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Die Baustelle - Diakonie Mitteldeutschland

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<strong>Mitteldeutschland</strong><br />

<strong>Baustelle</strong> <strong>Diakonie</strong><br />

Bericht 2006 / 2007<br />

Diakonisches Werk<br />

Evangelischer Kirchen in<br />

<strong>Mitteldeutschland</strong> e. V.<br />

Umbruch<br />

und<br />

Aufbruch<br />

<strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong> 2007/2008 1


2 <strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong> 2007/2008 Seitenthema<br />

<strong>Baustelle</strong> <strong>Diakonie</strong><br />

Umbruch und Aufbruch<br />

Wo der HERR<br />

nicht das<br />

Haus baut,<br />

so arbeiten<br />

umsonst, die<br />

daran bauen.<br />

Psalm 127,1


<strong>Diakonie</strong>bericht 2007 / 2008<br />

<strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong> 2007/2008 3<br />

Inhalt<br />

Der Vorstand<br />

4 <strong>Baustelle</strong>n gibt es überall ...<br />

OKR Eberhard Grüneberg<br />

8 Soziale Arbeit in der<br />

Rekonstruktion<br />

Kathrin Weiher<br />

13 Ein Palazzo mit Notwohnungen<br />

Dr. Andreas Lischke<br />

Neue Geschäftsstelle<br />

16 <strong>Die</strong> <strong>Baustelle</strong><br />

20 <strong>Die</strong> Oberbürgermeisterin<br />

26 Der Gemeindepfarrer<br />

30 Der Bauleiter<br />

34 Der Polier<br />

37 Der Architekt<br />

<strong>Baustelle</strong> <strong>Diakonie</strong><br />

18 <strong>Die</strong> nach den Sternen greifen<br />

23 Vom <strong>Die</strong>nstleister zum<br />

Systemlieferanten<br />

24 Mit intelligenter Technik<br />

gegen das Vergessen<br />

28 Wissende Eltern,<br />

gesunde Kinder<br />

31 Licht und Luft<br />

35 „Wir bauen Menschen auf“<br />

38 Jahresabschlüsse<br />

39 Impressum<br />

Impressionen vom Umbau der neuen<br />

Geschäftsstelle in Halle / Saale in der<br />

Merseburger Straße 44


4 <strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong> 2007/2008 SeitenthemaDer<br />

Vorstand<br />

Eberhard Grüneberg<br />

<strong>Baustelle</strong>n gibt es überall ...<br />

Und gebaut wird immer. Der Einsatz<br />

von Schaufel, Kelle und Pinsel ist alles<br />

andere als profan. Seit alters her<br />

ist Bauen ein wichtiger Bestandteil<br />

menschlicher Kultur. Hier werden<br />

Kunstwerke und Lebensräume geschaffen,<br />

Nutzen und Symbolik gleichermaßen<br />

hergestellt und über Generationen<br />

vererbt. Kultureller und<br />

technischer Fortschritt findet seinen<br />

gesellschaftlichen Ausdruck immer<br />

in Bauwerken. Kaum etwas ist so<br />

Identität stiftend wie ein umbauter<br />

Wir thematisieren, bei der<br />

verbreiteten Neigung zum<br />

sozialen Billigbau, die Statik<br />

unserer Gesellschaft.<br />

Raum. Räume stehen für Schutz,<br />

Gemeinschaft, Bewahrung und Innovation<br />

und nicht zuletzt auch für<br />

das religiöse Leben. <strong>Die</strong> ältesten<br />

Bauwerke der Menschheit sind Altäre.<br />

Das Alte Testament der Bibel<br />

ist voll von ausführlichen, erstaunlich<br />

detaillierten Baubeschreibungen<br />

zum Tempel (König Salomo) oder<br />

zum Wiederaufbau der zerstörten<br />

Mauer in Jerusalem (Nehemia). Jesus<br />

war Zimmermann …<br />

Dass sich unser <strong>Diakonie</strong>bericht<br />

dem Thema Bauen widmet, ist vor<br />

dem Hintergrund der Veränderungen<br />

in der <strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong><br />

wohl nahe liegend. Doch es geht in<br />

diesem Bericht nicht nur um den<br />

Umbau der neuen Geschäftsstelle in<br />

Halle, um die Geschichte eines Gebäudes,<br />

sondern auch um strukturelle<br />

Veränderungen im Dachverband.<br />

Vor diesem Hintergrund haben<br />

wir uns auch in beispielgebenden<br />

Einrichtungen der <strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong><br />

umgesehen. Auch hier<br />

wird in allen Bereichen der sozialen<br />

Arbeit und in allen Regionen geplant,<br />

um- und ausgebaut. In der Summe<br />

zeigt damit dieser Bericht insbesondere<br />

spannende und interessante<br />

Innovationen, die Bereitschaft und<br />

Fähigkeit, sich veränderten Rahmenbedingungen<br />

anzupassen und<br />

dabei das eigentliche Ziel der Hilfe,<br />

die Zuwendung zu den Menschen,<br />

nicht aus den Augen zu verlieren.<br />

Deshalb handelt dieser <strong>Diakonie</strong>bericht<br />

vom Aufbruch, von der Gestaltung<br />

neuer Bewegungsräume und<br />

von Zuversicht.<br />

Natürlich reden wir beim Thema<br />

Umstrukturierung auch von der Notwendigkeit<br />

des Sparens, der Konzentration<br />

und der Konsolidierung.<br />

Innerhalb dieser Veränderungen zeigen<br />

sich aber auch neue Formen<br />

des öffentlichen und privaten Engagements,<br />

für die wir die <strong>Diakonie</strong> als<br />

ebenso erfahrenen wie innovativen<br />

Partner vorstellen wollen. Projektarbeit,<br />

Zusammenarbeit im Gemein-


wesen, bürgerschaftliches Engagement<br />

und Spendenmarketing<br />

gewinnen für uns ganz konkret eine<br />

wachsende Bedeutung. Ehrenamtliche,<br />

Verwaltungen und Unternehmer<br />

interessieren sich für neue Formen<br />

der Zusammenarbeit und<br />

wollen die Arbeit der <strong>Diakonie</strong> gezielt<br />

unterstützen. Hier gilt es, Türen<br />

zu öffnen und neue Räume der Begegnung<br />

zu schaffen.<br />

Auch die Evangelischen Kirchen,<br />

deren Werk die <strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong><br />

ist, befinden sich in<br />

einem weit reichenden Umbauprozess.<br />

In der neuen Verfassung der<br />

Evangelischen Kirche in <strong>Mitteldeutschland</strong>,<br />

der Vereinigung aus<br />

Thüringer Landeskirche und der Kirchenprovinz<br />

Sachsen, hat die <strong>Diakonie</strong><br />

in guter Weise Platz gefunden.<br />

Es wird deutlich, dass <strong>Diakonie</strong> im<br />

Auftrag der ganzen Kirche steht und<br />

Der Vorstand<br />

diakonische Arbeit ein integraler und<br />

eigenständiger Bestandteil der Arbeit<br />

unserer Kirche ist. <strong>Die</strong> Kreisdiakonischen<br />

Werke und Einrichtungen<br />

bekommen bei den Kirchlichen<br />

<strong>Die</strong>nsten, Einrichtungen und Werken<br />

einen eigenen Absatz und die diakonischen<br />

Gemeinschaften, deren<br />

ausdrückliche Erwähnung mehrfach<br />

gefordert wurde, sind mit einbezogen.<br />

Im Frühjahr 2009 wird die <strong>Diakonie</strong><br />

<strong>Mitteldeutschland</strong> angekommen<br />

sein in einer neuen Geschäftsstelle<br />

im Zentrum unseres Verbandsgebietes.<br />

Damit wird ein letzter wesentlicher<br />

Schritt in der 2004 beschlossenen<br />

Fusion von ehemals<br />

drei Diakonischen Werken vollzogen.<br />

Mit der zentralen Geschäftsstelle<br />

an einem Ort wird die Arbeit<br />

effizienter und erkennbarer gestaltet.<br />

<strong>Die</strong> Entfernungen nach Salzwe-<br />

<strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong> 2007/2008 5<br />

del, Sonneberg, Lauchhammer und<br />

Heiligenstadt sind vergleichbar. Für<br />

gute Erreichbarkeit sorgt die Infrastruktur<br />

der nach Zahl der Einwohner<br />

größten Stadt innerhalb der <strong>Diakonie</strong><br />

<strong>Mitteldeutschland</strong>. Ein<br />

zentraler Standort trägt zum Zusammenwachsen<br />

der bislang von unterschiedlichen<br />

Kulturen geprägten<br />

<strong>Die</strong>nststellen Dessau, Eisenach und


6 <strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong> 2007/2008 SeitenthemaDer<br />

Vorstand<br />

Magdeburg bei. Für unsere Mitglieder<br />

wird die Geschäftsstelle erst<br />

dann als eine einheitliche Organisation<br />

unter einem Dach erlebbar. Und<br />

auch für die Mitarbeitenden selbst,<br />

die sich in ihrer eigenen Lebens- und<br />

Berufsplanung abermals vor ganz<br />

neuen Herausforderungen sehen,<br />

bietet sich nun die Chance, eine einheitliche<br />

<strong>Die</strong>nstleistungskultur zu<br />

gestalten.<br />

<strong>Die</strong> neue <strong>Die</strong>nststelle in Halle bedeutet<br />

für alle einen Neuanfang: für<br />

Mitarbeitende, für Mitglieder, für Kooperationspartner<br />

und für unsere<br />

Verhandlungspartner in der Landespolitik<br />

und in Verwaltungsorgani-<br />

sationen in Sachsen-Anhalt und<br />

Thüringen.<br />

Wenn der Umbau eines alten Hauses<br />

die Bildvorlage für diesen <strong>Diakonie</strong>bericht<br />

bietet, dann lohnt es sich,<br />

die wechselvolle Nutzung des Gebäudes<br />

zu betrachten. Dr. Andreas<br />

Lischke gibt spannende Einblicke in<br />

die Geschichte der einst prunkvollen<br />

Fabrikantenvilla, die danach Teil<br />

eines Kriegsgefangenenlagers war,<br />

später Notwohnungen auswies und<br />

zuletzt von der Ausländerbehörde<br />

der Stadt Halle genutzt wurde. Kaum<br />

ein Haus in Halle dürfte so direkt und<br />

anschaulich für die wechselvolle Sozialgeschichte<br />

in einer mitteldeutschen<br />

Großstadt stehen.<br />

Und eben auch über den sozialen<br />

Umbau einer Gesellschaft ist dann<br />

zu reden, der in den letzten Jahren<br />

zu einer Großbaustelle wurde. Hier<br />

wurden sehr zügig Veränderungen<br />

geschaffen, die von vielen zu Recht<br />

als Benachteiligung erlebt werden.<br />

Nun fordern wir mit Augenmaß und<br />

Klarheit Korrekturen ein und thema-<br />

tisieren, bei der verbreiteten Neigung<br />

zum Billigbau, die Statik unserer Gesellschaft.<br />

Kathrin Weiher geht in ihrem<br />

Beitrag näher darauf ein.<br />

„Wenn der Herr nicht das Haus baut,<br />

so arbeiten umsonst, die daran bauen.“<br />

<strong>Die</strong>ses Bibelwort aus dem Alten<br />

Testament gilt von jeher nicht nur als<br />

Zunftweisheit der Bauleute, sondern<br />

vor allem als Richtschnur für jene,<br />

die sich auf das Abenteuer des gemeinsamen<br />

Gestaltens und Veränderns<br />

einlassen, die Räume schaffen<br />

wollen, die über den Moment und<br />

über das Unmittelbare hinaus<br />

Sicherheit und Stabilität bieten.<br />

Oberkirchenrat Eberhard Grüneberg,<br />

Vorstandsvorsitzender der<br />

<strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong><br />

vorstand-vors@diakonie-ekm.de


<strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong> 2007/2008 7


8 <strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong> 2007/2008 SeitenthemaDer<br />

