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Arbeitsrecht in China - GIGA German Institute of Global and Area ...

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CHINA aktuell - 1244 - Oktober 2003<br />

die Durchsetzung von maximal 20% des Gesetzesrechts<br />

konstatiert, so darf die Frage erlaubt se<strong>in</strong>, wie die Effizienzkontrolle<br />

von vorläufigen Regelungen stattf<strong>in</strong>den kann,<br />

wenn <strong>of</strong>fenbar noch nicht mal die Effizienzkontrolle „endgültigen“<br />

Gesetzesrechts funktioniert.<br />

Immerh<strong>in</strong> lässt sich <strong>in</strong> der Ideologie der ch<strong>in</strong>esischen<br />

Kommunisten e<strong>in</strong>e Position nachweisen, die vor „perfekten“<br />

Gesetzen warnt und das „vorläufige“ Gesetz gewissermaßen<br />

zum Modellfall erhebt. So zitierte der Sekretär<br />

der Kommission des Zentralkomitees für Politik und<br />

Recht Qiao Shi 1993 Deng Xiaop<strong>in</strong>g, der 1978 die Ansicht<br />

geäußert habe, Gesetzesartikel solle man zunächst<br />

etwas grob konzipieren, um sie dann schrittweise zu verbessern.<br />

Jedenfalls solle man nicht auf perfekt ausgearbeitete<br />

Gesetze warten. 35 Reisach erkennt e<strong>in</strong> allgeme<strong>in</strong>es<br />

politisches Pr<strong>in</strong>zip, wonach sich „durch Versuch und<br />

Irrtum“ herauskristallisiere, „was für Ch<strong>in</strong>a <strong>in</strong> der jeweiligen<br />

Situation am günstigsten“ sei und verweist auf den<br />

Deng Xiaop<strong>in</strong>g zugeschriebenen Satz „Nach Ste<strong>in</strong>en tastend<br />

den Fluss überqueren“. 36 In Bezug auf die Gesetzgebung<br />

schließt von Senger daraus, man ziehe beim Fehlen<br />

praktischer Erfahrungen oder e<strong>in</strong>es praktischen Bedürfnisses<br />

die Lückenhaftigkeit des Gesetzes der systematischen<br />

Konsistenz vor. 37 Ob man deshalb so weit gehen<br />

kann, „dem Faktischen <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a grundsätzlich e<strong>in</strong>e starke<br />

normative Kraft“ zuzuschreiben, 38 darf bezweifelt werden.<br />

Letztlich würde dies – ähnlich der Theorie Krugs –<br />

e<strong>in</strong> Normensystem außerhalb des <strong>of</strong>fiziellen Gesetzesrechts<br />

behaupten. Damit entfiele aber nicht nur jegliche Berechenbarkeit<br />

für den Normadressaten, sondern auch die<br />

von Senger angenommene Steuerungsfähigkeit des Normgebers.<br />

Denn, dass Praxis „das Kriterium der Wahrheit“ 39<br />

sei, ist zwar spätestens seit Hegel e<strong>in</strong>e durchaus verbreitete<br />

Erkenntnis. Doch ist es e<strong>in</strong>e Sache, e<strong>in</strong>en objektiven<br />

Zusammenhang von Rechtsnormen und gesellschaftlicher<br />

Praxis festzustellen (beispielsweise um gegen juristische<br />

Illusionen 40 gefeit zu se<strong>in</strong>). Es ist aber e<strong>in</strong>e <strong>and</strong>ere Sache,<br />

diesen Zusammenhang zu subjektivieren, also ihn zum Inhalt<br />

e<strong>in</strong>er Strategie zu machen und dabei den Bedeutungsgehalt<br />

von Recht gezielt zu reduzieren.<br />

Damit würde das Recht nämlich nicht nur <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er „relativen“<br />

Bedeutung gegenüber der gesellschaftlichen Praxis<br />

erkannt, sondern gezielt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Funktion relativiert<br />

und damit se<strong>in</strong>e Steuerungsfähigkeit weitgehend verne<strong>in</strong>t<br />

werden. Im Übrigen war auch <strong>in</strong> der VR Ch<strong>in</strong>a die<br />

„Lückenhaftigkeit“ des Normenwerkes ke<strong>in</strong>eswegs immer<br />

politisches Pr<strong>in</strong>zip. Im Gegenteil: Auf dem VIII. Parteitag<br />

der KPCh 1956 war Liu Shaoqi noch ausdrücklich für<br />

mehr Verrechtlichung e<strong>in</strong>getreten. Die Entwicklung e<strong>in</strong>es<br />

vollständigen Rechtssystems habe an die Stelle politischer<br />

Maßnahmen zu treten. 41 Allerd<strong>in</strong>gs hat sich diese L<strong>in</strong>ie<br />

bekanntlich nicht durchgesetzt. Liu Shaoqi wurde für vie-<br />

35Renm<strong>in</strong> Ribao (Volkszeitung) vom 01.05.1993, S.1, zit. n. von<br />

Senger 1994: 274.<br />

36Reisach, „Politik und Wirtschaft“ 1997: 33.<br />

37Von Senger 1994: 280.<br />

38Von Senger 1994: 282.<br />

39Ebd.; die Praxis als „Garant des Wesens e<strong>in</strong>er Sache“ geht auf<br />

Ausführungen Hegels <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er „Phänomenologie des Geistes“ zurück,<br />

