danach die genutzten<br />
Archive. Schließlich werden die Überlieferungen des Ministeriums für<br />
Staatssicherheit (MfS) genauer betrachtet.<br />
Das Jenaer Projekt: Universitätsgeschichte des 20. Jahrhunderts<br />
Bereits vor über zwanzig Jahren konstatierte der Nestor der Universitätsgeschichtsforschung<br />
Notker Hammerstein: „Die Beschäftigung mit Universitätsgeschichte<br />
verdankt also den Universitätsjubiläen recht viel. Das<br />
sind im allgemeinen zwar keine unvorhersehbaren ‚Naturereignisse‘, aber<br />
mitunter hat man den Eindruck, es sei dies der Fall. Gewiß ist es leichter<br />
gefordert als eingelöst, Universitäts-Jubiläen begleitende Schriften sollten<br />
auch das liefern, was vielfach tatsächlich fehlt: eine modernen Ansprüchen<br />
genügende Würdigung der Hochschule. Der Intention nach sollte das<br />
doch wohl das Ziel sein! Verdienstvoll und notwendig sind gewiß auch<br />
1 Tobias Kaiser ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der „Senatskommission zur Aufarbeitung<br />
der Jenaer Universitätsgeschichte im 20. Jahrhundert. Katharina Lenski ist<br />
Autorin wichtiger Beiträge zum Thema Universität und Staatssicherheit. Sie ist zudem<br />
Mitarbeiterin des „Thüringer Archiv für Zeitgeschichte ‚Matthias Domaschk‘ “, eines<br />
unabhängigen, auf bürgerschaftlichem Engagement aufbauenden Spezialarchivs, das<br />
eng mit der Universität Jena kooperiert.<br />
Universitätsreden 73 221
Katharina Lenski /Tobias Kaiser<br />
Untersuchungen spezieller Ausschnitte, einzelner Probleme. Ohne sie können<br />
Gesamtwürdigungen nicht entstehen. Aber sie ersetzen diese nicht!“ 2<br />
Im Jahr 2008 kann die Universität Jena das 450jährige Jubiläum der kaiserlichen<br />
Privilegierung der Hohen Schule und damit der Ernennung zur<br />
Universität feiern. Eine der Bemühungen ist die grundlegende – um Würdigung<br />
und kritische Rückschau bemühte – wissenschaftliche Erforschung<br />
der Universitätsgeschichte des 20. Jahrhunderts. Es sollten dabei gerade<br />
jene Phasen der Jenaer Universitätsgeschichte genauer analysiert werden,<br />
die bisher gar nicht oder aufgrund der zeitlichen Nähe, der Quellenlage<br />
oder der politisch-ideologischen Ausrichtung nur eingeschränkt untersucht<br />
wurden. Die beiden letzten größeren Universitätsjubiläen, zu denen<br />
neuere Forschungen angeregt wurden, lagen in der Zeit der DDR. Die<br />
damals entstandenen Universitätsgeschichten sind deutlich von der marxistisch-leninistischen<br />
Ideologie geprägt. 3 Deshalb wurde 1998 die „Senatskommission<br />
zur Aufarbeitung der Jenaer Universitätsgeschichte im<br />
20. Jahrhundert“ installiert, die eine wissenschaftlich angemessene Darstellung<br />
der Geschichte unserer Hochschule im „Zeitalter der Extreme“ ermöglichen<br />
soll. Sie wird von Hans-Werner Hahn, dem Lehrstuhlinhaber<br />
für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, geleitet. Deren Aufgabe<br />
ist es, bis zum Jahr 2008 eine gut lesbare, aber umfassende Gesamtdarstellung<br />
für die Zeit des 20. Jahrhunderts vorzulegen. Nach der bereits vor<br />
zwanzig Jahren von Hammerstein referierten und seitdem andauernden<br />
Diskussion kann das Ergebnis nicht nur eine bloße Ereignisgeschichte der<br />
Institution sein, auch keine Jubelschrift, sondern muss modernen An-<br />
2 Notker Hammerstein: Jubiläumsschrift und Alltagsarbeit. Tendenzen bildungsgeschichtlicher<br />
Literatur, in: Historische Zeitschrift 236 (1983), S. 601-633, hier S. 604.<br />
Vgl. auch Jens Blecher / Gerald Wiemers (Hrsg.): Universitäten und Jubiläen. Vom<br />
Nutzen historischer Archive. (Veröffentlichungen des Universitätsarchivs Leipzig<br />
Bd. 4) Leipzig 2004.<br />
3 Vgl. Max Steinmetz u. a. (Hrsg.): Geschichte der Universität Jena 1548/58-1958.<br />
Festgabe zum vierhundertjährigen Universitätsjubiläum, Bd. 1: Darstellung. Jena 1958;<br />
Bd. 2: Quellenedition zur 400-Jahr-Feier 1958. Archivübersichten, Quellen- und Literaturberichte,<br />
Anmerkungen, Abbildungskatalog, Literaturverzeichnis, Personen- und<br />
Ortsregister, Abkürzungsverzeichnis. Jena 1962; Siegfried Schmidt u. a.: Alma mater<br />
Jenensis. Geschichte der Universität Jena. Weimar 1983.<br />
222 Universitätsreden 73<br />
Univ ersitätsgeschichtliche Forschung und archiv ische Vielfalt<br />
sprüchen genügen. Wissenschaftsgeschichte muss immer auch Reflexion<br />
über das eigene Tun sein, über Fragen wie: „Was ist Wissenschaft?“ oder<br />
„Was ist der Zweck einer Universität?“ und „Wie hat sich unser Bild von<br />
ihr verändert?“<br />
Das Jubiläum bietet durch die Einrichtung der Kommission und die<br />
Unterstützung der Universitätsleitung große Chancen. Es birgt aber auch<br />
Gefahren. So kann man angesichts der offenkundig sehr unterschiedlichen<br />
Erwartungshaltungen und der Notwendigkeit, Schwerpunkte zu setzen,<br />
nicht allen gerecht werden. Jeder hat einen anderen Blick, und es ist ja<br />
durchaus verständlich, dass Universitätsangehörige ihr eigenes Fach oder<br />
ihre eigenen Erfahrungen ausreichend dargestellt haben möchten. Die<br />
Darstellung muss sich jedoch an aktuellen Diskussionen und wissenschaftlichen<br />
Kategorien orientieren, etwa den Themenfeldern der Ideologisierung,<br />
Politisierung und Modernisierung oder Fragen von Disziplinbildung<br />
und Ausdifferenzierung der Wissensgesellschaft. 4 Wissenschaft wird<br />
heute als gesellschaftliche Ressource mit vielfältigen Funktionen gesehen. 5<br />
Universitäten sind nicht nur ein Ort großer Geister, sondern in ihrem<br />
komplexen Verhältnis von Lehre, Forschung und Verwaltung selbst ein<br />
eigenständiger Sozialisations- und Diskursraum.<br />
Problematisch bleibt die Verengung der immerhin fast 450 Jahre umfassenden<br />
Geschichte der Alma mater Jenensis auf die Zeit des 20. Jahrhunderts<br />
und auf bestimmte öffentlichkeitswirksame Themen. So rückte das<br />
Verhalten von Wissenschaftlern vor allem in Zeiten von Krieg und Diktatur<br />
in den Blickpunkt der Öffentlichkeit, ebenso die Frage des Traditions-<br />
4 Vgl. Margit Szöllösi-Janze: Wissensgesellschaft – ein neues Konzept zur Erschließung<br />
der deutsch-deutschen Zeitgeschichte?, in: Hans-Günter Hockerts (Hrsg.): Koordinaten<br />
