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2010 – das Jahr der Inklusion - Die Gesellschafter

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März <strong>2010</strong> / Nummer 19 EINE INITIATIVE DER<br />

JUGENDPRESSE<br />

SynagogenbeSuch<br />

Begegnungen, die<br />

Vertrauen schaffen<br />

REPoRtAGE<br />

Seite 3<br />

Suizidgefahr<br />

Jugendliche helfen<br />

teenagern in Not<br />

SchwERPUNkt<br />

arbeit<br />

Reformen, Jobs und<br />

<strong>der</strong> Streit ums Geld<br />

PRoJEktE<br />

Seiten 8<strong>–</strong>22<br />

barrierefreiheit<br />

<strong>Die</strong> Stadt kiel räumt<br />

hin<strong>der</strong>nisse weg<br />

INtERVIEw<br />

Seiten 6<strong>–</strong>7<br />

Seite 23<br />

rudi Völler<br />

Im Alltag nicht<br />

mehr wegsehen<br />

Seite 28<br />

<strong>2010</strong> <strong>–</strong> <strong>das</strong> <strong>Jahr</strong> <strong>der</strong> <strong>Inklusion</strong><br />

Ein vor einem <strong>Jahr</strong> fast unbekannter Begriff beginnt, die Gesellschaft zu verän<strong>der</strong>n<br />

Vor einem <strong>Jahr</strong> lud die<br />

Stadt Nor<strong>der</strong>stedt zu einer<br />

Infoveranstaltung zur Frage<br />

„<strong>Inklusion</strong> <strong>–</strong> was ist <strong>das</strong>?“<br />

ein. Heute reichen Google<br />

0,13 Sekunden, um 311.000<br />

Treffer zum Begriff <strong>Inklusion</strong><br />

aufzulisten. Und in ein<br />

paar <strong>Jahr</strong>en? Dann könnte<br />

die Debatte um <strong>Inklusion</strong><br />

unsere Gesellschaft bereits<br />

nachhaltig verän<strong>der</strong>t haben<br />

<strong>–</strong> von <strong>der</strong> Arbeitswelt<br />

über unsere Schulen bis<br />

zum Leben in Städten und<br />

Gemeinden.<br />

<strong>Inklusion</strong> bedeutet, <strong>das</strong>s zum<br />

Beispiel Menschen mit Behin<strong>der</strong>ungen<br />

ein Recht auf<br />

Teilhabe in allen Lebensbereichen<br />

haben. Sie sollen nicht<br />

mehr nur als „die An<strong>der</strong>en“<br />

in die „normale Gesellschaft“<br />

integriert werden. <strong>Inklusion</strong>,<br />

<strong>das</strong> heißt Unterschiedlichkeiten<br />

als Normalität und Teil<br />

<strong>der</strong> menschlichen Vielfalt zu<br />

begreifen.<br />

Impulsgeber<br />

neuen Denkens<br />

Als eine <strong>der</strong> ersten Organisationen<br />

in Deutschland hat sich<br />

die Aktion Mensch auf den<br />

Weg <strong>der</strong> <strong>Inklusion</strong> gemacht.<br />

Am 1. März ist es zehn <strong>Jahr</strong>e<br />

her, <strong>das</strong>s sie ihren Namen<br />

geän<strong>der</strong>t hat <strong>–</strong> aus „Aktion<br />

Sorgenkind“ wurde „Aktion<br />

Mensch“. Der Schritt war <strong>das</strong><br />

Ergebnis eines langen Ringens<br />

um die Stellung von Menschen<br />

mit Behin<strong>der</strong>ungen in <strong>der</strong><br />

Gesellschaft. Den Menschen<br />

zu sehen, nicht <strong>das</strong> „Sorgenkind“,<br />

war ein erster Schritt<br />

weg von <strong>der</strong> Ausgrenzung<br />

hin zur Einbeziehung aller.<br />

Deshalb versteht sich die Aktion<br />

Mensch heute auch als<br />

Impulsgeber für eine Position,<br />

die Anfang 2009 von <strong>der</strong><br />

neuer auftritt: aktion-menSch.de<br />

<strong>Die</strong> Aktion Mensch zeigt<br />

jetzt ein an<strong>der</strong>es Gesicht<br />

<strong>–</strong> zumindest online: Denn ab<br />

sofort steht allen Interessierten<br />

<strong>das</strong> neue Internetportal<br />

zur Verfügung. Abgebildet<br />

sind die drei Säulen <strong>der</strong><br />

Aktion Mensch: „Spielen<br />

und gewinnen“, „För<strong>der</strong>n<br />

und verän<strong>der</strong>n“ sowie „Engagieren<br />

und Diskutieren“.<br />

Jedes Element lässt sich per<br />

Mausklick öffnen und nutzen.<br />

Den Besucher erwarten<br />

neue, aber auch bekannte<br />

Menschen mit Behin<strong>der</strong>ung gehören selbstverständlich dazu.<br />

Inhalte. Dokumentiert<br />

werden etwa Projekte, die<br />

<strong>das</strong> Leben von Menschen<br />

mit Behin<strong>der</strong>ungen o<strong>der</strong><br />

sozialen Schwierigkeiten<br />

verbessern; jeden Monat<br />

werden rund 500 geför<strong>der</strong>t.<br />

<strong>Die</strong> Basis dafür legen die<br />

Lotterieteilnehmer mit ihrem<br />

finanziellen Einsatz.<br />

Sie ermöglichen eine Kultur<br />

des Weitergebens, die auf<br />

klare Prinzipien und flexible<br />

und verlässliche Programme<br />

setzt.<br />

deutschen Politik mit <strong>der</strong> Ratifizierung<br />

<strong>der</strong> UN-Behin<strong>der</strong>tenrechtskonvention<br />

offiziell<br />

bestätigt wurde. <strong>Die</strong> Konvention<br />

schreibt unter an<strong>der</strong>em<br />

<strong>das</strong> Recht auf gemeinsame<br />

Bildung und Erziehung sowie<br />

auf Gesundheit, Rehabilitation<br />

und Arbeit fest. <strong>Die</strong> Aktion<br />

Mensch unterstützt Projekte,<br />

die konkret zeigen, wie <strong>Inklusion</strong><br />

in diesem Sinn ganz<br />

praktisch gelingen kann.<br />

Um <strong>Inklusion</strong> geht es auch<br />

am 5. Mai, dem Europäischen<br />

Protesttag zur Gleichstellung<br />

von Menschen mit Behin<strong>der</strong>ung.<br />

Unter dem Motto „<strong>Inklusion</strong><br />

<strong>–</strong> dabei sein. Von Anfang<br />

an.“ werden wie<strong>der</strong> rund<br />

100.000 Menschen mit und<br />

ohne Behin<strong>der</strong>ung zwischen<br />

Flensburg und Oberammergau<br />

auf die Straße gehen und<br />

ihren Mitbürgern den Nutzen<br />

ihrer Projekte vorstellen.<br />

Denn von <strong>Inklusion</strong> profitiert<br />

letztlich die gesamte Gesellschaft.<br />

Wer erst gar nicht<br />

ausgeson<strong>der</strong>t wird, muss später<br />

nicht (kostspielig) wie<strong>der</strong><br />

integriert werden.<br />

Weniger an die kommunale<br />

Ebene als an die große Politik<br />

<strong>–</strong> kostenlos <strong>–</strong><br />

wendet sich im Juni <strong>der</strong> 15.<br />

Weltkongress von Inclusion<br />

International. Mehr als Tausend<br />

Menschen mit und ohne<br />

geistige Behin<strong>der</strong>ung, Experten<br />

und Engagierte werden<br />

in Berlin vier Tage lang über<br />

die Chancen diskutieren, die<br />

<strong>Inklusion</strong> den Staaten <strong>der</strong><br />

Welt bietet. Workshops wie<br />

„Selbstständig in <strong>der</strong> Gemeinde<br />

leben“, „Arbeit für<br />

alle“ o<strong>der</strong> „Aktiv werden<br />

für mehr inklusive Bildung“<br />

werden zeigen, <strong>das</strong>s <strong>Inklusion</strong><br />

kein einseitiger Prozess ist.<br />

<strong>Die</strong> Menschen, die inkludiert<br />

werden, verän<strong>der</strong>n und bereichern<br />

die Gesellschaft <strong>–</strong> durch<br />

ihre Erfahrungen, ihre Bedürfnisse<br />

und <strong>–</strong> nicht zuletzt<br />

<strong>–</strong> ihre normale Unterschiedlichkeit.<br />

Und wenn dann in<br />

ein paar <strong>Jahr</strong>en ein Schüler<br />

einer normalen Schule, wie<br />

kürzlich in <strong>der</strong> Frankfurter<br />

Rundschau, bekennt: „Was ist<br />

<strong>Inklusion</strong>? Keine Ahnung“, ist<br />

<strong>das</strong> völlig in Ordnung <strong>–</strong> denn<br />

dann drücken dort Schüler<br />

mit und ohne Behin<strong>der</strong>ung<br />

hoffentlich längst gemeinsam<br />

die Schulbank.<br />

Christian Schmitz


2 März <strong>2010</strong><br />

gloSSe<br />

Hartsi o<strong>der</strong> Freddy Quinn<br />

Von Günter Gleim<br />

Über die Höhe von Hartz<br />

IV wird seit langem diskutiert.<br />

Seit einigen Wochen<br />

nun auch über den Namen.<br />

Empfänger dieser Sozialleistung<br />

fühlen sich diskriminiert,<br />

weil <strong>der</strong> Namensgeber<br />

Peter Hartz mittlerweile<br />

wegen Untreue und<br />

Vorteilsnahme verurteilt<br />

und vorbestraft ist.<br />

Unser Autor Günter Gleim<br />

spielt in seiner Glosse<br />

Möglichkeiten durch, die<br />

zu einem neuen Namen<br />

führen könnten.<br />

Hartz IV muss weg. Jedenfalls<br />

<strong>der</strong> Name. CDU-Vize<br />

Jürgen Rüttgers sagt, solche<br />

Umbenennungen seien gang<br />

und gäbe: So hieße zum Beispiel<br />

Udo Jürgens früher Udo<br />

Jürgen Bockelmann. Es sei<br />

also einfach <strong>der</strong> letzte<br />

Namensteil entfernt<br />

und an den<br />

verbleibenden,<br />

nun letzten<br />

Namensteil<br />

ein „s“ angehängtworden.<br />

Bei einer<br />

ähnliche Vorg<br />

e h e n s w e i -<br />

se würde aus<br />

Hartz IV „Hartz<br />

Is“. Allerdings wolle<br />

Rüttgers damit nur<br />

zeigen, <strong>das</strong>s Namensän<strong>der</strong>ungen<br />

etwas ganz Normales<br />

seien. Im konkreten Fall wäre<br />

die Ähnlichkeit von „Hartz Is“<br />

mit dem ursprünglichen Namen<br />

noch zu groß.<br />

Claudia Roth von den Grünen<br />

for<strong>der</strong>t einen Doppelnamen<br />

mit Bindestrich, wobei<br />

die Reihenfolge keine Rolle<br />

spiele. „Hartz-VIII“ o<strong>der</strong> „VI-<br />

II-Hartz“. Jürgen Rüttgers<br />

ließ über seinen Pressesprecher<br />

mitteilen, <strong>das</strong>s er<br />

diese Vorschlag für „blanken<br />

Unsinn“ halte. Eine Verdoppelung,<br />

wie sie die Grünen<br />

vorschlagen, müsste streng<br />

genommen zu „Hartz-Hartz-<br />

VIII“ führen. Mit solchen<br />

Namensmonster habe man<br />

keine guten Erfahrungen<br />

gemacht, wie an <strong>der</strong> Glaubensschwester<br />

Oda-Gebbine<br />

Hölze-Stäblein zu sehen sei.<br />

Für die Sozialdemokraten<br />

empfahl Wolfgang Thierse,<br />

den Namen Hartz IV mit<br />

altbekannten und neutralen<br />

Verfremdungstechniken zu<br />

verän<strong>der</strong>n. Als Anagramm,<br />

dem Vertauschen von Buchstaben,<br />

entstünde zum Beispiel<br />

„Thzar VI“. O<strong>der</strong> als<br />

Ananym (rückwärts) „VI<br />

Ztrah“. Gegen den Vorschlag<br />

<strong>der</strong> Grünen merkte Thierse<br />

an, <strong>das</strong>s man die Version<br />

„Hartz VIII“ bei schlampiger<br />

Aussprache auch als „Hab´<br />

Acht“ verstehen könnte, was<br />

einen militärischen Ton in<br />

die staatliche Unterstützung<br />

bringen könnte.<br />

Der Parteivorsitzende <strong>der</strong><br />

FDP, Außenminister Westerwelle,<br />

empfiehlt, <strong>das</strong> Wort<br />

Hartz doch einfach in eine an<strong>der</strong>e<br />

Sprache zu übersetzen.<br />

So könnte Deutschland<br />

seine Weltoffenheit<br />

dokumentieren,<br />

zumal ja auch<br />

Bürger aus<br />

an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>n<br />

Hartz<br />

IV bezögen.<br />

Er wisse zwar<br />

nicht, ob auch<br />

Finnen mit<br />

L e i s t u n g e n<br />

nach Hartz IV<br />

unterstützt würden.<br />

Aber <strong>das</strong> finnische<br />

Wort „hartsi“ klänge doch<br />

ganz gut. Für Jürgen Rüttgers<br />

ist <strong>der</strong> Erkennungswert<br />

„hartsi“ viel zu hoch. Es<br />

ginge doch darum, den Namen<br />

deutlich zu verän<strong>der</strong>n.<br />

Thierese hält „hartsi“ für<br />

zu „putzig“, darunter könne<br />

sich doch kein Bürger eine<br />

seriöse staatliche För<strong>der</strong>ung<br />

vorstellen. Da könne man ja<br />

gleich <strong>das</strong> Phraseonym „Farin<br />

Urlaub“ nehmen.<br />

Bundeskanzlerin Angela<br />

Merkel ließ verlauten, <strong>das</strong>s<br />

sie die ganze Umbennerei<br />

für überflüssig halte. Ihrem<br />

Parteifreund Rüttgers habe<br />

sie telefonisch mitgeteilt, er<br />

solle doch statt Udo Jürgens<br />

den Sänger Freddy Quinn<br />

nehmen. Der ist übrigens<br />

als Franz Eugen Helmuth<br />

Manfred Nidl auf die Welt<br />

gekommen.<br />

Meinung<br />

Eine Entschuldigung ist überfällig<br />

contergan-opfer sehen die Bundesrepublik in <strong>der</strong> Pflicht<br />

<strong>Die</strong> britische Regierung<br />

will Contergan-Opfer mit<br />

rund 22,5 Millionen Euro<br />

entschädigen. Der contergangeschädigte<br />

Künstler<br />

Christian Knabe for<strong>der</strong>t nun<br />

auch für die deutschen Opfer<br />

einen Ausgleich.<br />

„Großbritannien entschuldigt<br />

sich bei den Conterganopfern.“<br />

Das war keine Genugtuung<br />

im üblichen Sinn,<br />

son<strong>der</strong>n weckte in mir die<br />

Erinnerungen an harte Zeiten,<br />

denn auch in Deutschland<br />

wünschen sich die Betroffenen<br />

eine Entschuldigung <strong>der</strong><br />

Regierung. Wofür aber sollte<br />

sich die Bundesregierung entschuldigen<br />

und warum?<br />

Es geht um ein Zeichen an<br />

die Betroffenen. Man musste<br />

damals einen Strafprozess<br />

führen, weil es keine an<strong>der</strong>e<br />

rechtliche Handhabe gab.<br />

Es fehlte ein vernünftiges<br />

Arzneimittelgesetz, und die<br />

Ärzteschaft hatte durch ihr<br />

Versagen die Tragödie mit<br />

verursacht.<br />

christian knabe,<br />

<strong>Jahr</strong>gang<br />

1961, ist Grafikdesigner,Fotograf<br />

, Journalist.<br />

Der Staat hat die Verpflichtung<br />

übernommen, eine Entschädigung<br />

zu zahlen und war<br />

dabei bis heute so sparsam,<br />

<strong>das</strong>s viele unter Folgeschäden<br />

leiden, die sie sonst nicht<br />

hätten. Eigentlich arbeitsun-<br />

fähige Menschen schufteten<br />

sich krank, um ihre Familien<br />

zu ernähren. Einige tun <strong>das</strong><br />

übrigens bis heute.<br />

Eine längst überfällige Entschuldigung<br />

<strong>der</strong> Bundesregierung<br />

bei den Conterganopfern,<br />

<strong>der</strong>en Eltern und Freunden ist<br />

nicht nur ein moralisches<br />

Muss, son<strong>der</strong>n auch eine<br />

wichtige Klarstellung für die<br />

Betroffenen. Sie kann aber nur<br />

funktionieren, wenn man die<br />

Conterganrente gleichzeitig<br />

so stark erhöht, <strong>das</strong>s sich die<br />

Opfer selbst helfen können.<br />

Ich meine, ein Land wie<br />

die Bundesrepublik kann es<br />

sich moralisch nicht leisten,<br />

hier nichts zu unternehmen.<br />

Es geht hier um Menschen,<br />

<strong>der</strong>en Leben und ein bisschen<br />

Liebe.<br />

die geSellSchafter-initiatiVe <strong>der</strong> aktion menSch<br />

a„In<br />

was für einer Gesellschaft<br />

wollen wir leben?“<br />

Auf <strong>der</strong> Internetseite<br />

die<strong>Gesellschafter</strong>.<br />

de werden Antworten<br />

auf diese Frage gesammelt,<br />

diskutiert und<br />

kommentiert.<br />

aWer<br />

sich freiwillig engagieren<br />

möchte, kann<br />

in einer Datenbank nach wohnortnahen<br />

Adressen von Verbänden und Initiativen<br />

suchen.<br />

aNeue<br />

Ideen für Projekte und Aktionen<br />

können mit bis zu 4.000 Euro geför<strong>der</strong>t<br />

werden.<br />

aIn<br />

speziellen Themenforen können The-<br />

men wie Armut, Bildung,<br />

Familienpolitik, Teilhabe,<br />

Konsum und Glück,<br />

Umwelt, Wirtschaft und<br />

Arbeit aktiv und kontrovers<br />

diskutiert werden.<br />

aZu<br />

den Diskussionen<br />

tragen auch Persönlichkeiten<br />

des öffentlichen<br />

Lebens (Wissenschaftler,<br />

Künstler, Unternehmer etc.) bei. Sie erläutern<br />

ihre Konzepte und Modelle für die<br />

Fortentwicklung unserer Gesellschaft und<br />

stellen sie zur Diskussion.<br />

a<strong>Die</strong><br />

<strong>Gesellschafter</strong>-Zeitung kann online<br />

heruntergeladen und kostenfrei bestellt<br />

werden.


Junge Journalisten<br />

PC-Spiele sind am Sabbat kein Tabu<br />

Nürnberger Jugendliche lernen beim Besuch <strong>der</strong> Synagoge ihrer Stadt einiges dazu<br />

Von Alexan<strong>der</strong> Demling<br />

Zu Juden fällt vielen Jugendlichen<br />

außer Vorurteilen<br />

wenig ein. In <strong>der</strong> Begegnung<br />

mit einer jüdischen<br />

Religionsklasse lernen<br />

Schüler einer Nürnberger<br />

Hauptschule, wie ähnlich<br />

beide Seiten einan<strong>der</strong> sind.<br />

„Wisse, wen du vor dir hast“<br />

bedeuten die großen hebräischen<br />

Buchstaben, die als<br />

silberne Gravuren den Gebetsraum<br />

<strong>der</strong> Synagoge <strong>der</strong><br />

israelitischen Kultusgemeinde<br />

in Nürnberg schmücken.<br />

<strong>Die</strong> 15-jährige Tudaniya hat<br />

noch keine Ahnung, wen<br />

sie gleich vor sich haben<br />

wird. Das muslimische Mädchen<br />

mit dem dunklen Teint<br />

und dem schwarzen Pferdeschwanz<br />

sitzt zwischen ihren<br />

Klassenkameraden auf engen<br />

Holzbänken und schiebt einen<br />

weißen Zettel zwischen<br />

ihren Fingern hin und her.<br />

Darauf hat Tudaniya Fragen<br />

notiert, die sie den jüdischen<br />

Religionsschülern stellen will,<br />

die ihre Klasse heute besucht.<br />

„So ein paar Sachen hat man<br />

ja mal gehört, <strong>das</strong> mit <strong>der</strong><br />

Beschneidung o<strong>der</strong> <strong>das</strong>s die<br />

am Sabbat irgendwie nichts<br />

machen dürfen. Aber manches<br />

wüsste ich halt einfach gern<br />

genauer“, sagt die Hauptschülerin<br />

fröhlich und grinst dabei<br />

so, <strong>das</strong>s man ihre Eckzähne<br />

sehen kann.<br />

Wissen schafft<br />

Vertrauen<br />

Mit dabei ist Michaela Baetz.<br />

<strong>Die</strong> Pädagogin vom privaten<br />

Institut für Medien- und Projektarbeit<br />

(IMEDANA) organisiert<br />

Gespräche zwischen<br />

jüdischen Religionsschülern<br />

und nicht-jüdischen Schulklassen.<br />

„Viele Jugendliche<br />

Jugendliche in Nürnbergs neuer Synagoge.<br />

Foto: picture alliance<br />

Nürnberg Ende des 19. <strong>Jahr</strong>un<strong>der</strong>ts: Im hintergrund ist die alte, 19 8 zerstörte Synagoge zu sehen.<br />

kennen gar keine Menschen<br />

jüdischen Glaubens. Wir sollen<br />

sehen, <strong>das</strong>s diese Kultur<br />

nichts Fremdes ist, son<strong>der</strong>n<br />

<strong>der</strong> eigenen sogar sehr ähnlich“,<br />

erklärt Baetz.<br />

Erst traut sich noch keiner so<br />

recht, doch dann meldet sich<br />

Tudaniya: „Wie ist <strong>das</strong> mit <strong>der</strong><br />

Beschneidung bei euch eigentlich?“<br />

„Wir werden am achten<br />

Tag nach unserer Geburt beschnitten“,<br />

antwortet Ilja, ein<br />

großer Kerl mit dunkelblonden<br />

Locken. „Tut aber nicht weh,<br />

zumindest kann ich mich<br />

nicht daran erinnern“, ergänzt<br />

er und erntet<br />

lautes Gelächter.<br />

Nun trauen sich<br />

auch an<strong>der</strong>e, ihre<br />

Gegenüber zu<br />

befragen: „Was<br />

bedeutet koscher<br />

essen?“, will ein<br />

Mädchen wissen,<br />

„Wie feiert ihr<br />

den Sabbat?“ ein<br />

an<strong>der</strong>es. Schnell<br />

wird deutlich,<br />

Foto: Alexan<strong>der</strong> Demling<br />

<strong>das</strong>s nicht alle jüdischen Familien<br />

die vielen ungewöhnlich<br />

erscheinenden Geboten so genau<br />

nehmen: „Am Sabbat darf<br />

man streng genommen keine<br />

elektrische Geräte anmachen“,<br />

erzählt Ilja. „Aber ich will an<br />

diesen Tagen nicht auf PC-<br />

Spiele verzichten.“ <strong>Die</strong> meisten<br />

Familien essen Fleisch von<br />

Tieren, die nicht geschächtet<br />

wurden <strong>–</strong> obwohl <strong>das</strong> die jüdischen<br />

Speisegesetze eigentlich<br />

vorsehen. Religionslehrer<br />

German Djanatliev räumt ein:<br />

„Wir leben in Mitteleuropa, da<br />

kann man nicht erwarten, <strong>das</strong>s<br />

sich je<strong>der</strong> exakt an die Gesetze<br />

<strong>der</strong> Thora hält.“<br />

„Jude“ als Schimpfwort<br />

missbraucht<br />

Wäre <strong>das</strong> Ziel des Projektes,<br />

ein nettes Gespräch zwischen<br />

Jugendlichen zu organisieren,<br />

wäre es schon nach wenigen<br />

Minuten erfüllt. Michaela<br />

Baetz will jedoch mehr: „Wir<br />

wollen bewusst auch ju-<br />

denfeindliche Stereotype und<br />

Vorurteile aufdecken, die in<br />

den Köpfen herumschwirren.<br />

Viele glauben, <strong>das</strong>s Antisemitismus<br />

mit dem Nationalsozialismus<br />

verschwunden sei. Wir<br />

wollen ein Bewusstsein für<br />

den aktuellen Antisemitismus<br />

schaffen.“<br />

Was <strong>das</strong> bedeutet, darüber<br />

kann die 17-jährige Nadja viel<br />

erzählen: An ihrem ersten<br />

Tag in <strong>der</strong> Hauptschule stellte<br />

<strong>der</strong> Lehrer sie als Jüdin vor.<br />

„Ich wollte <strong>das</strong> nicht. Was<br />

macht denn <strong>das</strong> für einen<br />

Unterschied, welcher Religion<br />

ich angehöre?", ärgert<br />

sie sich noch heute. Für ihre<br />

Mitschüler war sie damit ein<br />

gefundenes Fressen: „Jude,<br />

Jude riefen sie mir ständig<br />

hinterher, ohne zu wissen, was<br />

<strong>das</strong> eigentlich bedeutet.“ Zu<br />

den seelischen Verletzungen<br />

hat sie mittlerweile eine Distanz<br />

aufbauen können: „Das<br />

hatte ja nichts mit mir zu tun.<br />

<strong>Die</strong> kannten mich gar nicht,<br />

die haben sich nie mit dem Ju-<br />

März <strong>2010</strong><br />

JugendpreSSe<br />

Nachwuchsjournalisten <strong>der</strong><br />

Jugendpresse Deutschland<br />

haben erstmals 2007/2008<br />

bundesweit Projekte besucht,<br />

die im Rahmen <strong>der</strong><br />

<strong>Gesellschafter</strong>-Initiative<br />

geför<strong>der</strong>t werden. Im Mai<br />

2009 meldeten sich weitere<br />

junge Reporter zwischen<br />

16 und 28 <strong>Jahr</strong>en, die über<br />

soziale Themen berichten<br />

wollten. Sie alle sammelten<br />

Eindrücke, sprachen<br />

mit den Beteiligten und<br />

portraitierten zahlreiche<br />

Initiativen. Eine Auswahl<br />

veröffentlicht die <strong>Gesellschafter</strong>zeitung<br />

Ausgabe für<br />

Ausgabe.<br />

Zwar gibt es viele Ideen<br />

für eine lebenswertere Gesellschaft,<br />

doch nicht immer<br />

gelingt es, sie auch Realität<br />

werden zu lassen. die<strong>Gesellschafter</strong>.de<br />

unterstützt engagierte<br />

Menschen bei <strong>der</strong><br />

Umsetzung ihrer Konzepte<br />

in konkrete Projekte mit bis<br />

zu 4.000 Euro.<br />

Anträge können gestellt<br />

werden unter: foer<strong>der</strong>ung.<br />

aktion-mensch.de<br />

dentum auseinan<strong>der</strong>gesetzt.<br />

<strong>Die</strong> haben einfach ein Opfer<br />

gesucht“, meint sie heute.<br />

Nadja möchte nicht als an<strong>der</strong>s<br />

wahrgenommen werden.<br />

Doch bewirkt eine arrangierte<br />

Begegnung zwischen Juden<br />

und Nicht-Juden nicht genau<br />

<strong>das</strong> Gegenteil? „Einerseits<br />

wollen wir darstellen, <strong>das</strong>s die<br />

an<strong>der</strong>e Kultur nichts Fremdes<br />

ist, an<strong>der</strong>erseits tut man genau<br />

<strong>das</strong>, wenn man extra ein<br />

Projekt über sie macht. Das<br />

lässt sich nicht aufheben“, sagt<br />

Michaela Baetz.<br />

Als Tudaniya nach dem Besuch<br />

zur U-Bahn geht, spricht<br />

sie mit ihren Freundinnen<br />

noch lange über koschere<br />

Fische und darüber, <strong>das</strong>s man<br />

am Sabbat kein Licht anmachen<br />

darf. <strong>Die</strong> Frage, ob sich<br />

man sich da nicht viele blaue<br />

Flecken hole, löst Gekicher<br />

aus. Bei einer Erkenntnis<br />

jedoch werden Tudaniyas Augen<br />

vor lauter Überraschung<br />

ganz groß: „<strong>Die</strong> sind ja echt<br />

genau wie wir!“


4 März <strong>2010</strong><br />

Immer mehr Menschen mit<br />

geistiger Behin<strong>der</strong>ung gehen<br />

den Weg in die Normalität<br />

<strong>–</strong> beispielsweise indem<br />

sie eine eigene Wohnung<br />

beziehen. Mitten in <strong>der</strong><br />

Gesellschaft zu stehen bedeutet<br />

aber auch, sich zu<br />

engagieren. Mancher mag<br />

sich wun<strong>der</strong>n, aber auch<br />

Menschen mit geistiger Behin<strong>der</strong>ung<br />

setzen sich aktiv<br />

ein: für Ältere und für Kin<strong>der</strong>,<br />

bei <strong>der</strong> Feuerwehr, im<br />

Naturschutz und an vielen<br />

an<strong>der</strong>en Orten.<br />

Uwe Mathias, Bernd Helmbrecht,<br />

Ingo Dörnte und Andreas<br />

Böker zum Beispiel.<br />

Alle paar Wochen ziehen die<br />

vier ihre Gummistiefel an und<br />

fahren in den Nationalpark<br />

Harz. Um in <strong>der</strong> schönen Natur<br />

zu sein, klar. Doch sie haben<br />

hier auch eine Aufgabe. In ehrenamtlicher<br />

Arbeit schneiden<br />

sie Wan<strong>der</strong>wege frei und legen<br />

Wasserabläufe, sie bauen<br />

Zäune und pflanzen Buchen.<br />

<strong>Die</strong> Nationalpark-Mitarbeiter<br />

Steffen Küppers und Uwe<br />

Lohde sind begeistert von den<br />

vier jungen Männern, die in<br />

einer Wohnstätte in Northeim<br />

leben: „Das Engagement unserer<br />

Freiwilligen ist beeindruckend.<br />

Sie packen mit an und<br />

zeigen durch ihren Einsatz,<br />

<strong>das</strong>s Naturschutz alle angeht<br />

<strong>–</strong> ob behin<strong>der</strong>t o<strong>der</strong> nicht.“<br />