Vorstand<br />

Kathrin Weiher<br />

Soziale Arbeit in der Rekonstruktion<br />

Auf mich üben Häuser seit frühester<br />

Kindheit eine besondere Faszination<br />

aus. Gern habe ich mitverfolgt, wenn<br />

mein Vater mal wieder auf irgendeiner<br />

kahlen Fläche seine Projekte<br />

verwirklichte. Einfamilienhäuser,<br />

Doppelhäuser, Mehrfamilienhäuser<br />

und Supermärkte. Es war immer<br />

wieder die Ehrfurcht davor, wie<br />

Wirklichkeit gestaltet wurde und einen<br />

Sinn erhielt.<br />

Später habe ich mich besonders zu<br />

baufälligen oder alten Häusern hingezogen<br />

gefühlt. Sie haben nicht<br />

nur eine Gestalt; sie haben eine Geschichte<br />

– eine Seele. Was gibt es<br />

eigentlich schöneres im Leben eines<br />

Menschen als etwas aufzubauen,<br />

das Bestand hat, etwas das über<br />

das eigene Leben hinaus bleibt? Für<br />

mich ist es fast noch schöner, etwas<br />

wiederaufzubauen, den Sinn, die<br />

Würde, die Achtung und die Funktion<br />

zu aktualisieren.<br />

Da passt durchaus die Analogie zur<br />

Altenhilfe. Wir haben es mit Menschen<br />

zu tun, die durch Krankheit<br />

oder Alter eingeschränkt sind und<br />

oftmals das Tempo unserer Zeit<br />

nicht mehr durchhalten können.<br />

Doch schauen wir in ihre Gesichter,<br />

so sehen wir Spuren eines lange gelebten<br />

Lebens, tiefe Einsichten und<br />

Erfahrungen, oft eine interessante<br />

Lebensgeschichte. Wie schön ist<br />

es, dafür einzutreten, dass diese<br />

Menschen mit Würde und Achtung<br />

behandelt werden.<br />

Wir haben besonders auch in <strong>Mitteldeutschland</strong><br />

wunderschöne Städte<br />

und sehen Bauwerke, die Zeitzeugen<br />

sind von der Zeit weit vor uns;<br />

aber auch von der Zeit, die wir miterlebt<br />

haben. So verbindet die Baulichkeit<br />

durch Rekonstruktionen und Renovierungen<br />

verschiedenste Etappen<br />

der Vergangenheit und schafft so einen<br />

Zustand, der alles überwindenden<br />

und vereinigenden Gegenwart – ohne<br />

Unterschiede zu beseitigen. Darin<br />

scheint mir eine wunderbare Gestaltungsmöglichkeit<br />

zu liegen.<br />

In allen sozialen Handlungsfeldern<br />

der <strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong> geht<br />

es darum, auf Unterschiede zwi-<br />

schen Menschen wertschätzend<br />

einzugehen und eine unserer Zeit<br />

gemäße Gegenwart zu bauen. Junge,<br />

alte, behinderte, kranke, einsame,<br />

benachteiligte, verwahrloste,<br />

unglückliche, deutsche und ausländische<br />

Menschen mit unterschiedlichsten<br />

Lebenswelten und Lebenserfahrungen<br />

ganz individuell zu<br />

beraten, zu betreuen, zu pflegen, zu<br />

fördern und in ihrem Sein wahrzunehmen.<br />

Damit gestalten wir unsere<br />

Gegenwart hin zu Integration und<br />

Inklusion ohne Gleichmacherei. In<br />

jedem Standard, jeder Vergütungs-


vereinbarung, jedem Hilfebedarfssystem,<br />

jedem Gespräch mit Klienten,<br />

Angehörigen und Kostenträgern wird<br />

unsere diakonische Grundhaltung,<br />

die die Würde eines jeden Menschen<br />

achtet, spürbar.<br />

Bauwerke sind imposant, herrlich,<br />

abstoßend, mächtig, einladend, beschützend.<br />

Sie dienen Menschen<br />

zum Wohnen, wohlfühlen, arbeiten,<br />

zu verschiedenartigster Freizeitgestaltung<br />

und zur Selbstverwirklichung.<br />

Bauwerke können Gemeinschaft<br />

und Kommunikation fördern,<br />

sie können aber auch isolieren und<br />

ausgrenzen. Bauwerke können Geborgenheit<br />

vermitteln und ein Stück<br />

Heimat sein, sie können aber auch<br />

Orte sein, an die Menschen nicht zurückdenken<br />

möchten.<br />

In der <strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong>s<br />

habe ich unterschiedlichste Bauwerke<br />

kennen gelernt. Neue Wohnformen<br />

im Betreuten Wohnen für alte<br />

Menschen und beispielhafte Wohnmodelle,<br />

die behinderten Menschen<br />

mehr Selbständigkeit und Freiheit<br />

ermöglichen. Förderschulen, die<br />

bestmöglichste Förderung bieten<br />

und vom Baulichen her offen und<br />

sonnig wirken. Werkstätten für behinderte<br />

Menschen, die ein breites<br />

Spektrum von Tätigkeiten von kreativ<br />

bis landwirtschaftlich, von handwerklich<br />

bis technisch im Angebot<br />

haben. Neubauten aber auch Sanierungsobjekte,<br />

die den sozialen Anforderungen<br />

ausgesprochen gut gerecht<br />

werden. Cafes, Kommunikationsplätze,<br />

Sportanlagen und Gemeinschaftsräume,<br />

die gute Möglichkeiten<br />

für ein Miteinander bieten. Häufig<br />

auch Einrichtungen und Angebote,<br />

die ganz ländlich oder mitten in der<br />

Stadt liegen und auch dadurch<br />

Wahlmöglichkeiten für den einzelnen<br />

Menschen schaffen. Es gibt auch<br />

tolle Verbindungen alter Bausubstanz<br />

mit modernsten Ideen zum Bei-<br />

Der Vorstand<br />

spiel bei einer trilingualen Grundschule<br />

und Kindertagesstätte. Doch<br />

gibt es auch noch Einrichtungen, die<br />

weiterhin Finanzmittel brauchen, um<br />

investieren zu können.<br />

Ganz klar und deutlich ist in allen sozialen<br />

Arbeitsfeldern zu erkennen,<br />

dass es immer wieder neue Entwicklungen<br />

gibt und Baulichkeiten neuen<br />

fachlichen Erkenntnissen und individuellen<br />

Bedürfnissen angepasst<br />

werden. Es gibt nicht mehr nur das<br />

eine Hilfsangebot, in das sich alle zu<br />

fügen haben. Es gibt auch nicht<br />

mehr die eine Pflegesatzfinanzierung,<br />

sondern unterschiedlichste<br />

Modelle vom Pflegesatz bis hin zur<br />

Fachleistungsstunde, von der Abrechnung<br />

über die Sozialversicherungsträger,<br />

die für das Klientel ein<br />

Buch mit sieben Siegeln ist, bis hin<br />

zum persönlichen Budget. Neue Bedürfnisse<br />

erfordern fachlich und<br />

auch baulich neue Konzepte. <strong>Die</strong><br />

<strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong> 2007/2008 9<br />

Der Stein, den die Bauleute<br />

verworfen haben, ist zum<br />

Eckstein geworden.<br />

Psalm 118,22<br />

<strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong> befasst<br />

sich derzeit im Kontext der Liga der<br />

Freien Wohlfahrtspflege in beiden<br />

Bundesländern und in den zuständigen<br />

Fachverbänden intensiv mit<br />

dem recht neuen Thema der alt gewordenen<br />

behinderten Menschen.<br />

Charakteristisch ist für alle Bauwerke,<br />

dass sie in Gemeinschaft<br />

entstanden sind. Es braucht Menschen<br />

mit Ideen oder gar Visionen,<br />

denen es gelingt andere Menschen<br />

für ihre Ideen zu begeistern, denn oft<br />

sind es andere, die das Projekt visualisieren<br />

und finanzieren müssen.<br />

Ein fester, geeigneter Grund muss<br />

gefunden werden; dabei sind Bedürfnisse<br />

nach einer bestimmten<br />

Lage und oft auch einer bestimmten<br />

Infrastruktur zu berücksichtigen.<br />

Auch die Altenheime, Behindertenheime<br />

und Kinder- und Jugendheime<br />

der Vergangenheit waren Bauwerke,<br />

die als „Gemeinschaftsproduktion“


10 <strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong> 2007/2008 Seitenthema Der Vorstand<br />

entstanden und auch sie waren Ausdruck<br />

ihrer Zeit. Menschen mit Mitte<br />

Vierzig und älter, ob aus West oder<br />

Ost, kennen noch die großen Schlafsäle,<br />

die Gemeinschaftsduschen,<br />

oftmals den autoritären Stil und den<br />

Zwang zum Konformismus.<br />

Es wurde Hilfe geleistet – oftmals<br />

wurden die beteiligten Menschen als<br />

Objekt der Hilfe betrachtet. In den<br />

Anfängen wurde mit einfachen Mitteln<br />

und oft nur gering qualifizierten<br />

Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern<br />

gearbeitet. Doch auch diese Hilfe<br />

war besser, als nicht zu helfen.<br />

Mit wachsendem gesellschaftlichem<br />

Wohlstand standen auch für soziale<br />

Arbeit mehr Mittel zur Verfügung.<br />

<strong>Die</strong> Individualisierung als gesellschaftliche<br />

Tendenz führte dazu,<br />

dass aus Hilfeempfängern Beteiligte<br />

wurden und aus Objekten Subjekte,<br />

die Mitbeteiligungsrechte hatten.<br />

Der soziale Bereich wurde ein immer<br />

wichtigeres Arbeitsfeld und von den<br />

dort tätigen Mitarbeiterinnen und<br />

Mitarbeiter wurden immer mehr<br />

Qualifikationen verlangt. Das Hilfs-<br />

und Unterstützungsangebot wurde<br />

gleichermaßen ausdifferenzierter,<br />

um individuellen Bedürfnissen und<br />

Bedarfen gerecht zu werden.<br />

Durch Privatisierungs- und Kommunalisierungstendenzen<br />

geraten auch<br />

diakonische Einrichtungen finanziell<br />

unter Druck. Kindergärten werden<br />

vereinzelt rekommunalisiert. Werkstätten<br />

für behinderte Menschen<br />

speziell in Thüringen erleben Senkungen<br />

ihrer Entgelte. In der Altenhilfe<br />

werden Leiharbeit und Outsourcing<br />

immer mehr zu Themen, mit<br />

denen sich die <strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong><br />

befassen muss. Für<br />

den Vorstandsbereich Soziale <strong>Die</strong>nste<br />

ist damit insbesondere bei Verhandlungen<br />

mit Kostenträgern, die<br />

stärkere Einbeziehung juristischer<br />

und wirtschaftlicher Kompetenz von<br />

großer Wichtigkeit.<br />

Einen Versuch, dennoch einen qualitativ<br />

hohen Standard festzuschreiben,<br />

stellen die Qualitätsentwicklungs-<br />

und -umsetzungsprozesse<br />

auf allen Ebenen dar. In unseren<br />

Fachverbänden der Altenhilfe, der<br />

Behindertenhilfe und der Kinder-<br />

und Jugendhilfe existieren dazu<br />

Fachgruppen und Handreichungen<br />

oder werden derzeit bearbeitet.<br />

Ebenso wichtig ist es Leistungstypen<br />

zum Beispiel in der Behindertenhilfe<br />

endlich festzuschreiben, um<br />

Rahmenverträge zu konkretisieren<br />

und Standards zu etablieren. Einrichtungen<br />

und <strong>Die</strong>nste brauchen<br />

verlässliche Rechtsgrundlagen.<br />

Entwicklungen im Personalbereich<br />

dürfen nicht dazu führen, dass Standards<br />

unterlaufen werden. Der Entwicklung<br />

in der Altenhilfe, dass immer<br />

mehr Menschen unter Demenz<br />

leiden und Pflegekräfte aufgrund<br />

des zeitlichen Drucks nicht mehr allen<br />

Anforderungen gerecht werden<br />

können, ist ein wenig – und auch<br />

kostenorientiert – durch das Pflegeweiterentwicklungsgesetz<br />

auf Bundesebene<br />

Rechnung getragen worden.<br />

Mit Fortbildungen qualifizierte<br />

Menschen können ergänzend bezahlt<br />

in der Betreuung eingesetzt<br />

werden. Sicher eine Entlastung, aber<br />

nur verantwortbar, wenn eine regelmäßige<br />

Anleitung und Begleitung<br />

dieser Kräfte erfolgt – wir bringen<br />

uns ein, um das abzusichern.<br />

In der Behindertenhilfe sind Tendenzen<br />

erkennbar, dass unter dem<br />

Stichwort Inklusion besondere fördernde<br />

Einrichtungen wie zum Beispiel<br />

Förderschulen und Werkstätten<br />

verändert werden sollen. In welchem<br />

Maße und mit welcher Zielsetzung,<br />

das wird die <strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong><br />

im Zusammenwirken mit Einrichtungen<br />

und Fachverbänden kritisch<br />

beobachten.<br />

Sanierungen, Rekonstruktionen, Renovierungen<br />

oder gar Neubauten<br />

sind sicher zu fördern, denn Stillstand<br />

ist Rückschritt. Doch die Entwicklungen<br />

sollten den wirklichen<br />

Bedürfnissen der Menschen angepasst<br />

sein und nicht von anderen<br />

Zielsetzungen geleitet werden. Bauen<br />

wir also gemeinsam an unserer<br />

Zukunft als <strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong><br />

in den sozialen Arbeitsfeldern.<br />

Kathrin Weiher<br />

Vorstand Soziale <strong>Die</strong>nste<br />

vorstand-sd@diakonie-ekm.de


<strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong> 2007/2008 11<br />

Blow-up an der Marktkirche Halle im Juli 2007.<br />

Suchet der<br />

Stadt Bestes<br />

und betet für<br />

sie zum<br />

HERRN.<br />

Jeremia 29,7


12 <strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong> 2007/2008 Seitenthema<br />

Einblicke<br />

Stadtarchiv Halle<br />

Im Stadtarchiv Halle lagern einige<br />

Bauakten zur Merseburger Straße<br />

44. <strong>Die</strong> Bauaufsicht war im späten<br />

19. Jahrhundert eine Aufgabe der<br />

Polizeiverwaltung, erläutert Archivleiter<br />

Ralf Jakob (rechts).<br />

<strong>Die</strong> Zeichnung oben dokumentiert<br />

den ersten Erweiterungsbau des<br />

Wohnhauses von Fabrikbesitzer<br />

August Wernicke.