deutscher Geschichte in der Epoche des Ost-West-Konflikts. (Schriftenreihe des Historischen<br />
Kollegs, Kolloquium Bd. 55) München 2004, S. 277-305; dies.: Wissensgesellschaft<br />
in Deutschland: Überlegungen zur Neubestimmung der deutschen Zeitgeschichte<br />
über Verwissenschaftlichungsprozesse, in: Geschichte und Gesellschaft 30<br />
(2004), S. 275-311.<br />
5 Vgl. Rüdiger vom Bruch / Brigitte Kaderas (Hrsg.): Wissenschaften und Wissenschaftspolitik.<br />
Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland<br />
des 20. Jahrhunderts. Stuttgart 2002; Mitchell G. Ash: Wissenschaft und Politik<br />
als Ressourcen für einander, in: ebd. S. 32-51.<br />
Universitätsreden 73 223
Katharina Lenski /Tobias Kaiser<br />
bildes der Universität. 6 Nicht zuletzt aufgrund dieses öffentlichen Interesses<br />
wurde die Kommission speziell mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts<br />
beauftragt. Ohne Zweifel ist gerade zum 20. Jahrhundert noch viel<br />
grundsätzliche Arbeit zu leisten, so dass wir voll und ganz mit dieser<br />
Aufgabe beschäftigt sein werden. Dennoch ist es sicher trügerisch anzunehmen,<br />
dass die früheren Epochen erschöpfend erforscht wären. 7<br />
Wie also ist das konkrete Vorgehen? Zunächst wurden Sammelbände<br />
vorgelegt, in denen Spezialstudien, biographische und disziplingeschichtliche<br />
Überblicke oder methodische Problemaufrisse Platz haben. 8 Das so<br />
ausführlich ausgebreitete Material soll dann beim Schreiben der Gesamtdarstellung<br />
helfen. Eine methodische Offenheit wird dabei – nicht nur<br />
durch die Vielzahl der Autoren – impliziert, kritische Diskussionen sind<br />
gewollt. Die Sammelbände werden so zu Bausteinen der späteren „Universitätsgeschichte<br />
des 20. Jahrhunderts“.<br />
Diese Gesamtdarstellung soll neben einer Einleitung Großkapitel zum<br />
Kaiserreich, zur Weimarer Republik, zur Zeit des Nationalsozialismus, zur<br />
Nachkriegszeit und zur Zeit der DDR umfassen. Für die einzelnen Kapitel<br />
6 Dabei ist vor allem an die Diskussion um den Kinderarzt Jussuf Ibrahim zu denken,<br />
dessen Beteiligung an der nationalsozialistischen „Euthanasie“ Diskussionsstoff bot.<br />
Vgl. hierzu Marco Schrul / Jens Thomas: Kollektiver Gedächtnisverlust. Die Ibrahim-<br />
Debatte 1999/2000, in: Uwe Hoßfeld / Jürgen John / Oliver Lemuth / Rüdiger Stutz<br />
(Hrsg.): „Kämpferische Wissenschaft“. Studien zur Universität Jena im Nationalsozialismus.<br />
Köln / Weimar / Wien 2003, S. 1065-1098.<br />
7 In diesem Sinne auch Hans-Werner Hahn: „Die Aufarbeitung der DDR-Zeit kann<br />
nicht konfliktlos geschehen“. Interview mit dem Vorsitzenden der Senatskommission,<br />
dem Historiker Prof. Dr. Hans-Werner Hahn, in: Uni-Journal Jena, Sonderausgabe<br />
Senatskommission, Mai 2004, S. 4f.<br />
8 Vgl. Uwe Hoßfeld / Tobias Kaiser / Heinz Mestrup (Hrsg.): Hochschule im Sozialismus.<br />
Studien zur Geschichte der Universität Jena 1945-1990. Köln / Weimar /Wien<br />
2007; Hoßfeld / John / Lemuth / Stutz (Hrsg.): „Kämpferische Wissenschaft“ (wie<br />
Anm. 6); Matthias Steinbach / Stefan Gerber (Hrsg.): „Klassische Universität“ und<br />
„akademische Provinz“. Studien zur Universität Jena von der Mitte des 19. bis in die<br />
dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts. Jena / Quedlinburg 2005. Vgl. ferner auch Herbert<br />
Gottwald / Matthias Steinbach (Hrsg.): Zwischen Wissenschaft und Politik. Studien<br />
zur Jenaer Universität im 20. Jahrhundert. Jena 2000; Tobias Kaiser / Steffen Kaudelka<br />
/ Matthias Steinbach (Hrsg.): Historisches Denken und gesellschaftlicher Wandel.<br />
Studien zur Geschichtswissenschaft zwischen Kaiserreich und deutscher Zweistaatlichkeit.<br />
Berlin 2004.<br />
224 Universitätsreden 73<br />
wird es zwar unterschiedliche Autoren geben, sie werden sich jedoch konzeptionell<br />
abstimmen. In der Konzeption werden dabei bestimmte Leitgedanken<br />
verfolgt. So sollen jeweils Idee und Verfasstheit – also Fragen<br />
nach der Erinnerungskultur, der Funktion und dem Selbstverständnis der<br />
Universität im Zusammenhang mit deren rechtlichen und ökonomischen<br />
Grundlagen – untersucht werden. Die Lernenden und Lehrenden sollen als<br />
sozialgeschichtliche Größe mit der „Akademischen Kultur“ ernst genommen<br />
werden. Auch das wissenschaftliche Profil der Hochschule, also Disziplinentwicklungen<br />
und Forschungsschwerpunkte, müssen jeweils deutlich<br />
werden. Schließlich gilt es auch, die Einbindung der Universität in die<br />
Kontexte von Stadt und Region, Nation und internationaler Scientific<br />
Community zu beachten.<br />
2. Die Vielfalt der Archive<br />
Univ ersitätsgeschichtliche Forschung und archiv ische Vielfalt<br />
Angesichts dieser vielfältigen Perspektiven kann Universitätsgeschichte<br />
nicht als interne Institutionengeschichte geschrieben werden. Es geht stets<br />
auch um die Wechselwirkung der Hochschule mit Stadt, Region, Staat und<br />
Wirtschaft. Deshalb kann nicht nur auf universitäre Verwaltungsakten<br />
zurückgegriffen werden.<br />
Schon die staatliche Hochschulpolitik ist disparat überliefert. Bis zur<br />
Gründung des Landes Thüringen bildeten das Großherzogtum Sachsen-<br />
Weimar-Eisenach und die Herzogtümer Sachsen-Coburg-Gotha, Sachsen-<br />
Meiningen und Sachsen-Altenburg die sogenannten „Erhalterstaaten“ der<br />
Universität Jena. Relevante Bestände sind also auf die Thüringischen<br />
Staatsarchive in Weimar, Gotha und Altenburg verteilt. Durch die<br />
Lückenhaftigkeit der Bestände – vor allem infolge von Kriegsschäden – ist<br />
es in der Regel sogar unabdingbar, alle genannten Archive zu besuchen<br />
und nach Parallelüberlieferungen zu fahnden. 9 Mit der Gründung des<br />
9 Vgl. paradigmatisch hierzu: Stefan Gerber: Universitätsverwaltung und Wissenschaftsorganisation<br />
im 19. Jahrhundert. Der Jenaer Pädagoge und Universitätskurator Moritz<br />
Seebeck. (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine<br />
Reihe Bd. 14) Köln / Weimar / Wien 2004.<br />
Universitätsreden 73 225
Katharina Lenski /Tobias Kaiser<br />
Landes 1920 war die staatliche Verwaltung in Weimar zuständig – hier liegen<br />