Wer sich sozial engagiert,<br />

gewinnt an Selbstständig-<br />

Unter dem Motto „<strong>Inklusion</strong><br />

<strong>–</strong> Dabei sein. Von Anfang<br />

an.“ werden auch in diesem<br />

<strong>Jahr</strong> bundesweit zahlreiche<br />

Aktionen anlässlich des<br />

Europäischen Protesttages<br />

zur Gleichstellung von Menschen<br />

mit Behin<strong>der</strong>ung<br />

stattfinden. Veranstalter:<br />

Verbände und Organisationen<br />

<strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>tenhilfe-<br />

und Selbsthilfe.<br />

Ziel <strong>der</strong> Aktionen ist es, auf die<br />

Situation von Menschen<br />

mit Behin<strong>der</strong>ung<br />

aufmerksam<br />

zu machen<br />

und ein<br />

selbstvers<br />

t ä n d -<br />

liches und<br />

gleichberechtigtesZusammenleben<br />

aller Menschen<br />

einzufor<strong>der</strong>n.<br />

Wie in den vergangenen Jah-<br />

Aktionen<br />

Ehrenamt <strong>–</strong> mal von <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite!<br />

Projekt „Lebenshilfe aktiv“ unterstützt <strong>das</strong> Engagement von Menschen mit geistiger Behin<strong>der</strong>ung<br />

WettbeWerb<br />

Mach Dir ein Bild: Was<br />

bedeutet Heimat im Einwan<strong>der</strong>ungslandDeutschland<br />

sowie Integration,<br />

Toleranz, Gemeinschaft in<br />

Alltag, Beruf, Familie und<br />

Freizeit? Noch bis zum 31.<br />

März läuft <strong>der</strong> Fotowettbewerb<br />

„ZusammenLeben“<br />

von Caritas und Aktion<br />

Mensch. Bereits eingereichte<br />

Bil<strong>der</strong> stehen im Internet<br />

unter die<strong>Gesellschafter</strong>.de/<br />

fotowettbewerb; weitere<br />

Fotos können hinzugefügt<br />

werden. Der Versand ist<br />

auch per Post o<strong>der</strong> per<br />

E-Mail möglich: Aktion<br />

Mensch, Heinemannstraße<br />

36, 53175 Bonn, fotowettbewerb@die<strong>Gesellschafter</strong>.de.<br />

<strong>Die</strong> Preise: Kamera-<br />

Gutscheine im Wert von<br />

1.000 Euro und die Teilnahme<br />

an einem Fotoworkshop.<br />

Teilnahmeunterlagen und<br />

Infos unter: die<strong>Gesellschafter</strong>.de/fotowettbewerb<br />

Foto: Aktion Mensch / hans-<strong>Die</strong>trich Beyer<br />

<strong>Die</strong> Lebenshilfe sucht weitere Freiwillige <strong>–</strong> ein Mausklick genügt: www.lebenshilfe-aktiv.de<br />

keit, Selbstbewustsein und<br />

Lebensqualität <strong>–</strong> und hat<br />

Spaß dabei. Das Projekt<br />

„Lebenshilfe aktiv“ <strong>der</strong> Bundesvereinigung<br />

Lebenshilfe<br />

für Menschen mit geistiger<br />

Behin<strong>der</strong>ung e.V. för<strong>der</strong>t diese<br />

Freiwilligenarbeit <strong>–</strong> sowohl<br />

für als auch von Menschen<br />

mit geistiger Behin<strong>der</strong>ung.<br />

Dabei sein <strong>–</strong> am 5. Mai<br />

ren unterstützt die<br />

Aktion Mensch im<br />

Rahmen ihrer <strong>Gesellschafter</strong>-Initiative<br />

Veranstaltungen<br />

zum 5. Mai sowohl<br />

mit Materialien zur<br />

Öffentlichkeitsarbeit<br />

als auch finanziell.<br />

Und falls Sie noch<br />

keine Idee für eine<br />

passende Aktion<br />

haben, kann diese<br />

gleich mitgeliefert<br />

werden: Beispielsweise<br />

in Form<br />

eines großen<br />

B l a n k o -<br />

Pl a k a t e s ,<br />

inklusive<br />

Pinsel und<br />

F a r b e n .<br />

Unter <strong>der</strong><br />

Frage „Was<br />

ist <strong>Inklusion</strong>?<br />

Und wie kann sie<br />

bildlich dargestellt<br />

werden?“ können<br />

Foto: Enno hurlin<br />

<strong>Die</strong> Aktion Mensch unterstützt<br />

<strong>das</strong> Projekt finanziell<br />

und hat gemeinsam mit <strong>der</strong><br />

Lebenshilfe im Rahmen von<br />

die<strong>Gesellschafter</strong>.de einen<br />

Flyer erstellt, <strong>der</strong> gelungene<br />

Beispiele des ehrenamtlichen<br />

Engagements von Menschen<br />

mit geistiger Behin<strong>der</strong>ung<br />

vorstellt und weitere Informa-<br />

Beim Protesttag im Mai 2009 in Berlin.<br />

för<strong>der</strong>ung<br />

aÜber<br />

<strong>das</strong> <strong>Gesellschafter</strong>-För<strong>der</strong>programm<br />

können Projekte bezuschusst<br />

werden, in<br />

denen sich Menschen<br />

freiwillig engagieren.<br />

Für Menschen, die kein<br />

eigenes Projekt starten<br />

möchten, bietet eine<br />

Freiwilligendatenbank<br />

über 3.000 Möglichkeiten,<br />

sich mit an<strong>der</strong>en<br />

und für an<strong>der</strong>e zu engagieren.<br />

Weitere Informationen<br />

unter die<strong>Gesellschafter</strong>.de<br />

tionen bereithält. Der Flyer<br />

kann kostenlos angefor<strong>der</strong>t<br />

werden bei:<br />

Aktion Mensch,<br />

Tel.: 0228/2092 - 370,<br />

info@die<strong>Gesellschafter</strong>.de<br />

o<strong>der</strong> Projekt „Lebenshilfe aktiv“,<br />

Tel.: 06421/491 - 115,<br />

aktiv@lebenshilfe.de<br />

<strong>Gesellschafter</strong>-Initiative unterstützt Aktionen <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>tenhilfe und -selbsthilfe<br />

Sie gemeinsam mit<br />

Passanten, eingeladenen<br />

Politikern<br />

und Menschen des<br />

öffentlichen Lebens<br />

<strong>das</strong> Plakat<br />

gestalten. O<strong>der</strong> Sie<br />

organisieren ein<br />

Wissens-Quiz zum<br />

Thema <strong>Inklusion</strong>,<br />

mit Hilfe <strong>der</strong> von<br />

<strong>der</strong> Aktion Mensch<br />

bereitgestellten<br />

Postkarten.<br />

Der diesjährige<br />

Aktionszeitraum<br />

reicht vom 1. Mai<br />

bis zum 16. Mai<br />

<strong>2010</strong>.<br />

Termine und Orte<br />

<strong>der</strong> verschiedenen<br />

Aktionen, Bestellung<br />

von Materialien<br />

sowie weitere<br />

Informationen zum<br />

5. Mai unter<br />

die<strong>Gesellschafter</strong>.de/5mai


Mehr vom Leben<br />

Jetzt als Buch: Beiträge zu „Frauen sind an<strong>der</strong>s. Männer auch!“<br />

Wie nehme ich meinen<br />

Körper wahr? Wie gestalten<br />

sich die sozialen Kontakte,<br />

Partnersuche und Sexualität,<br />

Arbeit und Freizeit?<br />

Zu diesen und an<strong>der</strong>en Fragen<br />

haben seit dem Frühjahr<br />

2009 über 300 Menschen<br />

mit Behin<strong>der</strong>ung ihre persönlichen<br />

Geschichten erzählt.<br />

Der Schreibwettbewerb war<br />

eine Idee <strong>der</strong> Aktion Mensch<br />

und des Bundesverbandes<br />

für körper- und mehrfachbehin<strong>der</strong>te<br />

Menschen (BVKM)<br />

e.V.. Anfang Mai erscheint<br />

nun in <strong>der</strong> Reihe „BALANCE<br />

Gleich mit zwei Beiträgen<br />

hat die 17-jährige<br />

Kathrin Lemler, die im<br />

Rollstuhl sitzt und sich<br />

mit Hilfe eines Sprachcomputers<br />

verständigt,<br />

den Schreibwettbewerb<br />

für sich entschieden: „Als<br />

Zeugin vor Gericht“ und<br />

„Nur einen Personalausweis<br />

beantragen“. In beiden<br />

schil<strong>der</strong>t sie eigene<br />

Erlebnisse. Geschichten,<br />

die davon erzählen, <strong>das</strong>s<br />

auch die sogenannten<br />

„normalen“ Menschen<br />

Ängste zu überwinden<br />

haben, wenn sie auf Menschen<br />

mit Behin<strong>der</strong>ung<br />

treffen.<br />

Wie je<strong>der</strong> Bundesbürger<br />

musste ich auch, als ich 16<br />

wurde, einen Personalausweis<br />

beantragen. (…) Als<br />

die Frau, ohne von mir Notiz<br />

zu nehmen, sich in<br />

ihre Akten vertiefte,<br />

schaltete<br />

ich mei-<br />

kathrin Lemler<br />

erfahrungen“ unter dem Titel<br />

„Mehr vom Leben. Frauen<br />

und Männer mit Behin<strong>der</strong>ung<br />

erzählen“ eine Auswahl <strong>der</strong><br />

besten Beiträge.<br />

Herzzerreißend unsentimental<br />

ist beispielsweise <strong>das</strong><br />

Bild, <strong>das</strong> die junge Wettbewerbsgewinnerin<br />

Kathrin<br />

Lemler von sich selbst gibt:<br />

„Ich weiß, wie ich aussehe:<br />

ein kleines, zappelndes Etwas,<br />

dem <strong>der</strong> Speichel aus dem<br />

Mund läuft. Auf Grund meiner<br />

Behin<strong>der</strong>ung wirke ich nicht<br />

gerade attraktiv!“ Hoffnungsvoll<br />

schreibt sie weiter: „Irgendwann<br />

lerne ich bestimmt<br />

nen Computer an: „Guten Tag.<br />

Ich heiße Kathrin Lemler und<br />

möchte einen Personalausweis<br />

beantragen. Können sie<br />

mir bitte helfen?“ Sie schrak<br />

auf. Im ersten Moment wusste<br />

sie nicht, woher die Stimme<br />

kam. Dann bemerkte sie mich.<br />

Ich hielt es für sinnvoll, meine<br />

Aussage zu wie<strong>der</strong>holen:<br />

„Guten Tag. Ich heiße Kathrin<br />

Lemler und möchte einen<br />

Personalausweis beantragen.<br />

Können sie mir bitte helfen?“<br />

Jetzt reagierte die Dame. Sie<br />

schrie mich an (vermutlich<br />

meinte sie, ich sei schwerhörig):<br />

„SIE WOLLEN EINEN<br />

PERSONALAUSWEIS?“ Ich<br />

nickte ganz deutlich. „MO-<br />

MENT, ICH HOLE GERADE<br />

MAL JEMANDEN!“ Sie griff<br />

zum Telefonhörer: „Hallo?<br />

Hier ist jemand im Rollstuhl.<br />

Ich glaube, sie will einen<br />

Personalausweis beantragen.<br />

Können sie sie abholen?“ Zu<br />

mir gewandt: „ES KOMMT<br />

GLEICH JEMAND!“ Ich wartete.<br />

Eine junge Frau mit blondem<br />

Haar kam. Ich spulte<br />

wie<strong>der</strong> meinen Text ab:<br />

„Guten Tag. Ich heiße Kathrin<br />

Lemler und möchte<br />

einen Personalausweis<br />

beantragen. Können sie<br />

mir bitte helfen?“ Ich war<br />

froh, <strong>das</strong>s ich diesen Satz<br />

eingespeichert hatte. Verdutzt<br />

antwortete die Frau:<br />

„Natürlich kann ich Ihnen<br />

helfen. Kommen sie bitte mit.“<br />

Ich entdeckte <strong>das</strong> Namensschild<br />

auf ihrer Bluse. Sie hieß<br />

wettbewerbe<br />

jemanden kennen, dem meine<br />

strahlenden Augen, mein einzigartiges<br />

Lachen und meine<br />

grenzenlose Power den Kopf<br />

verdrehen. Das wäre mein<br />

größter Wunsch! Vielleicht<br />

passiert es morgen, vielleicht<br />

in einem <strong>Jahr</strong>, vielleicht in<br />

zehn <strong>Jahr</strong>en o<strong>der</strong> vielleicht<br />

auch gar nicht. Aber ich werde<br />

nie aufgeben, daran zu<br />

glauben.“<br />

„Mehr vom Leben. Frauen<br />

und Männer mit Behin<strong>der</strong>ung<br />

erzählen“, BALANCE buch +<br />

medien verlag, ca. 192 Seiten<br />

mit Abbildungen, 14,95 Euro<br />

Frau Schmidt.<br />

<strong>Die</strong> junge Frau<br />

führte mich<br />

zum Fahrstuhl,<br />

jedenfalls versuchte<br />

sie es.<br />

Ich hätte es<br />

ahnen müssen.<br />

Genau in<br />

dem Moment,<br />

als ich hätte<br />

losfahren sollen,<br />

fuchtelte<br />

mein Arm<br />

wild umher.<br />

Ich bekam<br />

ihn einfach<br />

nicht an den<br />

Steuerknüppel!<br />

„Soll<br />

ich Ihnen<br />

h e l f e n? “,<br />

fragte Frau<br />

S c h m i d t .<br />

Mein Arm<br />

f uc htelte<br />

noch heftiger.<br />

Ich<br />

schüttelte<br />

den Kopf<br />

und dachte: „Mist, es<br />

hat so schön angefangen und<br />

jetzt hält sie mich bestimmt<br />

für bescheuert.“ Ich hatte es<br />

inzwischen geschafft, meinen<br />

Arm an die Steuerung zu<br />

bekommen. Ich folgte Frau<br />

Schmidt, die immer wie<strong>der</strong><br />

zurückblickte, um sich zu<br />

vergewissern, <strong>das</strong>s ich noch<br />

hinter ihr war, obwohl sie es<br />

doch am Geräusch meines<br />

Rollstuhls hören konnte. Wir<br />

fuhren in den ersten Stock<br />

impreSSum<br />

März <strong>2010</strong> 5<br />

herausgeber: Aktion Mensch, Heinemannstraße 36, 53175 Bonn.<br />

Leitung: Christian Scheifl, Christian Schmitz (V.i.S.d.P.).<br />

Redaktion: Reinhard Backes (Chef vom <strong>Die</strong>nst), Mark Czogalla,<br />

Bithja Isabel Gehrke (Layout), Eva Girke-Labonté (Korrektur),<br />

Jutta vom Hofe (Textredaktion), Karin Jacek, Ulrich Steilen,<br />

Stefanie Wulff<br />

kontakt zur Redaktion: Tel. 02 28 - 20 92-388, Fax 02 28 - 20 92-333.<br />

E-Mail: zeitung@die<strong>Gesellschafter</strong>.de, Druck: General-Anzeiger, Bonn.<br />

die<strong>Gesellschafter</strong>.de erscheint regelmäßig kostenlos und liegt bundesweit<br />

an ausgewählten Stellen aus. Interessenten, die die Zeitung auslegen<br />

möchten, können sich unter www.die<strong>Gesellschafter</strong>.de/zeitung<br />

eintragen o<strong>der</strong> wenden sich an Tel. 02 28 - 20 92-345.<br />

<strong>Die</strong> in den Zitaten und Forumsbeiträgen abgedruckten Meinungen geben nicht<br />

in jedem Fall die Meinung <strong>der</strong> Redaktion wie<strong>der</strong>.<br />

auSSchnitt auS dem geWinnerbeitrag „nur einen perSonalauSWeiS beantragen“ Von kathrin lemler<br />

Alltagsgeschichten von Menschen mit Behin<strong>der</strong>ung.<br />

und in ihr Büro. Frau Schmidt<br />

wies mich an, einen Moment<br />

zu warten, während sie ins<br />

Hinterzimmer verschwand.<br />

Ich hörte ihre Stimme und<br />

die eines Mannes, die aufgeregt<br />

miteinan<strong>der</strong> sprachen.<br />

Ich verstand nur Wortfetzen:<br />

„Frau im Rollstuhl ... komische<br />

Computerstimme ...<br />

kein Betreuer ... Polizei ...“<br />

Mir schwante Schlimmes. Ich<br />

überlegte, wie ich aus dieser<br />

Situation glimpflich<br />

rauskommen sollte.<br />

Da kam Frau Schmidt<br />

aus dem Hinterzimmer<br />

und sagte ganz<br />

freundlich: „Dann<br />

wollen wir mal anfangen.<br />

Haben Sie Ihre<br />

Papiere dabei?“ Ich<br />

grübelte. Offensichtlich<br />

hatte irgendeiner<br />

von den beiden den<br />

an<strong>der</strong>en davon überzeugt,<br />

<strong>das</strong>s wir keine<br />

Polizei benötigten. Ich<br />

war sehr froh darüber.<br />

Zu Frau Schmidt<br />

gewandt, lächelte ich,<br />

nickte und spulte meine<br />

vorbereitete Antwort ab:<br />

„Meine Papiere sind in<br />

<strong>der</strong> kleinen schwarzen<br />

Tasche, die hinten an<br />

meinem Rollstuhl hängt.“<br />

Sofort kam Frau Schmidt<br />

hinter ihrem Schreibtisch<br />

hervor. Sie fand meine<br />

Papiere. „<strong>Die</strong> Papiere sind<br />

vollständig,“ sagte sie, „Sie<br />

können in einer Woche<br />

Ihren Ausweis abholen.“<br />

Ich nickte und spulte meine<br />

dritte vorbereitete Aussage<br />

ab: „Ich habe noch eine Frage.<br />

Wie ist <strong>das</strong>, wenn man<br />

nicht unterschreiben kann?“.<br />

Frau Schmidt schaute so,<br />

als hätte sie noch nie vor<br />

diesem Problem gestanden.<br />

Sie versprach, sich darum<br />

zu kümmern. Ich hatte es<br />

geschafft! Ich hatte meinen<br />

Personalausweis ganz allein<br />

beantragt! (…)


6 März <strong>2010</strong><br />

„Wir tun, was Freunde füreinan<strong>der</strong> tun“<br />

In Freiburg beraten Jugendliche junge Menschen in krisen und bei Suizidgefahr via Internet<br />

Von Anja Martin<br />

„Hi, ich hab ein Problem.<br />

Ich will nicht mehr leben.<br />

Ich hab keine Lebenslust<br />

mehr und weiß nicht mehr<br />

weiter“, heißt es in <strong>der</strong><br />

Mail einer 14-Jährigen. „Ich<br />

kann mit niemandem darüber<br />

reden!! Doch in letzter<br />

Zeit wurde mir klar, <strong>das</strong>s<br />

ich Hilfe brauche.“ Im Internet<br />

stieß <strong>das</strong> Mädchen<br />

auf U25, ein Projekt zur<br />

Suizidprävention für unter<br />

25-Jährige. Unter www.u25freiburg.de<br />

loggte sich die<br />

Schülerin ein und mailte<br />

ihren anonymisierten Hilferuf:<br />

„Was soll ich jetzt<br />

machen?“<br />

Antwort bekam sie von einem<br />

<strong>der</strong> 23 ehrenamtlichen Peerberater<br />

des Projekts U25.<br />

„Peer“ kommt aus dem Englischen<br />

und bedeutet „Gleicher“<br />

o<strong>der</strong> „Ebenbürtiger“.<br />

<strong>Die</strong> Berater sind deshalb auch<br />

keine Psychotherapeuten o<strong>der</strong><br />

Sozialpädagogen, son<strong>der</strong>n <strong>–</strong><br />

wie ihre Klienten <strong>–</strong> Schüler,<br />

Studenten o<strong>der</strong> Auszubildende,<br />

die nicht älter als 25 <strong>Jahr</strong>e<br />

sind.<br />

„Wir bereiten sie in einem<br />

sechsmonatigen Kurs auf ihre<br />

Aufgabe vor“, berichtet Projektleiterin<br />

Solveig Rebholz.<br />

Vermittelt werden unter an<strong>der</strong>em<br />

Informationen über<br />

Entstehung und Verlauf von<br />

Krisen sowie Einblicke in verschiedene<br />

psychische Erkrankungen.<br />

„Wir machen auch<br />

klar, <strong>das</strong>s Suizidgedanken<br />

an sich keine Krankheit sind,<br />

Gerade Menschen<br />

in kritischen Lebenssituationen,<br />

die als einzigen<br />

Ausweg den Selbstmord<br />

sehen, stehen auf <strong>der</strong><br />

Schwelle zwischen Leben<br />

und Tod. <strong>Die</strong>se Menschen<br />

wollen leben, können es<br />

aber nicht mehr. Ihr Anruf<br />

bei <strong>der</strong> Telefonseelsorge ist<br />

oft ein letzter Hilfeschrei<br />

und zeigt, <strong>das</strong>s etwas in<br />

ihnen noch leben will.<br />

Und so geht es in jedem<br />

Gespräch darum, auf Entdeckungsreise<br />

nach diesem<br />

noch vorhandenen, vitalen<br />

Foto: picture alliance<br />

son<strong>der</strong>n erst einmal Ausdruck<br />

für eine Krise.“<br />

Jugendliche sind<br />

beson<strong>der</strong>s gefährdet<br />

Alle 54 Minuten nimmt sich<br />

in Deutschland ein Mensch<br />

<strong>das</strong> Leben, <strong>das</strong> sind rund<br />

10.000 pro <strong>Jahr</strong>. <strong>Die</strong> Zahl <strong>der</strong><br />

Suizidversuche liegt noch um<br />

ein Zehnfaches höher. „<strong>Die</strong><br />

Versuchsrate ist bei Jugendlichen<br />

und jungen Erwach-<br />

Reportage<br />

Psychische Erkrankungen sind nicht selten Ursache für einen Selbstmord bzw. Suizidversuch.<br />

Lebensimpuls zu gehen. Es<br />

gibt keine Garantie dafür,<br />

<strong>das</strong>s man ihn findet. Aber<br />

wenn es gelingt, kann sich<br />

<strong>der</strong> Anrufer o<strong>der</strong> die Anruferin<br />

vielleicht in einem<br />

neuen Sinn „<strong>das</strong> Leben<br />

geben“, anstatt es sich zu<br />

nehmen. In Kooperation<br />

mit <strong>der</strong> Telekom finanzieren<br />

die Kirchen die 105<br />

Telefonseelsorgestellen in<br />

Deutschland fast völlig aus<br />

Kirchensteuermitteln.<br />

werner korsten, Pfarrer<br />

3 die<strong>Gesellschafter</strong>.de<br />

Fotos: wolfram Scheible<br />

senen beson<strong>der</strong>s hoch“, so<br />

Rebholz. Ausgerechnet diese<br />

Altersgruppe werde von den<br />

klassischen Beratungsangeboten,<br />

die auf persönlichen<br />

Gesprächen mit Erwachsenen<br />

beruhen, jedoch kaum<br />

erreicht. Für den Freiburger<br />

Arbeitskreis Leben (AKL), <strong>der</strong><br />

schon seit über 30 <strong>Jahr</strong>en<br />

Menschen in Lebenskrisen,<br />

Suizidgefährdete und Hinterbliebene<br />

nach Suizid betreut,<br />

war diese Erkenntnis Grund<br />

genug, ein jugendgerechtes<br />

Angebot zu schaffen: <strong>Die</strong><br />

Online-Beratung von Jugendlichen<br />

für Jugendliche. U25<br />

war geboren.<br />

Bundesweit gibt es kaum<br />

mehr als eine Handvoll solcher<br />

Projekte. Doch die Nachfrage<br />

ist groß. Allein bei den Freiburgern<br />

gehen pro <strong>Jahr</strong> ca.<br />

1.500 Mails von rund 300 Jugendlichen<br />

aus ganz Deutschland<br />

und dem benachbarten<br />

Ausland ein. „Auslöser <strong>der</strong> An-<br />

fragen sind meist Probleme in<br />

Schule o<strong>der</strong> Familie, Mobbing<br />

und Liebeskummer, aber auch<br />

Gewalterfahrungen und sexueller<br />

Missbrauch“, berichtet<br />

die 29-Jährige.<br />

Jeden Morgen checkt sie die<br />

eingegangenen Erstanfragen<br />

und fragt dann im Berater-<br />

Team nach, wer einen neuen<br />

Kontakt übernehmen möchte.<br />

„Wer gerade Stress im Studium<br />

hat o<strong>der</strong> aus an<strong>der</strong>en<br />

Gründen nicht kann, darf<br />

wolfgang Stich leitet den Arbeitskreis Leben. Solveig Rebholz verantwortet <strong>das</strong> Projekt.


Suizide WeltWeit<br />

Informationen <strong>der</strong> Weltgesundheitsorganisationzufolge<br />

sterben jährlich weltweit<br />

fast eine Million Menschen<br />

durch Suizid; <strong>das</strong> entspricht<br />

etwa 14,5 Gestorbenen je 100<br />

000 Einwohner <strong>der</strong> heutigen<br />

durchschnittlichen Weltbevölkerung<br />

o<strong>der</strong> annähernd<br />

alle 40 Sekunden einem<br />

Suizidtoten. Insbeson<strong>der</strong>e in<br />

<strong>der</strong> Altersgruppe <strong>der</strong> 20- bis<br />

44-Jährigen ist <strong>der</strong> Anteil <strong>der</strong><br />

Suizidtoten sehr hoch. <strong>Die</strong>s<br />

gilt auch in Europa. Eine Untersuchung<br />

des Statistischen<br />

Amtes <strong>der</strong> Europäischen Gemeinschaften<br />

(Eurostat) bemisst<br />

den Anteil <strong>der</strong> Suizide<br />

an allen Todesfällen bei den<br />

Männern dieser Altersgruppe<br />

auf 31 Prozent und bei<br />

den Frauen auf 32 Prozent.<br />

Nach den Sterbefällen durch<br />

äußere Ursachen ist <strong>der</strong> Sui-<br />

ruhig ablehnen.“ Denn meist<br />

ist es mit einer Antwort-Mail<br />

nicht getan. Häufig entwickelt<br />

sich eine längere E-Mail-<br />

Begleitung.<br />

„Ich betreue eine Klientin<br />

schon seit fast einem <strong>Jahr</strong>“, erzählt<br />

die 18-Jährige Christine<br />

(alle Peerberater werden im<br />

E-Mail-Kontakt und auf <strong>der</strong><br />

Website nur mit ihrem Vornamen<br />

genannt), die sich seit<br />

2007 als Peerberaterin engagiert.<br />

„Im Schnitt schreiben<br />

wir uns einmal die Woche,<br />

aber wenn es ihr schlecht<br />

geht, dann kann <strong>das</strong> auch<br />

mehrmals am Tag sein.“<br />

Überfor<strong>der</strong>t fühlt sich die<br />

Schülerin, die kurz vor dem<br />

zid damit die zweithäufigste<br />

Todesursache in <strong>der</strong> betrachteten<br />

Altersgruppe.<br />

Trotz <strong>der</strong> seit <strong>Jahr</strong>zehnten<br />

rückläufigen Zahl an Suiziden,<br />

scheidet heutzutage<br />

dennoch je<strong>der</strong> 100. Mensch<br />

in Deutschland freiwillig aus<br />

dem Leben. <strong>Die</strong> Gründe hierfür<br />

können unterschiedlich<br />

sein. Der amtlichen Statistik<br />

ist es aufgrund <strong>der</strong> jetzigen<br />

Erhebungsmodalitäten nicht<br />

möglich, hier detailliertere<br />

Informationen zu geben.<br />

Da die Todesursachenstatistik<br />

letztlich auch Grundlage<br />

für politische und ökonomische<br />

Entscheidungen<br />

ist, hat es Folgen, wenn die<br />

Suizidraten systematisch unterschätzt<br />

werden.<br />

Quelle: Statistisches Bundesamt,<br />

Wiesbaden (www.<br />

Abitur steht, dennoch nicht.<br />

„Wenn es bei mir zeitlich eng<br />

wird o<strong>der</strong> ich in Urlaub fahre,<br />

dann schreibe ich ihr <strong>das</strong> und<br />

frage auch, ob sie sich solange<br />

an ein an<strong>der</strong>es Teammitglied<br />

wenden möchte.“<br />

Bei Störungen<br />

helfen Experten<br />

Eine große Hilfe sind die regelmäßigenSupervisionstreffen<br />

des Beraterteams unter<br />

<strong>der</strong> Leitung von Sozialarbeiterin<br />

Rebholz. Erfahrungen<br />

werden ausgetauscht, Fälle<br />

diskutiert und Hilfestellungen<br />

gegeben. Bei Bedarf, etwa<br />

bei Hinweisen auf psychische<br />

Reportage<br />

Störungen, können auch Psychotherapeuten<br />

und an<strong>der</strong>e<br />

Fachkräfte des AKL hinzugezogen<br />

werden.<br />

Viele Peerberater, die im<br />

Bekanntenkreis von ihrem<br />

Engagement erzählen, berichten,<br />

<strong>das</strong>s sie erstaunt<br />

gefragt werden, ob diese<br />

Aufgabe nicht zu groß für sie<br />

sei. Schließlich seien sie doch<br />

keine Therapeuten.<br />

Zuhören und<br />

Nachfragen<br />

„Wir sind we<strong>der</strong> Ärzte noch<br />

Therapeuten“, erklärt Rebholz.<br />

„Wir diagnostizieren<br />

nicht. Wir therapieren nicht.<br />

Alles was wir tun, ist nachfragen,<br />

Tipps geben und vor<br />

allem eine vertrauensvolle<br />

Beziehung aufbauen.“ Denn:<br />

Wissenschaftliche Studien<br />

haben ergeben, <strong>das</strong>s suizidgefährdete<br />

Menschen zwischenmenschliche<br />

Beziehungen<br />

abbrechen und sich zurück-<br />

destatis.de) Fotos: wolfram Scheible<br />

Abstimmung und Austausch sind wichtig: Gruppengespräch mit Projektleiterin Solveig Rebholz (r).<br />

ziehen. „Deshalb ist es uns<br />

wichtig, eine Beziehung aufzubauen“,<br />

so Rebholz. „Denn<br />

wer in Beziehung ist, bringt<br />

sich so schnell nicht um.“ In<br />

<strong>der</strong> Beratung gehe es daher<br />

oft darum, die sozialen Ressourcen<br />

zu reaktivieren und<br />

den Blick auf Möglichkeiten<br />

zu Begegnung und Hilfe zu<br />

öffnen. Dazu gehörten auch<br />

Informationen zu Beratungsstellen<br />

und an<strong>der</strong>en Hilfsangeboten<br />

in Wohnortnähe <strong>der</strong><br />

Betroffenen.<br />

„Eigentlich tun wir nichts<br />

an<strong>der</strong>es als <strong>das</strong>, was Freunde<br />

füreinan<strong>der</strong> tun: Wir hören<br />

zu, wir fragen nach und versuchen,<br />

beim Finden einer<br />

Lösung zu helfen“, bringt es<br />

Christine auf den Punkt. <strong>Die</strong><br />

Anonymität des Internets sei<br />

dabei kein Hin<strong>der</strong>nis. Vielmehr<br />

för<strong>der</strong>e sie die Offenheit<br />

des Austauschs: „Das Internet<br />

kann sehr nah sein.“<br />

Seit 2004 steht <strong>das</strong> Projekt<br />

auch in regelmäßigem Kontakt<br />

mit Freiburger Schulen, organisiert<br />

Info-Tische in großen<br />

Pausen, bietet Unterrichtseinheiten<br />

und Fortbildungen<br />

für Lehrer an. „Wir möchten<br />

<strong>das</strong> Thema Suizid gern aus<br />

<strong>der</strong> Tabuzone holen und in<br />

<strong>der</strong> Öffentlichkeit Verständnis<br />

wecken für Menschen, die<br />

in einer Lebenskrise an die<br />

Grenze zwischen Leben und<br />

Tod gehen“, erklärt AKL-Leiter<br />

Wolfgang Stich (54).<br />

Aber die Depression<br />

for<strong>der</strong>t nicht unmittelbar<br />

eine Antwort, ein Handeln<br />

heraus. Sie stört in Maßen.<br />

Dass allerdings jemand<br />

abgrundtief traurig und<br />

desorientiert ist - sei es<br />

aus Veranlagung o<strong>der</strong> infolge<br />

von Traumata o<strong>der</strong><br />

Schicksalsschlägen - wirkt<br />

wie ein giftiger Stachel<br />

in einer Gesellschaft mit<br />

hohem Anspruchsdenken.<br />

Nicht nur in Deutschland<br />

jagen die Menschen dem<br />

Glück hinterher, <strong>das</strong>s<br />

einem angst und bange<br />

März <strong>2010</strong> 7<br />

<strong>Die</strong> 18-Jährige christine Schweizer korrespondiert mit Betroffenen.<br />

