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Rede Dr. Kokavecz - Humboldt-Gymnasium Berlin-Tegel

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<strong>Rede</strong> zur Verabschiedung der<br />

Abiturientinnen und Abiturienten 2009<br />

von Bernd <strong>Kokavecz</strong><br />

zur Information: die Abiturientinnen und Abiturienten haben ihre Abschlussfeier zu einem<br />

Flug mit dem Ziel „Freiheit“ erklärt. Die Begrüßung des Publikums erfolgte zuvor bei der<br />

Ehrung der besten „Flugschüler“ des Jahrgangs. Am Vormittag fand in der<br />

<strong>Humboldt</strong>schule der obligatorische Abiturstreich statt.<br />

Meine Damen und Herren, ich bedauere sehr, aber wegen des hohen Flugaufkommens<br />

müssen wir leider noch ein paar Warteschleifen fliegen. Ich sehe sie schon aus meinem<br />

Cockpit, die ersten Autos, mit den manchmal professionell beschrifteten und manchmal –<br />

vorwiegend bei älteren Fahrzeugen – auch ungelenk mit Leukoplaststreifen beklebten<br />

Rückfenstern: ABI 09.<br />

Hin und wieder mal auch einen älteren Witzbold mit der Aufschrift OPI 09.<br />

Sie, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, sind ­ und das gefällt mir ­ all diesen<br />

Menschen schon weit voraus, Sie gehören zu einer modernen Generation. Bei Ihnen prangt<br />

ABI 09 an einem Großraumflugzeug: Destination Freedom.<br />

Aber wo liegt die Freiheit ?<br />

Nun, Sie sind ­ Gott sei Dank ­ aufgewachsen in einer Demokratie mit Gewaltenteilung,<br />

Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und meinen deshalb sicher Ihre ganz persönliche Freiheit.<br />

Sie haben eine Vision von dem, was vor Ihnen als Reiseziel liegt ­ und das steht Ihnen auch<br />

zu.<br />

Sie müssen allerdings Ihr bisheriges Leben wahrlich als absolut unfrei empfunden haben.<br />

Die <strong>Humboldt</strong>schule als Ort der Bedrängnis und Tyrannei. Wie anders ist es sonst zu<br />

erklären, dass Sie heute Vormittag Ihre größte Befriedigung dabei erfahren haben, Ihre<br />

Pauker – die Sie in der Vergangenheit so geknechtet haben – durchnässt von Tränen hinter<br />

Gittern zu sehen und die Schulleitung in Geiselhaft zu wissen. Gleichzeitig haben Sie sich<br />

befreit von all dem psychischen Müll, der Ihre Seele belastet hat, und ihn fein säuberlich im<br />

Lehrerzimmer und im Flur verteilt.<br />

<strong>Dr</strong>ei Dinge dazu:<br />

1.Es war nicht ganz einfach, unseren Gästen, die gestern aus Peking gekommen sind, zu<br />

erklären, welches pädagogische Konzept hinter dieser Art von Unterricht steckt.<br />

2.Sie waren wiedereinmal vorbildlich und haben mich gerettet. Ich musste meine<br />

Kollegen nicht anweisen, das Lehrerzimmer aufzuräumen. Als ich um dreizehn Uhr<br />

nachschaute, war alles wieder blitzblank.<br />

3.Ich sagte absichtlich Kollegen, weil wir ein emanzipiertes Kollegium sind und solche<br />

Aufräumarbeiten selbstverständlich nicht auf unsere Kolleginnen abwälzen. In diesem<br />

Punkt – meine Herren Abiturienten – können Sie noch eine ganze Menge von uns Alten<br />

lernen!