auch heute die entsprechenden Akten. Von 1934 bis 1945 existierte das<br />
Reichserziehungsministerium in Berlin, dessen Akten im dortigen<br />
Bundesarchiv vorhanden sind. In Berlin saß auch die nach dem Zweiten<br />
Weltkrieg zuständige „Deutsche Verwaltung für Volksbildung“, seit 1951<br />
das „Staatssekretariat für Hochschulwesen“ (bzw. seit 1958 für Hoch- und<br />
Fachschulwesen) der DDR, aus dem 1967 das „Ministerium für Hoch- und<br />
Fachschulwesen“ wurde. Damit wird Berlin mit den Abteilungen des<br />
Bundesarchivs zu einem wichtigen Archivstandort für die Thematik.<br />
Allerdings wurden bis 1952 – also solange das Land Thüringen noch existierte<br />
– auch dort Akten produziert, die im Thüringischen<br />
Hauptstaatsarchiv Weimar liegen. 10<br />
Die Akten der SED befinden sich im SAPMO-Archiv in Berlin 11 und im<br />
Thüringischen Staatsarchiv Rudolstadt, das für den ehemaligen Bezirk<br />
Gera zuständig ist. 12 Zu diesem Bezirk gehörte die Stadt Jena nämlich seit<br />
der Gründung der DDR-Bezirke 1952. Die Nachbarstadt Weimar gehörte<br />
dem Bezirk Erfurt an, mithin ist das dortige Archiv nun nicht mehr<br />
zuständig.<br />
Von gewisser Relevanz sind aber auch Bestände des Bundesarchivs Koblenz,<br />
da in der Bundesrepublik die Verhältnisse in der DDR registriert<br />
wurden. 13 Gerade Flucht und Verfolgung, Repression und Vertreibung<br />
von Hochschulangehörigen wurden vom Bonner Gesamtdeutschen Ministerium<br />
und angegliederten, halbstaatlichen Organisationen (z. B. dem<br />
Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen) registriert. 14 Die Benutzung<br />
dieser Akten wirft viele Fragen auf, da die Informationen über die<br />
10 Vgl. das Archivportal und die Bestandsübersicht<br />
unter . Insbesondere<br />
ist der Bestand „Land Thüringen – Ministerium für Volksbildung“ einschlägig<br />
(Laufzeit: 1905-1953, Umfang: 71,64 lfm).<br />
11 Relevant ist der Bestand „Abteilung Wissenschaft des ZK der SED“ (SAPMO-BArch,<br />
DY 30/IV 2/9.04, sowie DY 30/IV A 2/9.04 und DY 30/IV B 2/9.04. Vgl. das<br />
Online-Findbuch .<br />
12 Vgl. Online-Findbuch SED-Universitätsparteileitung der Friedrich-Schiller-Universität<br />
Jena (1945-1991), Rudolstadt 2004 .<br />
226 Universitätsreden 73<br />
Univ ersitätsgeschichtliche Forschung und archiv ische Vielfalt<br />
Verhältnisse auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs immer unzuverlässiger<br />
wurden und man auf anonyme und zum Teil dubiose Informanten<br />
angewiesen war. 15 Erst seit dem Ende der DDR können solche Themen<br />
kritisch untersucht werden.<br />
Für die Entwicklung der Universität Jena ist bekanntlich die Verbindung<br />
zur Industrie, vor allem zu den Unternehmen Carl Zeiss Jena und Schott<br />
Jenaer Glaswerk, sehr wichtig gewesen. Als einen Glücksfall kann man deshalb<br />
bezeichnen, dass die genannten Unternehmen öffentlich zugängliche,<br />
professionell geführte Archive betreiben.<br />
Nicht zuletzt gewinnen Bestände nichtstaatlicher Provenienz zunehmende<br />
Bedeutung, die konzentriert im Thüringer Archiv für Zeitgeschichte<br />
„Matthias Domaschk“ (ThürAZ), einem in Jena ansässigen nichtstaatlichen<br />
Spezialarchiv zu Opposition und Repression, gesammelt werden.<br />
Die Aufzählung bleibt unvollständig: Man denke an relevante Nachlässe,<br />
die zum Teil in anderen Archiven liegen. 16<br />
Das wichtigste Archiv für unser Projekt ist jedoch nach wie vor das Universitätsarchiv,<br />
das als öffentliches Archiv eine zentrale Betriebseinheit der<br />
Friedrich-Schiller-Universität darstellt. Es hat also zusätzlich zu unserem<br />
Anliegen weitere öffentliche Aufgaben. Für das Universitätsarchiv und alle<br />
anderen genannten Archive ist unser Projekt mit spezifischen Mühen und<br />
Problemen verbunden. Diese ergeben sich etwa aus dem von uns unter-<br />
13 Insbesondere ist der Bestand B 285 „Bundesanstalt für gesamtdeutsche Aufgaben.<br />
Bestand der Zentralstelle für Gesamtdeutsche Hochschulfragen“ von Bedeutung.<br />
14 Vgl. Frank Hagemann: Der Untersuchungsausschuß Freiheitlicher Juristen 1949-1969.<br />
Frankfurt (Main) [u. a.] 1994. Dort wird auch der Aktenzugang thematisiert.<br />
15 So berichtete der „Untersuchungsausschuß Freiheitlicher Juristen“ nach dem Freitod<br />
des Historikers Karl Griewank eine frei erfundene und nicht belegte Geschichte, die<br />
freilich den Zielen der Organisation im Kalten Krieg entgegenkam. Vgl. hierzu Tobias<br />
Kaiser: Karl Griewank (1900-1953). Ein deutscher Historiker im „Zeitalter der<br />
Extreme“. (Pallas Athene Bd. 23) Stuttgart 2007, S. 20-23. Vgl. auch als weiteres Beispiel<br />
solcher Berichte ebd., S. 196, Anm. 168.<br />
16 Als Beispiele seien hier genannt die Nachlässe des Altphilologen und Rektors Friedrich<br />
Zucker (1881-1973) und des Physikers Max Steenbeck (1904-1981), die im Archiv der<br />
Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften liegen , der Nachlass des Philosophen Hans<br />
Leisegang (1890-1951), der im Archiv der FU Berlin eingesehen werden kann, oder der<br />
Nachlass des Historikers Max Steinmetz (1912-1990), der sich im Universitätsarchiv<br />
Universitätsreden 73 227
Katharina Lenski /Tobias Kaiser<br />
suchten Zeitraum, der die Zeit bis ca. 1995 umfassen wird. Die dadurch<br />
aufgeworfenen Probleme des Datenschutzes und der Persönlichkeitsrechte<br />
liegen auf der Hand. 17 Mit dem Untersuchungszeitraum verbunden ist jedoch<br />
auch die Problematik der noch nicht bearbeiteten Bestände. Generell<br />
ist mit unserem Weg, Studienbände zu erstellen, Seminare zu veranstalten<br />
und studentische Arbeiten anzuregen, ein erhöhter Arbeitsaufwand in den<br />
Archiven verbunden, der jedoch wiederum positiv auf die öffentliche<br />
Wahrnehmung der Bestände in den Archiven zurückwirkt. Es darf auch<br />
nicht übersehen werden, dass nicht jede Bemühung der so Beauftragten<br />
problemlos zum Erfolg führt. Valide Ergebnisse erfordern einen intensiven<br />
Betreuungsaufwand.<br />
3. Die Überlieferung des MfS<br />
Eine besondere Überlieferung stellt in diesem Zusammenhang die des ehemaligen<br />
Ministeriums für Staatssicherheit der DDR dar. 18 Diese Herrschaftsquellen<br />