Immer öfter werden auch<br />

die Medien auf U25 aufmerksam.<br />

Im letzten <strong>Jahr</strong> wurde<br />

<strong>der</strong> Film „Hallo Jule, ich<br />

lebe noch“ bundesweit ausgestrahlt,<br />

in dem die Arbeit <strong>der</strong><br />

Peerberater eine große Rolle<br />

spielt. Doch erfolgreiche Öffentlichkeitsarbeit<br />

hat eine<br />

Kehrseite: Nachdem <strong>der</strong> Film<br />

gelaufen war, konnte sich<br />

<strong>das</strong> Beraterteam vor Anfragen<br />

kaum retten. „Es fehlen<br />

bundesweit noch mindestens<br />

vier weitere solcher Projekte,<br />

um die Nachfrage wenigstens<br />

ansatzweise decken zu können“,<br />

so Stich. „Das Problem<br />

ist aber, wie so oft, <strong>das</strong> Geld.“<br />

Auch die Finanzierung von<br />

U25 ist nur bis 2011 gesichert.<br />

wird. Der vermeintliche<br />

Anspruch auf Glück zu je<strong>der</strong><br />

Zeit, an jedem Ort und<br />

in je<strong>der</strong> Hinsicht verträgt<br />

sich nicht mit <strong>der</strong> abgründig-bedrohlichen<br />

Welt <strong>der</strong><br />

Depressiven. Und gerade<br />

<strong>das</strong> macht diese Krankheit<br />

zum Tabu. Wünschenswert<br />

wäre <strong>das</strong> Aushalten von<br />

Normalität, <strong>das</strong> Zulassen<br />

von Mittelmaß und Pechsträhnen.<br />

Isabel Fannrich-Lautenschläger<br />

3 die<strong>Gesellschafter</strong>.de


8 März <strong>2010</strong><br />

Fluch und Segen zugleich<br />

Eine kleine Geschichte <strong>der</strong> Arbeit <strong>–</strong> von <strong>der</strong> Antike bis in die Mo<strong>der</strong>ne<br />

Von Jutta vom Hofe<br />

Wie kam die Arbeit in die<br />

Welt? <strong>Die</strong> Bibel erzählt es<br />

so: Adam und Eva, verführt<br />

von <strong>der</strong> Schlange, hatten<br />

trotz göttlichen Verbots vom<br />

Baum <strong>der</strong> Erkenntnis gegessen.<br />

Zur Strafe vertreibt Gott<br />

sie nicht nur aus dem Paradies.<br />

Er schickt ihnen auch<br />

noch einen Fluch hinterher:<br />

„Verflucht sei <strong>der</strong> Acker um<br />

deinetwillen, mit Kummer<br />

sollst du dich darauf ernähren<br />

ein Leben lang.“<br />

Das Paradies war <strong>der</strong> Ort, <strong>der</strong><br />

keine Arbeit kannte. Danach<br />

war damit Schluss. Und die<br />

meisten haben dies seitdem<br />

mehr als Fluch empfunden<br />

denn als Segen.<br />

In <strong>der</strong> Antike herrschte eine<br />

skeptische Haltung gegenüber<br />

<strong>der</strong> Arbeit vor. Bei den alten<br />

Griechen war Arbeit ein Zeichen<br />

von Unfreiheit, die Muße<br />

dagegen, so Aristoteles, „die<br />

Schwester <strong>der</strong> Freiheit“. Allerdings<br />

konnten sich die meisten<br />

diese Einstellung nicht leisten,<br />

mussten sie doch als Sklaven<br />

dafür sorgen, <strong>das</strong>s sich die<br />

freien Bürger Athens dem Müßiggang<br />

hingeben konnten.<br />

Vom Schmuddelimage<br />

zur ehrbaren Arbeit<br />

<strong>Die</strong> jüdisch-christliche Tradition<br />

entwickelte ein ambivalentes<br />

Verhältnis zum meist<br />

unvermeidlichen Tagewerk:<br />

Arbeit galt als Fluch und<br />

Segen, als Strafe und göttlicher<br />

Auftrag zugleich. Oft<br />

mit <strong>der</strong> mehr o<strong>der</strong> weniger<br />

versteckten Botschaft, in <strong>der</strong><br />

Eine Maschine ist<br />

„Kapital“ und sie produziert<br />

mehr. Seitdem unsere Produktion<br />

immer effizienter<br />

arbeitet, ist die Vollbeschäf-<br />

tigung eine Illusion. <strong>Die</strong><br />

Selbsttäuschung bei den<br />

Politikern besteht im „Mehr-<br />

Gewinne-machen-heißtmehr-Beschäftigung“<br />

und<br />

eigentlich sollten die Gewerkschaften<br />

an <strong>der</strong> Zerstörung<br />

dieser Illusion arbeiten.<br />

christoph Engel<br />

3 die<strong>Gesellschafter</strong>.de<br />

Foto: Seidensticker Gmbh, Firmenarchiv<br />

harten Arbeit auch ein Stück<br />

Buße für die menschliche<br />

Sündhaftigkeit zu sehen.<br />

Erst im späten Mittelalter<br />

streifte die Arbeit ihr Schmuddelimage<br />

ab. Ehrbare Arbeit<br />

wurde hoch geachtet, ja<br />

sogar zur Voraussetzung zur<br />

Erlangung von Freiheit und<br />

Stadtbürgerrechten.<br />

Damit war die Aufwertung<br />

<strong>der</strong> Arbeit als Krönung eines<br />

gelungenen Lebens nicht mehr<br />

aufzuhalten. Im 17. und 18.<br />

<strong>Jahr</strong>hun<strong>der</strong>t galt sie nicht nur<br />

als Quelle von Reichtum und als<br />

Kennzeichen des entstehenden<br />

Bürgertums, sie wurde auch als<br />

Ursprung einer neuen Form <strong>der</strong><br />

Entwicklung angesehen: <strong>der</strong><br />

Selbstverwirklichung. Mit <strong>der</strong><br />

Aufklärung bekam sie einen<br />

sittlichen Wert, <strong>der</strong> Beruf wurde<br />

als Berufung verstanden.<br />

Im Lauf des 19. und 20. <strong>Jahr</strong>hun<strong>der</strong>ts<br />

verengte sich <strong>der</strong><br />

Begriff <strong>der</strong> Arbeit auf den <strong>der</strong><br />

Erwerbsarbeit. Gleichzeitig<br />

löste sich die Arbeit mehr und<br />

mehr aus früheren sozialen<br />

Bezügen: aus <strong>der</strong> Familie und<br />

dem Haus, den Zünften o<strong>der</strong><br />

<strong>der</strong> Leibeigenschaft. <strong>Die</strong> Menschen<br />

boten ihre Leistungen<br />

an, wurden Lohnarbeiter. <strong>Die</strong><br />

Arbeit wurde zur Ware.<br />

Mit <strong>der</strong> Trennung von Arbeitsplatz<br />

und familiärer Sphäre<br />

ging auch die Erfindung <strong>der</strong><br />

Schwerpunk t > Arbeit<br />

Näherinnen in Bielefeld in den 60er <strong>Jahr</strong>en: Foto aus <strong>der</strong> Ausstellung „hauptsache Arbeit“ im Bonner „haus <strong>der</strong> Geschichte“.<br />

Freizeit einher. Was vorher<br />

ineinan<strong>der</strong> floss <strong>–</strong> die Tätigkeit<br />

im Haus, für die Familie<br />

und zum Broterwerb <strong>–</strong> wurde<br />

getrennt. Gleichzeitig fielen<br />

an<strong>der</strong>e Aufgaben <strong>–</strong> etwa Kin<strong>der</strong>betreuung<br />

o<strong>der</strong> Hausarbeit<br />

<strong>–</strong> nicht mehr in die Kategorie<br />

Erwerbsarbeit. Mit <strong>der</strong> Industrialisierung<br />

hatten viele nur<br />

noch eine Erwerbsquelle, die<br />

Berufsarbeit auf Lebenszeit<br />

breitete sich aus. Damit einher<br />

gingen oft katastrophale Bedingungen<br />

mit Arbeitsunfällen,<br />

Verelendung, drücken<strong>der</strong><br />

Akkord- und Kin<strong>der</strong>arbeit. Es<br />

entstand ein Bewusstsein für<br />

die sozialen Fragen, die Arbeiterbewegung<br />

formierte sich.<br />

Nicht, ob wir arbeiten, war die<br />

Frage, son<strong>der</strong>n wie.<br />

Basis für Identität<br />

und Teilhabe<br />

Gleichzeitig war <strong>das</strong> Wirtschaftssystem<br />

schon damals<br />

durch rapide Umstrukturierungen<br />

geprägt. Deshalb war<br />

<strong>das</strong> „Normalarbeitsverhältnis“<br />

mit einem die Existenz sichernden<br />

Einkommen und auf<br />

Dauer angelegt schon damals<br />

eher die Ausnahme. Selten<br />

reichte <strong>der</strong> Lohn des Arbeiters<br />

für die ganze Familie: Frauen<br />

mussten dazu verdienen, viele<br />

verdingten sich als Wan<strong>der</strong>-,<br />

Saison- und Gelegenheitsarbeiter.<br />

Erst mit dem Ausbau des<br />

Sozialstaates <strong>–</strong> vor allem zwischen<br />

1950 und 1975 <strong>–</strong> wurde<br />

<strong>das</strong> „Normalarbeitsverhältnis“<br />

tatsächlich die Regel. Und ist<br />

seitdem von einer steten Erosiongekennzeichnet.<br />

Heute wird<br />

E r werbsa rbeit<br />

nach<br />

wie vor mit<br />

Arbeit gleichgesetzt.Dabei<br />

ist unser<br />

Ve r h ä l t n i s<br />

zur Arbeit so<br />

a mbiva lent<br />

wie eh und<br />

je. Mit allen<br />

Facetten<br />

Foto: Stiftung haus <strong>der</strong> Geschichte, Bonn<br />

ihrer historischenEntw<br />

i c k l u n g :<br />

die Arbeit<br />

als Last und<br />

Lust, Übel und Sinnstifter,<br />

als Grundlage <strong>der</strong> eigenen<br />

Identität, als Zugangsbedingung<br />

für die Teilhabe an <strong>der</strong><br />

Gesellschaft. Dabei erweist<br />

sich gerade letzteres als gefährlicher<br />

Bumerang für eine<br />

Arbeitsgesellschaft, <strong>der</strong> gerade<br />

die Arbeit ausgeht. „<strong>Die</strong> Erwerbsarbeit<br />

hat sich von einem<br />

Instrument <strong>der</strong> Integration in<br />

<strong>Die</strong> Ausstellung läuft noch bis<br />

zum 5. April <strong>2010</strong> in Bonn.<br />

ein Instrument <strong>der</strong> Desintegration<br />

verän<strong>der</strong>t“, schreibt <strong>der</strong><br />

Soziologe Ulrich Beck.<br />

Mittlerweile halten wir einen<br />

Strauß von Lösungen bereit:<br />

Wir schwanken zwischen dem<br />

Ruf nach einem Recht auf Arbeit<br />

(am liebsten im Grundgesetz)<br />

und <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung<br />

nach<br />

einer Arbeitspflicht<br />

(etwa<br />

für Hartz-IV-<br />

Empfänger).<br />

Wir träumen<br />

von einer<br />

g r ö ß e r e n<br />

Vereinbarkeit<br />

z w i s c h e n<br />

Berufs- und<br />

Familienarbeit(Teilzeitarbeit)<br />

und<br />

kämpfen für<br />

unbefristete<br />

Vollerwerbsarbeitsplätze.<br />

Wir diskutieren<br />

die größere Emanzipation<br />

vom Joch <strong>der</strong> Arbeit (bedingungsloses<br />

Grundeinkommen)<br />

und klagen über <strong>das</strong> Los <strong>der</strong><br />

Langzeitarbeitslosen.<br />

Nur eins scheint fest zu<br />

stehen: Dass Arbeit immer ein<br />

Fluch und ein Segen bleiben<br />

wird. Das war schon bei Adam<br />

und Eva so. Jedenfalls seit <strong>der</strong><br />

Vertreibung aus dem Paradies.


Schwerpunk t > Arbeit<br />

Aus Passion fürs Gepäck<br />

Der Dresdner Ingolf harre ist <strong>der</strong> einzige private kofferträger in Deutschland<br />

Von Heidrun Böger<br />

Koffertragen <strong>–</strong> am liebsten<br />

würde Ingolf Harre genau<br />

<strong>das</strong> jeden Tag tun, von früh<br />

bis spät. „Ich war schon als<br />

kleiner Stift mit und hab auf<br />

<strong>das</strong> Gepäck aufgepasst, <strong>das</strong><br />

mein Vati zu transportieren<br />

hatte“, sagt <strong>der</strong> 48-Jährige.<br />

Sie waren vier Kin<strong>der</strong> zu<br />

Hause, die Mutter Hausfrau.<br />

Und alle lebten von<br />

den Koffern, die Vater Harre<br />

schleppte. Der wie<strong>der</strong>um<br />

hatte in <strong>das</strong> Geschäft eingeheiratet,<br />

<strong>das</strong> schon seit<br />

1900 im Besitz <strong>der</strong> Familie<br />

seiner Frau war.<br />

So nennt sich Ingolf Harre<br />

heute noch <strong>Die</strong>nstmann und<br />

ist stolz darauf. Wenn jemand<br />

in Dresden auf einem<br />

<strong>der</strong> beiden Bahnhöfe einen<br />

Kofferträger braucht, ruft er<br />

vorher die Servicenummer des<br />

Bahnhofes an und Harre hilft.<br />

Für 2,50 Euro pro Person: „Der<br />

Preis war schon zu DDR-Zeiten<br />

so, nur damals in Ostmark<br />

natürlich.“ Trinkgeld gab und<br />

gibt es wenig.<br />

Warum er es trotzdem tut,<br />

sogar mit Freude? „Wegen des<br />

Umgangs mit den Menschen,<br />

ganz klar.“ Da stört den gebürtigen<br />

Dresdner auch nicht,<br />

<strong>das</strong>s es immer mal Ärger gibt.<br />

Vor ein paar Tagen fehlte bei<br />

einer größeren Reisegruppe<br />

ein Gepäckstück. Harre wurde<br />

erst mal angemotzt. Der<br />

Koffer fand sich Gott sei Dank<br />

wie<strong>der</strong>. Ingolf Harre erzählt<br />

beim Frühstück im Dresdner<br />

Hauptbahnhof mit einem<br />

Augenzwinkern davon, ohne<br />

jeden Frust.<br />

Freundlich grüßt er an diesem<br />

bitterkalten Wintertag<br />

die Kolleginnen vom Service<br />

Point. Er geht über den sanierten<br />

Bahnhof, freut sich,<br />

<strong>das</strong>s <strong>der</strong> so schön geworden<br />

ist. Ob er auch mal Reisende<br />

direkt anspricht? „Nein, <strong>das</strong><br />

lohnt sich nicht.“<br />

Zu DDR-Zeiten gab<br />

es viel zu tun<br />

„Früher hatte ich den Fahrplan<br />

im Kopf, kannte jede Wagenreihung.“<br />

<strong>Die</strong> Mühe macht er<br />

sich heute nicht mehr. Denn<br />

Koffer hat er wenig zu tragen,<br />

in Zeiten von Gepäckwagen.<br />

In den Achtzigern war <strong>das</strong> an<strong>der</strong>s.<br />

Das DDR-Reisebüro <strong>–</strong> es<br />

gab nur <strong>das</strong> eine <strong>–</strong> beauftragte<br />

Ingolf Harre regelmäßig, die<br />

Koffer von Westdeutschen,<br />

Amerikanern o<strong>der</strong> Japanern<br />

vom Dresdner Hauptbahnhof<br />

in die nahe gelegenen<br />

großen Hotels in <strong>der</strong> Prager<br />

Straße zu transportieren. Der<br />

<strong>Die</strong>nstmann, <strong>der</strong> übrigens kein<br />

Englisch, dafür ein schönes<br />

Dresdner Sächsisch spricht, ist<br />

heute noch begeistert: „Ich hatte<br />

diese großen Gepäckkarren,<br />

hing zwei, drei zusammen und<br />

ab ging es.“ Überhaupt war damals<br />

einiges an<strong>der</strong>s. Da konnte<br />

er <strong>das</strong> Gepäck auch mal auf<br />

dem Bahnsteig unbeaufsichtigt<br />

lassen, heute undenkbar.<br />

Kampf um den<br />

Gewerbeschein<br />

1979 wollte <strong>der</strong> damals 23-<br />

Jährige nach einer Ausbildung<br />

zum Betonfacharbeiter <strong>das</strong><br />

Geschäft vom Vater übernehmen.<br />

„Das war ein Theater!“<br />

VergeSSene dienStleiStung<br />

Bei „Kofferträger“ denken<br />

die meisten Zeitgenossen<br />

an eine Dachhalterung<br />

fürs Auto. Den wenigsten<br />

kommt in den Sinn, <strong>das</strong>s<br />

es sich um eine <strong>Die</strong>nstleistung<br />

handelt. Das ist<br />

allerdings verständlich,<br />

denn in Deutschland wird<br />

sie nur noch äußerst selten<br />

angeboten. Allenfalls Hotels<br />

<strong>der</strong> gehobenen Klasse<br />

beschäftigen Mitarbeiter,<br />

die den Gästen schon an<br />

<strong>der</strong> Tür vieles abnehmen<br />

<strong>–</strong> vom Koffer bis zum Wagen.<br />

Dem Neuankömmling<br />

wird fast je<strong>der</strong> Wunsch<br />

von den Lippen abgelesen.<br />

Zumeist tragen die Helfer<br />

elegante Uniformen, denn<br />

die Reiseutensilien <strong>der</strong><br />

Gäste schleppen sie in <strong>der</strong><br />

Regel nicht selbst. <strong>Die</strong> werden<br />

nicht selten auf einen<br />

Handwagen gehievt und<br />

mit dem Lift aufs Zimmer<br />

gebracht.<br />

Foto: Johannes Backes<br />

Arbeitsplatz hauptbahnhof: Ingolf harre schleppt für an<strong>der</strong>e koffer.<br />

Der Kofferträgerservice war<br />

ja privat, <strong>das</strong> wurde von den<br />

DDR-Oberen kritisch beäugt.<br />

Und dann <strong>der</strong> Kontakt zu<br />

den West-Urlaubern. Ganz<br />

schlecht. Zweieinhalb <strong>Jahr</strong>e<br />

kämpfte Ingolf Harre damals<br />

für den Gewerbeschein <strong>–</strong> und<br />

setzte sich durch. Nur um dann<br />

am Kauf eines Kleintransporters<br />

zu scheitern. Kleintransporter<br />

gab es nicht, jedenfalls<br />

nicht für ihn. Also besorgte er<br />

sich einen Skoda mit Anhänger.<br />

Dann lief <strong>das</strong> Geschäft.<br />

Doch mit <strong>der</strong> Wende kam<br />

für Harre eine harte Zeit. Von<br />

einem Tag auf den an<strong>der</strong>en<br />

brach <strong>das</strong> Geschäft weg. Er<br />

putzte Züge, fuhr Zeitungen<br />

und Essen aus. Doch er erkämpfte<br />

sich neue Aufträge,<br />

war glücklich und schleppte<br />

Koffer, bis ihm die Deutsche<br />

Bahn 1993 <strong>das</strong> Signal auf Rot<br />

stellte: Bahnangestellte trugen<br />

jetzt die Koffer, jedenfalls<br />

die nächsten acht <strong>Jahr</strong>e. Harre<br />

war für diese Zeit raus aus dem<br />

Geschäft.<br />

Ein Anruf<br />

än<strong>der</strong>t alles<br />

Auch heute noch sind es<br />

deutschlandweit vor allem<br />

Mitarbeiter <strong>der</strong> Deutschen<br />

Bahn, die <strong>das</strong> Gepäck <strong>der</strong><br />

Reisenden tragen. An zehn<br />

Bahnhöfen in Deutschland<br />

gibt es diesen Service. Bis eine<br />

Stunde vor Ankunft des Zuges<br />

kann man buchen. Der Preis<br />

ist überall <strong>der</strong> gleiche: 2,50<br />

Euro. Harre ist <strong>der</strong> einzige<br />

private Kofferträger. Lediglich<br />

in München betreibt <strong>der</strong><br />

Katholische Männerfürsorgeverein<br />

noch einen ähnlichen<br />

Service.<br />

März <strong>2010</strong> 9<br />

Nach dem Aus<br />

1993 fuhr Ingolf<br />

Harre für eine<br />

Spedition. Doch<br />

plötzlich, im <strong>Jahr</strong><br />

2001, erhielt er<br />

den ersehnten Anruf:<br />

„Herr Harre,<br />

Sie können Ihre<br />

<strong>Die</strong>nste wie<strong>der</strong><br />

anbieten.“ <strong>Die</strong>nstmann<br />

Harre zögerte<br />

keine Sekunde<br />

<strong>–</strong> und hatte<br />

Pech: „2001 war<br />

<strong>der</strong> 11. September,<br />

ganze Reisegruppen<br />

stornierten.“<br />

Kaum hatte er<br />

sich berappelt,<br />

kam die Flut. „Der<br />

Bahnhof ist 2002<br />

komplett abgesoffen.“<br />

Doch Harre<br />

wäre nicht Harre,<br />

wenn er aufgegeben<br />

hätte.<br />

Zufriedene<br />

Kunden<br />

Heute Mittag ist<br />

er mit Margarete<br />

Spettmann (71)<br />

auf dem Dresdner<br />

H a u p t b a h n h o f<br />

verabredet. <strong>Die</strong><br />

gebürtige Dresdnerin<br />

kommt<br />

regelmäßig aus<br />

Gelsenkirchen in<br />

ihre alte Heimat:<br />

„Ich bin froh, <strong>das</strong>s<br />

es den Kofferträger gibt, er ist<br />

sehr zuverlässig.“ Viermal im<br />

<strong>Jahr</strong> besucht sie Dresden, und<br />

immer bringt Ingolf Harre ihr<br />

Gepäck ins Hotel. „Da ist fast<br />

schon eine Freundschaft entstanden“,<br />

sagt die alte Dame.<br />

Leben kann Ingolf Harre,<br />

<strong>der</strong> dieses <strong>Jahr</strong> heiraten will,<br />

vom Koffertragen nicht. Seit<br />

einigen <strong>Jahr</strong>en hat er einen<br />

Fuhrbetrieb und fährt in Dresden<br />

hergestellte Schleifmittel<br />

nach Hamburg, Holland und<br />

Italien. Am späten Nachmittag<br />

muss er noch nach<br />

Tschechien. Dennoch arbeitet<br />

er weiter auf dem Dresdner<br />

Flughafen und natürlich auf<br />

dem Hauptbahnhof. Ganze<br />

Son<strong>der</strong>züge mit 200 bis 300<br />

Reisenden bedient er. Solche<br />

Tage sind ihm die liebsten,<br />

dann schleppt er Koffer von<br />

früh bis spät.


10 März <strong>2010</strong><br />

Beson<strong>der</strong>s häufig<br />

werden Leiharbeitskräfte<br />

in call-centern, in <strong>der</strong><br />

Produktion und als Reinigungskräfte<br />

eingesetzt.<br />

„<strong>Die</strong> Festanstellung wird zum Privileg“<br />

Vollzeit-Stellen als Luxus: weshalb immer mehr „atypische Beschäftigungen“ entstehen<br />