Abi 09 ­ Das Jahr 2009 wird für Sie, die Sie heute Ihr Abiturzeugnis erhalten werden, ganz<br />

sicher ein Jahr werden, an das Sie sich oft erinnern und Sie werden an Dinge denken, die Sie<br />

mit diesem Jahr verbinden:<br />

�die Bundesrepublik feiert ihren 60. Geburtstag ­ und Sie waren schon fast 1/3 dieser<br />

Zeit dabei – übrigens: Tendenz steigend<br />

�2009: Wirtschaftskrise, Abwrackprämie für Schulen, Lehrermangel überall in<br />

Deutschland<br />

�2009 war das Jahr mit der beschämend niedrigsten Wahlbeteiligung bei einer<br />

Europawahl<br />

�das neue Schulgesetz von <strong>Berlin</strong> feiert seinen 5. Geburtstag<br />

�die größte Schulreform <strong>Berlin</strong>s – die Abschaffung von Haupt­, Real­ und Gesamtschule<br />

– wird vom Abgeordnetenhaus beschlossen<br />

�und ­­ wir feiern den 20. Jahrestag des Falls der <strong>Berlin</strong>er Mauer<br />

Auch an der <strong>Humboldt</strong>schule, Ihrem bisherigen Lebensmittelpunkt (zumindest sieht die<br />

Theorie das so), gab es eine Reihe von Ereignissen, an die Sie sich sicher gern erinnern:<br />

�die Chor­ und Musikabende<br />

�den Thaterabend mit : Die Show ohne Grenzen<br />

�die Erfolge unserer Schule in diesem Jahr bei Jugend forscht<br />

�der sensationelle Erfolg unserer jüngsten Schüler beim Wettbewerb „The Big<br />

Challenge“<br />

�und der Erfolg bei den Sprach­Wettbewerben für Chinesisch und Französisch<br />

�die Ausstellung unseres Kunstleistungskurses in der Galerie Forum Amalienpark<br />

�die Literaturtage im Herbst ihres letzten Schuljahrs<br />

�die sportlichen Erfolge<br />

�und vieles mehr.<br />

Besonders beeindruckend fand ich die Arbeiten, die man vor gut zwei Wochen bei den<br />

„Blauen Stunden im Grünen Haus“ sehen konnte, wobei Teile der Installation zum Fall der<br />

Mauer auch in der <strong>Humboldt</strong>bibliothek ausgestellt waren.<br />

Die Auseinandersetzung mit dem Thema DDR und der Mauer im Jubiläumsjahr hat dafür<br />

gesorgt, dass den Schülern bewusst geworden ist, welches die Ursachen für den Bau der<br />

Mauer 1961 waren und letztlich auch für ihren Fall. Es war eben nicht nur die mangelhafte<br />

materielle Versorgung, das komische Pappauto und ähnliches; es ging um genau das, was<br />

Sie sich als Ziel gesteckt haben, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, das Streben nach<br />

persönlicher Freiheit und Selbstbestimmung. Wer in der DDR im Verdacht stand,<br />

bürgerlichen Idealen anzuhängen oder sich gar für die Kirche engagierte, hatte kaum die<br />

Möglichkeit, das Abitur zu machen und zu studieren. 1989 wurden die Sozialutopisten der<br />

DDR, die die Gesellschaft nach ihrer Ideologie formen wollten, abgestraft. ­­­<br />

Für Sie, die Sie jetzt auf Ihr Abiturzeugnis warten, ist der heutige Tag der entscheidende<br />

Schritt in die Welt der Erwachsenen, Sie haben Ihre Schulzeit nach 11, 12, 13 oder vielleicht


auch nach 15 Jahren hinter sich gebracht. Sie stehen damit am Beginn eines sicher<br />

aufregenden Weges. Berufsausbildung, Zivildienst, Militärdienst, der Numerus Clausus und<br />

das Studium .... all diese Dinge kommen nun auf Sie zu – und klingen gar nicht nach<br />

Freiheit.<br />

Gut ­ Ihre Eltern werden endlich lernen müssen, dass Sie erwachsen sind, dass Sie Ihre<br />

eigenen Vorstellungen realisieren wollen, vielleicht haben Sie den Abnabelungsprozess aber<br />

auch schon in den letzten Jahren vorbereitet und zum Schluss ihren Eltern wenig Einblick in<br />

ihr schulisches Leben gegeben. Bei meinem Sohn war das zum Beispiel so.<br />

Die meisten Eltern, so habe ich beobachtet, können nur sehr schwer loslassen und da, wo sie<br />

in Ihrer Schulzeit wenig von Ihnen erfahren haben, gab es zum Teil regelrechte Netzwerke<br />

zwischen Elternhäusern, die dank Email einen regen Informationsaustausch pflegten.<br />