folgten einem engen Funktionalkontext, der durch verschiedene<br />
Faktoren bestimmt war:<br />
1. den Gründungsmythos der DDR,<br />
2. ein Feindbild, welches auch mit dem Gründungsmythos operierte,<br />
3. durch die Überzeugung, dass nur geheimdienstliche Methoden die staatliche<br />
Sicherheit garantierten, sowie<br />
4. eine strikte militärische Hierarchie.<br />
Die MfS-Materialien weisen deshalb Besonderheiten auf, die sich auf das<br />
methodische Herangehen auswirken. Zudem sind sie nur in Teilen frei<br />
zugänglich, was die kontextuelle Einbettung der Einzelinformationen<br />
Leipzig befindet. Alle genannten Wissenschaftler waren in Jena tätig und sind für die<br />
Jenaer Universitätsgeschichte wichtig.<br />
17 Vgl. das Themenheft „Personenbezogene Daten“, in: Archive in Thüringen. Mitteilungsblatt<br />
2/2003. Vgl. vor allem Joachim Bauer: Möglichkeiten der Schutzfristenverkürzung.<br />
Die Praxis im Universitätsarchiv Jena, in: ebd., S. 7-11.<br />
228 Universitätsreden 73<br />
Univ ersitätsgeschichtliche Forschung und archiv ische Vielfalt<br />
erschwert. Die Sprache der Stasi-Akten erweist sich ebenfalls als problematisch.<br />
Sie erweckt den Eindruck, im Entstehungskontext einer anderen als<br />
der tatsächlichen Funktion gedient zu haben. Diese Sprache vertauscht<br />
Sinnsysteme und täuscht damit die Leserinnen und Leser der MfS-Hinterlassenschaften.<br />
19 Sie trügt deshalb, weil sie die Notwendigkeit einer Entschlüsselung<br />
nicht nahelegt, die zur Klärung des Sinngehalts jedoch unerlässlich<br />
ist. Beispielsweise berichtete das MfS besonders seit den 1970er<br />
Jahren über die Exmatrikulation bestimmter Studierender von der Friedrich-Schiller-Universität<br />
aufgrund „schlechter Studienleistungen“. Zur Zerstörung<br />
oppositioneller, ja sogar „vor-oppositioneller“ Milieus hatte das<br />
MfS jedoch angewiesen, fachliche Mängel der Betroffenen zu nutzen und<br />
zu verstärken, um auf diese Weise unbemerkt sogenannte „Unruheherde“<br />
ausschalten zu können. Diese Schwächen – ob vorhanden oder künstlich<br />
hervorgerufen – wurden also als Selektionsinstrumente genutzt, um die<br />
politische Konformität der Studierenden zu sichern. 20 Die Übersetzung<br />
der Anweisung kann demnach nicht darin liegen, die Grundlage der<br />
Exmatrikulationen in fehlender Fachkompetenz zu suchen, denn es ist<br />
zwischen der evidenten Argumentation der Schriftstücke und dem Subtext<br />
zu unterscheiden. Dieser wiederum folgte einer eigenen Logik und ist nur<br />
aus den Konsequenzen der jeweiligen Information erklärbar sowie durch<br />
die Hierarchie und den Weg ihrer Weiterverteilung. Nur so kann ihre<br />
Funktion für die nachfolgenden Maßnahmen verdeutlicht werden. Solche<br />
nachzuweisen ist heute um so schwerer, als der Zugang zu den Akten der<br />
Betroffenen nicht voraussetzungsfrei möglich ist.<br />
Ebenso verhält es sich mit den Berichtsakten der Inoffiziellen Mitarbeiter,<br />
in denen die Namen Betroffener ebenfalls nicht voraussetzungsfrei eingelesen<br />
werden können. Die Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) waren als<br />
Instrumente zur Erfüllung temporärer oder im Rahmen von Sicherungskonzeptionen<br />
langfristiger Aufgaben in funktionale Netzwerke eingegliedert.<br />
Laut Dienstanweisung 30/53 der Staatssicherheit sollten die im Jahre<br />
1953 noch als Geheime Hauptinformatoren bezeichneten Führungs-IM<br />
zur Entlastung der Offiziere beitragen. Die Führungs-IM sammelten und<br />
18 Vgl. Katharina Lenski: Durchherrschter Raum? Staatssicherheit und Friedrich-Schiller-<br />
Universität. Strukturen, Handlungsfelder, Akteure, in: Hoßfeld / Kaiser / Mestrup<br />
Universitätsreden 73 229
Katharina Lenski /Tobias Kaiser<br />
notierten die Informationen der von ihnen geführten Inoffiziellen Mitarbeiter,<br />
gaben ihnen neue Aufträge und beurteilten die Qualität ihrer<br />
Dienste, was sie wiederum an den Führungsoffizier weitergaben. 21 Dieser<br />
arbeitete die Berichte in die jeweils relevanten Operativen Vorgänge und<br />
Operativen Personenkontrollen ein und gab sie unter Umständen an<br />
seinen Vorgesetzten sowie an die Auswertungs- und Informationsgruppe<br />
(AIG) 22 weiter. Der Vorgesetzte entschied, ob die Hinweise wichtig genug<br />
waren, dass sie entsprechend der Hierarchie weitergeleitet werden mussten.<br />
Waren sie von herausragender Bedeutung, wurde durch die Auswertungsund<br />
Kontrollgruppe eine „Information“ an die Partei- und Staatsführung<br />
erarbeitet. 23<br />
Allen Inoffiziellen Mitarbeitern ist gemeinsam, dass sie sich aufgrund<br />
persönlicher Motive verpflichteten, mit dem MfS zusammenzuarbeiten.<br />
Ein Inoffizieller Mitarbeiter bewarb sich nicht beim Geheimdienst, sondern<br />
er wurde mit fortschreitender Entwicklung des Apparats auf der<br />
Grundlage eines „Anforderungsbildes“ nach mehrfachen Überprüfungen<br />
vom Ministerium für Staatssicherheit angesprochen. 24 Die Argumente,<br />
mit denen die IM geworben wurden, unterschieden sich von Fall zu Fall.<br />
Die Hintergründe der Werbung wurden unter Umständen erst durch die<br />
konkreten Aufträge sichtbar oder waren in Kombinationen eingebettet, die<br />
der einzelne IM nicht durchschaute. Jedem Inoffiziellen Mitarbeiter wurde<br />
(Hrsg.): Hochschule im Sozialismus (wie Anm. 8), S. 526-572.<br />
19 Christian Bergmann: Die Sprache der Stasi. Ein Beitrag zur Sprachkritik. Göttingen<br />
1999; Marianne Birthler: Freiheit ist Einsicht in die Akten, in: Siegfried Suckut /<br />
Jürgen Weber (Hrsg.): Stasi-Akten zwischen Politik und Zeitgeschichte. Eine Zwischenbilanz.<br />
München 2003, S. 38.<br />
20 GVS MfS o008-100/76, abgedruckt in: David Gill / Ulrich Schröter: Das Ministerium<br />
für Staatssicherheit. Anatomie des Mielke-Imperiums. Berlin 1993, S. 389-392.<br />
21 Vgl. ebd. S. 104f ; Helmut Müller-Enbergs (Hrsg.): Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums<br />
für Staatssicherheit. Teil 1: Richtlinien und Durchführungsbestimmungen.<br />
Berlin 2001, S. 68.<br />
22 Diese Bezeichnung verweist darauf, dass der Auswertungs- und Informationsgruppe<br />