Von Erik Heier<br />

Zeitarbeit. Es war ihr erster<br />

Job. Kein Wunschtraum, sicher.<br />

Aber immerhin: ein Job.<br />

Bea Kraus (Name von <strong>der</strong> Redaktion<br />

geän<strong>der</strong>t) hatte gerade<br />

ihr Studium abgeschlossen,<br />

zur Diplomingenieurin.<br />

Sie bewarb sich bei einem<br />

Berliner Großunternehmen.<br />

Dort erfuhr sie: Das geht nur<br />

über eine Zeitarbeitsfirma,<br />

eine <strong>der</strong> größten Deutschlands.<br />

Bea Kraus sagte zu.<br />

Sie bereute es schnell.<br />

Da war <strong>der</strong> Stundenlohn, den<br />

ihr die Zeitarbeitsfirma aus-<br />

Seit sechs <strong>Jahr</strong>en befindet<br />

sich Norbert im freien<br />

sozialen Fall. Sein Absturz<br />

begann mit dem Verkauf<br />

eines Tochterunternehmens<br />

von Thyssen, in dem er 28<br />

<strong>Jahr</strong>e lang als Betriebsschlosser<br />

gearbeitet hatte.<br />

Nach seiner Entlassung fand<br />

er über zwei <strong>Jahr</strong>e lang auf<br />

dem regulären Arbeitsmarkt<br />

keinen Job und geriet in die<br />

Mühlen von Mini-Jobs und<br />

Zeitarbeit. Seine Geschichte<br />

ist die von Vielen. Prozess<br />

einer Deklassierung. <strong>Die</strong><br />

Fotos: picture alliance<br />

zahlte: ein Drittel weniger, als<br />

ihr <strong>das</strong> Großunternehmen, ihr<br />

Entleiher, versprochen hatte.<br />

Dann die Arbeitszeit: Stunden<br />

über ihre bezahlte Monatszeit<br />

hinaus gingen auf ein Zeitkonto,<br />

mit dem die Verleihfirma<br />

kurzerhand <strong>–</strong> und unerlaubt<br />

<strong>–</strong> Krankenstunden ausglich.<br />

Bea Kraus beschwerte sich<br />

über fehlerhafte Gehaltsabrechnungen,<br />

per Einschreiben.<br />

Korrigiert wurde nichts.<br />

Stattdessen <strong>das</strong>: Wenige<br />

Tage vor Ende <strong>der</strong> Probezeit<br />

kündigte ihr die Zeitarbeitsfirma.<br />

Mitten im Einsatz beim<br />

Entleihbetrieb. Deshalb darf<br />

in diesem Text we<strong>der</strong> ihr<br />

Karten sind neu gemischt.<br />

Für Norbert ein Spiel ohne<br />

Trümpfe. Trümpfe haben<br />

nur jene, die von seiner<br />

prekären Lage profitieren.<br />

In seinem Fall sind es Leiharbeitsfirmen,<br />

die unter<br />

Ausschöpfung <strong>der</strong> für sie<br />

günstigen gesetzlichen<br />

Rahmenbedingungen einen<br />

Arbeitsmarkt forcieren, den<br />

Unternehmer schon immer<br />

gefor<strong>der</strong>t haben.<br />

Reinhard Schnei<strong>der</strong><br />

3 die<strong>Gesellschafter</strong>.de<br />

Schwerpunk t > Arbeit<br />

Name noch <strong>der</strong> <strong>der</strong> Firmen<br />

genannt werden. „Man ist<br />

sonst gebrandmarkt“, sagt Bea<br />

Kraus bitter.<br />

Eine Vollzeit-Festanstellung<br />

als Luxus: Es ist ein Trend, <strong>der</strong><br />

immer stärker wird. <strong>Die</strong> so genannten<br />

atypischen Beschäftigungen<br />

ersetzen zunehmend<br />

die normalen Arbeitsverhältnisse.<br />

Ihr Gesamtanteil, 1998<br />

bei 16 Prozent, ist binnen<br />

zehn <strong>Jahr</strong>en auf 22 Prozent<br />

gestiegen. Rund je<strong>der</strong> zweite<br />

<strong>der</strong>artige Arbeitnehmer muss<br />

mittlerweile mit einem Stundenlohn<br />

von maximal 9,62<br />

€ auskommen. Das ist die<br />

Niedriglohngrenze, die die Organisation<br />

für wirtschaftliche<br />

Zusammenarbeit und Entwicklung<br />

(OECD) festgelegt hat.<br />

Unter den atypischen Beschäftigungen<br />

am weitesten<br />

verbreitet: Teilzeit, in <strong>der</strong><br />

mehr als ein Viertel <strong>der</strong> Beschäftigten<br />

arbeiten, darunter<br />

meist Frauen. Geringfügig<br />

Beschäftigte in Mini-Jobs: um<br />

die 20 Prozent. Befristete Verträge:<br />

um die zehn Prozent.<br />

Leiharbeit ist mit rund zwei<br />

Prozent <strong>das</strong> kleinste Segment.<br />

Aber eines mit hohen Wachstumsraten.<br />

Zwischen 2005<br />

und 2008 gingen 20 Prozent<br />

<strong>der</strong> zusätzlichen sozialversicherungspflichtigen<br />

Jobs auf<br />

ihr Konto. Vor <strong>der</strong> Wirtschafts-<br />

Foto: IG Metall<br />

krise waren in Deutschland<br />

bereits knapp 800.000 Leiharbeiter<br />

beschäftigt <strong>–</strong> knapp<br />

doppelt soviel wie noch 2004.<br />

Als die Wirtschaft im vergangenen<br />

<strong>Jahr</strong> drastisch einbrach,<br />

wurden 300.000 Zeitarbeiter<br />

schnell wie<strong>der</strong> entlassen.<br />

Aber Petra Jentzsch von <strong>der</strong><br />

IG Metall Berlin-Brandenburg<br />

Petra Jentzsch, IG Metall<br />

sagt: „Wir nehmen jetzt schleichend<br />

wahr, <strong>das</strong>s die Zeitarbeiter<br />

wie<strong>der</strong> da sind. Ich war<br />

neulich in einem Betrieb, <strong>der</strong><br />

zu Beginn <strong>der</strong> Krise 80 Zeitarbeiter<br />

entlassen hat. Jetzt sind<br />

schon wie<strong>der</strong> 40 da.“<br />

Nicht erst seit den kürzlich<br />

bekannt gewordenen dubiosen<br />

Praktiken beim Drogeriekonzern<br />

Schlecker steht die<br />

Zeitarbeitsbranche als Lohn-<br />

drücker am Pranger. Schlecker<br />

hatte Angestellte zu deutlich<br />

schlechteren Konditionen in<br />

eine eigene Zeitarbeitsfirma<br />

ausgelagert. Ein krasser Einzelfall,<br />

sagen Zeitarbeitsverbände.<br />

So heißt es in einer<br />

Stellungnahme des Bundesverbandes<br />

Zeitarbeit (BZA)<br />

<strong>–</strong> mit 629 Mitgliedsfirmen, darunter<br />

den Marktführern Man-<br />

power, Randstad und Adecco:<br />

„Der Verband distanziert<br />

sich von <strong>der</strong> Geschäftspolitik<br />

Schleckers, spricht sich aber<br />

nicht pauschal gegen konzerninterne<br />

Zeitarbeit aus.“ Der Soziologe<br />

Klaus Dörre, Professor<br />

an <strong>der</strong> Friedrich-Schiller-Universität<br />

Jena, sagt dagegen:<br />

„<strong>Die</strong> wenigen Betriebsräte in<br />

<strong>der</strong> Zeitarbeitsbranche sagen<br />

uns, wenn die Mikrofone ausgeschaltet<br />

sind: Es gibt kein<br />

sauberes Verleihgeschäft. Da<br />

läuft vieles in <strong>der</strong> Grauzone.“<br />

Der Boom <strong>der</strong> Leiharbeit begann<br />

2004. Bis dahin wurde die<br />

seit 1972 gesetzlich geregelte<br />

Arbeitnehmerüberlassung rigide<br />

reguliert. Ihre Funktion:<br />

kurzfristiger Krankenersatz,<br />

Abfe<strong>der</strong>ung von Produktionsspitzen.<br />

Dann aber entdeckte<br />

Kanzler Gerhard Schrö<strong>der</strong><br />

(SPD) die Branche als vermeintlichen<br />

Jobmotor. Mit <strong>der</strong><br />

Liberalisierung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes


2004 konnten Firmen nun<br />

zeitlich unbegrenzt Zeitarbeiter<br />

leihen.<br />

<strong>Die</strong> Leiharbeiter würden<br />

nun zunehmend von Betrieben<br />

strategisch eingesetzt, sagt<br />

Klaus Dörre, dauerhaft, mit<br />

Anteilen von 20 Prozent an <strong>der</strong><br />

Belegschaft, auch mit Kernfunktionen<br />

<strong>–</strong> wie Stammkräfte.<br />

Nur mit oft weitaus weniger<br />

Lohn und Rechten. Wichtig vor<br />

allem für die Großindustrie.<br />

Betriebe wie BMW in Leipzig<br />

beschäftigten zeitweilig<br />

sogar rund ein Drittel <strong>der</strong><br />

Arbeitskräfte als Leiharbeiter.<br />

Dörre nennt sie: stilbildende<br />

Betriebe. Vorreiter mit Signalfunktion<br />

für die Branche.<br />

Arbeiter zweiter<br />

und dritter Klasse<br />

Zwar konstatierte Arbeitsministerin<br />

Ursula von <strong>der</strong> Leyen<br />

(CDU) Anfang des <strong>Jahr</strong>es,<br />

„<strong>das</strong>s Zeitarbeit Brücken in<br />

Arbeit baut für Menschen, die<br />

sonst schlechtere Chancen auf<br />

dem Arbeitsmarkt hätten“. Der<br />

von den Befürwortern <strong>der</strong> Zeitarbeit<br />

propagierte „Brückeneffekt“<br />

für die Beschäftigten in<br />

den regulären Arbeitsmarkt ist<br />

aber weitgehend ausgeblieben.<br />

Das schreibt selbst <strong>das</strong> Institut<br />

für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung<br />

<strong>der</strong> Bundesagentur<br />

für Arbeit, <strong>das</strong> von <strong>der</strong> Leyen<br />

seinen Bericht zugeliefert hatte:<br />

„Mit 80 Prozent verbleibt<br />

sogar ein Großteil <strong>der</strong>jenigen,<br />

die bereits einmal in <strong>der</strong> Arbeitnehmerüberlassung<br />

tätig<br />

Foto: Michael Schinke<br />

waren, in dieser Branche.“<br />

Wissenschaftler Dörre bilan-<br />

ziert deshalb: „Inzwischen<br />

kann man sagen, <strong>das</strong>s in <strong>der</strong><br />

Bundesrepublik ein prekärer<br />

Sektor entstanden ist, wo<br />

nicht nur Arbeiter zweiter<br />

o<strong>der</strong> sogar dritter Klasse herausgebildet<br />

werden, son<strong>der</strong>n<br />

wo dieser Sektor auch disziplinierend<br />

auf die Stammbelegschaft<br />

wirkt.“ <strong>Die</strong> Signale:<br />

Es geht auch ohne euch. Sogar<br />

Prof. klaus Dörre, Uni Jena<br />

billiger. Dörre: „<strong>Die</strong> Festanstellung<br />

wird zum Privileg, die<br />

man auf Kosten von qualitativen<br />

Standards verteidigt, die<br />

man sonst einklagen würde.“<br />

Allerdings könnte Leiharbeit<br />

auch zu einem wichtigen<br />

Faktor für den nächsten Aufschwung<br />

werden. Dörre formuliert<br />

es so: „<strong>Die</strong> Leiharbeits-<br />

firmen haben ein Interesse,<br />

ihre Kräfte stabil zu platzieren<br />

und ihre Einnahmen zu sichern.<br />

<strong>Die</strong>jenigen Arbeitnehmer,<br />

die jetzt ihren festen Job<br />

Schwerpunk t > Arbeit<br />

verlieren, haben große Chancen,<br />

nach <strong>der</strong> Krise als Leiharbeiter<br />

zurückzukommen.“<br />

2007 hat <strong>der</strong> Deutsche<br />

Gewerkschaftsbund DGB ausgerechnet,<br />

<strong>das</strong>s je<strong>der</strong> achte<br />

Zeitarbeiter so wenig verdiente,<br />

<strong>das</strong>s er ergänzend<br />

Hartz-IV-Leistungen bekam.<br />

Selbst einer <strong>der</strong> Branchenverbände,<br />

<strong>der</strong> Bundesverband<br />

Zeitarbeit (BZA) mit 629<br />

Mitgliedsfirmen, darunter<br />

die Marktführer Manpower,<br />

Randstad und Adecco, tritt<br />

für einen Mindestlohn in <strong>der</strong><br />

Zeitarbeitsbranche ein.<br />

Zwar schreibt <strong>das</strong> 2004 in<br />

Kraft getretene Gesetz für<br />

Zeitarbeiter gleichen Lohn und<br />

gleiche Ansprüche bei Lohn,<br />

Arbeitszeit und Urlaub wie<br />

für die Stammbelegschaft vor.<br />

Mit einer Ausnahme: wenn<br />

ein Tarifvertrag an<strong>der</strong>e Bedingungen<br />

festlegt. In <strong>der</strong> Realität<br />

sind <strong>das</strong> meist schlechtere.<br />

Tarifverträge<br />

vor Gericht<br />

<strong>Die</strong> bis dato kaum bekannte<br />

Tarifgemeinschaft Christlicher<br />

Gewerkschaften für Zeitarbeit<br />

und PersonalService-Agenturen<br />

(CGZP) schloss zum<br />

Beispiel schnell Flächentarifverträge<br />

mit mittelständischen<br />

Zeitarbeitgeberverbänden ab,<br />

die die Standards deutlich<br />

absenkten, teilweise mit Stundenlöhnen<br />

unter fünf Euro. Der<br />

DGB folgte dann notgedrungen<br />

mit eigenen Verträgen, etwa mit<br />

dem BZA. Der Arbeitsmarktex-<br />

Arbeitnehmer von Zeitarbeitsfirmen sind selbstbewusster geworden, wehren sich und for<strong>der</strong>n mehr Rechte.<br />

leiharbeit<br />

aDAS<br />

GESETZ:<br />

Nach Empfehlungen<br />

<strong>der</strong> Hartz-Kommission<br />

von 2002 reformierte<br />

die Regierung Schrö<strong>der</strong><br />

2003 <strong>das</strong> Arbeitnehmerüberlassungsgesetz:<br />

Aufhebung <strong>der</strong> Überlassungshöchstdauer<br />

von zwei <strong>Jahr</strong>en, des<br />

Wie<strong>der</strong>einstellungs- und<br />

des Synchronisierungsverbots<br />

(Dauer des Zeitarbeitvertrags<br />

entspricht<br />

Dauer des Leiheinsatzes).<br />

Gleicher Lohn<br />

und gleiche Behandlung<br />

von Zeit- und Stammarbeitern.<br />

Ausnahme: ein<br />

Tarifvertrag. Das neue<br />

Gesetz trat Anfang 2004<br />

in Kraft.<br />

aDER<br />

BOOM<br />

Seit dem zweiten Halb-<br />

perte Achim Vanselow vom Institut<br />

Arbeit und Qualifikation<br />

<strong>der</strong> Universität Duisburg-Essen<br />

sagt: „Da haben wir ein Gesetz,<br />

<strong>das</strong> zu fast 100 Prozent nicht<br />

angewendet wird. Das ist sehr<br />

fragwürdig.“<br />

Nun aber blickt ein Großteil<br />

<strong>der</strong> Zeitarbeitsbranche bange<br />

nach Erfurt. Am Bundesarbeitsgericht<br />

steht die Entscheidung<br />

an, ob die christlichen<br />

Gewerkschaften überhaupt<br />

Tarifverträge für die Branche<br />

abschließen dürfen. Zuvor<br />

hatten <strong>das</strong> Arbeitsgericht Ber-<br />

Foto: picture alliance<br />

März <strong>2010</strong> 11<br />

jahr 2004 stieg die Unternehmenszahl<br />

in <strong>der</strong><br />

Branche bis Mitte 2008<br />

von 10.373 auf 25.164:<br />

plus 143 Prozent.<br />

aDIE<br />

VERSTÖSSE<br />

<strong>Die</strong> Bundesagentur für<br />

Arbeit leitete zwischen<br />

2005 und 2007 jährlich<br />

knapp 600 Bußgeldverfahren<br />

wegen<br />

gesetzlicher Verstöße<br />

bei <strong>der</strong> Arbeitnehmerüberlassung<br />

ein. 2008<br />

schnellte die Zahl, auch<br />

durch die bessere Erfassung<br />

mit dem neuen<br />

Zentralen Statistischen<br />

Meldedienst, auf 2139<br />

Fälle hoch. Wesentliche<br />

Gründe: Verstöße gegen<br />

Auflagen, Anzeigepflichten,Arbeitsvertragsnormen.<br />

lin und <strong>das</strong> Landesarbeitsgericht<br />

Berlin-Brandenburg <strong>das</strong><br />

bereits verneint. Grund: zu<br />

wenige Mitglie<strong>der</strong>, zu dürftiger<br />

Organisationsgrad.<br />

Verlieren die christlichen<br />

Gewerkschaften auch in Erfurt,<br />

wären ihre Billigtarifverträge<br />

etwa mit dem Arbeitgeberverband<br />

Mittelständischer<br />

Personaldienstleister (AMP)<br />

reif für den Reißwolf. <strong>Die</strong> betroffenen<br />

rund 280.000 Zeitarbeiter<br />

könnten dann rückwirkend<br />

Lohnnachzahlungen<br />

einklagen, weil dann tatsächlich<br />

<strong>der</strong> Gesetzesgrundsatz<br />

des gleichen <strong>–</strong> und damit<br />

höheren <strong>–</strong> Lohns gelten würde.<br />

Mit entsprechend höheren<br />

Kranken- und Rentenversicherungsbeiträgen,<br />

die wie<strong>der</strong>um<br />

die Sozialkassen nachfor<strong>der</strong>n<br />

dürfen. Und sollten die Zeitarbeitsfirmen<br />

nicht zahlen, wären<br />

die Kundenunternehmen<br />

selbst dran. Es könnte richtig<br />

teuer werden. Arbeitsmarktexperte<br />

Vanselow: „Da bewegen<br />

wir uns im dreistelligen<br />

Millionenbereich.“<br />

Nie wie<strong>der</strong><br />

Zeitarbeit<br />

Auch Zeitarbeiterin Bea Kraus<br />

hat ihre Leiharbeitsfirma wegen<br />

<strong>der</strong> vielen Verstöße verklagt<br />

Seit ihrer Kündigung<br />

ist sie arbeitslos. Sie schreibt<br />

Bewerbungen. Aber nicht für<br />

Zeitarbeit: „Davon bin ich erstmal<br />

geheilt.“ Sie träumt weiter<br />

von einer Festanstellung. Wie<br />

viele an<strong>der</strong>e.


12 März <strong>2010</strong><br />

Ein Hauch von Freiheit<br />

Vier Selbstständige aus vier Branchen <strong>–</strong> mit gleichen hoffnungen und Sorgen<br />

Von Miriam Olbrisch<br />

und Karen Haak<br />

Der eigene Chef sein. Für<br />

viele ist <strong>das</strong> <strong>der</strong> Traum<br />

schlechthin. Kein Befehlsempfänger<br />

mehr sein, nicht<br />

nach <strong>der</strong> Stechuhr arbeiten,<br />

eigene Ideen verwirklichen.<br />

Trotzdem sind nur neun Prozent<br />

<strong>der</strong> Deutschen selbstständig.<br />

Etwa je<strong>der</strong> fünfte<br />

Beschäftigte kann sich vorstellen,<br />

ein eigenes Business<br />

zu gründen. In <strong>der</strong> Krise<br />

sieht mancher seine Chance<br />

im eigenen Geschäft. Doch<br />

meist begleitet die Existenzgrün<strong>der</strong><br />

die Angst vor <strong>der</strong><br />

Pleite. Nicht ohne Grund:<br />

Je<strong>der</strong> zweite gibt nach sechs<br />

<strong>Jahr</strong>en wie<strong>der</strong> auf. Was ist<br />

dran am Mythos vom „freien“<br />

Unternehmer o<strong>der</strong> vom<br />

„besserverdienenden“ Freiberufler?<br />

Vier Selbstständige<br />

berichten.<br />

Erfolgsrezept<br />

hohe Qualität<br />

Jochen Richrath, Händler<br />

für „Obs un Jemös“<br />

Eine rote und eine gelbe Paprika,<br />

ein kleiner Brokkoli sowie<br />

eine grüne Gurke. Jochen<br />

Richrath packt alles in eine<br />

Tüte, was die Kundin für <strong>das</strong><br />

Abendessen braucht. Der Gemüsehändler<br />

kennt die Frau<br />

schon länger. Denn wer in dem<br />

kleinen Laden in <strong>der</strong> Kölner<br />

Südstadt einmal einkaufen<br />

war, kommt gerne wie<strong>der</strong>. „90<br />

Prozent sind Stammkunden“,<br />

erzählt Jochen Richrath.<br />

Sein Geheimnis: hohe Qualität<br />

statt ein paar Cent billiger.<br />

SelbStStändig<br />

Nicht nur <strong>der</strong> angespannte<br />

Arbeitsmarkt führt manchen<br />

Arbeitnehmer in die Selbstständigkeit.<br />

Der Schritt will<br />

allerdings gut überlegt sein.<br />

Für potenzielle Existenzgrün<strong>der</strong><br />

hat <strong>das</strong> Bundesministerium<br />

für Wirtschaft<br />

und Technologie (BMWi)<br />

deshalb ein eigenes Portal<br />

eingerichtet. Es soll helfen,<br />

Eignung und Fähigkeiten<br />

gezielt zu überprüfen.<br />

www.existenzgruen<strong>der</strong>.de<br />

Fotos: Michael Bause<br />

Dafür steht <strong>der</strong> 38-Jährige<br />

jeden Morgen um fünf Uhr<br />

auf und fährt zum Großmarkt.<br />

Während in den Discountern<br />

Paprika, Brokkoli und Gurken<br />

einen Tag im Lager verbringen<br />

o<strong>der</strong> im Lkw auf <strong>der</strong> Straße<br />

unterwegs sind, liegt Richraths<br />

Gemüse bereits um sieben Uhr<br />

in den Regalen. Bis 20 Uhr steht<br />

er dann im Laden. Das sind lange<br />

Arbeitstage und <strong>der</strong>zeit auch<br />

ziemlich kalte. Bei zehn Grad<br />

unter Null helfen auch Thermoklamotten<br />

am Ende wenig.<br />

An einem Samstag im Januar<br />

ist Richrath fast die ganze Ware<br />

erfroren. Minus 15 Grad hat <strong>das</strong><br />

Gemüse nicht überstanden.<br />

Aber <strong>das</strong> sind Ausnahmen,<br />

und eigentlich läuft <strong>das</strong> Geschäft<br />

nicht schlecht, zwei<br />

feste Mitarbeiter und zwei<br />

Aushilfen gehören zum Team.<br />

Aber sorgenfrei ist Jochen<br />

Richrath nicht. <strong>Die</strong> letzte<br />

Steuerklärung für seinen Laden<br />

hat er zwar endlich fertig,<br />

aber <strong>der</strong> Ärger mit den Ämtern<br />

nimmt dennoch kein Ende.<br />

„Ich hatte mir überlegt, an<br />

den Karnevalstagen Glühwein<br />

auszuschenken. Soll ja kalt<br />

Schwerpunk t > Arbeit<br />

Schon <strong>der</strong> Großvater von Jochen Richrath war Unternehmer.<br />

werden“, erzählt <strong>der</strong> Kleinunternehmer.<br />

Und wenn in Köln<br />

die jecken Tage sind, kaufen<br />

die Leute kein Gemüse. Aber<br />

die Auflagen <strong>der</strong> Stadt für die<br />

Son<strong>der</strong>genehmigung sind für<br />

Richrath nicht zu erfüllen. Er<br />

müsste eigene Toiletten für die<br />

Kundschaft zur Verfügung stellen.<br />

Daran schließen sich auch<br />

wie<strong>der</strong> hygienische Auflagen<br />

an. Es ärgert den Händler,<br />

<strong>das</strong>s er wegen <strong>der</strong> Bürokratie<br />

auf <strong>das</strong> einträgliche Zusatzgeschäft<br />

verzichten muss.<br />

Bevor Jochen Richrath seinen<br />

Laden „Obs un Jemös“<br />

aufmachte, absolvierte er<br />

eine kaufmännische Ausbildung<br />

und auch eine Lehre<br />

als Kälteanlagenbauer. „Je<strong>der</strong><br />

Unternehmer muss auch mal<br />

eine Schraube selbst reindrehen<br />

können“, findet Richrath.<br />

Den Schritt in die Selbstständigkeit<br />

bereut <strong>der</strong> gelernte<br />

Kaufmann und ausgebildete<br />

Kälteanlagenbauer dennoch<br />

nicht: „Ich bin mein eigener<br />

Chef.“ Und <strong>das</strong> Händler<strong>das</strong>ein<br />

liegt Jochen Richrath im<br />

Blut. Schon sein Großvater<br />

und Vater hatten ein eigenes<br />

Geschäft in Köln.<br />

„Keine Geschäfte, bei<br />

denen nur einer lacht“<br />

Ismet Koyun sieht sein<br />

Unternehmen als Familie<br />

Mit gerade mal 18 <strong>Jahr</strong>en<br />

kam Ismet Koyun nach Worms<br />

in Rheinland-Pfalz. Hier wollte<br />

er Informatik studieren. Aufgewachsen<br />

war er in einem<br />

kleinen Ort in <strong>der</strong> Nähe <strong>der</strong><br />

türkischen Hauptstadt Ankara.<br />

Im Sommer hatte er dort<br />

immer auf den Fel<strong>der</strong>n seiner<br />

Großeltern gearbeitet. Heute,<br />

mehr als 30 <strong>Jahr</strong>e später, leitet<br />

er ein führendes Unternehmen<br />

für IT-Sicherheit in Deutschland.<br />

Doch aus seiner Jugend<br />

hat er die Grundsätze für seine<br />

Unternehmensphilosophie behalten:<br />

„Wenn man auf dem<br />

Feld steht, muss man drei Tage<br />

vorher wissen, wann ein Sturm<br />

aufzieht. So viel Weitsicht<br />

brauchen auch Manager.“<br />

1986 gründete Ismet Koyun<br />

die Kobil Systems GmbH. Am<br />

Anfang kaufte er PCs aus Taiwan,<br />

bastelte an ihnen herum<br />

und machte so lahme Rechner<br />

flott. Schritt für Schritt baute<br />

Koyun <strong>das</strong> Unternehmen auf.<br />

Für viele Innovationen lieferte<br />

er selbst die zündende Idee,<br />

die er mit seinen Programmierern<br />

bis zur Marktreife bringt.<br />

Sein Ziel: <strong>das</strong> Internet sicherer<br />

machen. Zum Beispiel schützt<br />

ein kleiner „Kobil-Stick“ den<br />

Nutzer, wenn er seine Bankgeschäfte<br />

im Internet erledigt.<br />

Dabei hatte Ismet Koyun in<br />

seinen 30 <strong>Jahr</strong>en als Unternehmer<br />

in Deutschland mit<br />

vielen Problemen zu kämpfen.<br />

Als Türke ist er oft auf Vorurteile<br />

und Ignoranz gestoßen.<br />

„Wir Türken werden meistens<br />

als Gemüsehändler betrachtet“,<br />

sagt Koyun.<br />

Ein Problem haben aber alle<br />

deutschen und nichtdeutschen<br />

Mittelständler: Neue Ideen auf<br />

den Markt zu bringen, kostet<br />

Geld. Und in vielen Fällen<br />

verweigern die Banken <strong>das</strong><br />

Startkapital. Deswegen gehen<br />

viele Unternehmer an die Börse.<br />

Aber Koyun wollte mit Kobil<br />

nicht auf <strong>das</strong> glatte Parkett:<br />

„An <strong>der</strong> Börse gewinnen die<br />

einen, weil die an<strong>der</strong>en verlieren.<br />

Ich will keine Geschäfte,<br />

bei denen nur einer lacht.“<br />

Mehr als hun<strong>der</strong>t Mitarbeiter<br />

arbeiten für und mit Ismet<br />

Koyun. Stolz nennen sie sich<br />

Kobilianer. „Wir sind wie eine<br />

Familie. Wir arbeiten zusammen,<br />

wir streiten zusammen,<br />

wir feiern zusammen“, erzählt<br />

<strong>der</strong> Unternehmer. <strong>Die</strong>ser Zusammenhalt<br />

ist für ihn die<br />

Ismet koyun, seit 24 <strong>Jahr</strong>en selbstständig, beschäftigt mehr als hun<strong>der</strong>t Mitarbeiter.


Grundlage für den wirtschaftlichen<br />

Erfolg.<br />

Was braucht ein Unternehmer<br />

sonst noch? Ismet Koyun:<br />

„Man muss mutige Entscheidungen<br />

treffen, auch mal ein<br />

Risiko eingehen.“<br />

„Davon leben<br />

kann ich nicht“<br />

Marlis vom Hau ist Hebamme<br />

in Eigenregie<br />

Irgendwann war es zu viel.<br />

Wenn Marlis vom Hau beschreiben<br />

soll, wie sich sich<br />

vor etwa zehn <strong>Jahr</strong>en gefühlt<br />

hat, wird die lebenslustige Frau<br />

auf einmal ernst. „Ich bin auf<br />

dem Zahnfleisch gegangen“,<br />

sagt sie. „Es ging nicht mehr.“<br />

Marlis vom Hau ist Hebamme.<br />

Hun<strong>der</strong>te Kin<strong>der</strong> erblickten<br />

in ihrem Beisein <strong>das</strong> Licht<br />

<strong>der</strong> Welt. „Ein sehr dankbarer<br />

Beruf“, sagt sie bestimmt. „Ich<br />

habe mir nie einen an<strong>der</strong>en<br />

gewünscht.“ Und dennoch: <strong>Die</strong><br />

Frau hat Schmerzen, <strong>das</strong> Team<br />

muss perfekt zusammenarbei-<br />

ten, und nervöse Ehemänner,<br />

die fast mehr leiden als die<br />

werdende Mutter, sind oft<br />

keine große Bereicherung im<br />

Kreißsaal. „Manche Geburten<br />

sind wahnsinnig stressig <strong>–</strong><br />

nicht nur für die Frau, auch<br />

für uns.“ So stressig, <strong>das</strong>s die<br />

55-Jährige irgendwann Klinik<br />

und Kreißsaal hinter sich ließ<br />

und gegen den ausgebauten<br />

Keller in ihrem Einfamilienhaus<br />

eintauschte. Denn Heb-<br />

hun<strong>der</strong>ten Müttern hat Marlis vom hau geholfen, ihr kind zur welt zu bringen.<br />

„Erst muss <strong>das</strong> Geld<br />

verdient werden und dann<br />

kann es an die Verteilung<br />

gehen“? Ein platzen<strong>der</strong><br />

Traum! An dem ersten Teil<br />

geht <strong>der</strong> Mensch zu Grunde,<br />

wenn nicht, vergisst<br />

er den zweiten. Das sehen<br />

wir doch. Der kleine Mann<br />

schuftet ein Leben lang,<br />

um überhaupt leben zu<br />

können. Der Mittelständler<br />

wirtschaftet ein Leben lang,<br />

um seinen Status zu halten.<br />

Der Manager managt eine<br />

ammenkunst ist mehr als<br />

Geburtshilfe: Vorbereitung<br />

und Nachsorge, Babymassage<br />

und Rückbildungsgymnastik<br />

gehören ebenfalls dazu. Was<br />

zunächst stundenweise neben<br />

dem Schichtdienst im Krankenhaus<br />

begann, ist heute Lebensmittelpunkt.<br />

Vom Hau ist<br />

jetzt ihre eigene Chefin. „Eine<br />

gute Entscheidung“, sagt die<br />

Solingerin heute. Obwohl die<br />

Situation zunehmend schwierig<br />

wird. 40 freiberufliche<br />

Hebammen arbeiten <strong>der</strong>zeit<br />

in Solingen <strong>–</strong> zu viele für eine<br />

Stadt mit 160.000 Einwoh-<br />

Firma nach <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en ab,<br />

um Geld einzusammeln (ich<br />

will hier nicht behaupten,<br />

<strong>das</strong>s <strong>das</strong> bei allen so ist, aber<br />

über die Medien und die<br />

Presse kommt es so rüber).<br />

<strong>Die</strong> abgeführten Steuern<br />

kommen nicht ins Sozialsystem,<br />

son<strong>der</strong>n dienen dem<br />

Staatshaushalt. Hier sehe<br />

ich keinen, <strong>der</strong> ans Verteilen<br />

denkt.<br />

thomas Götte<br />

3 die<strong>Gesellschafter</strong>.de<br />

Schwerpunk t > Arbeit<br />

nern. Vor 15 <strong>Jahr</strong>en waren es<br />

noch knapp die Hälfte. Ihre<br />

Kurse wurden kleiner und kleiner,<br />

Werbung half wenig. Vor<br />

fünf <strong>Jahr</strong>en gab vom Hau dann<br />

schweren Herzens auf. „Das<br />

hat sich lei<strong>der</strong> nicht mehr gerechnet.“<br />

Danach spezialisierte<br />

sie sich auf Vor- und Nachsorge,<br />

betreut Frauen vor und nach<br />

<strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>kunft. Im Schnitt<br />

besucht sie drei am Tag. „Wäre<br />

ich auf mich allein gestellt,<br />

müsste ich definitv wie<strong>der</strong> in<br />

<strong>der</strong> Klinik arbeiten“, sagt vom<br />

Hau. <strong>Die</strong> fünf Kin<strong>der</strong> sind zwar<br />

mittlerweile aus dem Haus,<br />

„davon leben könnte ich trotzdem<br />

nicht.“ Umso wichtiger ist,<br />

<strong>das</strong>s sie mit ihrem Mann einen<br />

verständnisvollen Partner gefunden<br />

hat, <strong>der</strong> als Lehrer auch<br />

die nötige finanzielle Stabilität<br />

sicherstellt <strong>–</strong> und <strong>der</strong> nicht<br />

murrt, wenn sie Haushalt,<br />

Wäsche und mitunter auch ihn<br />

selbst stehen lassen muss, weil<br />

bei einer „ihrer“ Frauen spontan<br />

Probleme auftreten. Ganz<br />

im Gegenteil: Mehr als einmal<br />

hat Friedhelm vom Hau am<br />

Telefon schon aufgeregte werdende<br />

Väter beruhigt, wenn<br />

seine Frau gerade unterwegs<br />

war. „Das macht er gut“, lobt<br />

die Gattin und betont: „Ohne<br />

ihn ginge <strong>das</strong> alles nicht.“<br />

Unternehmer in<br />

Gummistiefeln<br />

Stefan Schulte ist selbstständiger<br />

Landschaftsgärtner<br />

Krise? Das ist für Stefan<br />

Schulte ein Fremdwort. „Krise<br />

krieg‘ ich nur, wenn wir wie<strong>der</strong><br />

zwei Wochen Regen am Stück<br />

haben.“ Besorgt blickt er in<br />

den wolkenverhangenen Himmel<br />

und stützt sich für einen<br />

Moment auf seinen Spaten. Es<br />

regnet nicht. Noch nicht. Mit<br />

gelben Gummistiefeln und<br />

grüner Latzhose erfüllt <strong>der</strong><br />

46-Jährige zumindest äußerlich<br />

alle Klischees, die man mit<br />

Gärtnern verbindet.<br />

Seit 1996 arbeitet Schulte als<br />

selbstständiger Landschaftsgärtner,<br />

tauschte die Sicherheit<br />

eines Angestellten<strong>das</strong>eins<br />

gegen die Chancen und Risiken<br />

eines Unternehmers. Zusammen<br />

mit einem Gesellen und<br />

einem Auszubildenden gestaltet<br />

er Terrassen und Teiche,<br />

pflastert Wege und Einfahrten,<br />

baut Mauern, fällt Bäume und<br />

räumt im Winter auch mal<br />

Schnee. Doch <strong>das</strong>, was seinen<br />

Alltag heute von seinem vorherigen<br />

Leben als Gärtnermeister<br />

in Festanstellung unterscheidet,<br />

spielt sich meist nicht im<br />

Freien ab. Aufträge an Land ziehen,<br />

zusammen mit den Kunden<br />

die Gestaltung <strong>der</strong> Gärten<br />

planen, die Büroarbeit nehmen<br />

rund die Hälfte seiner Arbeitszeit<br />

ein. Genau <strong>das</strong> war auch<br />

<strong>der</strong> Grund, es als Selbstständiger<br />

zu versuchen. „Ich wollte<br />

selbst entscheiden, welche Art<br />

von Steinen am besten auf einer<br />

Terrasse aussehen und wo man<br />

welche Sträucher hinsetzt.“ So<br />

kreativ könne man als Angestellter<br />

niemals sein.<br />

Dafür kann man nachts<br />

vielleicht ruhiger schlafen.<br />

März <strong>2010</strong> 1<br />

Wenn es im Winter schneit,<br />

ist um vier Uhr die Nacht zu<br />

Ende. „<strong>Die</strong> Gehwege müssen<br />

um sieben geräumt sein, <strong>das</strong><br />

ist <strong>der</strong> Auftrag.“ Egal, ob dabei<br />

die Hände abfrieren, o<strong>der</strong> man<br />

länger braucht, weil ein Mitarbeiter<br />

krank ist. Doch auch im<br />

Rest des <strong>Jahr</strong>es ist <strong>das</strong> Wetter<br />

Schultes größter Feind. Wenn<br />

tagelange Regenfälle den Boden<br />

aufweichen, wünscht er<br />

sich manchmal einen ganz<br />

normalen Bürojob. „Man ist<br />

nass bis auf die Haut, die<br />

Geräte sind nass, Baumaterialien<br />

auch. Das macht einfach<br />

keinen Spaß.“ Dennoch: Für<br />

eine Regenpause o<strong>der</strong> Hitzefrei<br />

im Sommer ist keine Zeit.<br />

Es muss weitergehen, zur Not<br />

auch samstags. „Wenn sich<br />

die Fertigstellung verzögert,<br />

merken sich die Kunden <strong>das</strong> <strong>–</strong><br />

und beauftragen beim nächsten<br />

Mal jemand an<strong>der</strong>en.“<br />

Der persönliche Kontakt, ein<br />

nettes Wort, ein kleiner Scherz<br />

o<strong>der</strong> eine gemeinsame Tasse<br />

Kaffee gehen ihm dabei über<br />

alles. Denn wie eigentlich alle<br />

Handwerker, lebt auch Stefan<br />

Schulte von seinem Renommee.<br />

Und <strong>das</strong> scheint gut zu<br />

sein. <strong>Die</strong> Auftragsbücher für<br />

die nächsten Monate sind voll.<br />

„Ein beruhigendes Gefühl“,<br />

sagt er. Weil Planungssicherheit<br />

unter Selbstständigen<br />

nun mal ein Luxusgut ist.<br />

Für Stefan Schulte gibt es keine Regenpause und kein hitzefrei.