<strong>in</strong> der es heißt: „Das Individuum kann ... nicht wissen, was es<br />

ist, ehe es sich durch das Tun zur Wirklichkeit gebracht hat“, Hegel,<br />

Werke B<strong>and</strong> 3, Frankfurt 1970, S.297.<br />

40Friedrich Engels 1962: 491ff., 494.<br />

41Liu Shaoqi 1989: 49ff.<br />

le Jahre zum Symbol des von Mao und se<strong>in</strong>en Anhängern<br />

bekämpften „Revisionismus“. Die verme<strong>in</strong>tliche „Praxisorientierung“<br />

war demnach zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> der Phase ihrer<br />

ideologischen Rechtfertigung e<strong>in</strong> der „Berechenbarkeit“<br />

zuwiderlaufendes Element im ch<strong>in</strong>esischen Rechtssystem.<br />

2.4 Politnormen<br />

Ob nun e<strong>in</strong>e objektive Relativierung oder e<strong>in</strong>e gezielte<br />

Begrenzung von Normen stattf<strong>in</strong>det: Unbestritten bleibt<br />

die Bedeutung der so genannten Politnormen. Sie gehören<br />

nicht zum staatlichen Gesetzesrecht, beanspruchen<br />

aber gleichwohl Verb<strong>in</strong>dlichkeit. Sie bestehen zum Teil<br />

neben dem Gesetzesrecht, s<strong>of</strong>ern dieses Regelungen nicht<br />

enthält, zum Teil werden sie aber auch <strong>in</strong> Gesetzesrecht<br />

transformiert, wie z.B. die ursprünglich nur als Politnorm<br />

existierende Forderung „spät heiraten!“, die 1980 <strong>in</strong><br />

Art. 5 des Ehegesetzes aufgenommen wurde. Zum Teil<br />

werden Politnormen aber auch Teil staatlicher Gesetze,<br />

wie z.B. <strong>in</strong> Art. 6 der „Allgeme<strong>in</strong>en Grundsätze des Zivilrechts“<br />

(AGZ). Nach dieser Vorschrift müssen Zivilgeschäfte<br />

die Gesetze und – falls diese ke<strong>in</strong>e Bestimmungen<br />

enthalten – „staatliche Politnormen befolgen“. Nach<br />

von Senger s<strong>in</strong>d die staatlichen Politnormen wesentliches<br />

Element „der normativen Steuerung der ch<strong>in</strong>esischen Gesellschaft“.<br />

42 Sie dienten wesentlich dem „Vollzug der politischen<br />

Führung der Partei“. 43 Gleichwohl ändert dies<br />

nichts daran, dass diese Politnormen e<strong>in</strong>e Relativierung<br />

des staatlich gesetzten Rechts darstellen. S<strong>of</strong>ern das Gesetz<br />

nur Instrument der Herrschaft ist, muss es zwangsläufig<br />

neben <strong>and</strong>eren Herrschafts<strong>in</strong>strumenten stehen und<br />

kann nur e<strong>in</strong>e abgeleitete Funktion haben. Es wird durch<br />

die politische Herrschaft selbst relativiert. Wenn man so<br />

will, realisiert sich dar<strong>in</strong> das <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a bis heute vorherrschende<br />

Pr<strong>in</strong>zip des „rule by law“ anstelle des „rule <strong>of</strong> law“.<br />

2.5 Geheimnormen<br />

Diese vom Staat selbst ausgehende Relativierung des<br />

Rechts wird <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a begleitet von dem besonderen Phänomen<br />

der so genannten Geheimnormen. Nach Schätzungen<br />

ch<strong>in</strong>esischer Anwälte s<strong>in</strong>d etwa 30-40% der <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a<br />

geltenden obrigkeitlichen Normen e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>ternen Verwendung<br />

vorbehalten. 44 Dies führe dazu, dass im E<strong>in</strong>zelfall<br />

e<strong>in</strong>e bestimmte Rechtslage nicht genau prognostiziert werden<br />

könne.<br />

Diese Normen werden nur den jeweils zuständigen<br />

Amtsträgern bekannt gegeben. Durch ihre bloße Geheimhaltung<br />

entsteht e<strong>in</strong>e Form der Unberechenbarkeit, die<br />

Willkür ermöglicht und Rechtsunsicherheit schafft. Die<br />

Geheimhaltung von Recht relativiert Letzteres <strong>in</strong> hohem<br />

Maße: Die fehlende Bekanntheit des Rechts verh<strong>in</strong>dert die<br />

Entstehung e<strong>in</strong>es Rechtsbewusstse<strong>in</strong>s und damit die Akzeptanz<br />

von Recht. Sie ersetzt das Recht praktisch durch<br />

formalisierte Willkür.<br />

42 Von Senger 1994: 201.<br />

43 Von Senger 1994: 302; nicht unmittelbarer Best<strong>and</strong>teil der Politnormen<br />

aber sehr wohl zum System der politischen Determ<strong>in</strong>iertheit<br />

des ch<strong>in</strong>esischen Rechtssystems wie auch se<strong>in</strong>er Relativität gehörend<br />

dürfte die Zusammensetzung der Richterschaft se<strong>in</strong>, <strong>in</strong> der immer<br />

noch politische Kader und sogar Nichtjuristen vertreten s<strong>in</strong>d.<br />

44 Zit. n. von Senger 1994: 310.

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