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Centralia - kontext - Gesellschaft zur Förderung junger Journalisten

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Thorsten Arendt /<br />

Marc-Stefan Andres<br />

<strong>Centralia</strong><br />

erste Riss im Asphalt, wenig später schließt die<br />

Regierung die Straße. Heute warnt ein großes<br />

gelbes Schild – vor gefährlichen Gasen und plötzlich<br />

einbrechendem Boden. In dem gesperrten<br />

Interstate sind gewaltige Risse, die sich fein geädert<br />

über 50, 60 Meter ziehen. Wieder einmal<br />

fi ndet eine Studie heraus, dass sich das Feuer<br />

weiter ausgebreitet hat als erwartet. Das Papier<br />

nennt den Preis, der für die Rettung <strong>Centralia</strong>s<br />

zu zahlen ist: 663 Millionen Dollar würde ein<br />

Graben kosten, der das Minenfeuer eindämmen<br />

könnte. Selbst wenn das Geld vorhanden<br />

„Sie wollen, dass wir alle<br />

gehen“, raunt Lamar Mervine,<br />

der ehrenamtliche Bürgermeister<br />

<strong>Centralia</strong>s. Er ist<br />

86 Jahre alt, verwaltet die<br />

Belange der 20 Einwohner,<br />

der jüngste ist 19.<br />

: Für Lamar ist es klar:<br />

„Der einzige Grund, warum<br />

wir gehen sollen, ist die<br />

Kohle unter der Stadt.“<br />

14<br />

Lamar Mervine ist der ehrenamtliche Bürgermeister<br />

<strong>Centralia</strong>s. Der 86-Jährige war früher<br />

selbst Minenarbeiter, er hat keine Angst<br />

vor dem Feuer.<br />

wäre, ist der Erfolg nicht garantiert. Schlimmer noch als die<br />

unvorstellbare Summe sind andere Zahlen: 150 Meter tief,<br />

200 Meter breit und 1300 Meter lang sollte die riesige Kluft<br />

mitten durch die Stadt sein. 1963 hätte eine weitaus kleinere<br />

Grube noch 277000 Dollar gekostet.<br />

Die Regierung schlägt vor, die Menschen umzusiedeln. Am<br />

11. August 1983 entscheiden sich die Bewohner von <strong>Centralia</strong><br />

mit 345 zu 200 Stimmen für den Verkauf ihrer Häuser. Und<br />

nun passiert etwas, worauf sie Jahrzehnte gewartet haben.<br />

Der Staat regt sich. Ende September setzen die Behörden<br />

die Gesamtsumme von 42 Millionen Dollar fest. Kurz darauf<br />

bewilligt der US-Kongress das Geld. Die Umsiedlung ist freiwillig.<br />

Arbeiter markieren die Türen der verlassenen Häuser<br />

mit roter Farbe, als Erkennungsmerkmal für die Abbruchtruppen.<br />

Ende 1984, kurz vor Weihnachten, rücken die Bulldozer<br />

an. Übrig bleiben Schlamm, Holz und Nägel. „Ich weiß<br />

nicht, wie oft ich einen Platten hatte, damals“, sagt John<br />

Cormanitsky. Er versteht, warum so viele gegangen sind. „Es<br />

war eine Menge Geld, und keiner wusste, was aus dem Ort<br />

wird.“ 1991 sind 545 Gebäude verlassen, nur noch etwa 50<br />

Häuser sind bewohnt. Im Januar 1992 lässt die Regierung<br />

per Gerichtsurteil die übrig gebliebenen Besitzer enteignen,<br />

diese legen Widerspruch ein. Das County Gericht, der State<br />

Supreme Court und schließlich auch der U.S. Supreme Court<br />

entscheiden gegen <strong>Centralia</strong>. Die Häuser und Grundstücke<br />

gehören nun dem Staat. Warum die Regierung die Bewohner seitdem<br />

nicht einfach vertrieben hat? „Die Politiker wollen keine Aufmerksamkeit<br />

für das Thema“, sagt John Lokitis, „obwohl wir im Grunde<br />