14 März <strong>2010</strong> Schwerpunk t > Arbeit<br />

Sieben magere fette <strong>Jahr</strong>e<br />

Fazit <strong>der</strong> Agenda <strong>2010</strong>: Probleme mit dem Sozialstaat im Billig-Land<br />

Von Joachim Rogosch<br />

Im <strong>Jahr</strong> 2003 verkündet Bundeskanzler<br />

Gerhard Schrö<strong>der</strong><br />

(SPD) seine Agenda für die<br />

kommenden sieben <strong>Jahr</strong>e.<br />

<strong>Die</strong> sind nun vorbei. Sieben<br />

fette <strong>Jahr</strong>e. Sieben magere<br />

<strong>Jahr</strong>e. Je nachdem, für wen.<br />

Im Buch Genesis liest sich<br />

die Sache so: Als Joseph dem<br />

Pharao dessen Traum mit den<br />

fetten und mageren Kühen<br />

deutete, war gleich klar, wie<br />

man die Sache anpackt: Ägypten<br />

legte in den guten <strong>Jahr</strong>en<br />

Vorräte an, was in den darauffolgenden<br />

schlechten nicht<br />

nur dem Volk nutzte, son<strong>der</strong>n<br />

auch dem Staat zu enormem<br />

Reichtum verhalf. Joseph war<br />

ein Glücksfall für die Ägypter.<br />

So geht gute Politik.<br />

Autos und Milch<br />

im Überfluss<br />

Heute ist die Lage ungleich<br />

verworrener. Es gibt Autos<br />

im Überfluss, Fernseher für<br />

je<strong>der</strong>mann, Milch bis zum<br />

Wegschütten, und deshalb/<br />

dennoch ein Wachstumsbeschleunigungsgesetz.<br />

Hat hier<br />

jemand vor, in den fetten <strong>Jahr</strong>en<br />

für die mageren anzusparen?<br />

Nein. Es sieht eher so aus,<br />

als wolle jemand Magerkeit<br />

durch Fettsucht bekämpfen.<br />

Das verdirbt den Magen.<br />

Der Versuch ist nicht neu.<br />

Vor sieben <strong>Jahr</strong>en hatte eine<br />

rot-grüne Bundesregierung<br />

erkannt, <strong>das</strong>s die sozialen<br />

Sicherungssysteme in akuten<br />

Finanznöten waren. <strong>Die</strong> Globalisierung<br />

verstärkte den<br />

Konkurrenzdruck. <strong>Die</strong> Kon-<br />

Unser Sozialsystem<br />

ist zu einem bürokratischen<br />

Moloch verkommen. Ob nun<br />

alle einzahlen o<strong>der</strong> nicht,<br />

spielt dabei keine große<br />

Rolle. Auch dann würden<br />

Leistungen weiter gekürzt<br />

und einseitige Zuzahlungen<br />

notwendig sein. Der eigentliche<br />

Fehler liegt doch in <strong>der</strong><br />

Abhängigkeit des Sozialen<br />

von <strong>der</strong> Finanzierbarkeit.<br />

Udo Reidegeld<br />

3 die<strong>Gesellschafter</strong>.de<br />

Foto: picture alliance<br />

junktur lahmte. So Schrö<strong>der</strong>s<br />

Analyse 2003. Das Zauberwort<br />

lautete „Agenda <strong>2010</strong>“.<br />

Der Lösungsvorschlag: Wirtschaftswachstum.<br />

Egal wohin.<br />

<strong>Die</strong> mageren <strong>Jahr</strong>e sollten<br />

in fette verwandelt werden.<br />

Fett wurden sie. Der Dax<br />

stieg zwischendurch um 6.000<br />

Punkte, die Arbeitslosigkeit<br />

sank, <strong>das</strong> Wirtschaftswachstum<br />

stieg an. <strong>Die</strong> Experten<br />

wissen bis heute nicht, ob trotz<br />

o<strong>der</strong> wegen <strong>der</strong> Agenda <strong>2010</strong>.<br />

Mit <strong>der</strong> Bankenkrise war dann<br />

die Blüte allerdings vorerst<br />

vorbei.<br />

Wieviel <strong>das</strong> Sammelsurium<br />

aus Ich-AG, Hartz IV, Bildungsinitiative,<br />

Lockerung <strong>der</strong> Ladenöffnungszeiten<br />

und des<br />

Kündigungsschutzes, Minijob<br />

und Steuersenkung dazu beigetragen<br />

hat, die Wirtschaft<br />

anzukurbeln, lässt sich nicht<br />

ausrechnen. Als Ergebnis steht<br />

fest: <strong>Die</strong> Steuerlast ist trotz<br />

aller Senkungen insgesamt<br />

gestiegen, Arbeitsplätze im<br />

Handwerk o<strong>der</strong> Einzelhandel<br />

sind weniger geworden.<br />

Heute, sieben <strong>Jahr</strong>e nach<br />

dem „Aufbruch“, haben Regierungszusammensetzung<br />

und Bundeskanzler(in) gewechselt.<br />

<strong>Die</strong> Politik ist die<br />

gleiche geblieben. Noch immer<br />

wird als Heilsweg für alle Probleme<br />

des Landes ein stärkeres<br />

Wirtschaftswachstum angepriesen.<br />

Wozu wir arbeiten,<br />

welche Arbeit in unserer Gesellschaft<br />

eigentlich dringend<br />

getan werden müsste, woran<br />

es uns fehlt <strong>–</strong> <strong>das</strong> ist egal.<br />

Hauptsache Autos produzie-<br />

ren. Und wenn es zu viele davon<br />

gibt, schlagen wir eben ein<br />

paar Tausend kaputt, gegen<br />

Geldprämie, versteht sich. So<br />

zieht sich Baron Münchhausen<br />

am eigenen Schopf aus dem<br />

Sumpf. Spätere Generationen<br />

werden lachen über unseren<br />

sinnlosen Fleiß.<br />

Wenn niemand mehr fragt,<br />

was er eigentlich tun will, wofür<br />

es sich einzusetzen lohnt,<br />

wie er leben will, dann sind die<br />

fantastischsten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen<br />

möglich.<br />

Dann kümmern sich Frauen<br />

(manchmal auch Männer) gegen<br />

Geld um die Babies an<strong>der</strong>er<br />

Eltern, damit diese erwerbstätig<br />

sein können, damit <strong>der</strong> Staat genug<br />

Steuern einnehmen kann,<br />

damit er die Erzieherinnen<br />

für die Kin<strong>der</strong> bezahlen kann.<br />

Dasselbe Spiel mit Alten und<br />

Kranken. So entstehen Hektik<br />

und Bruttosozialprodukt. Und<br />

niemand hat mehr Zeit füreinan<strong>der</strong>,<br />

trotz ständig steigen<strong>der</strong><br />

Lebensdauer.<br />

Außer die Arbeitslosen und<br />

die Rentner. <strong>Die</strong> hat es aus<br />

dem Spiel herausgewirbelt.<br />

Weil aber Produktivität alles<br />

und Müßiggang ein Laster ist<br />

und diese Menschengruppen<br />

nur kosten und nichts bringen,<br />

müssen die sich schlecht füh-<br />

len. Politiker wie Hessens Ministerpräsident<br />

Roland Koch<br />

(CDU) und Außenminister<br />

Guido Westerwelle (FDP)<br />

haben jüngst wie<strong>der</strong> dazu<br />

beigetragen, indem sie Hartz-<br />

IV-Empfänger verdächtigen,<br />

ihre Abhängigkeit als „angenehme<br />

Variante“ des Lebens<br />

anzusehen. Dass unser Wirtschaftssystem<br />

immer mehr<br />

Menschen daran hin<strong>der</strong>t, von<br />

ihrer eigenen Hände Arbeit<br />

in Würde zu leben, haben sie<br />

nicht dazugesagt.<br />

Das ist <strong>das</strong> paradoxe Ergebnis<br />

<strong>der</strong> „Agenda <strong>2010</strong>“: Dass<br />

sie zu mehr Eigenständigkeit<br />

und Selbstverantwortung anleiten<br />

wollte, und am Ende eine<br />

größere Abhängigkeit dabei<br />

herauskam. Dass sie die Sozialsysteme<br />

entlasten wollte,<br />

und heute Staat und Bürger<br />

am Sozialsystem zu ersticken<br />

drohen. Dass jene, die erwerbstätig<br />

sind, unzufrieden<br />

sind, weil sie so viele Abgaben<br />

zahlen müssen. Und jene, die<br />

die Abgaben bekommen, unzufrieden<br />

sind, weil <strong>–</strong> ja weil?<br />

Weil sie keine Perspektive<br />

haben. Für sich selber zu sorgen,<br />

lohnt sich nicht. Reich<br />

werden dürfen sie nicht.<br />

„wirtschaftswachstum um jeden Preis“: Das kommt dabei heraus, wenn man die Probleme <strong>der</strong> welt mit Geld lösen will: Schrott.<br />

Durch Leistung wie<strong>der</strong> auf<br />

eigene Beine zu kommen,<br />

gelingt ihnen nicht. <strong>Die</strong> Mischung<br />

aus Sozialstaat und<br />

Billiglohnland funktioniert<br />

eben nicht.<br />

Alle zahlen, aber<br />

wenige profitieren<br />

„Ein Leben in Wohlstand und<br />

sozialer Sicherheit“ hatte die<br />

„Agenda <strong>2010</strong>“ einst versprochen.<br />

Ein unbefriedigendes<br />

Leben auf Pump ist dabei herausgekommen.<br />

Wie es richtig<br />

wäre, weiß je<strong>der</strong>: Gerechte<br />

Löhne und faire Preise statt<br />

immer nur „billig“. Verantwortung<br />

tragen statt umherschieben.<br />

So handeln, <strong>das</strong>s alle profitieren,<br />

und nicht so, <strong>das</strong>s alle<br />

zahlen, damit ich profitiere.<br />

So was ist illusorisch? Das behaupten<br />

nur die Profiteure des<br />

bestehenden Systems.


Raus aus <strong>der</strong> Tristesse<br />

Von Heidrun Böger<br />

„Stellt beide Füße fest auf<br />

den Boden und singt <strong>das</strong><br />

schön in den Raum hinein!“<br />

Spirituals singen und dann<br />

an den Noten hängen, „<strong>das</strong><br />

geht gar nicht“, findet<br />

Chorleiter Michael Reuter,<br />

den alle duzen, und den sie<br />

scherzhaft „Dr. Michael“<br />

nennen. Der for<strong>der</strong>t viel:<br />

„Konzentriert Euch!“ Wie<br />

jeden Donnerstagvormittag<br />

probt <strong>der</strong> Arbeitslosenchor<br />

La Bohéme im Saal des<br />

Heinrich-Budde-Hauses in<br />

Leipzig-Gohlis. Von draußen<br />

scheint die Wintersonne<br />

herein, sie bringt die<br />

Gesichter zum Leuchten.<br />

Es gibt fast 300 Chöre allein<br />

in Sachsen. Aber dieser ist<br />

an<strong>der</strong>s. Karin Schaknat findet<br />

gut, <strong>das</strong>s er für Arbeitslose ist,<br />

aber auch, <strong>das</strong>s alle bei Null<br />

anfangen. „Ich hätte mich<br />

nicht getraut, in einen Chor<br />

zu gehen, in dem alle schon<br />

singen können“, sagt sie. Als<br />

Stefan Kugler vom Leipziger<br />

Chorverband die Idee zu<br />

einem Chor speziell mit Arbeitslosen<br />

hatte, stieß er auf<br />

viel Begeisterung. <strong>Die</strong> „Aktion<br />

Mensch“ und <strong>das</strong> Kulturamt<br />

<strong>der</strong> Stadt Leipzig sagten finanzielle<br />

För<strong>der</strong>ung zu. Im August<br />

2009 begannen die Proben.<br />

Ina Heide hatte es in <strong>der</strong> Zei-<br />

tung gelesen: „In einem <strong>der</strong><br />

Anzeigenblätter, die Leipziger<br />

Volkszeitung kann ich mir<br />

nicht leisten.“ <strong>Die</strong> 71-Jährige<br />

ist Rentnerin, war davor aber<br />

viele <strong>Jahr</strong>e arbeitslos: „Genau<br />

so etwas wie diesen Chor habe<br />

ich mir immer gewünscht.“<br />

Wie die meisten an<strong>der</strong>en auch<br />

hatte sie zuvor noch nie gesungen<br />

- außer im Kin<strong>der</strong>chor.<br />

Aber sie kann Klavier spielen.<br />

<strong>Die</strong> Noten-Kenntnisse helfen<br />

ihr jetzt bei <strong>der</strong> Alt-Stimme:<br />

„Wissen Sie, da muss ich gegen<br />

den Melodieverlauf singen,<br />

<strong>das</strong> ist schwer.“<br />

An diesem Donnerstag proben<br />

sie noch einmal <strong>das</strong><br />

Spiritual, <strong>das</strong> sie schon bei<br />

ihrem ersten großen Auftritt<br />

im letzten Dezember im Leipziger<br />

Gewandhaus gesungen<br />

haben, wo sie gemeinsam mit<br />

an<strong>der</strong>en sächsischen Chören<br />

auftraten. Das Konzert dort<br />

haben sie als „große Ehre“<br />

empfunden. Ida Heide war<br />

im Vorfeld des Auftritts ganz<br />

bange: „Der Auftritt gab mir<br />

und den an<strong>der</strong>en aber viel<br />

Selbstvertrauen.“<br />

Bunte Mischung<br />

Gleichgesinnter<br />

<strong>Die</strong> „La Bohème“-Sänger üben<br />

zweimal die Woche, je zwei<br />

Stunden. Altersmäßig sind<br />

sie bunt gemischt, die meisten<br />

sind ohne Job, aber es<br />

gibt auch junge Mütter, Minijobber,<br />

Selbstständige und<br />

Rentner. Dass die meisten<br />

arbeitslos sind, empfinden<br />

sie als Vorteil: Das macht die<br />

Gespräche einfacher. Pjotr Selend:<br />

„Man lernt sich leichter<br />

kennen.“<br />

Für die meisten hier ist es<br />

wichtig, den Tag zu strukturieren<br />

und „weg zu sein von<br />

<strong>der</strong> Glotze“, wie Pjotr Selend<br />

sagt. Der studierte Biologe ist<br />

seit <strong>der</strong> Wende arbeitslos und<br />

ein bisschen stolz, einer <strong>der</strong><br />

rar gesäten Männer im Chor<br />

Schwerpunk t > Arbeit März <strong>2010</strong> 15<br />

In Leipzig entdecken arbeitslose Menschen im „chor La Bohème“ die Lust am Singen<br />

konzentriert Euch! chorleiter Michael Reuter for<strong>der</strong>t Engagement.<br />

Fotos: hendrik Schmidt<br />

Das komplette Ensemble vor dem Leipziger heinrich-Budde-haus.<br />

zu sein: „<strong>Die</strong> werden in jedem<br />

Chor mit Goldstaub gehandelt.“<br />

Wie die an<strong>der</strong>en auch<br />

schwärmt er vom erfahrenen<br />

Chorleiter Michael Reuter,<br />

einem promovierten Musikwissenschaftler.<br />

Sie wissen,<br />

<strong>das</strong>s <strong>der</strong> 66-jährige Rentner<br />

früher erfolgreich an <strong>der</strong> Leipziger<br />

Hochschule für Musik<br />

gearbeitet hat und ein ganz<br />

Großer in seinem Metier ist.<br />

Aber <strong>das</strong> ist es nicht allein.<br />

Reuter führt die Sängerinnen<br />

und Sänger mit viel Diplomatie,<br />

er stellt keinen bloß. Niemand<br />

singt falsch, höchstens<br />

gibt es „hier in dieser Ecke“<br />

einen schiefen Ton. Der- o<strong>der</strong><br />

diejenige weiß dann schon<br />

Bescheid.<br />

Von Anfang an erregte <strong>der</strong><br />

Chor viel Medieninteresse.<br />

Damals wollte allerdings nicht<br />

je<strong>der</strong> mit aufs Foto, die Nachbarn<br />

könnten ja so von <strong>der</strong> Arbeitslosigkeit<br />

erfahren. Deshalb<br />

haben sie sich auch den<br />

Namen „Bohème“ gegeben.<br />

Bloß weg von <strong>der</strong> Tristesse.<br />

Der Name ist eine Hommage<br />

an die arbeitslosen Künstler<br />

des 19. und 20. <strong>Jahr</strong>hun<strong>der</strong>ts<br />

<strong>–</strong> mit ihrer leidenschaftlichen<br />

Hingabe an die Kunst, selbst<br />

wenn sie nicht zum Broterwerb<br />

reicht.<br />

Inzwischen sind sie selbstbewusster<br />

geworden, sagt Chormanagerin<br />

Sarie Teichfischer<br />

(31). Alle sprechen jetzt vom<br />

Arbeitslosenchor. Kein Problem.<br />

Dafür brennt ihnen nun<br />

etwas ganz an<strong>der</strong>s auf den Nägeln,<br />

nämlich wie es mit dem<br />

Chor weiter gehen soll. Nach<br />

dem großen Auftritt im Gewandhaus<br />

gründete <strong>der</strong> Chor<br />

einen gemeinnützigen Verein,<br />

mit vorerst 30 Mitglie<strong>der</strong>n. Bis<br />

Ende April will <strong>der</strong> neue Vorstand<br />

verlässliche finanzielle<br />

Bedingungen schaffen, damit<br />

<strong>der</strong> Chor weiter bestehen<br />

kann. Jedes Mitglied leistet<br />

einen geringen Mitgliedsbeitrag.<br />

„La Bohème“ ist jedoch<br />

auf Sponsoren angewiesen,<br />

um die jährlich anfallenden<br />

6000 Euro für Raummieten,<br />

Noten und den Chorleiter zu<br />

bezahlen.<br />

„Guckt mal alle ein bisschen<br />

nach vorn, dann klappt <strong>das</strong><br />

auch!“, for<strong>der</strong>t „Dr. Michael“.<br />

Und siehe da, jetzt treffen sie<br />

die Töne von „Virgin Mary had<br />

a baby boy“: „Aber Eure Hüfte<br />

ist ganz steif!“ Da muss Bewegung<br />

rein. „Mit Schmackes“<br />

sollen sie singen. Und die Begleitstimmen<br />

müssen sich „ein<br />

bisschen zarter um die Männer<br />

drum rum ranken“. Und<br />

siehe da: Sie kommen immer<br />

besser rein in die Musik. <strong>Die</strong><br />

Füße wippen, die Blicke gehen<br />

zum Chorleiter, jetzt stimmt<br />

plötzlich alles. Und es klingt<br />

verdammt gut. Genau dafür<br />

singt er, sagt Pjotr Selend, „für<br />

dieses Gänsehaut-Gefühl“.<br />

Kontakt: Chorverband<br />

Leipzig e. V., Tel. 4 12 83 41<br />

www.chor-la-boheme.de<br />

Natürlich gibt es Arbeitslose<br />

<strong>–</strong> und beson<strong>der</strong>s<br />

Mütter, die echtes Ehrenamt<br />

ohne Bezahlung leisten.<br />

Ansonsten ergibt sich<br />

für Arbeitslose nicht selten<br />

aus dem Ehrenamt heraus<br />

eine Möglichkeit, Arbeit zu<br />

finden, woraus sich dann<br />

ein schiefes Bild ergibt,<br />

<strong>das</strong>s Arbeitslose nicht ehrenamtlich<br />

tätig sein sollen.<br />

c.k.<br />

3 die<strong>Gesellschafter</strong>.de


16 März <strong>2010</strong><br />

<strong>Die</strong> geheimen Augen des Arbeitgebers<br />

Überwachung in Betrieben: was chefs über ihre Mitarbeiter wissen dürfen<br />

Von Rüdiger Liedtke<br />

Videoüberwachung und geheime<br />

Krankenakten bei<br />

Lidl, Bluttests und Urinproben<br />

bei Daimler, Datenabgleich<br />

und Schnüffelei<br />

bei Bahn und Telekom.<br />

Hun<strong>der</strong>ttausende Arbeitnehmer<br />

werden von ihren<br />

Arbeitgebern regelmäßig<br />

bespitzelt, kontrolliert und<br />

überprüft. Meist auf illegalem<br />

Wege und geheim.<br />

Dass die großen Discounter<br />

nicht zimperlich mit ihren<br />

Mitarbeitern umgehen, ist<br />

nicht neu. Dass diese ihre<br />

Mitarbeiter aber auch noch<br />

überwachen und ausspionieren<br />

lassen, so wie es beim<br />

Discounter Lidl gängige Praxis<br />

war, hat selbst Kenner <strong>der</strong><br />

Branche verblüfft. Ohne jeden<br />

Skrupel wurden Mitarbeiter<br />

in Hun<strong>der</strong>ten Lidl-Filialen<br />

per Video überwacht, durch<br />

Detektive observiert. Aufgezeichnet<br />

wurden selbst Toilettenbesuche,<br />

gelistet wann<br />

jemand musste und wie häufig<br />

am Tag. Auch die Arbeitsmoral<br />

wurde ausspioniert, ob<br />

jemand „fleißig o<strong>der</strong> faul“ ist.<br />

„Stasi-Methoden beim Discounter“<br />

titelte <strong>der</strong> „Spiegel“<br />

im März 2008. Ein klarer Verstoß<br />

gegen Artikel 2 Grundgesetz,<br />

meinen Arbeitsrechtler.<br />

Ein Angriff auf die freie Entfaltung<br />

<strong>der</strong> Persönlichkeit.<br />

Nicht genug: Lidl hatte auch<br />

noch detaillierte Krankenakten<br />

über seine Mitarbeiter<br />

geführt, fein säuberlich aufgelistet,<br />

warum und woran jemand<br />

erkrankt war. Doch <strong>der</strong><br />

Grund einer Erkrankung geht<br />

Telekom, Lidl, Edeka,<br />

Daimler, Deutsche Bahn. <strong>Die</strong><br />

Dimension <strong>der</strong> Kontrollen ist<br />

Angst einflößend. In allen<br />

Fällen verfolgte die Mitarbeiterüberwachungnachvollziehbare<br />

Unternehmensziele,<br />

zum Beispiel die Aufklärung<br />

von Informationslecks, die<br />

Verbesserung des Krankheitsstandes<br />

o<strong>der</strong> die Verhin<strong>der</strong>ung<br />

von Warendiebstählen.<br />

<strong>Die</strong> Unternehmen<br />

setzten dabei aber technische<br />

Ermittlungsmaßnahmen ein,<br />

den Arbeitgeber „grundsätzlich<br />

nichts an“, meint Deutschlands<br />

oberster Datenschützer<br />

Peter Schaar.<br />

In vielen Unternehmen<br />

gehören Drogentests sowie<br />

Blut- und Urinuntersuchungen<br />

bei<br />

<strong>der</strong> Einstellung<br />

von Mitarbeitern,<br />

aber auch<br />

regelmäßige<br />

Gesundheitsu<br />

n t e r s u -<br />

c h u n g e n<br />

zum Alltag<br />

<strong>–</strong> sind aber<br />

in aller Regelunzulässig.Gen<br />

e t i s c h e<br />

U n t e r s u -<br />

c h u n g e n<br />

sind nach<br />

dem Anfang<br />

Februar<br />

<strong>2010</strong> in Kraft<br />

g e t r e t e n e n<br />

Gendiagnostikgesetz<br />

sogar generell<br />

verboten. Das<br />

heißt: Arbeitgeber und<br />

Versicherungen dürfen<br />

von Bewerbern und Kunden<br />

grundsätzlich keine Gentests<br />

for<strong>der</strong>n.<br />

Auch die Blutproben, die <strong>der</strong><br />

Stuttgarter Daimler-Konzern<br />

vor <strong>der</strong> Einstellung von Mitarbeitern<br />

verlangt hat, bewegen<br />

sich an <strong>der</strong> Grenze <strong>der</strong> Illegalität.<br />

„Da gibt es we<strong>der</strong> eine<br />

Betriebsvereinbarung, noch<br />

eine rechtliche Grundlage“<br />

<strong>–</strong> so Daimler-Betriebsrat Uwe<br />

Werner. Da Blutabnahmen<br />

rein rechtlich immer den<br />

Tatbestand einer Körperverletzung<br />

darstellen, muss <strong>der</strong><br />

mit denen ohne konkreten<br />

Verdacht, sozusagen präventiv<br />

die Privatsphäre verletzt<br />

wurde. In allen Fällen wurde<br />

bedenkenlos über die Persönlichkeitsrechte<br />

<strong>der</strong> Mitarbeiter<br />

und über geltendes<br />

Datenschutzrecht hinweggegangen.<br />

Trotz all <strong>der</strong> Skandale<br />

ist auf Managementebene<br />

<strong>der</strong> Datenschutz zumeist noch<br />

nicht angekommen.<br />

Dr. thilo weichert<br />

3 die<strong>Gesellschafter</strong>.de<br />

Schwerpunk t > Arbeit<br />

Foto: picture alliance<br />

Überwachung in Unternehmen ist keine Illusion mehr, son<strong>der</strong>n Realität.<br />