entgegen der komplementären Gruppe in der Bezirksverwaltung keine kontrollierende,<br />
sondern informierende Funktion zukam, denn in der Bezirksverwaltung hieß diese<br />
„Auswertungs- und Kontrollgruppe“ (AKG).<br />
23 Ein prägnantes Beispiel für das Wechselspiel von geheimdienstlicher Informationstätigkeit<br />
und offiziellem Parteiinteresse sind die Informationen, die anlässlich der<br />
230 Universitätsreden 73<br />
Univ ersitätsgeschichtliche Forschung und archiv ische Vielfalt<br />
auf dieser Grundlage sein Platz in einem „Bearbeitungssystem“ zugewiesen,<br />
welchen er natürlich auch aktiv füllen musste. 25<br />
Den Überblick über die Funktionalsysteme hatten die jeweiligen Offiziere<br />
des Ministeriums für Staatssicherheit: die operativ Tätigen, die Analytiker<br />
und die jeweiligen Vorgesetzten der verschiedenen Diensteinheiten. Sie<br />
waren diejenigen, die entschieden, welche Information auf welchem Weg<br />
weiterverbreitet wurde, welchen Konsequenzen sie unterlag, und sie arbeiteten<br />
das weitere Vorgehen aus.<br />
Ein Beispiel für die Entwicklung eines MfS-Offiziers ist das von Horst<br />
Köhler.<br />
Er verpflichtete sich als Inoffizieller Mitarbeiter „Gerhard Röse“ im<br />
Jahre 1965 bereits mit 18 Jahren an der Erweiterten Oberschule. Zunächst<br />
fungierte er als Kontaktperson, ab 1968 „mit der Perspektive GHI [Geheimer<br />
Hauptinformator]“ X/104/68. 26 Handschriftlich verpflichtete er<br />
sich, „auf der Basis der Freiwilligkeit, der Ehrlichkeit und des gegenseitigen<br />
Vertrauens mit dem MfS zusammenzuarbeiten.“ 27<br />
1968 bildete ihn sein Führungsoffizier Herbert Würbach zum Geheimen<br />
Hauptinformator bzw. Führungs-IM für das System „Studentische Freizeit“<br />
weiter. 28 Köhler leitete von 1968 bis 1970 drei, zeitweise vier Geheime<br />
Hauptinformatoren bzw. Führungs-IM an, deren Aufgabe unter anderem<br />
Verhaftungen auf der Berliner Luxemburg-Liebknecht-Demonstration im Jahre 1988<br />
an die Partei- und Staatsführung gesendet wurden. Sie zeigen zugleich die enge Perspektive<br />
des geheimdienstlichen Blicks. Vgl. z. B. ThürAZ FoGu 36.1.: BStU Berlin HA<br />
XX/AKG: Tagesberichte zur Aktion „Störenfried“ vom 18.1.-2.2.1988. BStU Berlin<br />
HAXX/AKG: Information über Aktivitäten feindlich-negativer Personenkreise am 19.<br />
Januar 1988.<br />
24 So im Studienmaterial der Juristischen Hochschule Potsdam BStU MfS JHS VVS o001-<br />
120/85: „Das entscheidende Ziel in der Werbung besteht in der Herbeiführung der<br />
Entscheidung des IM-Kandidaten für die ständige konspirative Zusammenarbeit mit<br />
dem MfS. […] Die Bereitschaft […] ist nur dann stabil und tragfähig für die Erfüllung<br />
operativer Aufgaben, wenn sich der IM-Kandidat selbst und bewußt dazu entscheidet<br />
und nicht zu einem unüberlegten und wenig dauerhaften Entschluß überredet wird.“<br />
25 Am deutlichsten wird das in der Richtlinie über die Bearbeitung Operativer Vorgänge<br />
1/76 (= BStU MfS GVS o008-100/76).<br />
26 BStU Gera AIM 8896/72 Teil I, Bd. 1, Bl. 214.<br />
Universitätsreden 73 231
Katharina Lenski /Tobias Kaiser<br />
in der „Absicherung der ESG-Veranstaltungen in Jena“ bestand. 29 Der Einsatzbereich<br />
umfasste die „Freizeitsicherungssysteme“ Evangelische und<br />
Katholische Studentengemeinde, die „Studentenkeller“ (FIM „Dieter<br />
Wolf“, Reg.-Nr. X 867/67), „Wohnheime“ (FIM „Kramer“, Reg.-Nr. X 373/<br />
69) und „Kulturgruppen“ (FIM „Alfred Schneider“, Reg.-Nr. X 426/69).<br />
Während Köhler das System Studentengemeinden direkt steuerte, geschah<br />
dies bei den anderen drei Systemen über die genannten Führungs-IM, die<br />
wiederum jeweils eigene Inoffizielle Mitarbeiter anleiteten. 30<br />
1971 plante man für das Folgejahr, dass der „gesamte IM/GMS-Bestand<br />
im Bereich ‚studentische Freizeit‘ unter Leitung eines vorhandenen HFIM<br />
[Hauptamtlichen Führungs-IM] vereinigt und dieses System zur Durchführung<br />
selbständiger analytischer Tätigkeit des Erkennens antisozialistischer<br />
Erscheinungen und Verdachtsmomente staatsfeindlicher Aktivitäten<br />
qualifiziert“ werden solle. 31 Für diese selbständigen Analysen setzte man<br />
Horst Köhler ein. 32<br />
Als dieser sein Jurastudium an der Friedrich-Schiller-Universität beendet<br />
hatte, schloss das MfS mit ihm am 1. Januar 1971 ein „legendiertes Arbeitsverhältnis“<br />
33 . Dort war er inoffiziell als Hauptamtlicher Führungs-IM angestellt<br />
und leitete außer den drei obengenannten Hauptinformatoren<br />
bzw. Führungs-IM 23 Inoffizielle Mitarbeiter an, zu diesem Zeitpunkt eine<br />
vergleichsweise hohe Zahl. 34 Seinen offiziellen Arbeitsvertrag unterzeichnete<br />
er bei der Jenaer Universität. Dort bearbeitete und entschied er<br />
27 Ebd. Bl. 19.<br />
28 Ebd. Bl. 180. Vgl. Uta Trillhose: Studentische Alternativkultur und Stasi-Aktivitäten in<br />
der DDR. Der ehemalige FDJ-Studentenclub „Rosenkeller“ e.V. in Jena und die Einflußnahme<br />
des Ministeriums für Staatssicherheit 1964-1989. Diplomarbeit Hildesheim<br />
1997, S. 122f. und ebd., Anlage 8 (Teilsicherungssystem studentische Freizeit).<br />
29 BStU Gera AIM 8896/72 Teil I, Bd. 1, Bl. 267.<br />
30 Trillhose: Studentische Alternativkultur (wie Anm. 28), S. 123f. und ebd. Anlage 8<br />
(Teilsicherungssystem studentische Freizeit).<br />
31 BStU Gera GVS 254/71, Bl. 16.<br />
32 BStU Gera AIM 8896/72 Teil I, Bd. 1, Bl. 215.<br />
33 Zu „legendierten Arbeitsverhältnissen“ vgl. Helmut Müller-Enbergs (Hrsg.): Inoffizielle<br />
Mitarbeiter (wie Anm. 15), S. 322. Erst mit der Richtlinie 1/79 wurden formalisierte<br />
Vorgaben zur Schaffung von Scheinarbeitsverhältnissen geschaffen. Vorher wurde dies<br />
durch individuelle Varianten organisiert, was ein besonderes Licht auf die Einschät-<br />
232 Universitätsreden 73<br />
Univ ersitätsgeschichtliche Forschung und archiv ische Vielfalt<br />
Sondergenehmigungen beim „Empfang von Literatur und Druckerzeugnissen“<br />
aus dem „Westblock“. 35 Dieses „legendierte Arbeitsverhältnis“<br />
konnte deshalb eingerichtet werden, weil Prorektor Heinz Kessler es „abdeckte“,<br />
folglich den wahren Zweck der Einrichtung der Teilzeitstelle verschleierte.<br />