Eine lückenlose Geschichte der Nutzung<br />

der Merseburger Straße 44<br />

lässt sich schwer rekonstruieren.<br />

Doch ein Blick in die Akten im Stadtarchiv<br />

weist ebenso auf eine interessante<br />

Historie hin, wie die baulichen<br />

und denkmalpflegerischen Untersuchungen<br />

auf der <strong>Baustelle</strong>. Aus einer<br />

Fabrikantenvilla im mediterranen<br />

Palazzostil mit verschiedenen historisierenden<br />

Anklängen, wie sie in der<br />

Architektur des 19. Jahrhunderts<br />

verbreitet sind, entsteht nun ein<br />

moderner Verwaltungsbau, dessen<br />

Fassade zwar denkmalgerecht gestaltet<br />

ist, der aber im Inneren rational,<br />

zweckentsprechend und möglichst<br />

wirtschaftlich genutzt werden<br />

soll.<br />

<strong>Die</strong> Entstehungsgeschichte des<br />

Wohnhauses und etwas später des<br />

Zeichensaales fällt in die Zeit der<br />

größten wirtschaftlichen Blüte<br />

Halles. Der Fabrikant August Wernicke<br />

gehört zu jenen Gründerpionieren<br />

in der Saalestadt, die aus einer<br />

Reparaturwerkstatt für Land- oder<br />

Industriemaschinen einen florierenden<br />

Industriezweig entwickelten, der spätestens<br />

zur Jahrhundertwende der<br />

halleschen Maschinenindustrie Weltruhm<br />

eintrug.<br />

Angefangen 1871 mit einer Kesselschmiede<br />

entwickelt Wernicke ein<br />

Werk für Brauerei- und Brennereianlagen<br />

und stattet ganze Zuckerfabriken<br />

mit eigenen Patentanlagen<br />

aus.<br />

1879 findet sich in den Bauakten ein<br />

erster Antrag, nach dem ein ein-<br />

Der Vorstand<br />

Andreas Lischke<br />

Ein Palazzo mit Notwohnungen<br />

faches schmales Ziegelgebäude in<br />

eine repräsentative Villa umgebaut<br />

werden soll. Das Haus steht seitlich<br />

zur damaligen Merseburger Straße,<br />

die noch kurz zuvor Merseburger<br />

Chaussee heißt. Ein großes Eingangsportal,<br />

Stuckelemente und<br />

Dachverzierungen sind Zeugen der<br />

neuen Zeit und Ausdruck des offenbar<br />

schnell gewonnenen Reichtums.<br />

Vor dem Haus befindet sich ein Garten,<br />

der in Verlängerung nach Westen<br />

direkt in den Fabrikhof übergeht.<br />

Eigentümer, Meister und Vorarbeiter<br />

lebten praktisch auf dem Fabrikgelände.<br />

Eine eigene, gedruckte Arbeitsverordnung,<br />

die jedem Arbeiter<br />

ausgehändigt wird. „Kein Arbeiter<br />

<strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong> 2007/2008 13<br />

wird angenommen, welcher nicht<br />

sofort der Ortskrankenkasse für die<br />

Arbeiter der Maschinenfabriken,<br />

Dampfkesselfabriken und Eisengießereien<br />

in der Stadtgemeinde Halle<br />

a. S. beitritt.“ <strong>Die</strong> Arbeitszeit ist von<br />

früh 6 Uhr bis abends 6 Uhr festgelegt.<br />

Insgesamt werden zwei Stunden<br />

Pause gewährt. „Maßgebend ist<br />

[…] die Fabrikuhr.“<br />

Ab 1891 wird eine große Erweiterung<br />

der Villa geplant. Sei es, weil<br />

der Platz für Familie und Angestellte<br />

nicht mehr reicht, oder weil der Bedarf<br />

an Repräsentation steigt. Bis<br />

1895 entsteht im stumpfen Winkel<br />

zur bestehenden Villa ein großer Anbau,<br />

der sich nun mit imposanter<br />

Straßenbau in der Merseburger<br />

Straße um 1920


14 <strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong> 2007/2008 Seitenthema Der Vorstand<br />

Fassade zur Straße hin zeigt – mit<br />

Wintergarten, Balkon und großem<br />

Treppenhaus.<br />

Ein Jahr später fügt Wernicke an seinen<br />

hölzernen Gartenpavillon einen<br />

großen Zeichensaal an, der nun Garten<br />

und Fabrikgelände trennt und in<br />

die kunstvolle Gestaltung der Wohngebäude<br />

einbezogen wird. Das Fabrikgelände<br />

wird erweitert, ein großer<br />

Schornstein in den Fabrikhof<br />

gesetzt. Wernicke ist mit 63 Jahren<br />

anscheinend auf dem Höhepunkt<br />

seines Schaffens. 1898 wird die Maschinenfabrik<br />

in eine Maschinenbau<br />

Aktiengesellschaft umgewandelt.<br />

<strong>Die</strong> Geschäftsführung übernimmt<br />

der Ingenieur Alfred Haacke.<br />

Offenbar ist es spätestens ab 1910<br />

um die AG nicht gut bestellt. In einer<br />

Akte von 1914 ist davon die Rede,<br />

dass die Fabrikhallen vier Jahre nicht<br />

genutzt wurden. Das Gutachten bezeichnet<br />

die Villa sogar als unbe-<br />

wohnbar. <strong>Die</strong> preußische Militärverwaltung<br />

„requiriert“ das Gelände<br />

und richtet ein Offiziersgefangenlager<br />

ein. <strong>Die</strong> ausführliche Dokumentation<br />

zum Einbau von frostsicheren<br />

Latrinen lässt vermuten, dass man<br />

um eine angemessene Behandlung<br />

der Gefangenen bemüht war.<br />

Im Jahr 1917, zwei Jahre nach dem<br />

Tod August Wernickes, übernimmt<br />

die erfolgreiche Nachbarfabrik Wegelin<br />

& Hübner die Maschinenbau


AG und nimmt die Produktion in den<br />

Fabrikhallen wieder auf. Für die Fabrikantenvilla<br />

und den Zeichensaal<br />

wird 1922 eine neue Nutzung beantragt.<br />

In den Folgejahren wird der<br />

Zeichensaal zu einem Sechs-Familien-Haus<br />

für Mitarbeiter der Firma<br />

umgebaut. In der Villa werden Notwohnungen<br />

eingerichtet. Offenbar<br />

beginnt damit schon in den zwanziger<br />

Jahren die städtische Nutzung<br />

der Villa. In einer Akte aus 1955 wird<br />

Der Vorstand<br />

ausgesagt, dass bereits vor dem<br />

Krieg ein Abbruch der einst reich verzierten<br />

Villa geplant gewesen sei.<br />

Im zweiten Weltkrieg bleibt die Bausubstanz<br />

der Stadt Halle weitgehend<br />

verschont. <strong>Die</strong> gezielte Bombardierung<br />

von Industrieanlagen trifft aber<br />

auch die Merseburger Straße, die<br />

Anfang der fünfziger Jahre Stalin-<br />

Allee und spätestens 1961 Lenin-Allee<br />

heißt.<br />

Das Haus bleibt erhalten, doch mit<br />

<strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong> 2007/2008 15<br />

der Sanierung 1955 verliert die Fassade<br />

die meisten Schmuckelemente.<br />

Fortan zeigt sich das Vorderhaus, in<br />

dem später auch Verwaltungsbüros<br />

der Wohnungswirtschaft Halle eingerichtet<br />

werden, im typischen<br />

DDR-Rauhputz-Grau.<br />

Drei nebeneinander liegende Fabriken,<br />

die um 1900 in Konkurrenz<br />

zueinander produzierten, wurden zur<br />

VEB Maschinenfabrik Halle/Saale<br />

zusammengelegt, die bis in die<br />

neunziger Jahre hinein produzierte.<br />

In die Villa und den Zeichensaal zog<br />

nach der Wende das Jugendamt mit<br />

dem Allgemeinen Sozialen <strong>Die</strong>nst<br />

und das Sozialamt mit der Aussiedler-<br />

und Asylbewerberbehörde ein.<br />

Der einstige Garten Wernickes bot<br />

als grüner Innenhof noch immer ein<br />

wenig Rückzugsraum und Geborgenheit.<br />

Dr. Andreas Lischke<br />

Theologischer Vorstand<br />

vorstand-theol@diakonie-ekm.de


16 <strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong> 2007/2008 Seitenthema<br />

<strong>Die</strong> <strong>Baustelle</strong><br />

Oktober 2008<br />

Haus 2, der ehemalige Zeichensaal, wird vor<br />

allem Büroräume für den Bereich Soziale<br />

<strong>Die</strong>nste aufnehmen. Im Erdgeschoss entsteht<br />

ein Tagungs- und Andachtsraum, der mit<br />

Trennwänden variabel verändert werden kann.<br />

Ich will<br />

meine<br />

Wohnung<br />

unter euch<br />

haben,<br />

und will<br />

euch nicht<br />

verwerfen.<br />

3. Mose 26,11


Im Haus 1 verbindet das Atrium, dessen<br />

Dach auf zwei Säulen ruht, die drei Etagen<br />

miteinander. Das Haus wirkt offener und<br />

man bekommt Sichtkontakt zum Innenhof<br />

und dem alten Zeichensaal.<br />

<strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong> 2007/2008 17<br />

<strong>Die</strong> Wände waren in der Gründerzeit bunt<br />

bemalt und reich verziert. Stuck, Ornamente<br />

und Schmiedearbeiten wurden zum Teil schon<br />

nach wenigen Jahren verdeckt oder zerstört.<br />

Ein kleiner Teil der Ausstattung soll möglichst<br />

erhalten werden.


18 <strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong> 2007/2008 Seitenthema <strong>Baustelle</strong> <strong>Diakonie</strong><br />

<strong>Die</strong> nach den Sternen greifen<br />

Marienstift Arnstadt geht neue Wege der Integration<br />

Wer hier arbeitet, will hoch hinaus.<br />

„Jeder hier soll erleben können,<br />

dass er dabei ist. Es geht nicht um<br />

Sollerfüllung, sondern um Hilfe<br />

durch gemeinsame Arbeit.“, erklärt<br />

Jörg Hilbrecht, der das „Johannes-<br />

Falk-Projekt“ im Marienstift Arnstadt<br />

leitet. Erstaunt registriert der Besucher,<br />

welche Ziele sich eine solche<br />

leistungsferne Gemeinschaft dennoch<br />

setzen kann. Auf einem 10.000<br />

Quadratmeter großen Hangareal arbeiten<br />

in dem Projekt Menschen, die<br />

man vor allem als bedauernswerte<br />

Verlierer einer nutzen- und gewinnorientierten<br />

Gesellschaftsordnung<br />

ansieht – bestenfalls als Hilfeempfänger.<br />

<strong>Die</strong> Beschäftigten hier am<br />

Arnstädter Floraweg wollen und<br />

können mehr. Und greifen buchstäblich<br />

nach den Sternen. Seit Monaten<br />

bauen sie eine Sternwarte wieder<br />

auf, die zu DDR-Zeiten jungen Tech-<br />

nikern diente. Der kleine Rundbau<br />

hat die typische drehbare Kuppel einer<br />

Sternwarte, eine verschließbare<br />

Öffnung für das Fernrohr und einen<br />

behindertengerechten Zugang. Alle<br />

Mechaniken können mit Handkurbeln<br />

betrieben werden. Das besondere<br />

an dieser Sternwarte sind<br />

sicher nicht die astronomisch-technischen<br />

Möglichkeiten. Vielmehr ist<br />

es eine Form der Integration, die in<br />

der sozialen Arbeit in Thüringen wohl<br />

ihresgleichen suchen muss. <strong>Die</strong><br />

Männer und Frauen, die hier Schaufel,<br />

Kelle und Harke schwingen, haben<br />

meist eine mehr als gebrochene<br />

Biografie. Alkohol- und drogenabhängig,<br />

straffällig, behindert in Folge<br />

von Sucht – kaum jemand sieht für<br />

diese Menschen Perspektiven auf<br />

einem Arbeitsmarkt, der schon von<br />

den Gesunden und Leistungsfähigen<br />

hart umkämpft ist.<br />

Gleich neben der Sternwarte wird<br />

eine Gartenbaufläche intensiv bewirtschaftet.<br />

Hier wachsen Kartoffeln,<br />

Salatköpfe, Möhren und Gurken,<br />

die als frische Saisonware an<br />

die Arnstädter Tafel ausgegeben<br />

werden. Während Menschen mit einer<br />

seelischen Behinderung in der<br />

Gartenarbeit wertvolle Lebenshilfe<br />

finden, gewinnen Tafelkunden ein<br />

Stück mehr Lebensqualität mit der<br />

Frischware im Einkaufsbeutel. Eine<br />

ebenso eigenständige wie überzeugende<br />

Wertschöpfungskette der sozialen<br />

Hilfe, die hier in hohem Maße<br />

auf Gegenseitigkeit beruht.<br />

Mitten in der Anbaufläche erhebt<br />

sich ein 18 Meter hoher Stahlturm.<br />

Früher übten sich hier Jugendliche<br />

im halbmilitärischen Funkbetrieb.<br />

Lange suchte Hilbrecht nach einer<br />

neuen Nutzungsform. Jetzt steht<br />

fest: aus dem Funkturm wird ein<br />

Nistturm. „Schwerter zu Pflugscharen“,<br />

sagt Hilbrecht lachend. Funksignale<br />

wird es aber wieder geben:


Webcams werden in den Brutkästen<br />

installiert und Bilder von der Aufzucht<br />

in das künftige Kinderheim<br />

übertragen. Letzteres soll das Gelände<br />

bald komplettieren. Das orthopädische<br />

Kinderheim (Friedrich-<br />

Behr-Haus) des Marienstifts soll am<br />

Fuß des Hanggrundstücks einen<br />

neuen Platz bekommen. 32 Kinder<br />

und Jugendliche werden hier künftig<br />

auf dem Grundstück wohnen und<br />

dann auch das Heranwachsen der<br />

Jungvögel in den Brutkästen an Computermonitoren<br />

verfolgen können.<br />

<strong>Die</strong> Sternwarte werden sie sich teilen<br />

– zum Beispiel mit den 500 Schülern<br />

der Emil-Petri-Schule. <strong>Die</strong> Förderschule<br />

mit ihrem Einzugsgebiet<br />

weit über den Ilm-Kreis hinaus beherbergt<br />

eine Montessori-Grundschule,<br />

ein integratives Förderzentrum<br />

und eine Förderberufsschule.<br />

<strong>Die</strong> Sternwarte, die für das höhenverstellbare<br />

Fernrohr noch auf Spendengelder<br />

angewiesen ist, wird sicher<br />

eine große Nachfrage erleben.<br />

Jörg Hilbrecht ist dankbar für die<br />

Unterstützung durch die ARGE im<br />

Ilm-Kreis und durch Privatfirmen,<br />

ohne die bestimmte Bauleistungen<br />

gar nicht hätten ausgeführt werden<br />

können. Mit der Volkssternwarte<br />

Kirchheim gibt es eine enge Kooperation,<br />

sodass auch Sternendeuter-<br />

Know-how verfügbar ist. Etwa 300<br />

Menschen werden jährlich in der<br />

Straffälligen- und Eingliederungshilfe<br />

im Marienstift Arnstadt betreut, 20<br />

Pädagogen und Anleiter stehen dafür<br />

zur Verfügung. „Für uns gibt es<br />

keine Kostensätze und keine Bestandsgarantien.<br />

Wir müssen immer<br />

wieder neu schauen, dass wir dafür<br />

Projektförderungen oder Auftraggeber<br />

finden.“, erklärt Jörg Hilbrecht.<br />

Warum das Projekt nach Johannes<br />

Falk benannt wurde, der nachweislich<br />

kein Astronom war? Der Sozial-<br />

<strong>Baustelle</strong> <strong>Diakonie</strong><br />

reformer gilt als Begründer der modernen<br />

Kinder- und Jugendsozialarbeit.<br />

Anfang des 19. Jahrhunderts<br />

hat der Theologe und Schriftsteller<br />

in Weimar die Waisen der Befreiungskriege<br />

von der Straße geholt<br />

und mit ihnen den maroden Lutherhof<br />

als Heimstatt ausgebaut, hat Jugendlichen<br />

eine Ausbildung geboten<br />

und sie in Arbeitsstellen vermittelt.<br />

Das ist Hilbrechts Vorlage: „Wir weinen<br />

zusammen, wir lachen zusam-<br />

<strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong> 2007/2008 19<br />

men, wir schwitzen und wir frieren<br />

zusammen – so soll es sein.“<br />

Wenn das Fernrohr hoffentlich im<br />

Herbst installiert werden kann, suchen<br />

die, die hier nach den Sternen<br />

greifen, die nächste Verbindung zu<br />

Johannes Falk. Dann wollen sie am<br />

Firmament den Asteroid 48480<br />

Falk=1991 YK1 sichten, der seit seiner<br />

Entdeckung vor 17 Jahren den<br />

Namen des Sozialreformers aus<br />

Weimar trägt.


20 <strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong> 2007/2008 Seitenthema Neue Geschäftsstelle<br />

<strong>Die</strong> Oberbürgermeisterin<br />

Interview mit Dagmar Szabados<br />

Was bedeutet es für Sie persönlich,<br />

dass die <strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong><br />

nach Halle zieht? Sie<br />

haben sich ja selbst sehr dafür<br />

eingesetzt.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Diakonie</strong> ist seit Anfang der neunziger<br />

Jahre ein starker Partner in der<br />

sozialen Arbeit unserer Stadt und ist<br />

natürlich gewachsen aus der Zeit vor<br />

1990. Es gibt auch aus der Wende-<br />

zeit gute gemeinsame Erfahrungen.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Diakonie</strong> ist nicht ein „Import“,<br />

sondern eine gewachsene Institution<br />

in Halle, zu der ich auch immer einen<br />

guten Zugang hatte. Ich denke da vor<br />

allem auch an die Verantwortungsträger<br />

in der Stadtmission Halle, an<br />

das Krankenhaus Martha-Maria in<br />

Dölau, das <strong>Diakonie</strong>werk in der Lafontainestraße.<br />

Hier erlebe ich bis<br />

heute enge Verbindungen.<br />

Nun kommt der Dachverband in<br />

die Saalestadt um von hier aus<br />

die sozialpolitische Lobbyarbeit<br />

zu forcieren in Sachsen-Anhalt<br />

und Thüringen. Was bedeutet es<br />

Ihnen, dass eine Landesinstitution<br />

nach Halle kommt?<br />

Ich habe mich tatsächlich sehr dafür<br />

eingesetzt und geschaut, dass in<br />

der Stadtverwaltung alle Ampeln auf<br />

grün gestellt wurden, weil ich meine,<br />

dass Landesorganisationen nicht<br />

immer nur in den Hauptstädten angesiedelt<br />

sein müssen. Gerade in<br />

der Bundesrepublik und in unseren<br />

eher kleinen Ländern in <strong>Mitteldeutschland</strong><br />

ist es wichtig, eine<br />

Konzentration nicht nur in den Landeshauptstädten<br />

zu haben. Eine<br />

Stadt wie Halle mit dieser Tradition<br />

und Geschichte rechtfertigt durchaus<br />

auch den Sitz von landesweiten<br />

und länderübergreifenden Institutionen.<br />

<strong>Die</strong> evangelische Kirche und<br />

die <strong>Diakonie</strong> sind Vorreiter für eine<br />

Entwicklung, die auch auf anderen<br />

Ebenen jetzt unbedingt einsetzen<br />

muss. Ich meine die staatlichen Ebenen<br />

der drei mitteldeutschen Länder,<br />

die enger zusammengehen sollten.<br />

Unternehmen machen uns das vor<br />

und auch die <strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong><br />

hat uns das vorgemacht.


Es gibt inzwischen in Halle ja<br />

auch Erfahrungen mit solchen<br />

Institutionen. Da ist der MDR<br />

Hörfunk, die Regionaldirektion<br />

der Bundesagentur für Arbeit, die<br />

Deutsche Rentenversicherung,<br />

das Netzwerk der Universitäten<br />

und Forschungseinrichtungen.<br />

Was bringt das für eine Stadt wie<br />

Halle? Wie wirkt sich das auf die<br />

Entwicklung tatsächlich aus?<br />

Ich erlebe, dass es ganz, ganz wichtig<br />

ist, dass solche überregionalen<br />

Einrichtungen da sind. Schauen Sie<br />

auf die Leopoldina, die Deutsche<br />

Akademie der Naturforscher, so eine<br />

Institution hebt das Renomee einer<br />

Stadt. Deshalb werbe ich dafür und<br />

zeige auch, dass Halle Potenzial hat,<br />

dass hier Landes- und auch Bundeseinrichtungen<br />

gut angebunden<br />

sind, sich wohl fühlen können und<br />

gut vernetzt sind. Welche Stadt hat<br />

schon solche Netzwerke, wie sie<br />

sich zeigen in unseren Themenjahren<br />

„Halle an der Saale – Antworten aus<br />

der Provinz“. <strong>Die</strong> Antwort aus der<br />

Provinz heißt: Wir sind gut vernetzt,<br />

wir wissen voneinander, wir bündeln<br />

und wir unterstützen uns gegenseitig.<br />

Das ist das Signal: Wenn ihr hierher<br />

kommt, findet ihr eine gute<br />

Landschaft mit guten Vorteilen, mit<br />

einer aktiven Bürgergesellschaft.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong><br />

hat sich in den letzten Jahren<br />

immer wieder aktiv zur sozialen<br />

Lage in <strong>Mitteldeutschland</strong><br />

geäußert und dabei auch mit<br />

Sorge auf die Negativzahlen der<br />

Stadt Halle hingewiesen. Hier vor<br />

allem mit Blick auf die prekären<br />

Lebenslagen von etwa 30 Prozent<br />

der Kinder und Jugendlichen, die<br />

Neue Geschäftsstelle<br />

auf Sozialgeld angewiesen sind.<br />

Fürchten Sie ein wenig die<br />

künftigen <strong>Diakonie</strong>-Meldungen<br />

aus der nahen Beobachtung?<br />

Nein, absolut nicht. Ich habe es lieber,<br />

man redet miteinander als übereinander.<br />

Und wie ich die Spitzen<br />

der <strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong> kenne,<br />

weiß ich, dass hier nicht hinter<br />

dem Rücken, sondern im offenen<br />

Dialog geredet wird. Dafür stehe ich<br />

ganz zur Verfügung. Ich habe auf<br />

manche Zahleninterpretation eine<br />

andere Sicht. Aber solche Sachen<br />

klärt man miteinander. Und wenn ich<br />

Sachen übersehen habe, auf die<br />

mich die <strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong><br />

hinweist, dann bin ich auch gern bereit,<br />

mir die Fragen genauer anzusehen.<br />

Bestimmte Dinge auch noch<br />

einmal mit einem diakonischen Blick<br />

zu sehen, kann nicht schaden. Ich<br />

<strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong> 2007/2008 21<br />

Oberbürgermeisterin Dagmar Szabados ließ<br />

zur Mitgliederversammlung im Oktober 2007<br />

„Lockmittel“ verteilen; Hallorenkugeln für alle<br />

bin da dialogbereit und freue mich<br />

auch darauf.<br />

Das heißt, es wird auch möglicherweise<br />

eine Austauschebene<br />

und kurze Wege zwischen der<br />

Stadt Halle und dem <strong>Diakonie</strong>-<br />

Landesverband geben?<br />

Kurze Wege auch deshalb, weil wir<br />

ab Januar mit Tobias Kogge eine<br />

neuen Beigeordneten für Jugend,<br />

Schule, Soziales und kulturelle Bildung<br />

haben, der als „Kind“ der <strong>Diakonie</strong><br />

gesehen werden kann. Natürlich<br />

bin auch ich als frühere<br />

Beigeordnete für Soziales weiter an<br />

einem Austausch interessiert. Mit<br />

Herrn Kogge haben wir aber jemanden,<br />

der in zuvor Sachsen sehr<br />

gut mit der Wohlfahrtspflege vernetzt<br />

war und er kommt aus dem<br />

diakonischen Hintergrund. Da hoffe


22 <strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong> 2007/2008 Seitenthema Neue Geschäftsstelle<br />