Betroffene<br />

einer Blutuntersuchung<br />

grundsätzlich zustimmen.<br />

Und es muss ihm klar<br />

sein, auf was genau hin sein<br />

Blut untersucht wird. Aber<br />

welcher Arbeitnehmer lehnt<br />

vor seiner Einstellung schon<br />

einen solchen vom Unternehmen<br />

verlangten Test ab?<br />

Unternehmen weisen<br />

Kritik zurück<br />

Der Daimler-Konzern wehrt<br />

sich gegen diese Darstellung<br />

und betont, <strong>das</strong>s bei Einstelluntersuchungen<br />

we<strong>der</strong> gegen<br />

den Datenschutz noch <strong>das</strong> Arbeitsrecht<br />

verstoßen wurde.<br />

Das Unternehmen verweist<br />

auf eine Stellungnahme des<br />

Innenministeriums von Baden-Württemberg:<br />

„Nach dem<br />

gegenwärtigen Stand ihrer<br />

Erkenntnisse geht die Aufsichtsbehörde<br />

davon aus, <strong>das</strong>s<br />

die Daimler AG Gesundheitsuntersuchungen<br />

durch den<br />

Werksärztlichen <strong>Die</strong>nst erst<br />

durchführen lässt, wenn beabsichtigt<br />

ist, einen Bewerber<br />

<strong>–</strong> vorbehaltlich<br />

des Ergebnisses dieser<br />

Untersuchung <strong>–</strong> einzustellen.<br />

<strong>Die</strong>s entspricht datenschutzrechtlichen<br />

Erfor<strong>der</strong>nissen.“<br />

Obwohl den Befugnissen<br />

<strong>der</strong> Arbeitsgeber durch die<br />

Rechtsprechung enge Grenzen<br />

gesetzt sind, ist <strong>der</strong> „gläserne<br />

Arbeitnehmer“ in vielen<br />

Unternehmen längst Realität.<br />

<strong>Die</strong> aufsehenerregenden Datenschutzaffären<br />

bei Bahn<br />

und Telekom haben Arbeitnehmerschutz<br />

in weiten Teilen<br />

zur Makulatur werden lassen.<br />

Bei <strong>der</strong> Bahn wurden Daten<br />

von über 170.000 Mitarbeitern,<br />

also nahezu <strong>der</strong> gesamten<br />

Belegschaft, über mehrere<br />

<strong>Jahr</strong>e hinweg abgeglichen,<br />

also überprüft, geheim und<br />

ganz im Stillen. Angeblich zur<br />

internen Korruptionsbekämpfung.<br />

Und die Telekom schnüffelte<br />

in Telefonrechnungen<br />

„unliebsamer“ Kunden und<br />

„auffälliger“ Mitarbeiter. Zur<br />

Unterbindung von Verrat interner<br />

Geheimnisse, wie es<br />

hieß. Bahn und Telekom: Fälle<br />

für den Staatsanwalt.<br />

Wie weit darf <strong>der</strong> Arbeitgeber<br />

aber gehen bei <strong>der</strong> Kontrolle<br />

und Durchleuchtung seiner<br />

Beschäftigten? Das Unternehmen<br />

darf ausschließlich Daten<br />

von Mitarbeitern erheben,<br />

die für die Ausführung<br />

<strong>der</strong> Tätigkeit unbedingt<br />

erfor<strong>der</strong>lich sind.<br />

„Das Betriebsverfassungsgesetz<br />

lässt<br />

technische Einrichtungen<br />

zur<br />

Verhaltens- und<br />

Leistungskontrolle<br />

zu. Alles<br />

an<strong>der</strong>e ist strikt<br />

u n t e r s a g t “,<br />

meint Norbert<br />

Warga,<br />

Datenschutzbeauf<br />

tragter<br />

<strong>der</strong> <strong>Die</strong>nstleistungsgewerkschaft<br />

Verdi.<br />

„Und alle Kontrollmaßnahmen<br />

müssen für den Arbeitsnehmervollständig<br />

transparent sein.“<br />

Der Einsatz <strong>der</strong> „geheimen<br />

Augen“ durch den<br />

Arbeitgeber darf also nie zur<br />

heimlichen Überwachung <strong>der</strong><br />

Beschäftigten führen. Das<br />

gilt auch für Videoüberwachungen,<br />

wenn ein beson<strong>der</strong>es<br />

Sicherheitsbedürfnis besteht.<br />

Ob es um die Videoüberwachung<br />

des Schalterraums<br />

einer Bank geht o<strong>der</strong> die<br />

Webcam gegen <strong>Die</strong>bstahl im<br />

Warenhaus: Der Betriebsrat<br />

muss grundsätzlich zustimmen.<br />

Was aber, wenn es, wie<br />

bei den Discountern Lidl und<br />

Co., keinen Betriebsrat gibt?<br />

Dann muss <strong>der</strong> Arbeitnehmer<br />

selbst vor Gericht klagen,<br />

meint Arbeitsrechtler Peter<br />

Wedde, Direktor <strong>der</strong> Frankfurter<br />

„Akademie <strong>der</strong> Arbeit“.<br />

Ein mutiges Unterfangen,<br />

denn eine solche Klage dürfte<br />

seitens des Arbeitsgebers in<br />

<strong>der</strong> Regel mit Kündigung quittiert<br />

werden.<br />

Klare Sanktionen<br />

bei Verstößen<br />

<strong>Die</strong> Affären um Lidl, Daimler,<br />

Bahn und Telekom haben auch<br />

die Politik wachgerüttelt. Immer<br />

lauter wird <strong>der</strong> Ruf nach<br />

einer verbindlichen Rechtsgrundlage<br />

bei Bewerbungsgesprächen.<br />

Verlangt wird


<strong>der</strong> verantwortungsbewusste<br />

Umgang mit sensiblen Arbeitnehmerdaten;<br />

unter an<strong>der</strong>em<br />

bei <strong>der</strong> Videoüberwachung,<br />

<strong>der</strong> Kontrolle von E-Mails,bei<br />

medizinischen Checks und<br />

dem Einsatz von Detektiven.<br />

Gefor<strong>der</strong>t werden auch klare<br />

Sanktionen bei Verstößen<br />

durch die Arbeitsgeber.<br />

Sogar Lügen<br />

sind erlaubt<br />

Nach Ansicht vieler Experten<br />

reicht es längst nicht mehr<br />

aus, den Arbeitnehmerdatenschutz<br />

als geson<strong>der</strong>ten Passus<br />

im Bundesdatenschutzgesetz<br />

zu verankern. Heute findet<br />

Minutiöse kontrolle am<br />

Arbeitsplatz per Videokamera<br />

und über Gesprächsmitschnitte.<br />

Missbräuche<br />

in etlichen Branchen<br />

haben die Beschäftigten<br />

aufgeschreckt. Sie for<strong>der</strong>n<br />

mehr transparenz und<br />

wollen wissen, welche<br />

persönlichen Daten ihre<br />

Unternehmen erheben.<br />

Nach zahlreichen Datenskandalen<br />

und Bespitzelungsaffären<br />

will die schwarzgelbe<br />

Bundesregierung den<br />

Arbeitnehmerdatenschutz<br />

gesetzlich neu regeln. Der<br />

Koalitionsvertrag sieht dafür<br />

ein eigenes Kapitel im<br />

Bundesdatenschutzgesetz<br />

vor. Für Bundesjustizministerin<br />

Sabine Leutheusser-<br />

Schnarrenberger, die seit<br />

<strong>Jahr</strong>en gegen jede Art <strong>der</strong><br />

„Datenvorratsspeicherung“<br />

streitet, ist ein solches Gesetz<br />

unablässig.<br />

was gehört für Sie in dieses<br />

Gesetz unbedingt hinein?<br />

Es muss eindeutig geregelt<br />

werden, unter welchen VoraussetzungenArbeitneh-<br />

Foto: fotolia<br />

Arbeitnehmerschutz meist auf<br />

dem Rechtsweg statt. Danach<br />

sind sogar Lügen erlaubt, so<br />

Arbeitsrechtler Jochen Homburg<br />

von <strong>der</strong> IG Metall. Eine<br />

Schwangere darf auf die entsprechende<br />

Frage des Arbeitsgebers<br />

bei <strong>der</strong> Einstellung mit<br />

„Nein“ antworten. Höchstrichterlich<br />

sanktioniert.<br />

Doch die Politik, die den<br />

Bürger eigentlich in seinen<br />

Grund- und Bürgerrechten<br />

schützen soll, ist selbst nicht<br />

zimperlich. Beispiel „Elena“.<br />

Der „elektronische Entgeltnachweis“<br />

war eigentlich dazu<br />

gedacht, Jobcentern die<br />

Berechnung des Arbeitslosengeldes<br />

und <strong>der</strong> Sozial-<br />

merdaten überhaupt erhoben,<br />

verarbeitet und genutzt<br />

werden dürfen. Wir brauchen<br />

auch Klarheit, wonach <strong>der</strong><br />

Arbeitgeber bei <strong>der</strong> Einstellung<br />

fragen darf. Fragen nach<br />

einer Schwangerschaft sind<br />

heute schon tabu, da ist die<br />

Rechtsprechung eindeutig.<br />

Bessere Maßstäbe brauchen<br />

wir etwa bei Gesundheitsdaten.<br />

Ausgangpunkt muss<br />

immer <strong>der</strong> konkrete Arbeitsplatz<br />

sein. Beim Piloten muss<br />

<strong>der</strong> Arbeitgeber mehr über<br />

die Gesundheit wissen als bei<br />

<strong>der</strong> Kassiererin. Und weiter:<br />

Eine lückenlose Verhaltens-<br />

und Leistungskontrolle am<br />

Arbeitsplatz müssen wir verhin<strong>der</strong>n.<br />

An<strong>der</strong>erseits muss<br />

festgelegt werden, unter wel-<br />

Schwerpunk t > Arbeit<br />

leistungen zu vereinfachen.<br />

<strong>Die</strong> Idee: Arbeitgeber sollen<br />

regelmäßig Datensätze zu<br />

Einkommen und Arbeitsverhältnissen<br />

ihrer Beschäftigten<br />

an eine zentrale Speicherstelle<br />

<strong>der</strong> Deutschen Rentenversicherung<br />

liefern. Betroffen von<br />

dem <strong>2010</strong> in Kraft getretenen<br />

Gesetz sind rund 40 Millionen<br />

Arbeitnehmer. Doch „Elena“<br />

hat sich zu einem „Daten-<br />

monster“ entwickelt.<br />

Arbeitsverhalten<br />

wird geprüft<br />

Plötzlich sollen Arbeitgeber<br />

neben Einkommen sowie Art<br />

und Dauer <strong>der</strong> Beschäftigung<br />

„Es muss eindeutige Regeln geben“<br />

<strong>Die</strong> Bundesjustizministerin for<strong>der</strong>t „Arbeitnehmerdatenschutz aus einem Guss“<br />

chen Vorraussetzungen ein<br />

Arbeitgeber Daten von Arbeitnehmern<br />

verwenden darf,<br />

wenn es zum Beispiel um die<br />

Aufklärung von Straftaten,<br />

die Verletzung von Betriebsgeheimnissen<br />

o<strong>der</strong> den Verdacht<br />

auf Korruption geht. Und<br />

wir wollen die Stellung des<br />

betrieblichen Datenschutzbeauftragten<br />

weiter stärken.<br />

Gelten die neuen Regelungen<br />

auch für den Bereich<br />

E-Mail und Internet?<br />

Internet und E-Mail sind<br />

heute Standard am Arbeitsplatz.<br />

Selbst bei ausschließlich<br />

dienstlicher Nutzung ist<br />

eine lückenlose Überwachung<br />

nicht zulässig. Denn <strong>das</strong> hieße<br />

ja, den Arbeitnehmer ständig<br />

auch <strong>das</strong> Arbeitsverhalten<br />

melden: Fehlzeiten, Abmahnungen,<br />

Kündigungsgründe<br />

und die Betriebsratstätigkeit.<br />

Auf diese „Begehrlichkeiten<br />

<strong>der</strong> Politik“ hagelt es massive<br />

Kritik von Gewerkschaften<br />

und Datenschützern. Für den<br />

Arbeitsrechtler Jochen Homburg<br />

von <strong>der</strong> IG Metall<br />

verstößt „Elena“ gegen bestehendes<br />

Datenschutzrecht.<br />

„Eine solche Vorratsdatenspeicherung<br />

ist nicht erlaubt.“<br />

Verdi-Datenschützer Norbert<br />

Warga sieht in <strong>der</strong> Diskussion<br />

um „Elena“ aber auch etwas<br />

Positives: „Das Interesse am<br />

Arbeitnehmerschutz ist jetzt<br />

auf breiter Front gestiegen.“<br />

bei allem, was er tut, zu kontrollieren.<br />

Aber natürlich kann<br />

es stichprobenartige Kontrollen<br />

geben. Was die private<br />

Nutzung von Internet und E-<br />

Mail am Arbeitsplatz betrifft,<br />

lassen sich Einzelfragen gut<br />

in Betriebsvereinbarungen<br />

regeln. <strong>Die</strong> gibt es aber nicht<br />

überall. Der Gesetzgeber muss<br />

sich auch hier zu den Grenzen<br />

<strong>der</strong> Kontrolle äußern. Den<br />

gläsernen Arbeitnehmer darf<br />

es nicht geben.<br />

Sind Sie sicher, <strong>das</strong>s die<br />

Politik den Arbeitnehmerdatenschutz<br />

in dieser Legislaturperiode<br />

auf den weg<br />

bringt?<br />

Der Bundesinnenminister hat<br />

klar gesagt, <strong>das</strong>s <strong>der</strong> Arbeit-<br />

März <strong>2010</strong> 17<br />

elena<br />

„Sehr frühzeitig war ich<br />

über <strong>das</strong> Projekt informiert<br />

und konnte so eine Reihe<br />

von Schutzvorkehrungen<br />

durchsetzen. Wenn sich <strong>der</strong><br />

Gesetzgeber trotz datenschutzrechtlicher<br />

Bedenken<br />

gleichwohl für ein solches<br />

Verfahren entscheidet,<br />

dann muss zumindest ein<br />

möglichst hoher Datenschutzstandardgewährleistet<br />

werden.“<br />

Peter Schaar, Bundesbeauftragter<br />

für den Datenschutz<br />

und die Informationsfreiheit.<br />

<strong>Die</strong> Bundesjustizministerin<br />

Sabine<br />

Leutheusser-<br />

Schnarrenberger<br />

(FDP).<br />

nehmerdatenschutz für ihn<br />

absolute Priorität hat. Entsprechend<br />

hoch ist die Erwartungshaltung<br />

ihm gegenüber.<br />

Auch von meiner Seite. Ich<br />

halte <strong>das</strong> für eines <strong>der</strong> wichtigsten<br />

Themen dieser Legislaturperiode.<br />

Wir müssen da<br />

zügig ran und dürfen nicht<br />

den Eindruck erwecken, als<br />

wäre uns <strong>das</strong> Thema nicht<br />

wichtig.<br />

Interview: Rüdiger Liedtke


18 März <strong>2010</strong><br />

„Man akzeptiert mich, so wie ich bin“<br />

In den Dk Integrationsbetrieben arbeiten behin<strong>der</strong>te und nicht behin<strong>der</strong>te Menschen zusammen<br />

Von Ulrich Steilen<br />

Thomas Reuter kommt im<br />

Stechschritt, den Oberkörper<br />

leicht vorgebeugt, aus<br />

<strong>der</strong> Spülküche geschossen.<br />

Seine blaue Schirmmütze<br />

zur Begrüßung einiger Mittagsgäste<br />

schwenkend, eilt<br />

er an den wohlgeordneten<br />

Stuhlreihen und <strong>der</strong> bunten<br />

Salatbar vorbei zu einem<br />

<strong>der</strong> vollen Tablettwagen. Es<br />

ist Mittagszeit in <strong>der</strong> Mensa<br />

des Schulzentrums von<br />

Neunkirchen-Seelscheid.<br />

Rush Hour.<br />

Reuter ist einer von zehn<br />

Mitarbeitern im Team von Küchenchef<br />

Omar Gagem (44).<br />

Das Beson<strong>der</strong>e an Gagems<br />

Mannschaft: Neben einem<br />

Beikoch, einer Ernährungsberaterin<br />

und drei hauswirtschaftlichen<br />

Mitarbeiterinnen<br />

sind hier fünf Menschen mit<br />

einer schweren Behin<strong>der</strong>ung<br />

vollzeit im Einsatz. Alle haben<br />

einen unbefristeten Tarifvertrag<br />

und sind sozialversicherungspflichtig<br />

beschäftigt.<br />

Gemeinsam bewirtschaften<br />

sie seit Oktober 2008 die 400<br />

Quadratmeter große, helle<br />

Mensa des Schulzentrums.<br />

Der Arbeitsplatz<br />

als Glücksfall<br />

Hinter <strong>der</strong> Kasse steht Gabi<br />

Schmidt. „Für mich war die<br />

Eröffnung <strong>der</strong> Mensa nach<br />

<strong>der</strong> Trennung von meinem<br />

Mann ein Glücksfall“, sagt<br />

die zierliche Frau, die an Arthrose<br />

in den Beinen leidet.<br />

Mit ihren beiden Söhnen hat<br />

die gelernte Rechtsanwaltsgehilfin<br />

in Sichtweite ihrer<br />

Arbeitsstelle eine Wohnung<br />

dki gmbh<br />

a<strong>Die</strong><br />

DK Integrationsbetriebe<br />

werden als gemeinnützige<br />

GmbH vom<br />

Landschaftsverband<br />

Rheinland finanziell<br />

unterstützt. <strong>Die</strong> Aktion<br />

Mensch för<strong>der</strong>t den<br />

Mensabetrieb in Neunkirchen-Seelscheid<br />

über<br />

einen Zeitraum von fünf<br />

<strong>Jahr</strong>en mit insgesamt<br />

250.000 Euro.<br />

Fotos: Michael Bause<br />

gefunden, auf die sie ihre Kollegin<br />

Enza Giunta aufmerksam<br />

machte. Enza Giunta,<br />

eine kleine, flinke Frau mit<br />

schwarzen Locken, hilft im<br />

Küchenbereich. Seit sie im Alter<br />

von acht <strong>Jahr</strong>en von einem<br />

LKW angefahren wurde, lebt<br />

sie mit einer starken Hör- und<br />

Sprachbehin<strong>der</strong>ung. „Es hat<br />

schon sechs bis acht Wochen<br />

gebraucht, bis ich Frau Giunta<br />

verstanden habe“, sagt<br />

Küchenchef Gagem, „inzwischen<br />

funktioniert <strong>das</strong> ganz<br />

gut, auch wenn wir Späße<br />

machen.“<br />

Omar Gagem ist ein geduldiger,<br />

in sich ruhen<strong>der</strong><br />

Mensch. Unter seiner Regie<br />

werden in <strong>der</strong> hochmo<strong>der</strong>nen<br />

und blitzblanken Mensaküche<br />

jeden Tag 750 Essen zubereitet.<br />

250 davon für den Mensabetrieb<br />

in <strong>der</strong> Schule, <strong>der</strong> Rest<br />

geht an an<strong>der</strong>e Betriebe. Beim<br />

Ausfahren sind auch Thomas<br />

Reuter, <strong>der</strong> eine Lernbeeinträchtigung<br />

hat, und Lesslie<br />

Mammah mit von <strong>der</strong> Partie.<br />

Mammah, gelernter Kfz-Mechaniker,<br />

stapelt gerade die<br />

leeren Thermoboxen von <strong>der</strong><br />

heutigen Auslieferung übereinan<strong>der</strong>.<br />

Der Mann aus Sierra<br />

Leone mit dem offenen Gesicht<br />

und den wachen Augen<br />

zählt 54 <strong>Jahr</strong>e, sieht aber<br />

jünger aus. Seine rechte Hand<br />

kann er nicht bewegen. „Das<br />

ist vor vielen <strong>Jahr</strong>en vor Korea<br />

passiert. Ich habe damals<br />

auf einem Schiff gearbeitet.<br />

Schwerpunk t > Arbeit<br />

küchenchef otmar Gagem (re.) im Gespräch mit Dirk Neumann.<br />

Bei einem Unfall wurde mir<br />

<strong>der</strong> Unterarm zerquetscht“,<br />

erzählt Lesslie Mammah, <strong>der</strong><br />

seit 26 <strong>Jahr</strong>en in Deutschland<br />

lebt und vier Kin<strong>der</strong> hat.<br />

Menschen wie Thomas Reuter,<br />

Enza Giunta und Lesslie<br />

Mammah haben es schwer,<br />

in einem gewöhnlichen Unternehmen<br />

beschäftigt zu<br />

werden. Frau Giunta hat als<br />

Friseurin angefangen, aber ihre<br />

Kommunikationsprobleme<br />

haben <strong>das</strong> mit <strong>der</strong> Zeit unmöglich<br />

gemacht. Thomas Reuter<br />

versuchte sich zunächst<br />

als Bäckerlehrling. Auch in<br />

einem Metallbaubetrieb hat<br />

er gearbeitet. Aber es gab<br />

immer Probleme. „Hier hab´<br />

ich mich von Anfang an wohl<br />

gefühlt. <strong>Die</strong> Kollegen akzeptieren<br />

mich, so wie ich bin“,<br />

sagt er.<br />

Sieben Betriebe in<br />

<strong>der</strong> Gastronomie<br />

„Zu uns kommen immer wie<strong>der</strong><br />

Leute, die in ihren früheren<br />

Betrieben aussortiert wurden,<br />

weil sie mit dem Druck und <strong>der</strong><br />

Geschwindigkeit nicht mehr<br />

klar kamen. Viele sind erst<br />

deswegen krank geworden“,<br />

berichtet Christoph Rohm,<br />

Prokurist <strong>der</strong> DK Integrationsbetriebe.<br />

Das Unternehmen unterhält<br />

sieben Filialen für gastronomische<br />

<strong>Die</strong>nstleistungen.<br />

Eine davon ist die Mensa in<br />

Neunkirchen-Seelscheid. Gut<br />

50 Prozent <strong>der</strong> insgesamt<br />

100 Angestellten bei den<br />

DKI sind Menschen mit einer<br />

Behin<strong>der</strong>ung. <strong>Die</strong> Tatsache,<br />

<strong>das</strong>s sich gewöhnliche Unternehmen<br />

nach wie vor schwer<br />

tun, Arbeitnehmer mit einer<br />

Behin<strong>der</strong>ung einzustellen,<br />

liegt nach Rohms Ansicht<br />

meist an Fehleinschätzungen<br />

und Vorurteilen: „Wenn ich<br />

Arbeitgeber auf die Thematik<br />

anspreche, bekomme ich oft<br />

zu hören: Lass mich damit in<br />

Ruhe, ich hab´ ganz an<strong>der</strong>e<br />

Sorgen. Viele befürchten zum<br />

Beispiel große Umbauaktionen.<br />

In den meisten Fällen<br />

ist <strong>das</strong> aber gar nicht nötig,<br />

und wenn, dann wird es ja<br />

bezuschusst.“<br />

Zusammenhalt<br />

stärkt <strong>das</strong> Team<br />

Der Mittagsbetrieb in <strong>der</strong><br />

Neunkirchener Mensa ebbt<br />

allmählich ab. Thomas Reuter<br />

rollt einen weiteren Tablettwagen<br />

in die Spülküche. Gemeinsam<br />

mit Kollege Mammah<br />

räumt er die Tabletts ab, schüttet<br />

Essensreste in eine große<br />

Abfalltonne und stellt Teller<br />

und Geschirr in den Spülautomaten.<br />

„Wir beide arbeiten<br />

gerne zusammen, wir nehmen<br />

aufeinan<strong>der</strong> Rücksicht“,<br />

erklärt Lesslie Mammah. Und<br />

Thomas Reuter dreht seinen<br />

Kopf zur Seite und sagt voller<br />

Überzeugung: „Ich freue mich<br />

jeden Tag, wenn ich aufstehe,<br />

auf die Arbeit. Und wenn<br />

ich nachmittags nach Hause<br />

fahre, freue ich mich schon auf<br />

den nächsten Tag.“<br />

Schätzen teamwork: thomas Reuter und Lesslie Mammah.


Der Traum von <strong>der</strong> Vollbeschäftigung<br />

scheint ausgeträumt.<br />

Dennoch sind nach<br />

Ansicht des Ökonomen Joachim<br />

Weimann die Chancen,<br />

mehr Stellen zu schaffen,<br />

längst nicht ausgeschöpft.<br />

Zum Beispiel durch neue<br />

Kombilohnmodelle und eine<br />

intelligentere Sozialpolitik.<br />

In vielen Län<strong>der</strong> arbeiten <strong>–</strong><br />

gemessen an <strong>der</strong> Gesamt-<br />

bevölkerung <strong>–</strong> mehr Menschen<br />

als in Deutschland.<br />

wie kommt es, <strong>das</strong>s<br />

Deutschland da hinterher<br />

hinkt?<br />

Ein Grund ist, <strong>das</strong>s <strong>der</strong> Anteil<br />

<strong>der</strong> Frauen, die arbeiten, bei<br />

uns immer noch niedriger ist<br />

als in an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>n. Ein<br />

zweiter Grund ist im Arbeitsmarkt<br />

für Geringqualifizierte<br />

zu suchen. Wir schaffen es<br />

nicht, diese Menschen in den<br />

Arbeitsprozess zu integrieren.<br />

Stattdessen streiten wir seit<br />

<strong>Jahr</strong>en nur darum, wie wir sie<br />

versorgen sollen und regen<br />

uns darüber auf, <strong>das</strong>s <strong>der</strong><br />

„Niedriglohnsektor“ zu klein<br />

ist. Da sind uns an<strong>der</strong>e Län<strong>der</strong><br />

voraus, die auch Menschen<br />

mit niedriger Bildung am Arbeitsmarkt<br />

eine echte Chance<br />

geben.<br />

Als Mitinitator <strong>der</strong> „Magdeburger<br />

Alternative“<br />

vertreten Sie ein kombilohnmodell<br />

zur Schaffung<br />

von Arbeitsplätzen im Niedriglohnsektor.<br />

wie soll <strong>das</strong><br />

funktionieren?<br />

Geringqualifizierte haben<br />

doch deshalb am Arbeitsmarkt<br />

keine echte Chance, weil ihre<br />

Arbeit gemessen an <strong>der</strong> Pro-<br />

duktivität einfach zu teuer ist.<br />

Ein Unternehmer stellt aber<br />

nur dann jemanden ein, wenn<br />

dessen Arbeit mindestens so<br />

viel einbringt, wie sie ihn<br />

kostet. Liegen die Kosten über<br />

dem, was <strong>der</strong> Arbeiter erwirtschaftet,<br />

kommt es nicht zur<br />

Beschäftigung. Das Problem<br />

ist, <strong>das</strong>s wir in Deutschland<br />

auch einfache Arbeit mit den<br />

vollen Sozialabgaben belasten.<br />

Das sind vom ersten<br />

Euro an 42 Prozent des Bruttoarbeitsentgelts.<br />

Das macht<br />

einfache Arbeit zu teuer. <strong>Die</strong><br />

Magdeburger Alternative for<strong>der</strong>t,<br />

die Bezieher geringer<br />

Löhne von <strong>der</strong> Last <strong>der</strong> Sozialabgaben<br />

zu befreien. Damit<br />

wird ihre Arbeit schlagartig<br />

um mehr als ein Drittel billiger,<br />

ohne <strong>das</strong>s <strong>der</strong> Nettolohn<br />

für den Einzelnen sinkt. Auch<br />

für den Staat lohnt sich <strong>das</strong>.<br />

Solange jemand arbeitslos ist,<br />

zahlt er we<strong>der</strong> in die Renten-<br />

o<strong>der</strong> Krankenversicherung<br />

ein, noch kann er aus eigener<br />

Kraft seinen Lebensunterhalt<br />

bestreiten.<br />

Und worin besteht <strong>der</strong> Anreiz<br />

für die Unternehmen?<br />

Wenn einfache Arbeit billiger<br />

wird, dann werden erstens<br />

ganz neue Produkte <strong>–</strong> vor<br />

allem einfache <strong>Die</strong>nstleistungen<br />

<strong>–</strong> entstehen und damit<br />

auch neue Betätigungsfel<strong>der</strong><br />

für Unternehmen. Zweitens<br />

wird sich dann allmählich<br />

auch die Produktionsweise<br />

verän<strong>der</strong>n, weil es dann vielfach<br />

wie<strong>der</strong> günstiger wird,<br />

Menschen arbeiten zu lassen,<br />

als Maschinen.<br />

Reichen diese Maßnahmen<br />

denn aus, um Massenarbeitslosigkeit<br />

abzubauen<br />

o<strong>der</strong> sogar Vollbeschäftigung<br />

zu erreichen?<br />

Wir sind sicher, <strong>das</strong>s die Magdeburger<br />

Alternative einen<br />

substanziellen Beitrag zum<br />

Abbau <strong>der</strong> Massenarbeitslosigkeit<br />

unter den Geringqualifizierten<br />

leisten könnte.<br />

Für Vollbeschäftigung reicht<br />

<strong>das</strong> nicht, aber es würde unseren<br />

Arbeitsmarkt und die<br />

öffentlichen Kassen massiv<br />

entlasten.<br />

Müsste sich hier nicht auch<br />

<strong>der</strong> Staat aktiver einbringen<br />

als bisher?<br />

Ja, aber eben nicht als <strong>der</strong> Almosen<br />

verteilende Staat, <strong>der</strong><br />

denen, die am Arbeitsmarkt<br />

durch <strong>das</strong> Raster gefallen<br />

sind, den Lebensunterhalt<br />

spendiert. <strong>Die</strong> Aufgabe besteht<br />

vielmehr darin, eine<br />

intelligente Sozialpolitik zu<br />

betreiben, um jenen, die nur<br />

mit einer geringen Produktivität<br />

ausgestattet sind, eine faire<br />

Chance zu geben.<br />

Bleiben bei diesem Modell<br />

nicht vor allem die qualifizierten<br />

Arbeitskräfte wie<br />

Facharbeiter und sogar<br />

hochschulabsolventen auf<br />

<strong>der</strong> Strecke?<br />

<strong>Die</strong> Magdeburger Alternative<br />

ist ein Instrument zur<br />

Bekämpfung <strong>der</strong> Arbeitslosigkeit<br />

Geringqualifizierter.<br />

Nicht mehr und nicht weniger.<br />

<strong>Die</strong> Probleme, die sich<br />

in an<strong>der</strong>en Segmenten des<br />

Arbeitsmarktes stellen, lassen<br />

sich damit nicht beheben.<br />

Aber angesichts eines Anteils<br />

von annähernd 40 Prozent<br />

Langzeitarbeitslosen, von denen<br />

die meisten gering qualifiziert<br />

sind, wäre schon viel<br />

gewonnen.<br />

März <strong>2010</strong> 19<br />

„Faire Beschäftigungschancen für alle“<br />

wirtschaftswissenschaftler will mit <strong>der</strong> „Magdeburger Alternative“ mehr Arbeitsplätze schaffen<br />

„Vollbeschäftigung“<br />

bedeutet nichts an<strong>der</strong>es als<br />

<strong>das</strong>s je<strong>der</strong> etwas dazu beitragen<br />

muss, damit sich unsere<br />

„Lebensqualität“ verbessert.<br />

Welche „Arbeiten“<br />

o<strong>der</strong> „Beschäftigungen“<br />

<strong>das</strong> sein werden, bestimmt<br />

allein <strong>der</strong> Mensch. Damit<br />

<strong>das</strong>s auch so ist, müssen die<br />

erbrachten Leistungen auch<br />

bei den Menschen bleiben.<br />

Eckhard Bock<br />

3 die<strong>Gesellschafter</strong>.de<br />

Foto: picture alliance<br />

Schwerpunk t > Arbeit<br />

Neues konzept: Einfache Arbeiten sollen billiger werden, um Geringqualifizierten eine chance zu geben.<br />

Ihr Buch trägt den titel<br />

„Arbeit ist machbar“. Das<br />

klingt verhältnismäßig<br />

simpel.<br />

Natürlich ist es nicht simpel.<br />

<strong>Die</strong> Magdeburger Alternative<br />

ist ein durchaus komplexer<br />

Vorschlag. Sie sieht einige<br />

wichtige Regelungen vor, um<br />

beispielsweise zu verhin<strong>der</strong>n,<br />

<strong>das</strong>s Unternehmen einfach<br />

Arbeitslose einstellen, die von<br />

den Sozialabgaben befreit<br />

sind, und gleichzeitig Beschäftigte<br />

entlassen, um so<br />

die Sozialabgeben insgesamt<br />

zu sparen.<br />

Und wenn es trotz allem<br />

nicht gelingt, mehr Arbeit<br />

zu schaffen?<br />

<strong>Die</strong> Alternative wäre die<br />

dauerhafte finanzielle Unterstützung<br />

von mehr als drei bis<br />

vier Millionen Arbeitslosen<br />

durch jene, die beschäftigt<br />

sind. Das sollte man sich nicht<br />

wünschen.<br />

wie können Menschen ohne<br />

Job aktiv ihre chancen auf<br />

einen Arbeitsplatz verbessern?<br />

Nach wie vor gilt, <strong>das</strong>s eine<br />

gute und qualifizierte Ausbildung<br />

<strong>der</strong> beste Schutz vor Arbeitslosigkeit<br />

ist. Deshalb gewinnt<br />

auch die Weiterbildung,<br />

die neben dem Beruf erfolgt,<br />

immer mehr an Bedeutung.<br />

Das Problem ist, <strong>das</strong>s viele<br />

Menschen auch durch massive<br />

För<strong>der</strong>ung ihre Produktivität<br />

nicht nachhaltig steigern<br />

können. Unsere Aufgabe ist<br />

es, auch denen zu einer fairen<br />

Chance zu verhelfen.<br />

Interview: Joachim Merkl<br />

prof. Weimann<br />

Joachim Weimann ist<br />

Professor für Volkswirtschaftslehre<br />

an <strong>der</strong> Universität<br />

Magdeburg und<br />

Mitbegrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> „Magdeburger<br />

Alternative“.