Damit ist jetzt Schluss, liebe Eltern, Destination Freiheit.<br />

Ich hatte in diesem Jahr leider keinen Abiturkurs zu betreuen, dennoch erinnere ich mich<br />

gerne an einige von Ihnen aus meinem Unterricht in der 9. und 11. Klasse und an andere,<br />

mit denen ich zu tun hatte, sei es im Zusammenhang mit Ihrem Engagement in der Gesamtschülervertretung,<br />

ihre Arbeit in der Redaktion der Schülerzeitung, in der 3. Welt AG, beim<br />

Chinaaustausch, in der Vorbereitung von Projekttagen, Umgestaltung des<br />

Schüleraufenthaltsraums und, und, und: stets überzeugten Sie mit Ihrer Kompetenz, waren<br />

informiert, bereicherten das Leben an unserer Schule mit wohl durchdachten Ideen und<br />

zeigten, dass unsere Schule sich nicht reduzieren lässt auf Zensuren, zentrale<br />

Prüfungsaufgaben, Vergleichsarbeiten oder Ergebnisse aus der Schulinspektion.<br />

Sie haben eine Schule besucht, die sich seit mehr als 30 Jahren dadurch auszeichnet, dass<br />

hier ein besonderes Verhältnis zwischen Schülern und Lehrern gepflegt wird. Die<br />

Diskussion auf gleicher Augenhöhe. Lehrer und Schüler nehmen einander ernst, gehen<br />

aufeinander ein, Lehrer fahren Schülern in der Regel nicht wie ein Oberlehrer über den<br />

Mund und Schüler projizieren keine Feindbilder in ihre Lehrer – und das alles verbunden<br />

mit einem Unterricht, der Wert legt auf einen hohen Anspruch an Wissenschaftlichkeit,<br />

Korrektheit und Vergleichbarkeit.<br />

Dass dieses besondere Verhältnis auch an die Schülerinnen und Schüler außergewöhnliche<br />

Anforderungen stellt und dass in diesem Bereich ganz massiv Schüler von Schülern lernen,<br />

ist klar. Letztlich hilft dieses besondere Verhältnis zu einer größeren Selbständigkeit, zu<br />

kritischem Denken, zu Urteilsfähigkeit und auch zu politisch verantwortlichem Handeln zu<br />

führen.<br />

Eines Ihrer Meisterstücke dürfte die Vorbereitung Ihres Abiturballs gewesen sein. Hier hat<br />

jedes Detail gestimmt, all die vielen Dinge, die das Fest als <strong>Humboldt</strong>fest kenntlich<br />

gemacht haben. Natürlich hatten Sie auch Unterstützung von erfahrenen Kollegen – Dank an<br />

alle, allen voran an Herrn Schaefer – aber die Zusammenarbeit in dieser Form ist eben nicht<br />

selbstverständlich. ­­­


Abi 09: Sie haben Glück! Verschont von der Verkürzung der Schulzeit bis zum Abitur,<br />

wenn auch schon tangiert von einer Reihe von Reformen, können Sie überall belegen, dass<br />

Sie das Abitur so abgelegt haben, wie es in aller Welt hoch geschätzt wird.<br />

Die Gymnasien, wie man sie in Deutschland, Österreich, ja sogar in Ungarn kennt, die<br />

Gymnasien, deren Selbstverständnis auf den Vorstellungen über eine umfassende Bildung<br />

fußt, und die sich dabei oft auf Wilhelm von <strong>Humboldt</strong> berufen, sie sind die international<br />

anerkannt beste und erfolgreichste Schulform, die es gibt – zumindest wenn man die<br />

staatlichen Schulen betrachtet. Und Sie und Ihre Lehrerinnen und Lehrer haben auch in<br />

diesem Jahr wieder zu diesem Ruf beigetragen. (Übrigens PISA hat nicht die<br />

Leistungsfähigkeit der Gymnasien untersucht!)<br />

Das Schulgesetz von 2004 greift nun, aber die Hoffnung, dass damit endlich Ruhe in die<br />