ja Hausbesetzer sind. Aber man kann in Pennsylvania nicht einfach<br />

einen älteren Mann wie Lamar aus seinem Haus verjagen, das wäre<br />

schlecht für das öffentliche Bild“. Und das zählt, glaubt er, mehr als<br />

alles andere.<br />

Das Geld, es ist schuld am Untergang der Stadt, da sind sich John,<br />

Lamar und John einig. Das Geld, das die Regierung zunächst nicht<br />

in das Löschen des Feuers stecken will oder kann. Die 42 Millionen<br />

Dollar, mit denen die Behörden die Umsiedlung der Menschen bezahlen.<br />

Auch aus Gebieten, wo das Feuer niemals hingelangt wäre. Vor<br />

allem die Kirchen hätte man nicht abreißen müssen, sagt Lamar, der<br />

jeden Sonntag zum Gottesdienst ins benachbarte Mt. Carmel fährt.<br />

„Die Minenarbeiter haben sie damals auf soliden Fels gebaut, damit<br />

sie nicht einstürzen, wenn unter ihnen eine Mine abgebaut wurde.<br />

Die wussten, was sie tun.“<br />

<strong>Centralia</strong> hat das Gerippe einer typischen Kleinstadt in den USA.<br />

Rechtwinklig sind die breiten Straßen angelegt. Aber die Menschen<br />

fehlen und die Häuser. Zehn, zwölf stehen noch, wie das von Lamar,<br />

schmal, weiß, verletzlich, ohne seine stützenden Nachbarn. Die Straßen<br />

gehen ins Leere, gesäumt von Schutthaufen, aus denen teilweise<br />

der alte Gehweg aus roten Ziegeln hervorblitzt. Kurze geteerte<br />

Stücke, die ehemaligen Hauszugänge und Garageneinfahrten, führen<br />

auf leere Wiesen. Auf einer weich abfallenden Wiese stoßen einige<br />

Metallröhren aus dem Boden, Überreste von Schaukeln und Wippen.<br />

„Stadtpark“ nennt John Lokitis die Fläche. Die Flutlichtmasten der<br />

beiden Basketballfelder recken sich in die Höhe, einige blau gestrichene<br />

Bänke, im Schatten von Kiefern, deren Zapfen auf dem Boden<br />

liegen. „Hier habe ich früher gespielt“, sagt John, und er wirkt traurig.<br />

Auch die gemalten Linien der Plätze sind noch zu erkennen. Überall<br />

ist Unkraut, dort, wo Kanten und Dehnungsfugen im Teer sind. Einen<br />

halben Meter schießt es in die Höhe.<br />

Der letzte Laden <strong>Centralia</strong>s, ein Motorradshop, der „Speed Spot“,<br />

schließt vor zwei Jahren. Der langgezogene Bau, verkleidet mit grauer<br />

Dachpappe, steht immer noch. Ein Schild hängt neben der Tür, „Use<br />

door at soda machine“, aber der Getränkeautomat ist weg, die Tür<br />

ebenso mit Tischlerplatten verrammelt wie alle anderen Eingänge<br />

und Fenster. „Uns macht ein bisschen misstrauisch, dass sie das<br />

Haus nicht abreißen“, sagt John Lokitis. „Vielleicht warten sie, bis<br />

sie alles in einem Abwasch machen können“, spekuliert er. Er denkt<br />

Thorsten Arendt /<br />

Marc-Stefan Andres<br />

<strong>Centralia</strong><br />

Der Basketballkorb ist weg,<br />

die Linien des Platzes sind aber<br />

noch zu erkennen. Der ehemalige<br />

Stadtpark ist einer von<br />

vielen Orten in der Stadt, die an<br />

das Leben in <strong>Centralia</strong> erinnern.<br />

Nur noch die Gartenmauer<br />

steht vom American Legion,<br />

Posten 608. Die amerikanischen<br />

Veteranen aller Kriege<br />

gingen hier ein und aus. John<br />

Lokitis mäht den Rasen, pfl egt<br />

die Erinnerung.<br />

15

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