05.01.2013 Aufrufe

# 55 | Juli 2010 readmypony.com | Göttingen | im Sommer

# 55 | Juli 2010 readmypony.com | Göttingen | im Sommer

# 55 | Juli 2010 readmypony.com | Göttingen | im Sommer

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Zu klein fürs<br />

richtige Leben<br />

moderner KlaSSiKer Kein Entrinnen, kein Abstand: Richard Yates’ Roman<br />

»Ruhestörung« rückt seinem Protagonisten auf dessen Irrsinnsweg ins<br />

vermeintliche Glück so dicht auf die Pelle, dass es wehtut.<br />

Michael Saager<br />

einander in Unachtsamkeit beigebrachte Verletzungen; überzogene Erwartungen<br />

an das Glück; stoisch hingenommene Niederlagen; tief kränkende Missverständnisse;<br />

falsche Vorstellungen von sich und den anderen. Nicht selten sind<br />

es die »kleinen« Dinge, die einen, wenn es bereits einigermaßen schlecht läuft,<br />

geradewegs in eine emotionale Katastrophe schliddern lassen. Sind die Konsequenzen<br />

nachhaltig, spricht man vom Scheitern oder von gescheiterten Existenzen.<br />

Begriffe, die die überzogenen Leistungserwartungen einer Gesellschaft an<br />

den Einzelnen spiegeln, das psychische Wirrwarr, die Untiefen sozialer Scham,<br />

die schl<strong>im</strong>men Depressionen, den ganzen Wahnsinn bis hin zur psychotischen<br />

Störung eines am Leben verzweifelten Menschen hingegen auf Distanz halten.<br />

Der 1926 in Yonkers, New York geborene und 1992 in Kalifornien gestorbene<br />

Schriftsteller Richard Yates wusste das nur zu gut, deshalb erzählt er viel von<br />

den inneren Bewegungen und den alles aufzehrenden Abgründen des Unglücks.<br />

In seinen Büchern, diesen einzigartig niederschmetternden Romanen und Erzählungsbänden,<br />

ist dieses Unglück stets alarmierend existenziell, eine furchteinflößende,<br />

alltägliche Außeralltäglichkeit. Man sollte Yates’ Bücher an getrübten<br />

Tagen vielleicht besser nicht lesen. Es sind einsame Bücher mit einsamen<br />

Protagonisten. Der Effekt einer Katharsis bleibt <strong>im</strong>mer aus und Abstand zur geschilderten<br />

Trostlosigkeit ist kaum möglich: Sie sind zu nah (oder gerade nahe<br />

genug) am Leben entlang geschrieben, zeitlos gültig, von eleganter Schnörkellosigkeit,<br />

inhaltlich dicht und höchst suggestiv in ihrer Wirkung. Ist man erst in<br />

sie eingetaucht, was überaus rasch passiert, muss man sie in einem Rutsch bis<br />

zum bitteren Ende durchlesen. Das gilt einmal mehr für »Disturbing the Peace«<br />

aus dem Jahr 1975, den hervorragenden vierten von der DVA unter dem Namen<br />

»Ruhestörung« ins Deutsche übertragenen Roman von insgesamt sieben längeren<br />

Werken. Nur mit einem von ihnen, mit »Revolutionary Road« (»Zeiten des<br />

Aufruhrs«) aus dem Jahr 1961, hatte Yates zu Lebzeiten Erfolg. Es war sein Debüt<br />

– ausgerechnet. Weiter nach oben ging’s danach nicht mehr. Da konnte Yates<br />

noch so viel schreiben. Und trinken.<br />

Eiswürfel <strong>im</strong> Whiskeyglas – wie sie knirschen, klirren und klappern. Gibt es<br />

kein Eis, trinkt man seinen Bourbon eben mit Sodawasser. Das ist wichtig, denn<br />

es wird viel getrunken in Yates’ Romanen – in »Zeiten des Aufruhrs«, dem Psychogramm<br />

einer scheiternden Ehe, in »Easter Parade«, der düsteren Verfallsgeschichte<br />

zweier unterschiedlicher Schwestern; mit Abstand am meisten jedoch<br />

in »Ruhestörung«. Man kann auch saufen dazu sagen, denn die Hauptfigur John<br />

Wilder ist Alkoholiker. Zunächst keiner der ganz schweren Sorte, doch genau<br />

8 Große Texte<br />

darin besteht die Tücke seiner Sucht. Er n<strong>im</strong>mt die Krankheit nicht ernst genug,<br />

was ihn wieder und wieder in enorme Schwierigkeiten bringt. Gründe zu trinken<br />

gibt es schließlich <strong>im</strong>mer. Erst recht, wenn das Leben so viele kleine und große<br />

Frustrationen bereithält wie für John Wilder.<br />

Die Schwierigkeiten beginnen <strong>im</strong> Spätsommer des Jahres 1961, scheinbar aus<br />

heiterem H<strong>im</strong>mel. John ist – wie die meisten von Yates’ Figuren – ein Jedermann;<br />

ein typischer Mittelklasse-Durchschnittsamerikaner der 60er, 36 Jahre<br />

alt. Vielleicht ist er sogar etwas mehr als durchschnittlich, denn er hat eine Familie,<br />

die ihn tatsächlich liebt, einen Job, der ihn nicht überfordert und in dem<br />

er ziemlich erfolgreich ist. Er arbeitet als Anzeigenvermarkter für den »American<br />

Scientist« und kann sich eine »hohe, helle Wohnung mit dem Blick auf<br />

die Wolkenkratzer von Midtown Manhattan« leisten. Doch natürlich reicht<br />

das hinten und vorne nicht: Der typische Yates-Protagonist will mehr vom Leben,<br />

als er bisher abbekommen hat, schleppt aber einen Sack Minderwertigkeitskomplexe<br />

mit sich herum. Das Streben nach Erfolg und Anerkennung<br />

wird so zu einer inneren Notwendigkeit, die meist manische Züge ann<strong>im</strong>mt.<br />

» Gründe zu<br />

trinken gibt<br />

es schließlich<br />

<strong>im</strong>mer. »<br />

9

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!