<strong>Berlin</strong>er Bildungslandschaft kommt, ist dahin: der Schleuderkurs der Schulreformen geht<br />

weiter.<br />

Was hatten wir in den letzten Jahren so alles:<br />

�Fremdsprache ab Klasse 3 (2000)<br />

�Abschaffung der Lernmittelfreiheit (2003)<br />

�Vergleichsarbeiten (2003)<br />

�Lehrerarbeitszeiterhöhung (2003)<br />

�Verlässliche Halbtagsbetreuung an Grundschulen (2003)<br />

�Abschaffung des Beamtenstatus für neue Lehrer (2003)<br />

�Abschaffung der Ausländerförderklassen (2004)<br />

�Vorgezogene Schulpflicht (2005)<br />

�Zentrale Prüfung in Klasse 10 (MSA) (2006)<br />

�Abschaffung der Vorklassen (2005)<br />

�Verkürzung der Schulzeit zum Abitur auf 12 Jahre (2005)<br />

�Jahrgangsübergreifender Unterricht in den ersten Grundschulklassen (2006)<br />

�Einführung des Pflichtfaches Ethik (2006)<br />

�Einführung des Zentralabiturs (2006)<br />

�Modellversuch Gemeinschaftsschule (2007)<br />

Meine Analyse: wenig Qualitätsverbesserung, viel Sparpotential.<br />

<strong>Rede</strong>n wir nicht lange drum herum: Liebe Eltern, liebe Abiturientinnen und Abiturienten,<br />

dem <strong>Gymnasium</strong> – wie Sie es kennen ­ geht es an den Kragen! Erklärtes Ziel einer Reihe<br />

von Abgeordneten der Koalition in <strong>Berlin</strong> ist die Abschaffung dieses „bürgerlichen Relikts<br />

aus dem vorletzten Jahrhundert“.<br />

Dem sarkastischen Artikel Harald Martensteins im gestrigen Tagesspiegel ist nichts<br />

hinzuzufügen – außer vielleicht die Frage nach einer Liste der Schulen, auf die die<br />

Abgeordneten und Politiker der betreffenden Parteien ihre eigenen Kinder schicken.<br />

Die Schulleiter der meisten Gymnasien in <strong>Berlin</strong> sind sich jedenfalls einig und stehen dem<br />

neuesten schulpolitischen Würfelspiel äußerst kritisch gegenüber.


Sie formulieren etwa so: „Unsere Vorstellung von Bildung hat eindeutig etwas mit dem<br />

Denken, Analysieren und Bewerten, also dem individuellen Lernprozess zu tun. Nun lehrt<br />

uns die Politik in <strong>Berlin</strong>, dass nur das Lernen in der Gruppe Schüler glücklich macht, das<br />

Lernen in einer Gruppe, in der der kognitiv hochbegabte Schüler mit einem IQ von 140 und<br />

der motivationsarme ehemalige Schüler einer anderen Schulform, einträchtig nebeneinander<br />

sitzen und sich gegenseitig unterweisen, befruchten und voranbringen. Eine Idee, wie sie<br />

utopischer nicht sein kann.“ (Soweit das Zitat)<br />

Wissenschaftliche Studien – wie die Element­Studie – die belegen, dass beispielsweise gute<br />

Schüler bessere Lernerfolge verzeichnen, wenn Sie, wie in den meisten Bundesländern nach<br />

der 4. Klasse auf das <strong>Gymnasium</strong> wechseln, werden desavouiert und unter den Tisch<br />

gekehrt. Vera 8 und MSA­Prüfungen sind für Gymnasiasten keine echte Herausforderung,<br />

sie unterfordern und vereiteln damit intellektuelle und akademische Brillanz. Eine dritte<br />