ich im Austausch miteinander, dass<br />

wir noch Anregungen bekommen für<br />

unsere soziale Arbeit in der Stadt.<br />

<strong>Die</strong> Merseburger Straße ist nicht<br />

unbedingt die attraktivste Straße<br />

der Stadt aber eine mit bewegter<br />

Geschichte. Zu Ihrer Zeit als<br />

Beigeordnete war in der Merseburger<br />

Straße 44 auch die Sozialverwaltung<br />

der Stadt angesiedelt.<br />

Wie haben Sie das Haus in<br />

Erinnerung und wie sehen Sie<br />

jetzt die Entwicklung dieses<br />

Hauses?<br />

Das Haus gehörte ja der Halleschen<br />

Wohnungsgesellschaft. <strong>Die</strong> Stadt<br />

brauchte Anfang der 90er Jahre für<br />

die vielen Asylbewerber einen Ort<br />

der guten Betreuung und einen Anlaufpunkt.<br />

Das Haus bot sich damals<br />

für den Bereich Ausländer- und Asyl-<br />

wesen an, weil der Hof- und Grünbereich<br />

für Wartezeiten und Gespräche<br />

attraktiv war. Später gab es<br />

eine Konzentration der Sozialverwaltung<br />

in der Südpromenade und<br />

auch nicht mehr diesen quantitativen<br />

Bedarf. Ich freue mich heute,<br />

dass wir hier ein Stück Stadtreparatur<br />

mit dem Sitz einer renommierten<br />

Organisation verbinden. <strong>Die</strong> <strong>Diakonie</strong><br />

wird dort auch sichtbar sein und<br />

verzieht sich nicht in eine lauschige<br />

Ecke. Sie ist damit mitten in der<br />

Stadt, aber nicht im Villenviertel. <strong>Die</strong><br />

<strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong> ist damit<br />

mittendrin in einem durchmischten<br />

sozialen Umfeld. Und die <strong>Diakonie</strong><br />

nimmt sich eines Hauses an, dass<br />

dem Verfall ausgesetzt war. Da nehmen<br />

Sie eine Verantwortung wahr,<br />

die über die engere soziale Aufgabe<br />

hinausreicht und die auch das Gesunden<br />

einer Stadt im Blick hat.<br />

Wie wird sich denn dieses Viertel<br />

um die Merseburger Straße<br />

entwickeln, das ja über mehr als<br />

einhundert Jahre immer geprägt<br />

ist von Industrie- und Wohnbebauung?<br />

Wird es städtebaulich<br />

eine stärkere Anbindung an die<br />

nahe Innenstadt geben?<br />

Ja, ganz gewiss. Es gibt ein integriertes<br />

Stadtentwicklungskonzept,<br />

das hebt gerade auf diese alten Industriebrachen<br />

im Viertel ab. Stück<br />

um Stück wird hier das Gebiet entwickelt.<br />

Mitunter gibt es Probleme,<br />

weil manchmal die Eigentumsverhältnisse<br />

nicht geklärt sind. Gerade<br />

aber dieses Areal ist als Entwicklungsgebiet<br />

ausgewiesen und gehört<br />

in unserer Stadtentwicklung zu<br />

den wichtigsten Gebieten. <strong>Die</strong> <strong>Diakonie</strong><br />

<strong>Mitteldeutschland</strong> hatte hier<br />

eindeutig einen guten Blick. Was Sie<br />

in Ihrer neuen <strong>Die</strong>nststelle jetzt baulich<br />

tun, diese Verbindung von alter<br />

Architektur und neuen Elementen –<br />

das wird ein Hingucker.<br />

Frau Oberbürgermeisterin,<br />

herzlichen Dank für das Gespräch.<br />

Baum pflanzen während des Richtfestes an der<br />

neuen Geschäftsstelle, 24. Oktober 2008;<br />

links Dr. Reinhard Schunke, Ministerialdirigent<br />

im Sozialministerium im Land Sachsen-Anhalt,<br />

hinten v. l.: Bürgermeister Dr. Thomas Pohlack,<br />

OKR Eberhard Grüneberg und Dr. Heinrich<br />

Wahlen, Geschäftsführer der HWG;<br />

ganz rechts: Frank Heinze, Geschäftsführer der<br />

GP Schuppertbau


Eine Kiste mit Nieten und Blechen<br />

zum Montieren. Vom Auftraggeber<br />

angeliefert. Abholung nächste Woche.<br />

Fertig. – So läuft das in Oschersleben<br />

nahe Magdeburg schon lange<br />

nicht mehr. <strong>Die</strong> Werkstatt für behinderte<br />

Menschen des Matthias-Claudius-Hauses<br />

ist neuerdings eingebunden<br />

in einen komplexen Herstel-<br />

lungsprozess, in dem inzwischen<br />

viel wirtschaftliche Eigenverantwortung<br />

gefragt ist. „Könntet ihr nicht<br />

selbst die Lagerhaltung übernehmen?“,<br />

war die erste Frage, mit der<br />

die Auftraggeber – führende Produzenten<br />

von Schutzhelmen verschiedener<br />

Art – an die Oschersleber<br />

herantraten. Auch ein Hersteller aus<br />

der Möbelbranche fragte an, ob die<br />

<strong>Baustelle</strong> <strong>Diakonie</strong><br />

Werkstatt neben der Montage von<br />

Lattenrosten auch Lagerkapazitäten<br />

vorhalten kann. <strong>Die</strong> Lagerhalle wurde<br />

vor vier Jahren gebaut und die<br />

nächste Anfrage ließ nicht lange auf<br />

sich warten. Jetzt ist die Werkstatt<br />

des Matthias-Claudius-Hauses auch<br />

selbst zuständig für den Materialeinkauf<br />

und ist spätestens damit Partner<br />

und Teil der Geschäftsstrategie<br />

seiner Auftraggeber geworden.<br />

Doreen Trensch leitet die Werkstatt<br />

in Oschersleben, ist seit zehn Jahren<br />

dabei und sieht in der heutigen Situation<br />

einen echten Paradigmenwechsel.<br />

„Für den Kunden gibt es<br />

einerseits eine Entlastung, andererseits<br />

können wir viel besser steuern,<br />

wie die Arbeit bei uns im Haus ab-<br />

<strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong> 2007/2008 23<br />

Vom <strong>Die</strong>nstleister zum Systemlieferanten<br />

Werkstatt für Behinderte organisiert Produktion selbst<br />

läuft.“ Dafür mussten aber profes-<br />

sionellere Strukturen aufgebaut werden.<br />

Ein vernetztes Rechnersystem<br />

verbindet die Lagerhaltung mit der<br />

Produktion und der Buchhaltung.<br />

Der Einkauf von Einzelteilen erfolgt<br />

inzwischen europaweit. Ist das überhaupt<br />

noch eine Arbeit für Menschen<br />

mit Behinderungen? „Wir brauchten<br />

ja schon immer Gruppenleiter und<br />

die Einrichtung der Arbeitsplätze<br />

nach den Bedürfnissen unserer behinderten<br />

Mitarbeiter. Im Grundsatz<br />

hat sich daran nichts geändert.“, erklärt<br />

Doreen Trensch. „Doch der<br />

Wert der Tätigkeiten ist auch in der<br />

Perspektive unserer behinderten<br />

Mitarbeiter gestiegen. Es stärkt das<br />

Selbstbewusstsein zu wissen, dass<br />

man an wesentlichen Teilen der Produktherstellung<br />

mitarbeitet. Unsere<br />

Leute sind stolz darauf, das erfahren<br />

wir täglich.“<br />

330 Menschen mit Behinderungen<br />

arbeiten im Matthias-Claudius-Haus<br />

in Oschersleben, dazu gibt es etwa<br />

100 Mitarbeitende in der sozialen<br />

Begleitung und in der Verwaltung.<br />

Wie sieht die Zukunft aus auf diesem<br />

Weg der Spezialisierung? „Unser<br />

Ziel bleibt ja in erster Linie die Förderung<br />

von Menschen mit Behinderungen<br />

– bis hin zur Vermittlung in<br />

den ersten Arbeitsmarkt hinein. Das<br />

heißt für uns auch, die Modernisierung<br />

in der Werkstatt weiter voranbringen.“


24 <strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong> 2007/2008 Seitenthema <strong>Baustelle</strong> <strong>Diakonie</strong><br />

Mit intelligenter Technik gegen das Vergessen<br />

Umbau in Waltershausen ist Bundesmodellprojekt<br />

Der Kühlschrank gibt Signale an ein<br />

Handy; das Flurlicht passt sich im<br />

Farbspektrum der Tageszeit an; die<br />

Dusche spielt meditative Musik und<br />

Meeresrauschen ein; eine Matratze<br />

wiegt den müden Körper nicht nur in<br />

den Schlaf, sondern auch dessen<br />

Gewicht, um die Daten dann per<br />

Funk an den Computer zu übertragen.<br />

Was vor wenigen Jahren noch<br />

als Mischung aus technikverliebter<br />

Spinnerei und Überwachungs-Autokratie<br />

galt, ist inzwischen innovative<br />

aber selbstverständliche technische<br />

Hilfe in der Begleitung von alten und<br />

häufig altersverwirrten Menschen.<br />

Das gilt zumindest für das Diakonische<br />

Altenzentrum Sarepta in<br />

Waltershausen, das im Rahmen<br />

eines Bundesmodellprojektes zu<br />

einem „intelligenten“ Heim umgebaut<br />

wurde.<br />

„Sowohl für unsere Bewohner, als<br />

auch für die Mitarbeiter, bringt der<br />

Umbau enorme Erleichterungen.“,<br />

erklärt Heidrun Schönfeld, die Leiterin<br />

des Diakonischen Altenzentrums.<br />

„Letztlich haben wir jetzt sogar mehr<br />

Freiheiten für die desorientierten Bewohner,<br />

weil vieles im Haus sicherer<br />

geworden ist. Wir müssen nun nicht<br />

mehr jeden Schritt beobachten.“<br />

Heidrun Schönfeld reflektiert und erklärt<br />

sehr präzise, warum moderne<br />

Technologien auch in der sozialen<br />

Arbeit alles andere als menschenfeindlich<br />

sind. Noch heute geht es<br />

ihr unter die Haut, wenn sie davon<br />

erzählt, wie im Frühjahr 2006 ein an<br />

Demenz erkrankter Bewohner unbemerkt<br />

das Haus verließ. Nach Stunden<br />

der verzweifelten Suche kam<br />

ein Hubschrauber mit Wärmebildkamera<br />

zum Einsatz und der alte Mann<br />

wurde in einem Straßengraben gefunden.<br />

Seit kurzem tragen desorientierte<br />

Bewohner einen kleinen Chip an einer<br />

Halskette und über Funk-Bewegungsmelder<br />

gibt es auf dem Handy<br />

der Stationsschwester Warnsignale.<br />

So kann sie nachsehen, ob sich der<br />

Betreffende nur die Beine vertritt<br />

oder in Gefahr begibt. Eine WLAN-<br />

Rufanlage in jedem Zimmer und<br />

Brandmelder über dieses moderne<br />

Funknetz komplettieren den neuen<br />

Sicherheitsstandard. Künftig soll<br />

über das Funk-Datennetz auch die<br />

Pflegedokumentation direkt in den<br />

PC im Schwesternzimmer übertragen<br />

werden. Kurze Wege und weniger<br />

Bürokratie sind ein gewollter Effekt,<br />

der auch der eigentlichen<br />

Pflege- und Sozialarbeit zugute<br />

kommen soll.<br />

Für die Geräte in den offenen Wohnküchen<br />

gibt es mit dem „Serve@<br />

Home“-Konzept ebenfalls neue Sicherheitsfunktionen.<br />

Lässt jemand<br />

die Kühlschranktür offen, gibt es


ebenso eine Warnmeldung, wie bei<br />

einem Defekt im Geschirrspüler. Induktionskochfelder<br />

verhindern, dass<br />

sich jemand am Kochfeld verbrennt.<br />

„Das sind alles Funktionen, die man<br />

genauso auch Zuhause einbauen<br />

kann. Viele Angehörige pflegen Demenzkranke<br />

in den eigenen vier<br />

Wänden und haben vor allem mit<br />

den bis dahin unbekannten Tücken<br />

eines Alltags des Vergessens große<br />

Probleme.“ Heidrun Schönfeld beschäftigt<br />

sich seit vielen Jahren mit<br />

dem Thema Demenz und ist inzwischen<br />

eine weit über die Landesgrenzen<br />

hinaus gefragte Expertin<br />

auf diesem Gebiet. Christliche<br />

Nächstenliebe und moderne Technik,<br />

Bibel und Systemkonfiguration<br />

– für Heidrun Schönfeld nur Varianten<br />

ihrer Verantwortung als Heimleiterin<br />

in der <strong>Diakonie</strong>.<br />

Und die Gefahren der modernen<br />

Technik? Kein Klagen über Fremdbestimmung<br />

und Überwachung,<br />

entnervend piepende Geräte mit<br />

Fehlermeldungen, die kein menschliches<br />

Hirn entschlüsseln kann? „Intelligente<br />

Technik unterstützt den<br />

Menschen, passt sich den Anforderungen<br />

an und arbeitet unmerklich.“,<br />

erklärt Heidrun Schönfeld am Beispiel<br />

der Beleuchtung in Fluren und<br />

Gemeinschaftsräumen. Statt langer<br />

Flure, die vormals per Schalter nur<br />

zwischen sehr hell oder dunkel zu<br />

unterscheiden waren, schalten sich<br />

nun in einzelnen Abschnitten Lampen<br />

selbsttätig ein und aus, die sich<br />

mit ihrer Farbtemperatur dem aktuellen<br />

Tageslicht anpassen. „Das hat<br />

auch einen ökologischen Aspekt:<br />

das Sonnenlicht steuert den Bedarf.“<br />

Inzwischen gehören auch einige Bewohner<br />

zur deutschlandweit noch<br />

kleinen Gruppe der Älteren, die<br />

Computer und Internet nutzen. Ein<br />

heute 94jähriger hat bei seinem Ein-<br />

<strong>Baustelle</strong> <strong>Diakonie</strong><br />

zug zur Bedingung gemacht, dass<br />

er seinen PC mitbringen kann und<br />

auf seinem Zimmer einen Internetanschluss<br />

erhält. Dank des WLAN-<br />

Systems nun kein Problem mehr.<br />

Wer noch nicht auf seinem Zimmer<br />

surft, nutzt die „Evo Care“-Stationen<br />

in einem Gemeinschaftsraum. Unter<br />

Anleitung einer Ergo-Therapeutin<br />

können an den Computern Programme<br />

genutzt werden, die das<br />

Gedächtnis und Bewegungsabläufe<br />

trainieren. Jeder Nutzer kann auf einer<br />

Chipkarte seine individuellen<br />

Fortschritte speichern und später<br />

wieder abrufen.<br />

Ein Besuch in Japan hat der freundlichen<br />

Heimleiterin, die alle 80 Bewohner<br />

mit Namen anspricht und<br />

ohne klingelndes Handy durchs<br />

Haus geht, gezeigt, welche Möglichkeiten<br />

moderne Netzwerktechnik in<br />

der Altenpflege noch bietet. Dort<br />

kann der Gang zur Toilette nicht nur<br />

<strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong> 2007/2008 25<br />

mit dem täglichen Wiegen, sondern<br />

auch ganz nebenbei zum Beispiel<br />

mit einer Urinuntersuchung verbunden<br />

werden. Warum solche Technologien<br />

noch nicht stärker genutzt<br />

werden? „<strong>Die</strong> Industrie ist zögerlich<br />

– die Nachfrage ist noch nicht so<br />

hoch. <strong>Die</strong> Technik ist inzwischen<br />

verfügbar, doch die Systemanpassung<br />

ist derzeit noch sehr kostenintensiv.“<br />

Heidrun Schönfeld ist dankbar<br />

für die finanzielle Unterstützung<br />

durch die Bundesregierung und den<br />

Freistaat Thüringen. Dafür reist sie<br />

jetzt durch die Republik und erklärt<br />

Politikern, Ingenieuren und Pflegefachleuten,<br />

wie es sich lebt und arbeitet<br />

in einem „intelligenten“ Heim.