20 März <strong>2010</strong><br />

„Mädchen haben mehr Chancen“<br />

Der Bildungssoziologe Martin Baethge for<strong>der</strong>t bessere Berufsvorbereitung von Schulabgängern<br />

prof. baethge<br />

Prof. Dr. Martin Baethge<br />

ist Präsident des SoziologischenForschungsinstituts<br />

(Sofi) an <strong>der</strong> Universität<br />

Göttingen.<br />

Der Ausbildungsmarkt sortiert<br />

aus. Jugendliche werden<br />

„geparkt“. was ist zu tun?<br />

<strong>Die</strong> Übergänge zwischen<br />

Schule und Beruf müssen<br />

besser und flexibler gestaltet<br />

werden: Momentan sind<br />

400.000 bis 500.000 Jugendliche<br />

im Übergangssystem<br />

„verwahrt“, befinden<br />

sich also zum Beispiel in<br />

Berufsgrundschuljahren o<strong>der</strong><br />

Berufsvorbereitungsjahren.<br />

<strong>Die</strong>se Zeiten werden nicht<br />

auf eine Ausbildung angerechnet,<br />

bereiten nicht zielgerichtet<br />

auf einen Beruf vor.<br />

Schwerpunk t > Arbeit<br />

Auf <strong>der</strong> Startbahn in den Job<br />

Mit Eigeninitiative, Engagement und ein bisschen Glück: Jugendliche auf ihrem weg in den Beruf<br />

Von Ursula Porwol<br />

„Dumm, faul, verantwortungslos“,<br />

meinen die<br />

einen <strong>–</strong> „flexibel, aufgeschlossen,<br />

motiviert“,<br />

sagen die an<strong>der</strong>en. Das<br />

Thema Auszubildende wird<br />

sehr emotional diskutiert.<br />

Feststeht: Je niedriger <strong>der</strong><br />

Schulabschluss, desto<br />

schwieriger ist <strong>der</strong> Start ins<br />

Arbeitsleben. Ein Haupt-,<br />

ein Realschüler, eine Abiturientin<br />

und ein Hochschulabsolvent<br />

berichten.<br />

Der Friseur:<br />

Chancen nutzen<br />

Hauptschulabsolvent Alper<br />

Tamer ist glücklich: Im vergangenen<br />

Sommer ruft Friseurmeister<br />

Robert Fuhs ihn<br />

an und teilt sachlich mit, sein<br />

neuer Chef zu sein. Der in<br />

Deutschland geborene Sohn<br />

einer türkischen Familie ist<br />

am Ziel. Eine Lehrstelle in<br />

seinem Wunschberuf Friseur.<br />

Alper hat dafür gekämpft. Er<br />

besuchte die Hauptschule in<br />

Meckenheim und erzählt von<br />

<strong>der</strong> Unterstützung, die er auch<br />

von seinen Lehrern bekommen<br />

hat. „Wir haben gelernt,<br />

uns auf dem Arbeitsmarkt<br />

kundig zu machen.“ Sein Tipp<br />

ist Eigeninitiative. „Ich habe<br />

mehrere Praktika absolviert.“<br />

Unter an<strong>der</strong>em auch bei<br />

Friseur Fuhs, <strong>der</strong> sich seinen<br />

potenziellen Auszubildenden<br />

Fotos: Michael Bause<br />

Alper tamer hat endlich einen Ausbildungsplatz.<br />

mehrmals zum Probearbeiten<br />

ins Geschäft holte, vor allem<br />

um eines zu beurteilen: Das Interesse<br />

an dem Beruf. Viele seiner<br />

Kollegen nähmen nur noch<br />

Auszubildende, die mindestens<br />

einen Realschulabschluss in die<br />

Waagschale werfen könnten.<br />

„Völliger Quatsch“, findet Fuhs,<br />

<strong>der</strong> beim Zentralverband des<br />

Deutschen Friseurhandwerks<br />

den Berufsbildungs-Ausschuss<br />

leitet. Er ortet <strong>das</strong> Problem<br />

auch bei den Betrieben, die<br />

<strong>Die</strong> Jugendlichen verharren<br />

in Perspektivlosigkeit und<br />

reagieren auf die „Aufbewahrung“<br />

demotiviert. Gute<br />

Erfahrungen wurden in Bayern<br />

etwa mit „Praktikumsklassen“<br />

gemacht: schulmüde<br />

Jugendliche gehen zwei Tage<br />

wöchentlich in Betriebe, <strong>das</strong><br />

kognitive Niveau dieser Klassen<br />

ist etwas niedriger <strong>–</strong> dafür<br />

steigt aber die Motivation.<br />

wie kann die allgemeinbildende<br />

Schule unterstützen?<br />

Beson<strong>der</strong>s die Hauptschule<br />

muss ein höheres Niveau er-<br />

<strong>Die</strong> Berufswahl fiel christoph Brassel schwer.<br />

Jugendliche „unterstützen<br />

müssen, wenn Defizite da<br />

sind.“ Auch Hauptschüler<br />

könnten mit Lernbereitschaft<br />

viel erreichen, unentbehrlich<br />

aber seien die überfachlichen<br />

Qualifikationen, also etwa<br />

reichen und noch stärker bei<br />

<strong>der</strong> Berufsorientierung helfen,<br />

etwa durch Integration zusätzlicher<br />

praktischer Phasen<br />

in Unternehmen. Das für die<br />

Berufsentscheidung erfor<strong>der</strong>liche<br />

Maß an Eigeninitiative<br />

bringen nicht alle Jugendlichen<br />

selbstständig auf. Jungen haben<br />

übrigens größere Schwierigkeiten<br />

im Schulsystem als<br />

Mädchen, die <strong>das</strong> entschieden<br />

bessere Bildungsniveau haben.<br />

<strong>Die</strong> Mädchen hängen die<br />

Jungen ab?<br />

Mädchen haben auch deut-<br />

Verantwortungsbewusstsein<br />

und Teamorientierung. Alper<br />

Tamer, <strong>der</strong> gutaussehende junge<br />

Mann mit dem schmalen<br />

Bartstreifen und <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen<br />

schwarzen Hornbrille, nutzt<br />

seine Chance: Charmant regelt<br />

lich mehr Optionen auf dem<br />

Ausbildungsmarkt als Jungen.<br />

<strong>Die</strong> Entwicklung des<br />

Arbeitsmarktes hin zu <strong>Die</strong>nstleistungsberufen,<br />

wie etwa im<br />

Pflegebereich, ist positiv. In<br />

den klassischen Facharbeiterberufen,<br />

die Jungen vorziehen,<br />

sind die Angebote drastisch zurückgegangen.<br />

Das ist einer <strong>der</strong><br />

Gründe, warum 60 Prozent <strong>der</strong><br />

Jugendlichen im Übergangssystem<br />

Jungen sind. Zukünftig<br />

muss es heißen: „Männer in<br />

Frauenberufe“.<br />

Interview: Ursula Porwol


er die Termine, serviert Kaffee<br />

und schneidet auch schon<br />

Haare <strong>–</strong> allerdings erst an Modellen,<br />

so wie es sich im ersten<br />

Lehrjahr gehört.<br />

Der Kaufmann:<br />

Auf Umwegen zum Ziel<br />

Christoph Brassel, 21 <strong>Jahr</strong>e,<br />

hat schon eine kleine Odyssee<br />

hinter sich. Das mit dem Realschulabschluss<br />

klappt noch<br />

ganz gut. Aber die eigenen<br />

Fähigkeiten einschätzen können?<br />

Das hat nicht auf Anhieb<br />

hingehauen. Es gibt auch einfachere<br />

Dinge, als sich auf dem<br />

Arbeitsmarkt orientieren zu<br />

müssen. „Allein seit 1996 sind<br />

80 Ausbildungsberufe neu erfunden<br />

worden“, sagt Joachim<br />

Ulrich vom Bundesinstitut<br />

für Berufsbildung (BiBB). Für<br />

Christoph Brassel zu viele Entscheidungsmöglichkeiten.<br />

Der<br />

Computerfan will zunächst<br />

aus seinem Hobby einen Beruf<br />

machen, geht ein <strong>Jahr</strong> auf<br />

eine Informatik-Fachschule,<br />

bis ihm klar wird, „<strong>das</strong> ist es<br />

nicht“. Also Neustart. Es folgen<br />

Praktika als Koch, Raumausstatter<br />

und Verkäufer. <strong>Die</strong> Orientierungsangebote<br />

<strong>der</strong> Schule<br />

waren zwar da, aber die Entscheidung<br />

über die Richtung<br />

des zukünftigen Lebens muss<br />

<strong>der</strong> Jugendliche selbst fällen.<br />

Er bewirbt sich bei Knauber,<br />

einem großen Freizeitmarkt,<br />

als Kaufmann im Einzelhandel<br />

<strong>–</strong> und beweist schon in seinem<br />

ersten Lehrjahr, <strong>das</strong>s er genau<br />

<strong>der</strong> Richtige ist. Begeistert<br />

berichtet er von dem Gefühl,<br />

dazuzugehören. Brassel hat<br />

sich seine Ausbildungsstelle<br />

erkämpft, dafür musste er sich<br />

gehörig auf den Zahn fühlen<br />

lassen. Ausbildungsleiterin<br />

Gabi Dumjahn erläutert <strong>das</strong><br />

Verfahren, <strong>das</strong> alle Bewerber<br />

absolvieren müssen: „Bewerbungsunterlagen,Gruppendiskussion,<br />

Rollenspiele, Einzelinterviews,Schnupperarbeiten.<br />

„Mein Herz hat bis zum<br />

Hals gepocht“, erinnert sich<br />

Christoph Brassel, <strong>der</strong> heute<br />

im Sanitär- und Elektrobereich<br />

eingesetzt ist. Gabi Dumjahn<br />

achtet auf die Einstellung <strong>der</strong><br />

Jugendlichen. „Für uns ist auch<br />

<strong>der</strong> Umgang mit den Kunden<br />

entscheidend. <strong>Die</strong> Auszubildenden<br />

müssen es wollen. Alles<br />

an<strong>der</strong>e kann man lernen!“<br />

<strong>Die</strong> Krankenschwester:<br />

Lebenslang lernen<br />

Wo soll es nach dem Abi hingehen?<br />

<strong>Die</strong> heute 22-jährige<br />

Madeleine Rüdiger fühlt sich<br />

in ihrer Schulzeit in Lörrach<br />

Engagiert in <strong>der</strong> krankenpflege: Madeleine Rüdiger.<br />

Schwerpunk t > Arbeit<br />

<strong>der</strong> Biologie zugetan, „ <strong>das</strong> war<br />

auch einer meiner Leistungskurse“.<br />

Sie nimmt schon als<br />

Schülerin Kontakt mit Laboren<br />

auf, schnuppert dort in<br />

den Ferientagen rein. Schnell<br />

zeigt sich: „Das ist es nicht.“<br />

Den ganzen Tag allein mit Reagenzgläsern<br />

unter Neonlampen<br />

stehen. Das kann sie sich<br />

beim besten Willen „nicht für<br />

<strong>das</strong> ganze Leben“ vorstellen.<br />

Sie geht in an<strong>der</strong>e Bereiche,<br />

macht Praktika: Physiotherapie,<br />

Datenanalyse und Servicekraft<br />

in einem Restaurant.<br />

Alles nichts. Dann beginnt sie<br />

im Herbst 2008 eine Ausbildung<br />

in <strong>der</strong> Gesundheits- und<br />

Krankenpflege <strong>der</strong> Uni-Klinik<br />

Köln. <strong>Die</strong> zierliche Frau mit den<br />

dunklen, kurzgeschnittenen<br />

Haaren zieht vom Süden ins<br />

Rheinland. Und wirft sich ins<br />

Berufsleben. Sechs Wochen<br />

Schule, sechs Wochen Station<br />

<strong>–</strong> anstrengend, aber ihre braunen<br />

Augen leuchten, wenn sie<br />

von ihrem Beruf erzählt, und<br />

lassen <strong>das</strong> Engagement <strong>der</strong><br />

jungen Krankenpflegeschülerin<br />

erahnen. Außerdem wisse<br />

sie jetzt ganz genau, was sie<br />

wolle: eine solide Ausbildung,<br />

die Möglichkeiten des Aufstiegs<br />

böte. Ihr Leben mit 30<br />

<strong>Jahr</strong>en? Ganz klar, weiterbilden.<br />

Bis zur Rente tagtäglich<br />

auf die gleiche Station gehen,<br />

dort die Schicht absolvieren<br />

und <strong>das</strong> war es? „Nein, ich<br />

werde meine Optionen im<br />

Schwesternberuf nutzen.“ <strong>Die</strong><br />

Ausbildungsleiterin <strong>der</strong> Uni-<br />

Klinik Köln, Susanne Hombach-Böhnke,<br />

macht es sich<br />

nicht einfach mit <strong>der</strong> Auswahl<br />

passen<strong>der</strong> Bewerber. Bis zu<br />

1200 Interessenten schickten<br />

ihre Bewerbung, 90 würden<br />

ausgewählt.<br />

Der Diplom-Kaufmann:<br />

Fit für die Spitze<br />

<strong>Die</strong> zukünftigen Führungskräfte<br />

<strong>der</strong> Telekom werden<br />

beson<strong>der</strong>s gehegt. Caglar Bilgin,<br />

26 <strong>Jahr</strong>e, in Deutschland<br />

geborener Sohn türkischer<br />

Einwan<strong>der</strong>er, ist einer von<br />

ihnen. Dunkler Anzug, dezent<br />

rose-farbenes Hemd, gestreifte<br />

Krawatte. Äußerlich<br />

schon Top-Manager. Und innerlich<br />

auf dem Weg dorthin,<br />

obwohl er bescheiden verkündet:<br />

Nicht je<strong>der</strong> Teilnehmer<br />

des „Start-up!“-Programms<br />

<strong>der</strong> Telekom kann Führungskraft<br />

werden. Aber Start-up!<br />

sieht genau <strong>das</strong> vor: 50 Menschen<br />

mit Führungspotenzial<br />

werden aus 4.400 Bewerbern<br />

herausgefiltert. Alle haben einen<br />

akademischen Abschluss.<br />

Das Studium zum Diplom-<br />

Kaufmann an <strong>der</strong> Uni Köln<br />

„war gut“. Berufsorientierung<br />

am Gymnasium in Nie<strong>der</strong>kassel?<br />

„Gab es bestimmt“, meint<br />

Caglar Bilgin, erinnern könne<br />

er sich aber nicht wirklich.<br />

<strong>Die</strong> akademische Ausbildung<br />

könne nur Theorie<br />

vermitteln, <strong>der</strong> Rest käme im<br />

Unternehmen. Bilgin bereitet<br />

momentan Präsentationen für<br />

den Vorstand vor. Seine Schul-<br />

und Unikarriere ist glatt, beinahe<br />

wie aus dem Lehrbuch.<br />

Sogar <strong>das</strong> soziale Engagement<br />

fehlt nicht. „Nur studieren<br />

reicht nicht. <strong>Die</strong> eigene Persönlichkeit<br />

zu entwickeln ist<br />

wichtig.“<br />

März <strong>2010</strong> 21<br />

will sich bei <strong>der</strong> telekom weiterentwickeln: caglar Bilgin.<br />

In Bezug auf die Erwartungen<br />

an die Ausbildungspraxis<br />

zeigt sich,<br />

<strong>das</strong>s die Auszubildenden<br />

hohen Wert darauf legen,<br />

in den Betrieben „echte<br />

Arbeit“ zu leisten und dabei<br />

auch Verantwortung<br />

zu übernehmen. Hierfür<br />

sind sie häufig auch bereit,<br />

Belastungen wie Überstunden<br />

auf sich zu nehmen. In<br />

„Ein zentraler Punkt“, unterstreicht<br />

Bilgins Mentor, Christoph<br />

Hör<strong>der</strong>, Leiter Konzerncontrolling<br />

für die Bereiche Regulierung<br />

und Personal. „Wir<br />

achten bei <strong>der</strong> Auswahl für <strong>das</strong><br />

Start-up!-Programm sehr auf<br />

die Persönlichkeit. <strong>Die</strong> Zeugnisse<br />

sind nur die Eintrittskarte,<br />

wir sind nicht auf Einser-Absolventen<br />

beschränkt.“<br />

Caglar Bilgin freut sich<br />

schon auf seinen Auslandsaufenthalt<br />

bei T-Mobile in Seattle.<br />

An <strong>der</strong> Uni in San <strong>Die</strong>go war er<br />

schon während des Studiums.<br />

Und plötzlich ist er nicht mehr<br />

busy, son<strong>der</strong>n einfach ein<br />

junger Mann, <strong>der</strong> sich freudig<br />

daran erinnert, <strong>das</strong>s er in San<br />

<strong>Die</strong>go am „22. Dezember noch<br />

surfen konnte“.<br />

den Antworten <strong>der</strong> Auszubildenden<br />

wird allerdings<br />

auch deutlich, <strong>das</strong>s sie ihre<br />

Leistungsbereitschaft an<br />

Bedingungen knüpfen: Es<br />

ist ihnen wichtig, nicht nur<br />

in die Arbeitsabläufe, son<strong>der</strong>n<br />

auch in den Kollegenkreis<br />

integriert zu werden.<br />

Andreas krewerth<br />

3 die<strong>Gesellschafter</strong>.de


22 März <strong>2010</strong><br />

Von Jutta vom Hofe<br />

In Bremen attackiert eine<br />

Handvoll Aktivisten die herrschende<br />

Arbeitsmoral. Ihr<br />

Verein nennt sich Otium <strong>–</strong><br />

Initiative zur Rehabilitation<br />

von Muße und Müßiggang.<br />

Seit zehn <strong>Jahr</strong>en kämpfen die<br />

Mitglie<strong>der</strong> von Otium (lat. für<br />

Muße) nun schon für mehr<br />

Pausen, Einkehr und einen<br />

entspannteren Alltag. Ihre<br />

Waffen: Lesungen, Vorträge,<br />

Happenings. Ihr größter<br />

Feind: <strong>der</strong> Acht-Stunden-Tag.<br />

An vor<strong>der</strong>ster Front: Felix<br />

Quadflieg, 51 <strong>Jahr</strong>e alt und<br />

einer <strong>der</strong> Vereinsgrün<strong>der</strong>.<br />

Sind Sie ein Müßiggänger?<br />

Lei<strong>der</strong> noch nicht. Aber ich<br />

versuche mein Bestes.<br />

wie wollen Sie Sie Ihrem<br />

Ziel näher kommen?<br />

Ich habe eine halbe Stelle als<br />

Lehrer. So habe ich mehr Zeit<br />

fürs Theaterspielen, meine<br />

Lesungen für Otium, zum<br />

Nachdenken o<strong>der</strong> einfach fürs<br />

Nichtstun. Dafür verzichte ich<br />

auf Einkommen, lebe aber genussvoller,<br />

habe einfach mehr<br />

Lebensqualität.<br />

warum ist Müßiggang für<br />

Sie und Ihren Verein so<br />

wichtig?<br />

In unserer Gesellschaft definiert<br />

sich je<strong>der</strong> nur über<br />

Arbeit. Wer nicht sehr viel<br />

im Beruf leistet, ist mit sich<br />

unzufrieden und wird gesellschaftlich<br />

geächtet. Er o<strong>der</strong> sie<br />

gilt als überflüssig und fühlt<br />

sich auch so. Überall wird man<br />

auf Effizienz getrimmt, sogar<br />

in <strong>der</strong> Freizeit und im Urlaub<br />

geht es um Leistung. Zu diesem<br />

Denken passt es, <strong>das</strong>s zum<br />

Beispiel auch Hartz-IV-Empfänger<br />

zur Arbeit gezwungen<br />

werden sollen <strong>–</strong> und wenn sie<br />

die städtischen Grünanlagen<br />

Schwerpunk t > Arbeit<br />

„Faulheit ist nichts Schlechtes“<br />

Gegen die Idealisierung von Arbeit <strong>–</strong> Bremer Verein setzt sich für die För<strong>der</strong>ung des Müßiggangs ein<br />

„<br />

Foto: picture alliance<br />

fegen. Das wichtigste im Leben<br />

ist aber, mit Freude und<br />

Muße zu leben. Und Zeit zu<br />

haben, sich weiter zu entwickeln,<br />

eigene Fähigkeiten zu<br />

entdecken, die über den Job<br />

hinausgehen. Wir möchten,<br />

<strong>das</strong>s <strong>das</strong> Innehalten endlich<br />

wertgeschätzt wird. Arbeit<br />

darf nicht mehr <strong>der</strong> einzige Zugang<br />

zu Sinn, Status und Geld<br />

sein. Zur Zeit ist es bei uns so,<br />

<strong>das</strong>s die Leute ohne Arbeit gar<br />

nicht mehr leben können.<br />

können Sie denn ohne leben?<br />

Nee, könnte ich nicht. Das<br />

wollte ich auch gar nicht. Aber<br />

ich möchte Arbeit und Muße<br />

in meinem Leben an<strong>der</strong>s gewichten<br />

als <strong>das</strong> üblicherweise<br />

<strong>der</strong> Fall ist. Muße und Müßiggang<br />

sollten wie<strong>der</strong> als <strong>der</strong><br />

Ausgangspunkt menschlichen<br />

Seins benannt werden. Heute<br />

Müßiggang ist aller<br />

Laster Anfang und aller<br />

entscheidenden Fähigkeiten<br />

Ursprung, Prüfung<br />

und Lohn.<br />

Heimito von Do<strong>der</strong>er (1896 <strong>–</strong> 1966)<br />

otium e.V. rät allen Zeitgenossen, öfters mal auszuspannen.<br />

“<br />

hat man fast vergessen, <strong>das</strong>s<br />

<strong>das</strong> Ziel allen menschlichen<br />

Trachtens war, mit technischen<br />

Erfindungen <strong>das</strong> Leben zu<br />

erleichtern, also sich von <strong>der</strong><br />

Bürde <strong>der</strong> Arbeit zu befreien.<br />

Selbst beim oft missverstandenen<br />

Marx bedeutet Arbeit<br />

ja Mittel zum Zweck ihrer<br />

Überwindung und nicht etwa<br />

Selbstzweck, geschweige denn<br />

menschliche Bestimmung.<br />

warum sprechen Sie nicht<br />

von Faulheit?<br />

Ich habe nichts gegen Faulheit,<br />

<strong>das</strong> ist nichts Schlechtes.<br />

Je<strong>der</strong> Mensch sollte ein Recht<br />

auf Faulheit haben. Aber <strong>der</strong><br />

Mensch ist nicht darauf angelegt,<br />

nur faul zu sein. Das ist<br />

letztlich unbefriedigend. Er<br />

will sich betätigen, selbst erfahren,<br />

entwickeln. Aber man<br />

kann eben auch mit Muße tätig<br />

sein. Muße ist nicht <strong>das</strong>selbe<br />

wie Faulheit, aber Faulheit ist<br />

auch ein Teil von Muße.<br />

Gibt es einen Unterschied<br />

zwischen „tätigkeit“ und<br />

„Arbeit“?<br />

Wenn ich mich in einer Tätigkeit<br />

verliere, dann ist es für<br />

mich nicht mehr Arbeit. Dann<br />

kann ich auch mal Tag und<br />

Nacht an etwas sitzen. Wenn<br />

ich <strong>das</strong>, was ich tue, aber in<br />

Geld und Stunden umrechne,<br />

dann ist es Arbeit.<br />

was sagen eigentlich arbeitslose<br />

Menschen zu<br />

Ihren Vereinszielen?<br />

Einige finden es toll. Bei an<strong>der</strong>en<br />

ernten wir allerdings<br />

wütenden Protest. Sie fühlen<br />

sich missverstanden und nicht<br />

ernst genommen.<br />

wer sind eigentlich die Mitglie<strong>der</strong><br />

in Ihrem Verein?<br />

Rentner, ein ehemaliger Ingenieur,<br />

ein frühpensionierter<br />

Lehrer, jemand von einem<br />

Hospizdienst, eine Theaterpädagogin.<br />

„<br />

keine Manager o<strong>der</strong><br />

Selbstständigen?<br />

In Unternehmen und Managerkreisen<br />

gibt es durchaus Interesse<br />

an unserem Thema. Wir<br />

werden zum Beispiel von großen<br />

Firmen zu Vorträgen eingeladen.<br />

Unvergessen ist eine<br />

Wortmeldung einer Managerin<br />

eines großen Autokonzerns, die<br />

meinte, für sie wäre es unmöglich,<br />

auch nur 14 Tage Urlaub im<br />

<strong>Jahr</strong> zu nehmen. Dann würde<br />

je<strong>der</strong> sagen, wer sich <strong>das</strong> leisten<br />

kann, ist überflüssig.<br />

wie soll denn <strong>der</strong> Müßiggang<br />

<strong>der</strong> Menschen finanziert<br />

werden?<br />

Geld ist genug da. Das haben wir<br />

nicht zuletzt in <strong>der</strong> Finanzkrise<br />

gesehen. O<strong>der</strong> schauen Sie sich<br />

Über otium<br />

„Wir können nur noch<br />

in den tiefsten Erinnerungsschichten<br />

erahnen,<br />

was Muße, Müßiggang<br />

einmal gewesen sind. <strong>Die</strong><br />

beiden Begriffe haben einen<br />

enormen Wertewandel<br />

durchlaufen. Sicher<br />

seit Martin Luther werden<br />

die Tugenden <strong>der</strong> Muße<br />

und des Müßiggangs<br />

systematisch zu Lastern<br />

umgemünzt. Seitdem etwa<br />

heißt es, <strong>das</strong>s <strong>der</strong> Müßiggang<br />

aller Laster Anfang<br />

sei. Muße sollte unserer<br />

Meinung nach aber wie<strong>der</strong><br />

als <strong>der</strong> Ausgangspunkt<br />

menschlichen Seins benannt<br />

werden.“<br />

die obszön hohen Gehälter von<br />

manchen Managern, manchen<br />

Sportlern o<strong>der</strong> Künstlern an.<br />

<strong>Die</strong>se Menschen können <strong>das</strong><br />

Geld, <strong>das</strong> sie verdienen, gar<br />

nicht ausgeben. Sie haben auch<br />

gar nicht die Zeit dazu. Statt <strong>das</strong><br />

Geld - wie in den letzten <strong>Jahr</strong>en<br />

geschehen - von unten nach<br />

oben zu verteilen, sollte man<br />

von oben nach unten verteilen.<br />

Nie wie<strong>der</strong><br />

Vollbeschäftigung <strong>–</strong> wir haben<br />

Besseres zu tun!<br />

Ulrich Beck (1844)<br />

“<br />

Ich plädiere deshalb auch für<br />

ein bedingungsloses Grundeinkommen.<br />

Je<strong>der</strong> soll auch ohne<br />

Arbeit leben dürfen.<br />

Glauben Sie nicht, <strong>das</strong>s <strong>das</strong><br />

ausgenutzt werden könnte?<br />

Nein, weil es einfach ein Bedürfnis<br />

des Menschen ist, sich<br />

zu betätigen. Man sollte dies<br />

nur nicht erzwingen. Das beraubt<br />

die Menschen ihrer Kreativität,<br />

macht sogar krank. Den<br />

Raubbau sehen wir auch in <strong>der</strong><br />

Natur, im Verbrauch unserer<br />

Ressourcen. Je<strong>der</strong> Mensch,<br />

<strong>der</strong> viel arbeiten will, sollte es<br />

tun. Aber je<strong>der</strong> sollte auch mit<br />

demselben Recht und Respekt<br />

nichts tun dürfen.<br />

www.otium-bremen.de


Hürdenlauf am Stock<br />

In kiel testen Verwaltungsmitarbeiter, wie behin<strong>der</strong>tenfreundlich die Stadt ist<br />

