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Centralia - kontext - Gesellschaft zur Förderung junger Journalisten

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Thorsten Arendt /<br />

Marc-Stefan Andres<br />

<strong>Centralia</strong><br />

„Das Feuer ist da oben<br />

und wir sind hier unten.“<br />

Kurz und knapp handelt<br />

John Lokitis den Anblick<br />

des Hügels hinter<br />

seinem Haus an der<br />

108 West Park Street ab.<br />

An der 108 West Park Street<br />

wohnt John Lokitis. 50 Meter<br />

hinter seinem Haus qualmt<br />

der Boden. Seine Nachbarn<br />

sind längst weggezogen.<br />

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nicht, dass ich nicht gern mehr Leute hier hätte“, nun lacht er, „aber<br />

es sollten nicht so viele sein wie früher.“<br />

Das erste Angebot, den Brandherd für 175 Dollar auszugraben,<br />

lehnen die Stadtverantwortlichen 1962 ab, wegen Beratungsbedarfs.<br />

Das Minenfeuer breitet sich rasch aus, in den mäandrierenden Luftschächten,<br />

Versorgungstunneln, aufgegebenen Stollen. Es bricht<br />

durch die Oberfl äche, bis zu 540 Grad Celsius heiß. Bis 1978 gibt<br />

Pennsylvanias Regierung 3,3 Millionen Dollar aus, um das Feuer zu<br />

kontrollieren. Die Behörden errichten unterirdische, nicht brennbare<br />

Barrieren, pumpen Flugasche und Sand in den Boden, mehrere tausend<br />

Lastwagenladungen versuchen das Feuer durch einen Wall<br />

aus Lehm aufzuhalten. Ohne Erfolg. 1983 schätzt eine unabhängige<br />

Beratungsfi rma, dass das Löschen der Glut mindestens 663 Millionen<br />

Dollar kosten würde. Stattdessen stellt der US-Kongress kurze Zeit<br />

später 42 Millionen Dollar für die Umsiedlung der Bewohner bereit.<br />

Die meisten Menschen verlassen <strong>Centralia</strong>.<br />

„Sie wollen, dass wir alle gehen“, raunt Lamar Mervine, der ehrenamtliche<br />

Bürgermeister <strong>Centralia</strong>s. Er ist 86 Jahre alt, verwaltet die<br />

Belange der 20 Einwohner, der jüngste ist 19. Lamars faltenreiches<br />

Gesicht ist braun gebrannt, der ehemalige Minenarbeiter ist schlank,<br />

fast schon dürr. „Hier ist unser Zuhause“, fl üstert er, kaum zu verstehen,<br />

lauter dann, überzeugt, mit rollendem irischen Akzent, „und wir<br />

sind nicht in Gefahr.“ Er lebt seit seiner Geburt in <strong>Centralia</strong>, 40 Jahre<br />

mit der Bedrohung. Lamar sitzt auf der Veranda, allein, seine Frau<br />

Lanna ist im Haus. „Sie hätten das Feuer löschen können, damals“,<br />

sagt er, „sie waren immer einen Tag zu spät oder hatten einen Dollar<br />

zu wenig.“ Einmal war es fast soweit, „dann kam der Labor Day dazwischen,<br />

fünf Tage frei, und das Feuer war schon wieder weiter“.<br />

Oberhalb der Häuser Mervines und seiner Nachbarn, den Moyers,<br />

Hynoskis und Womers, im Südosten, erstreckt sich der einzige Bereich,<br />

in dem im Stadtgebiet Spuren des Minenfeuers zu sehen sind. An<br />

sonnigen Tagen wirkt das hügelige Gelände wenig bedrohlich, man<br />

gewöhnt sich an den Anblick der unwirtlichen Gegend. Ungemütlicher,<br />

sogar ein bisschen unheimlich ist es bei feuchtem Wetter.<br />

Der Boden ist modrig, weich, sackt bei jedem Schritt ein wenig ein.<br />

Wenn der Regen auf die warme Erde fällt, die an manchen Stellen<br />

so heiß ist, dass man sie nicht länger als einige Sekunden berühren<br />

kann, entwickelt sich Dampf. Weiß-gräulich qualmt es zwischen<br />

den alten Flaschen, verkohlten Holzstücken, Steinbrocken, Autoreifen,<br />

Waschmaschinen. Das Gebiet, 50 Meter vom nächsten Haus<br />

entfernt, nutzen manche als Müllkippe. Der Geruch von Schwefel,<br />

faulen Eiern, nassem Holz, Lösungsmitteln liegt in jedem Lufthauch.<br />

Vor über 20 Jahren riss zum ersten Mal der Asphalt der Route 61 – fast<br />

ebenso lange ist die Straße gesperrt.<br />

Die Überreste der noch nicht umgestürzten Ahornbäume sind weiß,<br />

wie vor Schreck erstarrt. Zwischen ihnen ragen Birken hervor, nackt,<br />

die Rinde abgeschält.<br />

„Das Feuer ist da oben und wir sind hier unten.“ Kurz und knapp<br />

handelt John Lokitis den Anblick des Hügels hinter seinem Haus an<br />

der 108 West Park Street ab. Der 32-Jährige arbeitet bei der Polizei<br />

in Harrisburg, fährt jeden Tag 100 Kilometer <strong>zur</strong> Arbeit, 100 <strong>zur</strong>ück.<br />

An einer Wand in seinem dunklen Wohnzimmer hängen zwei große<br />

ovale Rahmen, Fotos der Eltern seines Großvaters, mit dem er bis zu<br />

dessen Tod im vergangenen Jahr zusammenlebte. Die Einwanderer<br />

aus Litauen, die Anfang des 20. Jahrhunderts nach <strong>Centralia</strong> kamen,<br />

blicken stolz in die Kamera. John ist hier geboren, seine Eltern wohnen<br />

am anderen Ende der Straße. Er ist höfl ich, wirkt schüchtern, wie<br />

ein großer Junge mit muskulösen Oberarmen. Ein großer Junge, der<br />

stolz auf seine Stadt ist.<br />

Sein Heim ist ein Reihenhaus, das linke in einer Dreierkombination.<br />

In den Nachbarhäusern, Nummern 110 und 112, stehen Blumen<br />

auf der Fensterbank, eine Marienstatue, zwei Vasen, eine Schale mit<br />

künstlichen Früchten. John hat sie hingestellt, „damit es belebter<br />

aussieht“, denn seine Nachbarn sind längst weggezogen. Im Garten<br />

baut er Gemüse an. „Das Feuer ist defi nitiv nicht unter uns“, sagt er,<br />

„sonst würden die Pfl anzen als Erste sterben.“ Aus seinem Wohnzimmerfenster<br />

blickt er auf eine akkurat gemähte Wiese, dort stand<br />

einmal die St. Ignatius-Schule, ein dreistöckiges Gebäude. Nebenan<br />

erhob sich das Haus der American Legion, Posten 608, Anlaufstelle<br />

Thorsten Arendt /<br />

Marc-Stefan Andres<br />

<strong>Centralia</strong><br />

Die Touristen kommen seit<br />

Jahren in die Stadt. Obwohl der<br />

Staat wegen der Dämpfe und<br />

der Einbruchsgefahr davor warnt,<br />

gehen sie bis auf die qualmenden<br />

Hügel.<br />

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