# 55 | Juli 2010 readmypony.com | Göttingen | im Sommer
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Zu klein fürs<br />
richtige Leben<br />
moderner KlaSSiKer Kein Entrinnen, kein Abstand: Richard Yates’ Roman<br />
»Ruhestörung« rückt seinem Protagonisten auf dessen Irrsinnsweg ins<br />
vermeintliche Glück so dicht auf die Pelle, dass es wehtut.<br />
Michael Saager<br />
einander in Unachtsamkeit beigebrachte Verletzungen; überzogene Erwartungen<br />
an das Glück; stoisch hingenommene Niederlagen; tief kränkende Missverständnisse;<br />
falsche Vorstellungen von sich und den anderen. Nicht selten sind<br />
es die »kleinen« Dinge, die einen, wenn es bereits einigermaßen schlecht läuft,<br />
geradewegs in eine emotionale Katastrophe schliddern lassen. Sind die Konsequenzen<br />
nachhaltig, spricht man vom Scheitern oder von gescheiterten Existenzen.<br />
Begriffe, die die überzogenen Leistungserwartungen einer Gesellschaft an<br />
den Einzelnen spiegeln, das psychische Wirrwarr, die Untiefen sozialer Scham,<br />
die schl<strong>im</strong>men Depressionen, den ganzen Wahnsinn bis hin zur psychotischen<br />
Störung eines am Leben verzweifelten Menschen hingegen auf Distanz halten.<br />
Der 1926 in Yonkers, New York geborene und 1992 in Kalifornien gestorbene<br />
Schriftsteller Richard Yates wusste das nur zu gut, deshalb erzählt er viel von<br />
den inneren Bewegungen und den alles aufzehrenden Abgründen des Unglücks.<br />
In seinen Büchern, diesen einzigartig niederschmetternden Romanen und Erzählungsbänden,<br />
ist dieses Unglück stets alarmierend existenziell, eine furchteinflößende,<br />
alltägliche Außeralltäglichkeit. Man sollte Yates’ Bücher an getrübten<br />
Tagen vielleicht besser nicht lesen. Es sind einsame Bücher mit einsamen<br />
Protagonisten. Der Effekt einer Katharsis bleibt <strong>im</strong>mer aus und Abstand zur geschilderten<br />
Trostlosigkeit ist kaum möglich: Sie sind zu nah (oder gerade nahe<br />
genug) am Leben entlang geschrieben, zeitlos gültig, von eleganter Schnörkellosigkeit,<br />
inhaltlich dicht und höchst suggestiv in ihrer Wirkung. Ist man erst in<br />
sie eingetaucht, was überaus rasch passiert, muss man sie in einem Rutsch bis<br />
zum bitteren Ende durchlesen. Das gilt einmal mehr für »Disturbing the Peace«<br />
aus dem Jahr 1975, den hervorragenden vierten von der DVA unter dem Namen<br />
»Ruhestörung« ins Deutsche übertragenen Roman von insgesamt sieben längeren<br />
Werken. Nur mit einem von ihnen, mit »Revolutionary Road« (»Zeiten des<br />
Aufruhrs«) aus dem Jahr 1961, hatte Yates zu Lebzeiten Erfolg. Es war sein Debüt<br />
– ausgerechnet. Weiter nach oben ging’s danach nicht mehr. Da konnte Yates<br />
noch so viel schreiben. Und trinken.<br />
Eiswürfel <strong>im</strong> Whiskeyglas – wie sie knirschen, klirren und klappern. Gibt es<br />
kein Eis, trinkt man seinen Bourbon eben mit Sodawasser. Das ist wichtig, denn<br />
es wird viel getrunken in Yates’ Romanen – in »Zeiten des Aufruhrs«, dem Psychogramm<br />
einer scheiternden Ehe, in »Easter Parade«, der düsteren Verfallsgeschichte<br />
zweier unterschiedlicher Schwestern; mit Abstand am meisten jedoch<br />
in »Ruhestörung«. Man kann auch saufen dazu sagen, denn die Hauptfigur John<br />
Wilder ist Alkoholiker. Zunächst keiner der ganz schweren Sorte, doch genau<br />
8 Große Texte<br />
darin besteht die Tücke seiner Sucht. Er n<strong>im</strong>mt die Krankheit nicht ernst genug,<br />
was ihn wieder und wieder in enorme Schwierigkeiten bringt. Gründe zu trinken<br />
gibt es schließlich <strong>im</strong>mer. Erst recht, wenn das Leben so viele kleine und große<br />
Frustrationen bereithält wie für John Wilder.<br />
Die Schwierigkeiten beginnen <strong>im</strong> Spätsommer des Jahres 1961, scheinbar aus<br />
heiterem H<strong>im</strong>mel. John ist – wie die meisten von Yates’ Figuren – ein Jedermann;<br />
ein typischer Mittelklasse-Durchschnittsamerikaner der 60er, 36 Jahre<br />
alt. Vielleicht ist er sogar etwas mehr als durchschnittlich, denn er hat eine Familie,<br />
die ihn tatsächlich liebt, einen Job, der ihn nicht überfordert und in dem<br />
er ziemlich erfolgreich ist. Er arbeitet als Anzeigenvermarkter für den »American<br />
Scientist« und kann sich eine »hohe, helle Wohnung mit dem Blick auf<br />
die Wolkenkratzer von Midtown Manhattan« leisten. Doch natürlich reicht<br />
das hinten und vorne nicht: Der typische Yates-Protagonist will mehr vom Leben,<br />
als er bisher abbekommen hat, schleppt aber einen Sack Minderwertigkeitskomplexe<br />
mit sich herum. Das Streben nach Erfolg und Anerkennung<br />
wird so zu einer inneren Notwendigkeit, die meist manische Züge ann<strong>im</strong>mt.<br />
» Gründe zu<br />
trinken gibt<br />
es schließlich<br />
<strong>im</strong>mer. »<br />
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