Fremdsprache, Musik oder Kunst werden von modernen Bildungspolitikern eher als Ballast<br />

empfunden. Literatur wird in den Hintergrund gedrängt, Sachtexte wie<br />

Bedienungsanleitungen stehen im Vordergrund, Mathematik, Physik und andere harte<br />

Fächer werden weichgespült.<br />

Wer durch organisatorische Rahmenbedingungen wie hohe Klassenfrequenzen, behindernde<br />

Ausführungsvorschriften und Nivellierung der Anforderungsmaßstäbe den Anspruch der<br />

Gymnasien perforiert, ist nicht weit davon entfernt, die Gymnasien abzuschaffen. Da hat die<br />

Versicherung: „Die Gymnasien bleiben erhalten“ etwa dieselbe Verbindlichkeit wie „Die<br />

Renten sind sicher“. ­­­<br />

Natürlich hat unser Bildungssystem Schwächen. Es gelingt oft genug nicht, schlummernde<br />

Begabungen bei Kindern aus bildungsfernen Elternhäusern zu diagnostizieren oder zur<br />

Entfaltung zu bringen. Will man in diesem Bereich besser werden – und das muss jeder, der<br />

bei klarem Verstand ist, wollen ­ dann muss man in die frühkindliche Erziehung eingreifen,<br />

muss endlich ernst machen mit der in den Sonntagsreden der Politiker überall in<br />

Deutschland geforderten individuellen Förderung.<br />

Nur ­­ die kostet richtig Geld und bedarf einer hohen Personalausstattung in Kitas,<br />

Vorschulen und Grundschulen und nur dann haben Kinder unabhängig von Herkunft,<br />

Religion und sozialem Umfeld des Elternhauses eine Chancen für den erfolgreichen Besuch<br />

unserer zum Abitur führenden Schulen – übrigens ganz unabhängig davon, welche Struktur<br />

diese besitzen.<br />

Dass in unser Bildungssystem seit Jahrzehnten zu wenig Geld gesteckt wird, dass<br />

vergleichbare Länder, wie Schweden, Dänemark, die Schweiz und Kanada bis zu doppelt<br />

soviel Mittel bezogen auf das Bruttonationaleinkommen in Bildung investieren, laste ich<br />

allerdings nicht allein der Politik an. Das ist ein gesellschaftliches Problem. Die<br />

Wertschätzung von Bildung und die der Menschen, die sich beruflich für die Bildung der<br />

nachfolgenden Generationen engagieren, ist gerade in unserem Land in weiten Bereichen<br />

verkümmert. Dies muss anders werden und dazu können Sie, liebe Abiturientinnen und<br />

Abiturienten, beitragen.


Die Abschaffung des <strong>Gymnasium</strong>s ist keine Lösung, aber das Lotteriespiel für den Zugang<br />

zum <strong>Gymnasium</strong> bei uneingeschränktem Elternwillen ist ein weiterer Schritt dorthin.<br />

Senator Zöllners Vorstellungen von <strong>Berlin</strong>er Spitzenuniversitäten haben keine Chance ohne<br />

Spitzenkräfte. Ohne Spitzenkräfte in Forschung und Industrie werden wir die Folgen der<br />

momentanen Wirtschaftskrise nicht meistern. Zöllner selbst sagt: „Wir brauchen die Elite.“<br />

Wir an den Gymnasien wollen unseren Beitrag dazu leisten und sind dabei nicht elitär, wenn<br />

wir vielversprechende Befähigungen bestmöglichst fördern wollen. Dies gelingt aber sicher<br />

nicht, wenn 50 oder 30% der Schüler einer Klasse überfordert werden, darunter leiden und<br />

Schule als unerträgliche Zwangsmaßnahme empfinden.<br />

Und das Lotteriespiel ist nicht das einzige Problem der Bildungspolitik. Seit Jahren, nein,<br />

man kann schon sagen, seit Jahrzehnten, werden insbesondere in <strong>Berlin</strong> kaum junge Lehrer<br />

eingestellt. Das Durchschnittsalter an den meisten Schulen liegt deutlich über 50 Jahren.<br />