36 Am 1. Mai 1972 wurde Köhler schließlich Offizier im Referat<br />
Universität der Kreisdienststelle Jena, seine IM-Akte wurde somit archiviert.<br />
37 Trotzdem führte er die Inoffiziellen Mitarbeiter wie bisher weiter,<br />
jetzt als operativer Mitarbeiter und nicht mehr als Hauptamtlicher IM. Als<br />
er zwei Jahre später zur Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) versetzt werden<br />
sollte, musste dieses Vorhaben verschoben werden, weil er so viele IM<br />
führte, dass für diese erst ein Führungsoffizier bzw. Führungs-IM gefunden<br />
werden musste. 38 Nachdem er bis zum 15. September 1975 bei der<br />
Berliner Hauptverwaltung Aufklärung für einen „Einsatz im Operationsgebiet“<br />
vorbereitet worden war, kehrte er am 16. September 1975 als<br />
Hauptsachbearbeiter für das Referat XX/4 (Kirchen und politischer<br />
Untergrund) nach Jena zurück. Im Jahre 1981 war er direkt in den gewaltsamen<br />
Tod des Jenaer Oppositionellen Matthias Domaschk involviert. 39<br />
zung von Köhlers Qualitäten durch seinen Führungsoffizier Herbert Würbach wirft.<br />
Vgl. auch BStU Gera AIM 8896/72 Teil I, Bd. 1, Bl. 89.<br />
34 BStU Gera AIM 8896/72 Teil I, Bd. 1, Bl. 267. Diese Zahl lag bei weitem über dem<br />
Durchschnitt. Vgl. Helmut Müller-Enbergs (Hrsg.): Inoffizielle Mitarbeiter (wie<br />
Anm. 15), S. 72.<br />
35 BStU Gera AIM 8896/72 Teil I, Bd. 1, Bl. 267.<br />
36 Ebd. Bl. 199f., 202-205, 267.<br />
37 BStU Gera AIM 8896/72 Teil I, Bd. 1, Bl. 269ff.<br />
38 Vgl. auch BStU Gera GVS o028-193/75, S. 21: Jahresanalyse der KD Jena vom<br />
19.11.1975: „Durch FIM werden gegenwärtig 40% der IM und GMS der Diensteinheit<br />
gesteuert, dieser Stand kann noch nicht befriedigen.“<br />
39 Vgl. jetzt Freya Klier: Matthias Domaschk und der Jenaer Widerstand. Berlin 2007. Vgl.<br />
ferner Gerold Hildebrand: Trauer, Wut und Anklage. Nach dem Tod von Matthias<br />
Domaschk, in: Horch und Guck. Sonderheft I (2003), S. 37; ders.: Ein Überblick über<br />
das ernüchternde juristische Nachspiel, in: ebd. S. 45f.; ders.: Die Stasi-Offiziere. Offiziere<br />
des MfS und andere mit Matthias Domaschk befasste Funktionsträger, in: ebd.<br />
S. 48f.; Walter Schilling: Die Verpflichtungserklärung: ein dubioses Dokument, in: ebd.<br />
S. 46f.; Renate Ellmenreich: „Ich denke, das ist nur möglich, wenn einer der Beteiligten<br />
auspackt.“ Interview mit Renate Ellmenreich, in: ebd. S. 50f.; Wolfgang Loukidis:<br />
Keine Sühne eines gewaltsamen Todes?, in: ebd. S. 52; Henning Pietzsch: Jugend zwi-<br />
Universitätsreden 73 233
Katharina Lenski /Tobias Kaiser<br />
Ungeachtet dessen stieg er 1987 zum Referatsleiter der Hauptabteilung<br />
XX/4 in Berlin für den Bereich „Operationsgebiet“ auf. 40<br />
Köhler wurde aus politischer Überzeugung geworben. Während seiner<br />
Studienzeit an der Friedrich-Schiller-Universität auf der unteren Ebene als<br />
IM tätig, avancierte er später zum Führungs-IM und parallel zum Entscheidungsträger<br />
in der Universität. Die „Freizeitsicherungssysteme“ ESG<br />
und KSG, „Studentenkeller“, „Wohnheime“ und „Kulturgruppen“ waren<br />
sein erster Einsatzbereich. 41 Er arbeitete auf dieser Linie weiter und entwickelte<br />
sich zum Spezialisten auf diesem Gebiet.<br />
Will man die Berichte der IM demnach qualitativ bewerten, müssen<br />
auch diese in das jeweilige funktionale Sinnsystem und in die biographische<br />
Entwicklung des jeweiligen Funktionsträgers eingeordnet werden, um<br />
den Kontext bilden zu können. Das bedeutet wiederum, sachlich und temporal<br />
den Weg, die Hierarchie und Relevanz der Weiterverteilung zu analysieren,<br />
was jedoch schon allein aufgrund fehlender Findhilfsmittel<br />
Geduld, Erfahrung und Kenntnis personeller Zusammenhänge voraussetzt,<br />
welcher jedoch wiederum mit der Begrenzung des Aktenzugangs<br />
enge Grenzen gesetzt sind.<br />
Diese Grenzen sind auch der Trennung in Opfer und Täter geschuldet.<br />
Diese ist im Sinne des Aktenzugangs folgerichtig. Ebenso kann sie als<br />
methodisches Hilfsmittel zur Rekonstruktion temporärer Herrschaftsräume<br />
dienen. In der öffentlichen politischen Diskussion wurde sie aber<br />
vielmehr als Argument gegen den jeweiligen politischen Gegner ins Feld<br />
geführt. 42 Dies führte in der Auseinandersetzung zur Konstruktion und<br />
Verfestigung ambivalenter Pole, was jedoch der Klärung von Vorgängen<br />
und Prozessen entgegensteht, ja eine Aporie zu sein scheint. Sie kann derzeit<br />
offenbar nicht überwunden werden. Dies bedeutet, dass die Quellen<br />
des Herrschaftsapparates von Überlieferungen ergänzt werden müssen, mit<br />
schen Kirche und Staat. Geschichte der kirchlichen Jugendarbeit in Jena 1970-1989.<br />
Köln / Weimar / Wien 2005, S. 137-146, 156; Thüringer Archiv für Zeitgeschichte<br />
„Matthias Domaschk“ (Hrsg.): Opposition in Jena. Chronologie 1980-89. Jena 1995, S.<br />
8-12, 74.<br />
40 Dort leitete er das Referat IV (Operationsgebiet). Das „Operationsgebiet“ entsprach<br />
dem westlichen Ausland. Vgl. BStU Gera KS Horst Köhler, S. 69, 70, 128. BStU ZA<br />
HA XX/4 13, S. 183-186: Stellenplan der HA XX/4 vom 13.8.1988, abgedruckt in:<br />
234 Universitätsreden 73<br />
Univ ersitätsgeschichtliche Forschung und archiv ische Vielfalt<br />
deren Hilfe die Sicht der Betroffenen in die Analyse einbezogen werden<br />
kann. Solche „Gegenüberlieferungen“ werden systematisch in den Archiven<br />
der DDR-Opposition gesammelt und erschlossen, wie dem Thüringer<br />
Archiv für Zeitgeschichte „Matthias Domaschk“ in Jena. 43 Dank dieser<br />
Institutionen ist es ebenfalls möglich, Kontakte zu den Mitlebenden herzustellen<br />
und deren Gedächtnisarchive zu nutzen.<br />
Das Thüringer Archiv für Zeitgeschichte „Matthias Domaschk“<br />
(ThürAZ) in Jena ist ein parteienunabhängiges Spezialarchiv zu Dissidenz,<br />
Widerstand und Zivilcourage in der DDR. Das Bestandsprofil umfasst<br />
Selbstzeugnisse und Dokumente der Repression von Menschen, die dem<br />
vorgenannten Spektrum zugeordnet werden können. Das ThürAZ arbeitet<br />
auf den drei Säulen Archiv, Forschung und Bildung. Hier finden sich derzeit<br />
65 Sammlungen und Nachlässe mit einem Gesamtumfang von etwa<br />