26 <strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong> 2007/2008 Seitenthema Neue Geschäftsstelle<br />

Der Gemeindepfarrer<br />

Gerry Wöhlmann: Kirche öffentlich machen<br />

Es mag Zufall sein oder Fügung oder<br />

einfach selbstverständlich: in der<br />

evangelischen Kirchengemeinde, zu<br />

deren Gebiet die neue Geschäftsstelle<br />

der <strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong><br />

gehört, wird soziale Arbeit groß<br />

geschrieben.<br />

Damit ist nicht nur die Kindertagesstätte<br />

im Gemeindehaus gemeint.<br />

Pfarrer Gerry Wöhlmann zählt allein<br />

fünf Alten- und Pflegeheime in seinem<br />

Pfarrbereich. „So eine Konzentration<br />

gibt es in der Stadt nicht noch<br />

einmal.“ Hinzu kommt die Bahnhofsmission,<br />

mit der die Johannesge-<br />

meinde seit Jahren gemeinsam einen<br />

Gottesdienst direkt in der Kuppelhalle<br />

des Hauptbahnhofes feiert. „Das<br />

ist Aufgabe der Kirche, sich öffentlich<br />

bekannt zu machen. Nicht, weil<br />

wir Geld oder neue Mitglieder brauchen,<br />

sondern weil das Zeugnis Jesu<br />

Christi in die Welt drängt.“<br />

Und noch etwas verbindet den <strong>Diakonie</strong>-Landesverband<br />

mit der nahen<br />

Johanneskirche: Wenn Gerry Wöhlmann<br />

die <strong>Baustelle</strong> der <strong>Diakonie</strong><br />

<strong>Mitteldeutschland</strong> in der Merseburger<br />

Straße betritt, dann trägt er noch<br />

den Staub einer anderen <strong>Baustelle</strong><br />

an den Füßen. Im Oktober 2008<br />

wurde in der Johanneskirche der<br />

Abschluss der „Kirche des Jahres“<br />

2006 / 2007 gefeiert. Damit ist aber<br />

noch längst nicht beendet, was mit<br />

dem Landestitel in Sachsen-Anhalt<br />

vor allem öffentliche Aufmerksamkeit<br />

fokussieren soll: die Rettung von<br />

in ihrer Bausubstanz bedrohten Sakralbauten.<br />

In einer Zeit, in der die „Ent-Weihung“<br />

von Kirchen kein Tabu mehr<br />

ist, durfte auch der neugotische<br />

Backsteinbau der Johanneskirche<br />

im alten Süden von Halle wenig<br />

Hoffnung auf Fortbestand hegen.<br />

Und noch vor zehn Jahren hätte niemand<br />

geglaubt, dass hier ernsthaft<br />

an einer Wiederbelebung gearbeitet<br />

werden könnte. Schließlich lag die<br />

Kirche spätestens seit 1978 in einer<br />

Art Wachkoma. Von da an diente<br />

das Gotteshaus als Lagerraum für<br />

die Materialien der kreiskirchlichen<br />

Baubrigade. Eine Betonrampe ermöglichte<br />

Lastwagen die Zufahrt in<br />

das Kirchenschiff, Strahler wurden<br />

an die Emporen geschraubt, Werkstätten<br />

eingerichtet. Der Vereinbarung<br />

zum Erhalt der Gebäudesubstanz<br />

kamen die Bauleute kaum oder<br />

gar nicht nach.<br />

1883 hatte ein Kirchbauverein mit<br />

der Grundsteinlegung für einen Sakralbau<br />

begonnen, der in dem damals<br />

schnell wachsenden Gründerzeitviertel<br />

den vielen zugezogenen<br />

Arbeitern und Angestellten eine<br />

geistliche Heimat bieten sollte. Der<br />

schlanke, hoch aufstrebende Turm


konnte nur mühsam mit den fast<br />

gleich hohen Industrieschornsteinen<br />

konkurrieren. Wohnen und Arbeiten<br />

an einem Ort hieß damals die stadtplanerische<br />

Perspektive. Noch bis<br />

kurz nach der Einweihung blieb die<br />

Johanneskirche ein Teil der innerstädtischen<br />

Ulrichsgemeinde. Zwei<br />

Jahre nach der Ausgründung gehörten<br />

mehr als 10.000 Personen,<br />

30 Jahre später mehr als 30.000<br />

Mitglieder zur Johannesgemeinde.<br />

Es waren gute Zeiten. Vor allem<br />

Bauvereine sorgten für ein schnelles<br />

Wachstum im Stadtteil. <strong>Die</strong> quadratischen<br />

Grundzüge der Gründerzeitstraßen<br />

wurden in den dreißiger<br />

Jahren aufgelöst, die Industriebetriebe<br />

wichen weiter nach Süden<br />

aus. Um die Kirche entstand eine eigenwillige<br />

Architektur, die den kleinen<br />

Platz eingrenzte. Aus der Vogelperspektive<br />

ist die Kirche der kleinere<br />

Teil eines Kreuzes, das auf einer aus<br />

geschwungenen Häuserzeilen angedeuteten<br />

Weltkugel steht.<br />

Zu DDR-Zeiten verringert sich die<br />

Zahl der Gemeindeglieder auf 1.200,<br />

die Kirche verfällt zusehends. Heiligabend<br />

1977 wird in der Kirche der<br />

vorerst letzte Gottesdienst gefeiert.<br />

Bis 1989 findet die Arbeit der drei<br />

Gemeindepfarrer für die nun etwa<br />

1.000 Christen vor allem im großzügigen<br />

Gemeindehaus statt, das ausreichend<br />

Platz bietet.<br />

<strong>Die</strong> Wende macht es möglich. 1991<br />

wird das Turmdach restauriert. 1993<br />

kann das Kirchendach zumindest<br />

repariert werden. Da hat sich der<br />

Schwamm schon im ganzen Kirchenschiff<br />

ausgebreitet. Fußboden,<br />

Bänke und die Hochzeitsstühle sind<br />

nicht mehr zu retten, Emporen, Treppen<br />

und Orgel sind schwer befallen.<br />

<strong>Die</strong> ersten provisorischen Reparaturen<br />

bringen wieder Leben in das<br />

Gotteshaus. Trauungen, Taufen und<br />

Konfirmationen gibt es seit 1995<br />

Neue Geschäftsstelle<br />

wieder in der Kirche, seit 2000 finden<br />

in der warmen Jahreszeit auch<br />

die Sonntagsgottesdienste wieder<br />

hier statt. Nach 23 Jahren feiert man<br />

auch wieder die ersten Christvespern<br />

in der Kirche – mit 1.500 Besuchern.<br />

Nach einigen Vakanzjahren<br />

lässt Gerry Wöhlmann sich 1999 auf<br />

die Herausforderung mit einer „Baukirche“<br />

ein und baut vor allem an der<br />

Gemeinde. <strong>Die</strong> wächst durch Zuzug,<br />

Taufen und Wahlgemeindeanträge<br />

kontinuierlich. Von 1.000 auf heute<br />

<strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong> 2007/2008 27<br />

1.500 Gemeindeglieder, 30 bis 40<br />

Taufen pro Jahr inbegriffen.<br />

„Unser Stadtteil wird derzeit wieder<br />

attraktiver. <strong>Die</strong> großen, lichten Innenhöfe<br />

mit den Grünflächen, die<br />

schon in den dreißiger Jahren als<br />

Gemeinschafts- und Erholungsflächen<br />

angelegt wurden, werden wieder<br />

neu genutzt. Auch die Stadt hat<br />

hier familienfreundlich investiert und<br />

wertet die Quartiere mit Spielplätzen<br />

und Grünflächen auf.“


28 <strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong> 2007/2008 Seitenthema <strong>Baustelle</strong> <strong>Diakonie</strong><br />

Wissende Eltern, gesunde Kinder<br />

In Zeitz wird ein neues Angebot aufgebaut<br />

„Kinder sind unsere Zukunft, Prävention<br />

geht vor Intervention, Kinderschänder<br />

wegsperren für immer,<br />

starke Eltern – starke Kinder.“ Keine<br />

Sonntagsrede ohne Worte rund um<br />

Kinder und Kindeswohl. <strong>Die</strong> Arbeit<br />

für Kinder und Familien findet jedoch<br />

in der Regel von Montag bis Freitag<br />

statt. So auch in der Familienberatung<br />

der <strong>Diakonie</strong> in Zeitz. Integriertes,<br />

vernetztes Handeln kennzeichnet<br />

die innovative Arbeit der<br />

wenigen Frauen und Männer, die hier<br />

Nancy Pflug<br />

hunderte von Familien begleiten. <strong>Die</strong><br />

Erziehungsberaterin Dr. Sylvia Klose<br />

ist eine von ihnen: „<strong>Die</strong> Menschen<br />

kommen mit allen Problemen zu uns<br />

und es werden immer mehr. Unsere<br />

Angebote sprechen sich herum, unsere<br />

Zusammenarbeit mit Ämtern,<br />

Einrichtungen und Ärzten funktioniert<br />

reibungslos.“ Ganz sicher werden<br />

Erziehungsberatung, Schwangerschaftskonfliktberatung,<br />

ambulante<br />

Frauenberatung, Schuldnerberatung,<br />

also Beratung in allen Lebens-<br />

Dass die Kosten für eine Erziehungsberatung<br />

lediglich ein<br />

Hundertstel eines Heimplatzes<br />

ausmachen, dürfte auch den<br />

Verantwortlichen in Naumburg<br />

und Magdeburg bekannt sein<br />

lagen entsprechend gewürdigt. Sylvia<br />

Klose lacht bitter: “Wir haben<br />

allein im abgelaufenen Jahr in 170<br />

Fällen Erziehungsberatung geleistet,<br />

der Bedarf ist doppelt so hoch. Doch<br />

Land und Landkreis glauben ihre<br />

Hausaufgaben gemacht zu haben.“<br />

Auch wenn die Weltgesundheitsorganisation<br />

zehn Fachkräfte pro<br />

2.500 Kinder- und Jugendliche<br />

empfiehlt, ist der Burgenlandkreis<br />

überzeugt, dass weniger als die<br />

Hälfte ausreicht. Darunter leidet vor<br />

allem ein Bereich, der jeden Sonntag<br />

als besonders wichtig hervorgehoben<br />

wird: „Prävention, in die<br />

Schulen gehen, im Vorfeld aufklären,<br />

im Vorfeld beraten. Das alles können<br />

wir kaum noch leisten“, bedauert die<br />

Psychologin Klose. Dass die Kosten<br />

für eine Erziehungsberatung lediglich<br />

ein Hundertstel eines Heimplatzes<br />

ausmachen, dürfte auch den<br />

Verantwortlichen in Naumburg und<br />

Magdeburg bekannt sein.<br />

Doch wer im sozialen Bereich tätig<br />

ist, muss immer auch Optimist sein.<br />

Und so soll jetzt zusätzlich die „entwicklungspsychologische<br />

Beratung<br />

von Eltern mit Babys und Kleinkindern“<br />

aufgebaut werden. <strong>Die</strong> Diplompädagogin<br />

Nancy Pflug hält dieses<br />

Angebot, dass in fünf Bundesländern<br />

bereits umgesetzt wird, für richtungsweisend:<br />

„<strong>Die</strong> entwicklungspsychologische<br />

Beratung ist ein wichtiges,<br />

niedrigschwelliges Konzept, das hilft,<br />

Verhaltensauffälligkeiten und Ent-


wicklungsstörungen zu verhindern.<br />

Wir unterstützen Eltern in Problemsituationen,<br />

das Verhalten ihrer Kinder<br />

richtig zu deuten, erklären Ursachen<br />

und helfen Bindungsschwierigkeiten<br />

zu vermeiden.“<br />

<strong>Die</strong> Beratung, wie sie Nancy Pflug<br />

beschreibt, dauert nur wenige Sitzungen:<br />

“Zentrales Element ist eine<br />

Videobeobachtung von Mutter oder<br />

Vater mit ihrem Baby, beziehungsweise<br />

Kleinkind, die wir dann gemeinsam<br />

auswerten. So können wir<br />

allen Beteiligten deutlich machen,<br />

an welchen Stellen welches Verhalten<br />

der Eltern zu welchen Reaktionen<br />

beim Kind führt oder warum<br />

sich Kinder auffällig verhalten.<br />

Grundsätzlich setzen wir da an, wo<br />

sich die Eltern richtig verhalten und<br />

‚übersetzen’ gleichzeitig das Verhalten<br />

des Kindes. Das stärkt das Wis-<br />

<strong>Baustelle</strong> <strong>Diakonie</strong><br />

sen und damit die Erziehungskompetenz<br />

der Eltern.“<br />

Um diesen wichtigen Baustein zwischen<br />

Schwangerschafts- und oder<br />

späterer Erziehungsberatung anbieten<br />

zu können, hat sich Nancy Pflug,<br />

zum Teil auf eigene Kosten, in der<br />

entwicklungspsychologischen Beratung<br />

fortbilden lassen, die in der<br />

Kinder- und Jugendpsychiatrie der<br />

Uniklinik Ulm entwickelt wurde.<br />

Theoretisch könnte sie schon im<br />

Januar mit dem Projekt beginnen.<br />

Doch Sachsen-Anhalt hängt bei der<br />

Förderung weit zurück. Während<br />

Thüringen zumindest die flächendeckende<br />

Weiterbildung gefördert hat,<br />

herrscht in Sachsen-Anhalt noch<br />

Funkstille. „Im Ministerium wurden<br />

wir wohlwollend empfangen, doch<br />

Unterstützung gibt es derzeit nicht.<br />

Wir hoffen jetzt auf eine Stellenfinan-<br />

<strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong> 2007/2008 29<br />

zierung durch den Landkreis.“ Denn<br />

die derzeitige Auslastung in der Familienberatung<br />

in Zeitz lässt keine<br />

weiteren Kapazitäten zu. Hier kann<br />

Nancy Pflug nur auf die alten Bundesländer<br />

verweisen, in denen die<br />

wichtige Beratung auch finanziert<br />

wird. <strong>Die</strong> Vorteile der Beratung liegen<br />

für Nancy Pflug auf der Hand:<br />

“Wir können den Eltern, die im Umgang<br />

mit ihrem Kind unsicher sind,<br />

die Angst nehmen. Und starke Eltern<br />

haben starke Kinder, was viele unnötige<br />

Folgekosten vermeiden hilft.“<br />

Das sagt sie an einem Freitag. Beim<br />

Landesfamilientag Sachsen-Anhalt<br />

Anfang September in Zeitz waren<br />

übrigens alle des Lobes voll für das<br />

Projekt. Das war an einem Sonntag.<br />

Krabbelgruppe in einer <strong>Diakonie</strong>-<br />

Beratungsstelle in biblischer Kombination:<br />

Adam und Eva (Frühjahr 2007)