Zeigen Sie mir einen erfolgreichen Betrieb, der sich das leisten kann. An unserer Schule<br />

stehen wir mit etwa 46 Jahren noch relativ gut da, u.a. weil wir so viele Referendare haben.<br />

Nach wie vor – auch in diesem Jahr – sind die Schulen zum Schuljahresbeginn oft<br />

unterbesetzt, ziehen die besten Referendare in andere Bundesländer, haben die Junglehrer<br />

von der im letzten Winter versprochenen Gehaltserhöhung für neu eingestellte Lehrer bisher<br />

keinen einzigen Cent gesehen. Da helfen auch keine beschönigenden<br />

Presseveröffentlichungen. ­ Die Besten verlassen unsere Stadt und leider ist das nicht nur auf<br />

den Schulbereich beschränkt. ­­­<br />

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten,<br />

Ihr Reiseziel ist die Freiheit. Ich gönne Ihnen das Studium in den USA, den Weltstädten<br />

Europas, die berufliche Karriere in Hongkong oder Beijing, in Mexiko oder in Schweden.<br />

Viele meiner ehemaligen Schüler haben an solchen Orten Karriere gemacht und fast überall<br />

werden Sie als Akademiker, aber auch als gut Ausgebildete ohne Studium mehr verdienen<br />

als in Deutschland. Schon der Wechsel von <strong>Berlin</strong> in ein westliches Bundesland bringt Ihnen<br />

mehr als 10%.<br />

Als überzeugter Europäer darf ich mir aber gleichzeitig auch ein ganz klein wenig<br />

Lokalpatriotismus leisten und sagen, dass ich es unerträglich finde, dass meine Geburtsstadt<br />

<strong>Berlin</strong> mit ihren 60 Milliarden Euro Schulden kaum eine Chance hat, in absehbarer Zeit<br />

wieder auf die Beine zu kommen.<br />

Und deshalb hoffe ich sehr, dass Sie ­ bei allem Freiheitsdrang ­ langfristig die Frage „Wo<br />

liegt die Freiheit“ so beantworten können, dass die Stadt, in der Sie ihr Abitur gemacht<br />

haben, davon profitiert.<br />

Wir brauchen junge, intelligente und gut ausgebildeten Menschen, die Forschung und<br />

Wirtschaft in unserer Stadt nach vorne bringen, junge Familien, denen Bildung etwas Wert<br />

ist, ja – wenn Sie so wollen – die auch den Wert gymnasialer Bildung schätzen.


Wir brauchen ein Schulsystem, das die Benachteiligten fördert, aber die besonders<br />

Befähigten nicht hemmt, ein Schulsystem, das von der Bevölkerung gewollt wird.<br />

Und so hoffe ich – ohne Ihnen irgendetwas vorschreiben zu können oder zu wollen ­ dass<br />

viele von Ihnen in unserem Land oder noch besser in unserer Stadt bleiben oder wenigstens<br />

nach einiger Zeit wiederkehren.<br />

Nutzen Sie Ihre Kompetenzen, zu denen auch unsere Schule einen Beitrag geleistet hat,<br />

seien Sie politisch, seien Sie nicht leise, geben Sie Laut, verkriechen Sie sich nicht in Ihrem<br />

persönlichen Glück, das wir Ihnen allen gönnen, übernehmen Sie Verantwortung und fallen<br />

Sie nicht auf Menschen herein, die Ihnen ideologisch gefärbte „einfache Lösungen“<br />

versprechen.<br />

Die Welt ist kompliziert. Sie haben das Zeug dazu, wenigstens Teilbereiche zu<br />

durchschauen. Wirken Sie auf andere, in diesem Sinne zu handeln und begegnen Sie der<br />

Politikverdrossenheit, wo immer Sie sie antreffen.<br />

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, im Namen all meiner Kolleginnen und Kollegen<br />

wünsche ich Ihnen von ganzem Herzen alles Gute und viel Erfolg für Ihren weiteren<br />

Lebensweg, wo immer sie ihn auch fortsetzen mögen.

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