400 lfm. Die größte Materialdichte liegt in den Jahren zwischen 1970 und<br />
1995, der Einwerbungszeitraum konzentriert sich auf die Zeit von 1945 bis<br />
1995. Den geographischen Schwerpunkt markiert insbesondere Thüringen<br />
mit seinen überregionalen Vernetzungen. Grundlage des Bestandsprofils<br />
sind die verborgenen Sammlungen ehemaliger Oppositioneller wie auch<br />
die Bestände mehrerer ehemaliger Untergrundbibliotheken wie in Berlin<br />
und Erfurt. Formal finden sich in den Privatbeständen schriftliche Überlieferungen<br />
wie Handschriften und Samisdat. Der Begriff Samisdat umfasst<br />
hier auch Flugschriften, Aufrufe, Erklärungen, Plakate und Gedächtnisprotokolle.<br />
Diese wurden im Untergrund mittels Schreibmaschinendurchschlägen,<br />
mit Ormig- oder Wachsmatrize gedruckt, künstlerisch – fotografisch<br />
oder mit anderen Techniken – vervielfältigt. Im ThürAZ befinden<br />
sich ca. 200 Reihentitel Zeitschriftensamisdat und ungezählte Einzeltitel.<br />
Diese Überlieferung ist durch biographische und sachthematische Aufzeichnungen<br />
innerhalb der jeweiligen Sammlungen eingebettet und zeigt<br />
damit über den jeweiligen Informationswert hinaus ihre Verortung im<br />
Regional-, Sach-, Personen- und Gruppenkontext an. Sie dürfte damit in<br />
der Überlieferung zur ehemaligen DDR einzigartig sein. Die audiovisuel-<br />
Clemens Vollnhals: Die kirchenpolitische Abteilung des Ministeriums für Staatssicherheit,<br />
in: ders. (Hrsg.): Die Kirchenpolitik von SED und Staatssicherheit. Eine Zwischen-<br />
Universitätsreden 73 235
Katharina Lenski /Tobias Kaiser<br />
len Medien des Archivs umfassen ca. 12.600 Negative und 320 Fotofilme,<br />
die aus 31 Privatsammlungen stammen. Dazu befinden sich hier mehrere<br />
heimlich abfotografierte Bücher, die aufgrund der Zensur in der DDR<br />
nicht erscheinen durften. Die dichteste Überlieferung der Fotografien findet<br />
sich für die Jahre zwischen 1970 und 1989. Das ThürAZ beherbergt<br />
zudem 53 Super-8-Filme, die in den 1980er Jahren entstanden sind und<br />
Auskunft über Milieu und Protest oppositioneller Akteure geben, wie auch<br />
Tonträger mit etwa 300 Stunden Wiedergabezeit. Auf ihnen sind Konzerte,<br />
Werkstätten, Diskussionen und Vorträge der 1970er bis frühen 1990er<br />
Jahre aufgezeichnet. Im Aufbau begriffen ist derzeit die Sammlung mit<br />
biographischen Interviews zu ZeitzeugInnen, in der momentan etwa 80<br />
Interviews zur Verfügung stehen.<br />
Das ThürAZ kooperiert unter anderem mit der Senatskommission zur<br />
Aufarbeitung der Jenaer Universitätsgeschichte im 20. Jahrhundert durch<br />
die Vermittlung von ZeitzeugInnen, zudem wird das Archiv hier im<br />
Rahmen von Recherchen genutzt, wurden Fotografien zur Verfügung<br />
gestellt und die Arbeit der Kommission durch eigene Beiträge unterstützt.<br />
4. Fazit<br />
Die Situation lässt sich momentan so beschreiben: In den bisherigen universitätsgeschichtlichen<br />
Arbeiten und Sammelbänden zeigt sich die skizzierte<br />
Vielfalt der Herangehensweisen, Methoden, Blickwinkel und Archivzugänge.<br />
In der neuen, nun erschienenen zweibändigen Aufsatzsammlung<br />
zur Universität Jena in der Zeit der SBZ/DDR 44 finden sich Nachweise für<br />
alle in diesem Aufsatz vorgestellten Archive. Will man Wissenschafts- und<br />
Universitätsgeschichte nicht eindimensional als reine Institutionengeschichte<br />
schreiben, so muss man politische, ökonomische und kulturelle<br />
Fragestellungen formulieren und damit auch Akten verschiedenster Pro-<br />
bilanz. Berlin 1996, S. 95.<br />
41 Trillhose: Studentische Alternativkultur (wie Anm. 28), S. 123f. und ebd. Anlage 8.<br />
236 Universitätsreden 73<br />
Univ ersitätsgeschichtliche Forschung und archiv ische Vielfalt<br />
venienz verwenden: Schriftgut staatlicher, betrieblicher und privater Herkunft.<br />
Auch die hier besonders herausgestellte Quellengattung der MfS-Hinterlassenschaft<br />
findet in etlichen Beiträgen Verwendung. 45 Es zeigt sich<br />
jedoch, dass die Verwendung der geheimpolizeilich hergestellten Akten<br />
durchaus auch im Bereich der Wissenschaftsgeschichte selbstverständlich<br />
geworden ist.<br />
Die Art der Verwendung und der methodische Zugang stellen sich als<br />
sehr unterschiedlich heraus. Für manche – gerade biographische – Themen<br />
werden die MfS-Akten nur für eine individuelle Überprüfung genutzt. Für<br />
manche strukturgeschichtlichen Ansätze können sie bisherige Erkenntnisse<br />
ergänzen oder zu neuen Fragen führen. Es ist jedoch zu betonen, dass<br />
für einige Themen das Potential der MfS-Akten bisher nicht genutzt wurde,<br />
bzw. nicht genutzt werden konnte. Die Akten des MfS bereiten offenkundig<br />
wegen der Komplexität der Zusammenhänge und der notwendigen<br />
speziellen Quellenkritik, die bei diesen Akten zu üben ist, Schwierigkeiten.<br />
Insbesondere ist der in diesem Aufsatz beschriebene komplexe Zugang, der<br />
den Herrschaftsblick durch eine Gegenüberlieferung von unten korrigiert,<br />
nach wie vor weitgehend Programm und noch nicht Realität.<br />
42 Deutlicher noch Wolfgang Ullmann: Das Stasi-Unterlagen-Gesetz, in: Siegfried Suckut,<br />
Jürgen Weber (Hrsg.): Stasi-Akten zwischen Politik und Zeitgeschichte. Eine Zwischenbilanz.<br />
München 2003.<br />
43 .<br />
44 Hoßfeld / Kaiser/ Mestrup (Hrsg.): Hochschule im Sozialismus (wie Anm. 8). Der<br />
Band enthält auf über 2300 Seiten Beiträge von über 80 Autoren.<br />
45 Insgesamt wird das Archivkürzel „BStU“ 295mal (in 13 Aufsätzen) verwendet. Demgegenüber<br />
werden das „Universitätsarchiv Jena“ bzw. das Kürzel UAJ insgesamt<br />
2088mal erwähnt.<br />
Universitätsreden 73 237
Bisher veröffentlichte Universitätsreden<br />
Anhang<br />
1 Conrad von Fragstein<br />
Die geschichtliche Entwicklung der Optik<br />
2 Hermann Krings<br />
Über die akademische Freiheit<br />
3 Joseph Müller-Blattau<br />
Vom Wesen und Werden der neueren Musikwissenschaft<br />
4 Arthur Kaufmann<br />
Gesetz und Recht<br />
5 Helmut Stimm<br />
Die romanischen Wörter für ‘frei’<br />
6 Konrad Repgen<br />
Hitlers Machtergeifung und der deutsche Katholizismus<br />
7 Hermann Muth<br />