30 <strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong> 2007/2008 Seitenthema<br />

Der Bauleiter<br />

Volker Herrmann<br />

Neue Geschäftsstelle<br />

„Eine besondere <strong>Baustelle</strong> ist das<br />

hier deshalb schon, weil es sich um<br />

ein Denkmal handelt. Hier wird ein<br />

Stück der Stadtgeschichte von Halle<br />

aufgearbeitet. Jeden Tag gibt es<br />

neue Herausforderungen, oftmals<br />

werden bis dahin versteckte Sachen<br />

gefunden, sei es eine historische<br />

Stuckdecke, eine besondere Bemalung<br />

oder auch ein Bauwerkschaden,<br />

mit dem wir nicht gerechnet<br />

hatten.<br />

Den ursprünglichen Zustand kann<br />

man nicht wieder herstellen und wir<br />

müssen der künftigen Nutzung gerecht<br />

werden. Da gibt es auch ein-<br />

ander widersprechende Vorschriften<br />

im Denkmalschutz und zum Beispiel<br />

im Brandschutz oder in anderen Sicherheitsfragen.<br />

Aber zumindest<br />

vom Ursprungscharakter des Hauses<br />

vor allem in der Außenansicht wollen<br />

wir möglichst viel erhalten.<br />

Wenn ich über die <strong>Baustelle</strong> gehe,<br />

habe ich die Pläne im Kopf und eine<br />

klare Vorstellung von dem, wie es<br />

einmal aussehen wird. Hier entsteht<br />

ein schönes Bürogebäude. <strong>Die</strong> <strong>Diakonie</strong><br />

als künftige Nutzerin weiß,<br />

was sie will und braucht. Damit erlebe<br />

ich hier im Baugeschehen eine<br />

gute Partnerschaft.“


Licht und Luft<br />

Neue Hospize in Dessau und Neustadt / Harz<br />

Farbige Fassaden, schöne Grünflächen,<br />

eine freundliche Ausstattung<br />

in lichten Zimmern – man sieht es<br />

diesen Häusern nicht an. Es sind<br />

Häuser des Sterbens, gleichwohl<br />

eines würdigen, begleiteten und<br />

nach bester Möglichkeit auch friedvollen<br />

Sterbens. Im Dezember letzten<br />

Jahres wurde das Hospiz in Dessau<br />

eröffnet, Ende 2008 wird das<br />

Hospiz in Neustadt/Harz in Nordthü-<br />

<strong>Baustelle</strong> <strong>Diakonie</strong><br />

ringen bezugsfertig sein. Baulich haben<br />

beide Häuser vieles gemeinsam.<br />

Der Außenanstrich ist farbig und<br />

freundlich, die Wege innen sind kurz,<br />

ganz bewusst unterschieden von<br />

Krankenhausfluren und jedes Zimmer<br />

verfügt über eine Terrasse. In<br />

Neustadt wird diese für einige Zimmer<br />

später nachgerüstet. Für die<br />

Gäste ist die Verbindung nach draußen<br />

sehr wichtig, weiß Schwester<br />

<strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong> 2007/2008 31<br />

Anja Schneider, Hospizleiterin in<br />

Dessau: „Wenn ein neuer Gast<br />

kommt, öffnen wir vorher weit die<br />

Türen zur Terrasse. Alle verstehen<br />

dies als Signal: ‚Ich bin hier nicht gefangen,<br />

hier ist alles offen.’ Das ist<br />

für viele das schönste Willkommen.“<br />

Auch die Situation der Pflegekräfte<br />

wurde in der Planung berücksichtigt.<br />

<strong>Die</strong> kreisförmige Anordnung der<br />

Zimmer ermöglicht kurze Wege.


32 <strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong> 2007/2008 Seitenthema <strong>Baustelle</strong> <strong>Diakonie</strong><br />

Empfang, Schwesternzimmer und<br />

Pflegeräume sind zentral angelegt<br />

und werden zum Teil vom Dach her<br />

beleuchtet. In das Haus wurde eine<br />

zentrale Sauerstoffversorgung eingebaut,<br />

die Leitung kommt aus dem<br />

benachbarten Krankenhaus der Anhaltischen<br />

Diakonissenanstalt. Viele<br />

Krebsleidende sind in den letzten<br />

Lebenswochen auf Sauerstoffversorgung<br />

angewiesen. <strong>Die</strong> ist hier<br />

völlig geräuschlos möglich.<br />

Schwester Anja zieht nach dem ersten<br />

Jahr eine durchweg positive Bilanz.<br />

Sowohl die Zusammenarbeit<br />

mit den Pflege- und Krankenkassen,<br />

also auch der Austausch mit den inzwischen<br />

sieben kooperierenden<br />

Hausärzten funktioniert sehr gut.<br />

„Hospizarbeit ist auch Öffentlichkeitsarbeit.<br />

Das Thema Tod und<br />

Sterben gehört wieder stärker in unseren<br />

Alltag hinein.“ Ergibt sich hier<br />

ein besonderer Auftrag für christliche<br />

Träger? Werden beim Thema Sterbebegleitung<br />

der Glaube und die Seelsorge<br />

zum Alleinstellungsmerkmal in<br />

der Hospizarbeit? Pfarrer Torsten<br />

Ernst, Vorstand im Hospiz-Förderverein<br />

in Neustadt, will daraus keine<br />

Missions- oder Bekenntnisfrage machen.<br />

„Vielleicht sind wir Christen<br />

aber einfach verrückt genug, so et-<br />

Aktenstudium in Dessau,<br />

rechts Schwester Anja Schneider<br />

was zu wagen. Denn mit Hospizarbeit<br />

bleibt man definitiv immer auf<br />

Spenden angewiesen.“<br />

In Dessau funktioniert die Unterstützung<br />

bereits recht gut. Häufig leisten<br />

die Gäste und deren Familien einen<br />

Spendenbeitrag. Nach gesetzlicher<br />

Regelung müssen Hospize einen Eigenanteil<br />

von zehn Prozent erbringen<br />

– sei es durch Trägeranteile oder<br />

Spenden. Das Anhalt-Hospiz ist eine<br />

Gesellschaft, die von fünf Diakonischen<br />

Einrichtungen in der Evangelischen<br />

Landeskirche Anhalts getragen<br />

wird. Zudem bestehen<br />

Kooperationen zum Beispiel mit der<br />

Paul-Gerhard-Stiftung in Wittenberg.<br />

In Dessau arbeitet man bereits mit<br />

fünf Ehrenamtlichen. Jeden Donnerstag<br />

trifft man sich in dem blauen<br />

Rundbau zum Hospiz-Cafe, ein Angebot<br />

zum Gespräch oder einfach<br />

nur zum Ausspannen für Gäste, Angehörige<br />

und Trauernde. „Das wird<br />

sehr gut angenommen. Trauernde<br />

machen zum Beispiel die Erfahrung,<br />

dass sie nach einer gewissen Zeit in<br />

der Familie kaum noch über ihren<br />

Verlust reden können. <strong>Die</strong> Leute<br />

können es einfach nicht mehr hören.<br />

Bei uns kann man reden, ohne sich<br />

schlecht dabei zu fühlen.“<br />

<strong>Die</strong> Idee, in Neustadt ein Hospiz zu<br />

gründen, geht auf Mitarbeiter im<br />

Evangelischen Krankenhaus in dem<br />

kleinen Ort im Südharz zurück.


Bereits 2002 gab es erste Überlegungen,<br />

erzählt Klinikseelsorger<br />

Torsten Ernst. Hans-Christoph<br />

Wisch, der künftige Hospizleiter im<br />

„Haus Geborgenheit“, berichtet,<br />

dass man sehr schnell auch einen<br />

Draht zur evangelischen Kirchengemeinde<br />

gefunden hat. Auch, weil<br />

man von der Gemeinde ein Grundstück<br />

brauchte, um das gesamte<br />

Bauvorhaben realisieren zu können.<br />

Inzwischen wird das Hospiz auch<br />

von katholischen Christen und von<br />

umliegenden Gemeinden unterstützt,<br />

Träger ist das <strong>Diakonie</strong>krankenhaus<br />

Harz in Elbingerode. Auf etwa 1.000<br />

Quadratmeter Fläche entstehen<br />

zwölf Einzelzimmer, zwei Gästezimmer<br />

für Angehörige, ein großes<br />

Wohnzimmer mit offener Küche und<br />

ein „Raum der Stille“. Auch hier gilt<br />

das Prinzip „Licht und Luft“. <strong>Die</strong> Arbeit<br />

in einem Hospiz ist für Torsten<br />

Ernst, der in Thüringen die Landesarbeitsgemeinschaft<br />

Hospiz leitet,<br />

<strong>Baustelle</strong> <strong>Diakonie</strong><br />

immer auch Seelsorge. „Palliativmedizin<br />

heißt Arbeit an den Symptomen,<br />

heißt Schmerzlinderung. Einzig in der<br />

seelsorgerischen Zuwendung zum<br />

Menschen kann ich hier noch ein<br />

Stück aufbauend wirken.“ <strong>Die</strong> etwas<br />

provokante Frage, ob er sich auf seine<br />

neue Aufgabe freue, beantwortet<br />

der Pflegeexperte und Sozialarbeiter<br />

Hans-Christoph Wisch prompt mit<br />

Ja: „… weil ich ein super Team an<br />

meiner Seite weiß. Hospizarbeit ist<br />

eine gelebte Idee und kein Job!“<br />

Wer als Gast in ein Hospiz kommt,<br />

muss Kriterien erfüllen und Bedingungen<br />

akzeptieren. Dazu gehört<br />

die unheilbare, fortschreitende Erkrankung<br />

und damit der medizinisch<br />

absehbare Tod. Der Kranke und seine<br />

Familie akzeptieren, dass im<br />

Hospiz auf künstliche Lebensverlängerung<br />

und Wiederbelebung verzichtet<br />

werden. Geprüft wird vorher<br />

auch, ob die häusliche Pflege und<br />

Versorgung noch zumutbar ist.<br />

<strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong> 2007/2008 33<br />

Anja Schneider: „In ein Hospiz zu<br />

gehen, ist ein ganz schwerer Schritt.<br />

Das Sterben wird hier nicht schöner,<br />

nur weil es ein schönes Haus ist.<br />

Und ein Zuhause können wir nicht<br />

ersetzen. Aber viele unserer Gäste<br />

blühen hier noch einmal auf, erleben<br />

Gemeinschaft und eine familiäre<br />

Umgebung.“<br />

Beratung auf der <strong>Baustelle</strong> in Neustadt,<br />

Hans-Christoph Wisch (links) und Torsten Ernst


34 <strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong> 2007/2008 Seitenthema<br />