Die Biophysik als Bindeglied zwischen Naturwissenschaften und Medizin<br />
8 Hugo Josef Seemann<br />
Wissenschaftliche und technische Aspekte der Metallforschung<br />
9 Fritz Brecher<br />
Rechtsformalismus und Wirtschaftsleben<br />
10 Josef Schmithüsen<br />
Was ist eine Landschaft?<br />
11 Werner Nachtigall<br />
Biologische und globale Energetik<br />
12 Gert Hummel<br />
Hoffnung Universität<br />
13 Johann Paul Bauer<br />
Universität und Gesellschaft<br />
14 Hermann Josef Haas<br />
Medizin – eine naturwissenschaftliche Disziplin?<br />
15 Werner Nachtigall<br />
Biologische Grundlagenforschung<br />
16 Kuno Lorenz<br />
Philosophie – eine Wissenschaft?<br />
17 Wilfried Fiedler<br />
Die Verrechtlichung als Weg oder Irrweg der Europäischen Integration<br />
18 Ernest Zahn<br />
Die Niederländer, die Deutschen – ihre Geschichte und ihre politische Kultur<br />
19 Axel Buchter<br />
Perspektiven der Arbeitsmedizin zwischen Klinik, Technik und Umwelt<br />
20 Reden anläßlich der Verleihung der Würde eines Ehrensenators an Herrn Ernst Haaf und<br />
Herrn Dr. Wolfgang Kühborth
Anhang<br />
21 Pierre Deyon<br />
Le bilinguisme en Alsace<br />
22 Jacques Mallet<br />
Vers une Communauté Européenne de la Technologie<br />
Rainer Hudemann<br />
Sicherheitspolitik oder Völkerverständigung?<br />
23 Andrea Romano<br />
Der lange Weg Italiens in die Demokratie und den Fortschritt<br />
Rainer Hudemann<br />
Von der Resistenza zur Rekonstruktion<br />
Helene Harth<br />
Deutsch-italienische Literaturbeziehungen<br />
24 Alfred Herrhausen<br />
Macht der Banken<br />
25 Gerhard Schmidt-Henkel<br />
„Die Wirkliche Welt ist in Wahrheit nur die Karikatur unserer großen Romane“ – über<br />
die Realität literarischer Fiktion und die Funktionalität unserer Realitätswahrnehmungen<br />
26 Heike Jung, Johann Paul Bauer<br />
Problemkreis AIDS – seine juristischen Dimensionen<br />
27 Horst Albach<br />
Praxisorientierte Unternehmenstheorie und theoriegeleitete Unternehmenspraxis<br />
28 Reden und Vorträge aus Anlass der Verleihung der Würde eines Doktors der Philosophie<br />
ehrenhalber an Bischof Monseñor Leonidas E. Proaño<br />
29 Jubiläumssymposion zum 65. Geburtstag von Prof. Dr. Martin Schrenk und zum 15jährigen<br />
Bestehen des Instituts für Klinische Psychotherapie<br />
30 Hermann Krings<br />
Universität im Wandel<br />
„Man steigt nicht zweimal in denselben Fluß“ (Heraklit)<br />
31 Wolfgang J. Mommsen<br />
Max Weber und die moderne Geschichtswissenschaft<br />
32 Günter Hotz<br />
Algorithmen, Sprachen und Komplexität<br />
33 Michael Veith<br />
Chemische Fragestellungen: Metallatome als Bausteine von Molekülen<br />
34 Torsten Stein<br />
Was wird aus Europa?<br />
35 Jörg K. Hoensch<br />
Auflösung – Zerfall – Bürgerkrieg: Die historischen Wurzeln des neuen Nationalismus in<br />
Osteuropa<br />
36 Christa Sauer, Johann Marte, Pierre Béhar<br />
Österreich, Deutschland und Europa<br />
37 Reden aus Anlass der Verabschiedung von Altpräsident Richard Johannes Meiser<br />
38 Karl Ferdinand Werner<br />
Marc Bloch und die Anfänge einer europäischen Geschichtsforschung<br />
Anhang<br />
39 Hartmann Schedels Weltchronik<br />
Eine Ausstellung in der Universitäts- und Landesbibliothek Saarbrücken<br />
40 Hans F. Zacher<br />
Zur forschungspolitischen Situation am Ende des Jahres 1994<br />
41 Ehrenpromotion, Doctor philosophiae honoris causa, von Fred Oberhauser<br />
42 Klaus Martin Girardet<br />
Warum noch ‘Geschichte’ am Ende des 20. Jahrhunderts? Antworten aus althistorischer<br />
Perspektive<br />
43 Klaus Flink<br />
Die Mär vom Ackerbürger. Feld- und Waldwirtschaft im spätmittelalterlichen Alltag rheinischer<br />
Städte<br />
44 Ehrenpromotion, Doktor der Naturwissenschaften, von Henri Bouas-Laurent<br />
45 Rosmarie Beier<br />
Menschenbilder. Körperbilder. Prometheus. Ausstellungen im kulturwissenschaftlichen<br />
Kontext<br />
46 Erika Fischer-Lichte<br />
Theater als Modell für eine performative Kultur<br />
47 Klaus Martin Girardet<br />
50 Jahre „Alte Geschichte“ an der Universität des Saarlandes<br />
48 Philosophie in Saarbrücken, Antrittsvorlesungen<br />
49 Gedenkfeier für Universitätsprofessor Dr. phil. Jörg K. Hoensch<br />
50 Evangelische Theologie in Saarbrücken, Antrittsvorlesungen<br />
51 Franz Irsigler<br />
Was machte eine mittelalterliche Siedlung zur Stadt?<br />
52 Ehrenpromotion, Doctor philosophiae honoris causa, von Günther Patzig<br />
53 Germanistik im interdisziplinären Gespräch. Reden und Vorträge beim Abschiedskolloquium<br />
für Karl Richter<br />
54 Allem Abschied v oran. Reden und Vorträge anlässlich der Feier des 65. Geburtstages von<br />
Gerhard Sauder<br />
55 Gedenkfeier für Universitätsprofessor Dr. jur. Dr. h.c. mult. Alessandro Baratta<br />
56 Gedenkfeier für Bischof Prof. Lic. theol. Dr. phil. Dr. h.c. mult. Gert Hummel<br />
57 Akademische Gedenkfeier für Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Jan Lichardus<br />
58 Akademische Gedenkfeier für Prof. Dr. Richard van Dülmen<br />
59 Klaus Martin Girardet<br />
Das Neue Europa und seine Alte Geschichte<br />
60 Psychologie der Kognition. Reden und Vorträge anlässlich der Emeritierung von Prof.<br />
Dr. Werner H. Tack<br />
61 Alberto Gil<br />
Rhetorik und Demut, Ein Grundsatzpapier zum Rednerethos, Vortrag zur Eröffnung des<br />
Workshops „Kommunikation und Menschenführung“ im Starterzentrum<br />
62 Oft gescholten, doch nie zum Schweigen gebracht. Treffen zum Dienstende von Stefan<br />
Hüfner<br />
63 Theologische Perspektiven aus Saarbrücken, Antrittsvorlesungen
Anhang<br />
64 Germanistisches Kolloquium zum 80. Geburtstag von Gerhard Schmidt-Henkel<br />
65 Akademische Gedenkfeier für Universitätsprofessor Dr. Wilhelm Wegener<br />
66 Akademische Gedenkfeier für Universitätsprofessor Dr. Jürgen Domes<br />
67 Gerhard Sauder<br />
Gegen Aufklärung?<br />
68 50 Jahre Augenheilkunde an der Universität des Saarlandes. 1955–2005<br />
69 Elmar Wadle<br />
Urheberrecht zwischen Gestern und Morgen – Anmerkungen eines Rechtshistorikers<br />
70 Akademische Feier zum 80. Geburtstag von Rudolf Richter<br />
71 Akademische Gedenkfeier für Universitätsprofessor Dr. Bernhard Aubin<br />
72 Akademische Feier zum 80. Geburtstag von Gerhard Lüke