Der Polier<br />

Jens Herrmann<br />

Neue Geschäftsstelle<br />

Der Polier ist der erste, der am Morgen<br />

die <strong>Baustelle</strong> betritt und der<br />

letzte, der am Abend geht. Jens<br />

Herrmann zwinkert mit den Augen<br />

und legt sein breites Lächeln auf,<br />

denn in Arbeitsstunden mag er das<br />

im Moment nicht umrechnen.<br />

Herrmann ist häufig auch der erste,<br />

der die immer wieder neuen Überraschungen<br />

auf der <strong>Baustelle</strong> in Augenschein<br />

nimmt. Wenn Handwerker<br />

Farbschichten, Gewölbe,<br />

ungewöhnliche Stuckverzierungen,<br />

Bodenpflaster oder im Fußboden<br />

versenkte Badewannen freilegen, ist<br />

Jens Herrmann immer dabei. „Das<br />

sieht man so gehäuft nicht alle Tage,<br />

das kann ich auch nach vielen Jahren<br />

auf dem Bau sagen.“ Dann müssen<br />

häufig die Arbeitsabläufe neu<br />

organisiert werden, muss nachgebessert<br />

oder anders geplant werden.<br />

„Wenn dieses Haus fertig ist, wird es<br />

toll aussehen.“, ist sich Herrmann<br />

sicher. <strong>Die</strong> <strong>Baustelle</strong> ist anspruchsvoll,<br />

doch letztlich birgt jedes Projekt<br />

seine Eigenheiten – auch Überraschungen<br />

sind auf dem Bau Routine.<br />

„Aber natürlich – man lernt niemals<br />

aus.“


„Wir bauen Menschen auf“<br />

Jugendwerkstatt Bauhof überwindet Insolvenz<br />

<strong>Die</strong> Jubiläumsfeier war schon überschattet<br />

von schweren Gewitterwolken.<br />

15 Jahre ihres Bestehens feierte<br />

die Jugendwerkstatt Bauhof im<br />

September 2007. Da war das Wort<br />

Insolvenz schon zumindest hinter<br />

vorgehaltener Hand zu vernehmen.<br />

<strong>Die</strong> Jugendwerkstatt Bauhof wurde<br />

im September 1992 in Trägerschaft<br />

des Evangelischen Kirchenkreises<br />

in Halle gegründet. Der Name sollte<br />

zum einen die lange Tradition des<br />

Reparaturbetriebes für die Franckeschen<br />

Stiftungen und die Martin-<br />

Luther-Universität aufgreifen, zum<br />

anderen wollten sich die Verantwortlichen<br />

vor allem dem neuen<br />

Phänomen der Jugendarbeitslosigkeit,<br />

der abgebrochenen Berufsausbildungen<br />

und des Lehrstellenmangels<br />

widmen. Sehr schnell wurde<br />

die Jugendwerkstatt Bauhof nicht<br />

nur zu einem Zentrum der Berufsförderung<br />

und der Integration von Asylbewerbern<br />

und Migranten, sondern<br />

auch zu einer Themenwerkstatt für<br />

die Saalestadt. Gespräche und Ausstellungen<br />

zu politischen Themen,<br />

zeitgeschichtliche Auseinandersetzungen<br />

mit dem Nationalsozialismus,<br />

der DDR-Vergangenheit und<br />

der Wende, Aktionen, Kulturangebote<br />

und Bildungsreisen prägten<br />

bald auch das städtische Leben in<br />

Halle. Der Bauhof wurde eingebunden<br />

in die von den Franckeschen<br />

Stiftungen initiierten Themenjahre<br />

<strong>Baustelle</strong> <strong>Diakonie</strong><br />

„Halle an der Saale – Antworten aus<br />

der Provinz“ und schufen in der<br />

Tischlerei die passenden Symbole,<br />

die die Antworten aus der Provinz<br />

plastisch werden ließen und manchmal<br />

auch bis ins Ausland transportierten.<br />

Das alles musste in Frage gestellt<br />

werden, als die Finanzierung, die<br />

sich vor allem auf Projekte stützte,<br />

immer häufiger in Frage gestellt oder<br />

<strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong> 2007/2008 35<br />

gar gestrichen wurde, als Gelder immer<br />

später zur Auszahlung kamen<br />

und mit der Einführung von Hartz IV<br />

nach anderen Förderregeln vergeben<br />

wurden.<br />

Immer wieder versucht der Kirchenkreis,<br />

die Bedrohung der diakonischen<br />

Einrichtung durch Zuschüsse<br />

und Darlehen abzuwenden – bis<br />

die kirchliche Finanzaufsicht Auflagen<br />

machte, da die Risiken für den


36 <strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong> 2007/2008 Seitenthema <strong>Baustelle</strong> <strong>Diakonie</strong><br />

Kirchenkreis selbst als zu groß erschienen.<br />

Am 29. November, knapp zwei Monate<br />

nach der Jubiläumsfeier, waren<br />

alle landesweiten Medien zur Pressekonferenz<br />

erschienen. So eine<br />

Meldung ist auch für Nachrichtenprofis<br />

eine Seltenheit – eine Sozialeinrichtung<br />

meldet Insolvenz an. <strong>Die</strong><br />

Tendenz in der Berichterstattung ist<br />

eindeutig: Der Bauhof soll überleben.<br />

Ein Fernsehgottesdienst des<br />

ZDF am 9. Dezember in den Franckeschen<br />

Stiftungen wird genutzt,<br />

um zu Spenden aufzurufen. <strong>Die</strong> Insolvenz<br />

wird zur Mobilmachung. Ein<br />

fünfstelliger Spendenbetrag, Unterstützungszusagen<br />

der ARGE und<br />

der Franckeschen Stiftungen, öffentliche<br />

Solidaritätsbekundungen.<br />

Anfang Februar 2008 wird das Insolvenzverfahren<br />

eröffnet. Jetzt beginnt<br />

die Suche nach konkreten wirt-<br />

schaftlichen Lösungen. <strong>Die</strong> Projekte<br />

werden weitergeführt, doch Kündigungen<br />

von Mitarbeitenden sind<br />

unvermeidlich, die Lehrlingsausbildung<br />

soll zum Lehrjahresende im<br />

Sommer auslaufen, die Tischlerei<br />

und die Malerausbildung stehen<br />

damit vor dem Ende. Ein halbes Jahr<br />

später ist wohl das schlimmste<br />

überstanden, der Insolvenzplan wird<br />

angenommen. Neuer Träger wird<br />

der <strong>Diakonie</strong>verbund Kyffhäuser<br />

(Bad Frankenhausen), die finanziellen<br />

Probleme sind vorerst überwunden.<br />

Dagmar Reinisch, neue<br />

Geschäftsführerin neben Martina<br />

Hoffmann, die seit 2005 die Geschicke<br />

des Bauhofes geleitet hatte,<br />

äußert sich zuversichtlich, auch<br />

wenn im Herbst 2008 noch nicht<br />

viel über die Zukunftspläne gesagt<br />

werden kann: „<strong>Die</strong> Jugendwerkstatt<br />

Bauhof bleibt ein Ort der Hilfe für<br />

Jugendliche und Erwachsene, ein<br />

Ort der Bildung und Wegweisung,<br />

ein Ort mit ‚Charakter’, an dem die<br />

Ideen von August Hermann Francke<br />

weiterleben.“ Unter dem Motto „Wir<br />

bauen Menschen auf“ finden sich<br />

heute unter dem Dach der Jugendwerkstatt<br />

Bauhof eine Beratungsstelle,<br />

ein Jugendmigrationsdienst,<br />

die Möbelbörse, ein Service für<br />

Landschaftsarbeiten, die Fahrradwerkstatt<br />

„Rad & Tat“, eine kleine<br />

Schlosserei und eine Holzwerkstatt.<br />

Es gibt Schulverweigererprojekte,<br />

die Arbeit mit Lernbehinderten, Berufsorientierung<br />

für Migranten und<br />

die Mitarbeit in einer Kompetenzagentur.<br />

Für die Geschäftsführung steht im<br />

Herbst 2008 die nächste Veränderung<br />

an. Martina Hoffmann wird ihre<br />

Arbeit aufgeben, um sich der Unterstützung<br />

ihrer Mutter und ihrer<br />

Schwiegermutter zu widmen. Jeweils<br />

an zehn bis 14 Tagen im Monat<br />

wird sie deshalb von Halle nach<br />

Bayern pendeln, um zwei Haushalte<br />

zu versorgen und Pflegeleistungen<br />

zu organisieren. „Ich möchte den<br />

beiden alten Damen ihren Lebensabend<br />

so gestalten, wie sie ihn sich<br />

wünschen. Das können sie nur mit<br />

meiner Hilfe.“ Martina Hoffmann fällt<br />

der Abschied nicht leicht, doch sie<br />

geht mit dem guten Gefühl, dass<br />

die Jugendwerkstatt Bauhof kein<br />

Pflegefall mehr ist.<br />

oben links: BILD am 30. November 2007<br />

August 2008: Freude über den gelungenen<br />

Übergang. V. l. Horst Koth (Elbingerode, neu<br />

im Aufsichtsrat), Dagmar Reinisch, Superintendent<br />

Eugen Manser, Martina Hoffmann,<br />

Prof. Reinhard Turre (ehem. Vors. Aufsichtsrat),<br />

Norbert Otte (Geschäftsführer <strong>Diakonie</strong>verbund<br />

Kyffhäuser) und Dr. Lucas Flöther<br />

(Insolvenzverwalter).


Der Architekt<br />

Matthias Prinich<br />

Umbau und Sanierung kosten 3,5 bis 4 Millionen<br />

Euro, die von der Stadt Halle, dem Land<br />

Sachsen-Anhalt und aus Bundesmitteln finanziert<br />

werden. <strong>Die</strong> <strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong><br />

kauft die sanierten Gebäude zum Festpreis von<br />

knapp 1,4 Millionen Euro von der Eigentümerin,<br />

der Halleschen Wohungsgesellschaft (HWG).<br />

Neue Geschäftsstelle<br />

„Das ist ein wichtiges kulturhistorisches<br />

Zeugnis der regionalen Industriegeschichte.“,<br />

erklärt Matthias<br />

Prinich mit Bestimmtheit. Der Architekt<br />

hat die Planungen für den Umbau<br />

in der Merseburger Straße 44<br />

angefertigt und ist auch während<br />

des Baugeschehens im ständigen<br />

Austausch zwischen Generalunternehmer,<br />

Auftraggeber und der <strong>Diakonie</strong><br />

<strong>Mitteldeutschland</strong> als künftige<br />

Nutzerin. <strong>Die</strong> Verständigung zwischen<br />

den verschiedenen Projektpartnern<br />

bedeutet viel Zeiteinsatz<br />

und manchmal auch Geduld. Kaum<br />

ein Tag vergeht, an dem Matthias<br />

Prinich nicht in Sachen Sanierung<br />

<strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong> 2007/2008 37<br />

der Fabrikantenvilla und des Zeichensaales<br />

unterwegs ist. „Um ein<br />

Denkmal als Verwaltungsgebäude<br />

nutzen zu können, braucht es auch<br />

moderne Elemente. Das ist hier die<br />

besondere Herausforderung.“ Vor<br />

allem das Atrium, der verglaste Eingangsbereich,<br />

der drei Geschosse<br />

offen miteinander verbindet, gibt<br />

dem Haus ein ganz neues Gepräge.<br />

Für Prinich bedeutet so ein Umbau,<br />

dass im Erscheinungsbild auch Inhalte<br />

transportiert werden – maßgeschneidert<br />

für die künftige Nutzung.<br />

Deshalb sind auch in der Farbgestaltung<br />

des Hauses die <strong>Diakonie</strong>farben<br />

berücksichtigt.


38 <strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong> 2007/2008 Seitenthema<br />

Jahresabschlüsse<br />

2006 und 2007<br />

in Tausend Euro<br />

Erträge<br />

Aufwendungen<br />

Aktiva<br />

Anlagevermögen<br />

Umlaufvermögen<br />

Summe<br />

Passiva<br />

Eigenkapital<br />

Sonderposten<br />

Rückstellungen<br />

Verbindlichkeiten<br />

Summe<br />

2006 2007<br />

13.926<br />

14.112<br />

16.564<br />

13.883<br />

30.447<br />

17.508<br />

2.831<br />

1.866<br />

8.242<br />

30.447<br />

(aus Prüfungsbericht, verbehaltlich<br />

Beschlussfassung durch Mitgliederversammlung<br />

am 30. Oktober 2008)<br />

13.623<br />

14.317<br />

14.096<br />

14.344<br />

28.440<br />

16.823<br />

1.623<br />

1.809<br />

8.185<br />

28.440


<strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong> 2007/2008 39<br />

Herzlichen Dank an das Stadtarchiv<br />

Halle für die freundliche und<br />

umfangreiche Unterstützung<br />

bei den Recherchen!<br />

Impressum<br />

Herausgeber<br />

Diakonisches Werk<br />

Evangelischer Kirchen in<br />

<strong>Mitteldeutschland</strong> e. V.,<br />

Der Vorstand<br />

Redaktion / Layout<br />

Frieder Weigmann (V.i.s.d.P.)<br />

Heike Meinhardt<br />

Texte<br />

Christian Stadali (S. 28)<br />

Frieder Weigmann (wenn<br />

nicht anders gezeichnet)<br />

Fotos / Bildnachweis<br />

Franck. Stiftungen (S. 36)<br />

Ralf Lehmann (S. 20, 22, 37)<br />

Thomas Meinicke (S. 26)<br />

mz-web.de/luftbilder (S. 27)<br />

Anja Schneider (S. 31, 32)<br />

Christian Stadali (S. 28)<br />

Stadtarchiv Halle (S. 13, 14)<br />

Doreen Trensch (S. 23)<br />

Frieder Weigmann<br />

Druck<br />

impress Druckerei, Halle<br />

Erscheinungsdatum<br />

30. Oktober 2008


40 <strong>Diakonie</strong> <strong>Mitteldeutschland</strong> 2007/2008 Seitenthema<br />

Diakonisches Werk<br />

Evangelischer Kirchen in<br />

<strong>Mitteldeutschland</strong> e. V.<br />

info@diakonie-ekm.de<br />

www.diakonie-mitteldeutschland.de

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