Von Esther Geißlinger<br />

Je<strong>der</strong> Bürgersteig neigt sich<br />

<strong>der</strong> Straße zu. Muss so<br />

sein, damit <strong>der</strong> Regen sich<br />

nicht sammelt. Ist mir nie<br />

aufgefallen, aus Fußgängerperspektive.<br />

Jetzt reißt<br />

die unsichtbare Neigung an<br />

meinen Schultern, meinem<br />

Armen. Ich kämpfe, aber<br />

ich rolle unhaltbar <strong>der</strong> Straße<br />

entgegen. Kurz bevor<br />

ich über die Bordsteinkante<br />

kippe, steuere ich<br />

mit vollem Körpereinsatz<br />

gegen. „Nicht mit den Füßen“,<br />

sagt Sabine Dittmann<br />

streng. Richtig, <strong>das</strong> darf ich<br />

nicht. Denn ich bin, ein paar<br />

Stunden lang, Rollstuhlfahrerin,<br />

und Sabine Dittmann<br />

zeigt mir, wie <strong>das</strong> geht.<br />

<strong>Die</strong> 44-Jährige sitzt selbst<br />

im Rollstuhl, eine schlanke,<br />

sportliche Frau <strong>–</strong> meist fährt<br />

sie per Handbike durch Kiel<br />

und misst hauptberuflich die<br />

Stadt für die Neuausgabe<br />

eines Rollstuhl-Stadtführers<br />

aus. Dittmann ist Fachfrau für<br />

Rampen und behin<strong>der</strong>tengerechte<br />

Klos, kennt sich aus mit<br />

Treppen und Kanten, die <strong>das</strong><br />

Leben mit Rollstuhl, Rollator<br />

o<strong>der</strong> an Krücken erschweren.<br />

Sie weiß natürlich auch über<br />

<strong>das</strong> Gefälle Bescheid, <strong>das</strong> in<br />

jeden Bürgersteig eingebaut<br />

ist. Nur ein o<strong>der</strong> zwei Grad<br />

<strong>–</strong> aber ich fahre Schlangenlinien.<br />

Rainer Bohn dagegen<br />

hat den Trick schon raus:<br />

„Gegenlenken, wie beim Paddeln!“,<br />

sagt <strong>der</strong> 55-Jährige,<br />

<strong>der</strong> im Kieler Tiefbauamt ar-<br />

Ich möchte erleben,<br />

wie ein Rollstuhlfahrer<br />

vor dem Aufzug steht und<br />

die Leute für ihn aussteigen<br />

und <strong>das</strong> Treppenhaus<br />

benutzen! Erläuterung:<br />

Während eines Urlaubes<br />

auf einem Kreuzfahrtschiff<br />

standen wir in einem vollen<br />

Aufzug. Der Fahrstuhl hielt<br />

und für den Rollstuhlfahrer,<br />

<strong>der</strong> rein wollte, war<br />

kein Platz. Keiner, auch wir<br />

nicht, stieg aus.<br />

Andreas Man<strong>der</strong>feld<br />

3 die<strong>Gesellschafter</strong>.de<br />

Fotos: Esther Geisslinger<br />

Sabine Dittman, Fachfrau für Rollstuhlfahrer.<br />

beitet. Und noch etwas hat er<br />

gelernt: „Bei langen Rampen<br />

muss man Pausen machen,<br />

also geht es gar nicht ohne<br />

Plateaus.“<br />

Hin<strong>der</strong>nisse<br />

entdecken<br />

Eben solche Dinge sind es, die<br />

Maria Pötter, in <strong>der</strong> Verwaltung<br />

zuständig für barrierefreies<br />

Bauen, vermitteln möchte. <strong>Die</strong><br />

Stadt Kiel tut einiges, damit<br />

Menschen mit Behin<strong>der</strong>ungen<br />

sich eigenständig bewegen<br />

können. So gibt es einen Beirat,<br />

dem Menschen mit unterschiedlichen<br />

Behin<strong>der</strong>ungen<br />

angehören. Das Gremium steht<br />

<strong>der</strong> „Beratungsstelle für barrierefreies<br />

Bauen“ zur Seite, die<br />

bei städtischen Baumaßnahmen<br />

ein Wörtchen mitzureden<br />

hat und Privatleute gebührenfrei<br />

berät. Wenn Hin<strong>der</strong>nisse<br />

auffallen <strong>–</strong> bei Begehungen<br />

o<strong>der</strong> weil sich jemand beschwert<br />

<strong>–</strong> versucht die Stadt,<br />

sie zu beheben. Jährlich stehen<br />

dafür 150.000 Euro zur Verfügung:<br />

Das reicht immerhin, um<br />

Kleinigkeiten zu verbessern.<br />

Hin und wie<strong>der</strong> lädt Pötter<br />

die Fachleute <strong>der</strong> Verwaltung<br />

Engagement<br />

ein zu erleben, wie sich ihre<br />

Stadt aus Rollstuhlperspektive<br />

o<strong>der</strong> am Blindenstock anfühlt.<br />

Denn was dem einen hilft, ist<br />

für den an<strong>der</strong>en ein Problem:<br />

Wird ein Bordstein auf Null abgesenkt,<br />

wie Rollstuhlfahrer es<br />

wünschen, stehen Blinde ohne<br />

Vorwarnung auf <strong>der</strong> Straße:<br />

„Und dann ist <strong>das</strong> nächste Auto<br />

meins“, sagt Hiro Weinhold.<br />

<strong>Die</strong> energische 64-Jährige ist<br />

die zweite Trainerin an diesem<br />

Tag. 1991 ist die ehemalige<br />

Röntgenassistentin nach einer<br />

Star-Operation erblindet. Meist<br />

ist sie mit ihrem Labrador Ronnie<br />

unterwegs, aber heute hat<br />

<strong>der</strong> Blindenhund frei. Weinhold<br />

verteilt schwarze Brillen<br />

und Stöcke und lauscht amüsiert<br />

unseren tapsigen Tastversuchen.<br />

„Ja, die Stadt gibt sich<br />

schon Mühe“, sagt sie. Dennoch<br />

gebe es immer wie<strong>der</strong> etwas zu<br />

bemängeln. „Aber ich trample<br />

den Leuten gern auf die Füße.<br />

Und irgendwann kriege ich<br />

meine sprechende Ampel.“<br />

Blind sein<br />

ist Stress<br />

<strong>Die</strong> könnte ich jetzt brauchen:<br />

<strong>Die</strong> Autos klingen riesig. „Ist<br />

<strong>das</strong> ein Lastwagen?“, frage ich.<br />

„Nee, ein Smart“, sagt Marc<br />

Jestrimsky. Er selbst hat schon<br />

nach ein paar Metern mit Stock<br />

und Brille aufgegeben: „Ich<br />

kann <strong>das</strong> nicht, ich habe Angst.“<br />

Hilflos zu sein, passe ihm gar<br />

nicht, sagt <strong>der</strong> 41-jährige Architekt,<br />

<strong>der</strong> sich seit <strong>Jahr</strong>en für<br />

Barrierefreiheit einsetzt: „Aus<br />

purem Egoismus. Irgendwann<br />

bin ich alt, dann vielleicht<br />

selbst auf Rollstuhl o<strong>der</strong> Blindenstock<br />

angewiesen. Dann<br />

will ich nicht mehr kämpfen,<br />

also tue ich es heute.“<br />

Rollstuhlfahren ist anstrengend,<br />

aber Blindsein bedeutet<br />

Stress. Ich merke, wie ich mich<br />

krümme vor Angst, gegen ein<br />

Hin<strong>der</strong>nis zu laufen. Dabei<br />

fängt es gut an: An unserem<br />

Startpunkt verläuft ein Plattenweg,<br />

in dessen Rillen die<br />

Gummikappe des Stocks bequem<br />

dahin gleitet. Plötzlich<br />

Erfahrung gewinnen: Mitarbeiter <strong>der</strong> Stadt kiel ertasten „neue“ wege.<br />

März <strong>2010</strong> 2<br />

aber endet <strong>der</strong> Weg, <strong>das</strong> Feld<br />

dahinter fühlt sich unter dem<br />

Stock rau an. Teilt sich hier die<br />

Strecke, droht eine Gefahr? Sabine<br />

Dittmann, die neben den<br />

Stockgängern herfährt <strong>–</strong> „die<br />

Lahmen helfen den Blinden“,<br />

kommentiert Hiro Weinhold <strong>–</strong><br />

beruhigt: „Nur ein Stück Kopfsteinpflaster.“<br />

Offenbar aus<br />

optischen Gründen <strong>–</strong> Weinhold<br />

schnaubt verärgert <strong>–</strong> ist die<br />

Führungsspur unterbrochen.<br />

Es sind nur 50 Zentimeter, aber<br />

es dauert, dieses Hin<strong>der</strong>nis mit<br />

dem Stock abzutasten und zu<br />

überwinden. Kurz darauf hört<br />

die Rillenreihe einfach auf.<br />

Über solch mangelnde Sorgfalt<br />

regt sich Marc Jestrimsky<br />

auf. Genau wie über die frisch<br />

eingeweihte Behin<strong>der</strong>tentoilette,<br />

von <strong>der</strong> Sabine Dittmann<br />

erzählt: An beiden Seiten des<br />

Klos sind Griffe befestigt, die<br />

sich nicht hochklappen lassen.<br />

„Dabei ist Geräteturnen nicht<br />

mal paralympische Sportart“,<br />

sagt sie und erklärt, warum die<br />

Zufahrt beidseits möglich sein<br />

muss: „Nicht alle Rollstuhlfahrer<br />

haben zwei starke Hände.“<br />

Ein Seminar<br />

bringt weiter<br />

Aus solchen Erfahrungen sei<br />

die Idee mit dem Seminar geboren,<br />

sagt Dittmann: „Wenn<br />

wie<strong>der</strong> Quatsch gebaut wird,<br />

möchte man den Leuten zeigen,<br />

wie sich <strong>das</strong> auswirkt.“ Mit dem<br />

aktuellen Seminar ist sie zufrieden.<br />

„Aber es wäre schön, wenn<br />

nicht immer nur die kommen,<br />

die sich ohnehin mit dem Thema<br />

beschäftigt haben.“


24 März <strong>2010</strong> Forschung<br />

Wie Forscher <strong>das</strong> Gehirn durchleuchten<br />

Volltreffer für die werbeindustrie <strong>–</strong> Manipulationsgefahr für die Menschen?<br />

Von Ursula Porwol<br />

Eifrig suchen sie ihn: Den<br />

„Knopf im Gehirn“, den sie<br />

drücken müssen, damit <strong>das</strong><br />

richtige Produkt gekauft<br />

wird. Neurowissenschaftler<br />

durchleuchten Gehirne, um<br />

Werbekampagnen noch erfolgreicher<br />

zu machen.<br />

Forscher schieben Testpersonen<br />

in einen Hirnscanner<br />

und zeigen ihnen unterschiedliche<br />

Fotos. <strong>Die</strong> Probanden<br />

sprechen nicht <strong>–</strong> und verraten<br />

dennoch viel. <strong>Die</strong> Reaktionen<br />

ihrer Gehirne auf die präsentierten<br />

Fotos, die sich auf<br />

Bildschirmen zeigen, geben<br />

den Blick auf Informationen<br />

frei. Mo<strong>der</strong>ne, bildgebende<br />

Verfahren offenbaren die „Erregung“<br />

<strong>der</strong> Hirnareale: <strong>Die</strong><br />

aktivierten Nervenzellen benötigen<br />

vermehrt Sauerstoff,<br />

deshalb fließt viel Blut in diese<br />

Bereiche. Der Fachmann ordnet<br />

die verschiedenen Farbwerte<br />

den unterschiedlichen<br />

Orten im Gehirn zu und weiß,<br />

ob gerade unser Belohnungs-,<br />

Gedächtnis- o<strong>der</strong> emotionales<br />

Hirnareal auf Touren ist.<br />

Kunden verstehen<br />

bringt Umsatz<br />

<strong>Die</strong> Wissenschaft vermag inzwischen<br />

zwar ziemlich genau<br />

zu verorten, wo Entscheidungen<br />

im Hirn getroffen<br />

werden. „Wir können zwar<br />

noch keine Aussage darüber<br />

treffen, was <strong>der</strong> Konsument<br />

fühlt o<strong>der</strong> denkt“, erläutert<br />

einer <strong>der</strong> führenden Hirnforscher,<br />

Professor Dr. Christian<br />

Elger, wissenschaftlicher Leiter<br />

von Life & Brain in Bonn,<br />

aber die erregten Hirnregionen<br />

sprächen Bände. Der Mediziner<br />

berichtet von einem im<br />

Auftrag des Konzerns Procter<br />

& Gamble durchgeführten Experiments,<br />

bei dem es um<br />

Dove- und Pantene-Werbung<br />

ging. „<strong>Die</strong> hochgelobte und<br />

mit viel öffentlicher Aufmerksamkeit<br />

begleitete Dove-Werbung<br />

arbeitete erstmals mit<br />

durchschnittlich aussehenden<br />

Frauen, die Marke Pantene<br />

mit überstylten Models. Wir<br />

befragten 22 Frauen zwischen<br />

30 und 45 <strong>Jahr</strong>en nach ihren<br />

Vorlieben.“ Das Ergebnis: <strong>Die</strong><br />

überwältigende Mehrheit fa-<br />

Foto: picture alliance<br />

Bil<strong>der</strong> vermitteln Botschaften, die Gefühle beeinflussen und kaufentscheidungen mitbestimmen.<br />

vorisierte in <strong>der</strong> mündlichen<br />

Befragung die Dove-Werbung.<br />

Doch <strong>der</strong> Blick ins Gehirn<br />

offenbarte ganz an<strong>der</strong>es. <strong>Die</strong><br />

Gehirne <strong>der</strong> Frauen reagierten<br />

wesentlich stärker in den<br />

kaufrelevanten „Belohnungs“-<br />

Regionen auf die überirdisch<br />

schönen Pantene-Models. „Das<br />

Neuromarketing bildet nicht<br />

<strong>das</strong> sozial erwünschte Verhalten<br />

ab, son<strong>der</strong>n ermöglicht einen<br />

Blick in <strong>das</strong> Innere, auf die<br />

nicht steuerbaren Aktivitäten<br />

des Gehirns“, so Elger.<br />

Auch <strong>das</strong> Phänomen <strong>der</strong> Rabatte-Käufe<br />

ließ den Wissenschaftler<br />

nicht ruhen. Warum<br />

wird <strong>der</strong> Verstand ausgeschal-<br />

neuromarketing<br />

Neuromarketing ist Teil <strong>der</strong><br />

Marktforschung. Es untersucht<br />

Formen <strong>der</strong> Informationsaufnahme<br />

und nutzt<br />

dafür Erkenntnisse aus <strong>der</strong><br />

psychologischen Forschung<br />

wie <strong>der</strong> Gehirnforschung.<br />

Es spürt den Prozessen<br />

nach, die bei Konsumenten<br />

zum Kauf bzw. Nicht-Kauf<br />

tet, wenn ein vermeintliches<br />

Schnäppchen zu ergattern ist?<br />

Elger und sein Team machten<br />

den „Sockentest“: Sie zeigten<br />

Personen im Hirnscanner eine<br />

einzelnes Sockenpaar ohne<br />

Rabattzeichen und ein Dreierset<br />

mit Rabattschild. „Obwohl<br />

drei einzelne Sockenpaare<br />

billiger gewesen wären, zog<br />

die große Mehrheit die Dreiersets<br />

mit dem Rabattzeichen<br />

vor.“ <strong>Die</strong> Aussicht auf<br />

ein Schnäppchen aktiviere<br />

<strong>das</strong> Belohnungssystem. <strong>Die</strong><br />

für kritische Abwägungen<br />

zuständigen Strukturen im<br />

Gehirn könnten so überlistet<br />

werden.<br />

bestimmter Produkte führen,<br />

<strong>das</strong> heißt konkret:<br />

den Gehirnarealen, die<br />

durch die verschiedenen<br />

Produkte <strong>–</strong> und die Art für<br />

sie zu werben <strong>–</strong> stimuliert<br />

werden. Ziel ist die Offenlegung<br />

(und Steuerung) von<br />

Verbraucherwünschen und<br />

-bedürfnissen.<br />

Auch die Autoindustrie versucht<br />

die Erkenntnisse <strong>der</strong><br />

Neurowissenschaftler gezielt<br />

einzusetzen. Audi ließ Professor<br />

Elger Frontpartien von<br />

Fahrzeugen mit den Mitteln<br />

des Neuromarketings testen.<br />

Das Ergebnis: „Frauen mögen<br />

keine aggressiven Autofronten,<br />

sie mögen es harmonisch.“<br />

Solche Informationen seien<br />

bedeutend, weil „die meisten<br />

Autokäufe durch Frauen entschieden<br />

werden“, sagt Elger.<br />

Den Einwand, bei <strong>der</strong> Manipulation<br />

von Menschen behilflich<br />

zu sein, weist Elger von<br />

sich. „Wir sind Wissenschaftler,<br />

machen alle Ergebnisse<br />

öffentlich. Und Neuromarketing<br />

gehört in verantwortliche<br />

Hände, die zuverlässig nach<br />

wissenschaftlichen Kriterien<br />

arbeiten.“<br />

Kritisch beleuchtet dagegen<br />

<strong>der</strong> Deutsche Ethikrat <strong>das</strong> Thema.<br />

„Bei einer Verwertung zu<br />

kommerziellen Zwecken <strong>–</strong> etwa<br />

durch <strong>das</strong> Neuromarketing<br />

<strong>–</strong> ist <strong>der</strong> Schutz <strong>der</strong> mentalen<br />

Privatsphäre nicht gewährleistet“,<br />

so Professor John-Dylan<br />

Haynes von <strong>der</strong> Charité in Berlin.<br />

Beim Einsatz <strong>der</strong> Hirnfor-<br />

schung in medizinischen Einrichtungen<br />

gäbe es „wirksame<br />

Datenschutzvorkehrungen“.<br />

Der Wissenschaftler plädierte<br />

für eine Regulierung des<br />

zu kommerziellen Zwecken<br />

genutzten „Auslesens von Gehirnaktivitäten“,<br />

sofern dies<br />

möglich sein sollte.<br />

<strong>Die</strong> Strategie:<br />

Gehirne führen<br />

Auch Brigitte Rittmann-Bauer<br />

von <strong>der</strong> Verbraucherberatung<br />

NRW findet klare<br />

Worte: „Der Illusion, <strong>das</strong>s wir<br />

freie Kaufentscheidungen<br />

treffen, kann man sich nicht<br />

mehr hingeben. Wir können<br />

nicht mehr auseinan<strong>der</strong>halten,<br />

was durch Werbung beeinflusst<br />

ist und was nicht.“<br />

Das Neuromarketing sei ein<br />

Puzzleteil mehr zur Verfeinerung<br />

<strong>der</strong> Methoden. <strong>Die</strong><br />

Verbraucherschützerin verweist<br />

auf ein weiteres Beispiel,<br />

die Verfeinerung von<br />

Einstellungstests o<strong>der</strong> <strong>–</strong> wie<br />

ein Buch des Neurowissenschaftlers<br />

Elger verspricht<br />

<strong>–</strong> <strong>das</strong> „hirngerechte Führen“<br />

von Mitarbeitern.


„den kopf frei haben fÜr kin<strong>der</strong>“<br />

Über <strong>das</strong> Rollenbild von<br />

Müttern in <strong>der</strong> Gesellschaft<br />

entzündet sich eine alte<br />

Streitfrage: Vollzeit-Mama<br />

o<strong>der</strong> Karriere-Mutter? <strong>Die</strong><br />

Diskussion im Themenforum<br />

„Familienpolitik“<br />

<strong>der</strong> <strong>Gesellschafter</strong>-Initiative<br />

spiegelt alte Rollen-<br />

klischees, sucht aber auch<br />

nach neuen Antworten.<br />

<strong>Die</strong> Debatte ist so alt wie die<br />

Emanzipation <strong>der</strong> Frau und<br />

die Auflösung <strong>der</strong> klassischen<br />

Geschlechterrollen. Stellt sich<br />

Nachwuchs ein, bleibt zwar<br />

auch heute noch meist die<br />

Frau für die Kin<strong>der</strong>-Betreuung<br />

zu Hause <strong>–</strong> die Frage lautet jedoch<br />

zunehmend: Wie lange<br />

eigentlich? Muss eine Mutter<br />

ausschließlich für die Kleinen<br />

da sein? Soll sie arbeiten gehen?<br />

<strong>Die</strong> Diskussion im Forum<br />

ist geprägt vom Konflikt zwischen<br />

dem Lebensmodell <strong>der</strong><br />

Vollzeit-Mama und dem <strong>der</strong><br />

berufstätigen Mutter sowie<br />

<strong>der</strong> Frage, welches davon am<br />

besten für die Kin<strong>der</strong> ist.<br />

<strong>Die</strong> Verfechter <strong>der</strong> Vollzeitbetreuung<br />

zu Hause wollen<br />

so viel Zeit wie möglich<br />

Kein Gegeneinan<strong>der</strong> inszenieren<br />

Zwischen politischen Sachzwängen und dem wunsch nach mehr Ehrlichkeit<br />

Auf „die<strong>Gesellschafter</strong>.de“<br />

diskutieren Tausende die<br />

Frage: In was für einer<br />

Gesellschaft wollen wir leben?<br />

<strong>Die</strong> Antworten kreisen<br />

um viele Themen, darunter<br />

Fragen zu Arbeit und Bildung,<br />

aber auch zu den<br />

Werten, die ein Gemeinwe-<br />

sen zusammenhalten.<br />

Wir vermissen die<br />

Gemeinschaft in unserer<br />

Gesellschaft! Wir wollen eine<br />

Gesellschaft, in <strong>der</strong> Menschen<br />

nicht gegeneinan<strong>der</strong>,<br />

son<strong>der</strong>n miteinan<strong>der</strong> leben.<br />

F.S.<br />

3 die<strong>Gesellschafter</strong>.de<br />

mit ihren Kin<strong>der</strong>n verbringen<br />

und sind dafür bereit, alles<br />

an<strong>der</strong>e <strong>–</strong> auch die Karriere<br />

<strong>–</strong> zurückzustellen. „Ich weiß<br />

nicht, warum man Kin<strong>der</strong> in<br />

die Welt setzt, wenn man an<br />

ihrem Leben, ihren Sorgen<br />

und Nöten, ihrer Entwicklung<br />

gar nicht teilhaben will o<strong>der</strong><br />

kann?“, so eine Erzieherin<br />

und zweifache Mutter. Für<br />

eine gefestigte Bindung und<br />

die Entwicklung einer starken<br />

Persönlichkeit sei die Mutter<br />

als ständige Bezugsperson<br />

vonnöten. Zu frühe Fremdbetreuung<br />

überfor<strong>der</strong>e die<br />

Kleinen nur und schade damit<br />

ihrer Entwicklung.<br />

Völlig falsch, entgegnet<br />

die Fraktion <strong>der</strong> Berufstätigen,<br />

im Gegenteil würde <strong>der</strong><br />

Nachwuchs zu Hause nicht<br />

genug geför<strong>der</strong>t: Gerade im<br />

Kontakt mit an<strong>der</strong>en Kin<strong>der</strong>n<br />

und Erwachsenen würden<br />

soziale Kompetenz erlernt<br />

und wichtige Anregungen<br />

für die Entwicklung gegeben.<br />

Für eine gefestigte Mutter-<br />

Kind-Bindung komme es, so<br />

eine Lehrerin, „weniger auf<br />

die Menge <strong>der</strong> Zeit an, die<br />

die Mutter mit dem Kind<br />

Es braucht Ehrlichkeit<br />

unter denen, die gewählt<br />

worden sind, die Geschicke<br />

des Landes maßgeblich zu<br />

bestimmen und es braucht<br />

auch Ehrlichkeit <strong>der</strong>er, die<br />

sie wählen, <strong>das</strong>s es nicht<br />

so kommt, wie es einmal<br />

jemand recht unverblümt<br />

in einer Radioreportage ins<br />

Mikrofon hinein gesprochen<br />

hat: Ich wähle den, <strong>der</strong> am<br />

Meisten für mich rausholt.<br />

Das ist dann die Lobby- und<br />

Klientelpolitik, <strong>das</strong> inszenierte<br />

gesellschaftliche Gegeneinan<strong>der</strong>,<br />

gleich welcher<br />

Vorzeichen und zunächst<br />

auch gleich welcher Größenordnung.<br />

<strong>Die</strong> höhere Stufenleiter<br />

macht es dann nur<br />

noch zum größeren Schaden.<br />

helmut krüger<br />

3 die<strong>Gesellschafter</strong>.de<br />

Diskussion<br />

verbringt, als vielmehr eben<br />

auf die Qualität <strong>der</strong> Zeit“. So<br />

entwickeln sich im erbitterten<br />

Wettstreit <strong>der</strong> Lebensmodelle<br />

immer wie<strong>der</strong> die klassischen<br />

„Hausfrauen-sind-Deppencontra-Berufstätige-sind-Rabenmütter“-Vorwürfe.<br />

Auch in den aktuellen politischen<br />

Konzepten zur Familienpolitik,<br />

die im Forum intensiv<br />

diskutiert werden, treffen<br />

Foto: fotolia<br />

diese unterschiedlichen Modelle<br />

aufeinan<strong>der</strong>. <strong>Die</strong> einen<br />

sehen im Elterngeld und dem<br />

parallelen Ausbau von Kita-<br />

Plätzen die Lösung, die ande-<br />

ren in <strong>der</strong> sogenannten „Herdprämie“.<br />

Echte Wahlfreiheit<br />

zwischen den beiden Lebensentwürfen,<br />

so sehen es einige<br />

Diskutierende, sei jedoch erst<br />

bei <strong>der</strong>en finanzieller Gleichstellung<br />

gegeben, etwa durch<br />

den Vorschlag dieser Mutter:<br />

‚Ein Müttersoli wäre eine gute<br />

Idee, zumindest in den ersten<br />

<strong>Jahr</strong>en <strong>–</strong> damit sie den Kopf<br />

frei haben für ihre Kin<strong>der</strong>.‘<br />

kin<strong>der</strong> suchen Zuwendung, ob die Mutter daheim ist o<strong>der</strong> nicht.<br />

In einer Gesellschaft,<br />

die Anreize für Arbeit<br />

schafft, anstatt über Erhöhungen<br />

von Hartz IV zu<br />

diskutieren. Wie war <strong>der</strong><br />

Slogan vor ein paar <strong>Jahr</strong>en?<br />

Vorfahrt für Arbeit <strong>–</strong> aber<br />

dann bitte soweit, <strong>das</strong>s<br />

man davon leben kann und<br />

dafür nicht entwe<strong>der</strong> drei<br />

Jobs braucht o<strong>der</strong> 60 Stunden<br />

per Woche, son<strong>der</strong>n<br />

mit Maß und Raum für die<br />

Familie, Hobbys und Weiterbildung.<br />

R.B.<br />

3 die<strong>Gesellschafter</strong>.de<br />

Bis dahin ginge es letztlich<br />

vor allem um die Frage, ob<br />

Frauen es sich überhaupt<br />

leisten könnten, im Beruf auszusetzen<br />

o<strong>der</strong> gar langfristig<br />

Ich möchte in einer<br />

Gesellschaft leben, in <strong>der</strong> die<br />

wahren Werte noch zählen.<br />

Nicht nur egoistisches, spaßorientiertesKampfsaudenken,<br />

son<strong>der</strong>n gegenseitige<br />

Achtung, Respekt und Anerkennung.<br />

Eine Gesellschaft,<br />

in <strong>der</strong> man es mit Wissen<br />

und Können zu etwas bringen<br />

kann. Eine Gesellschaft,<br />

die Arbeit fair belohnt und<br />

in <strong>der</strong> leichtsinnige Fehler<br />

konsequent bestraft werden.<br />

Es kann nicht sein, <strong>das</strong>s<br />

Banker, die große Summen<br />

an Vermögen verspielen, dafür<br />

auch noch Abfindungen<br />

kassieren. Ich suche nach<br />

den wahren Werten wie Aufrichtigkeit,<br />

Ehrlichkeit und<br />

Freundschaft.<br />

Felix hofrichter<br />

3 die<strong>Gesellschafter</strong>.de<br />

März <strong>2010</strong> 25<br />

auf einen Teil des Familieneinkommens<br />

zu verzichten:<br />

„Mütter sind nämlich zunehmend<br />

gezwungen, arbeiten<br />

zu gehen. Denn neben ganz<br />

viel Liebe, unendlich viel<br />

Zeit und Zuwendung kosten<br />

Kin<strong>der</strong> richtig Geld!“,<br />

weiß eine Mutter zweier<br />

Teenager.<br />

Bei aller Verbissenheit<br />

melden sich auch versöhnliche<br />

Stimmen zu Wort,<br />

die gegen einen „Ideologiestreit“<br />

und für eine Solidarisierung<br />

von Frauen und<br />

Müttern plädieren. Schließlich<br />

könne frau es sowieso<br />

nicht jedem recht machen,<br />

glaubt eine zweifache Mutter:<br />

„Frauen, und zwar wir<br />

alle, sind in unserem Land<br />

einem ständigen Rechtfertigungszwang<br />

ausgesetzt,<br />

egal, ob wir unsere Kin<strong>der</strong><br />

zu Hause betreuen, Teilzeit<br />

in Betreuungseinrichtungen<br />

lassen, o<strong>der</strong> ob wir gar keine<br />

Kin<strong>der</strong> haben.“<br />

Mehr zu den Diskussionen<br />

finden Sie unter: dieGe-<br />

sellschafter.de/diskussion/<br />

forum/index.php<br />

Den Bürgern einmal<br />

die Meinung sagen? <strong>das</strong><br />

ging für Ludwig Erhard mit<br />

seinem „Maßhalteappell“<br />

nicht so gut aus. Ein Politiker<br />

lebt von <strong>der</strong> Politik,<br />

da schießt er sich nicht<br />

selbst heraus. Schulden machen<br />

ist eine <strong>der</strong> leichten<br />

Übungen des Politikers! Ein<br />

einzelner Bürger wird von<br />

<strong>der</strong> Politik nicht gehört.<br />

Allerlei Interessenverbände<br />

sind hinter den Kulissen<br />

am Werk; diesen dient die<br />

Politik, nicht dem Bürger<br />

unmittelbar.<br />

Günther hoffmann<br />

3 die<strong>Gesellschafter</strong>.de


26 März <strong>2010</strong><br />

Keinen Menschen ausschließen<br />

Zehn <strong>Jahr</strong>e Namensän<strong>der</strong>ung: aus „Aktion Sorgenkind“ wurde „Aktion Mensch“<br />

Von Reinhard Backes<br />

Seit dem 1. März 2000 gilt<br />

<strong>der</strong> neuer Name: Aktion<br />

Mensch. <strong>Die</strong> bis dahin gültige<br />

Bezeichnung „Aktion<br />

Sorgenkind“ ist Geschichte.<br />

Hintergrund: Der alte<br />

Begriff wurde eher negativ<br />

wahrgenommen: Sorgenkin<strong>der</strong><br />

waren die, die an<strong>der</strong>en<br />

Probleme bereiteten.<br />

Das verlieh <strong>der</strong> Ausgrenzung<br />

(Exklusion) Vorschub.<br />

Stattdessen sollte je<strong>der</strong> als<br />

Mensch ernst genommen<br />

werden, dazu gehören.<br />

Es ging fortan um „Einbeziehung“,<br />

was die Plakate auf diesen<br />

Seiten belegen. <strong>Die</strong> Aktion<br />

Mensch ist Impulsgeber für eine<br />

Position geworden, die Anfang<br />

2009 von <strong>der</strong> deutschen Politik<br />

mit <strong>der</strong> Ratifizierung <strong>der</strong> UN-<br />

Behin<strong>der</strong>tenrechtskonvention<br />

offiziell bestätigt wurde. Jetzt<br />

gilt, <strong>das</strong>s Menschen mit Behin<strong>der</strong>ung<br />

ein Recht auf Teilhabe<br />

an <strong>der</strong> Gesellschaft haben.<br />

Nicht mehr Integration, also<br />

die Einglie<strong>der</strong>ung des „An<strong>der</strong>en“<br />

in die Gesellschaft, ist <strong>das</strong><br />

Ziel, son<strong>der</strong>n die „<strong>Inklusion</strong>“,<br />

was nichts an<strong>der</strong>es bedeutet,<br />

Anstoß zur Debatte über Möglichkeiten <strong>der</strong> wissenschaft <strong>–</strong> 1000fragen-Projekt 2004.<br />

Ansichten<br />

als <strong>das</strong>s alle Unterschiedlichkeiten<br />

Teil <strong>der</strong> menschlichen<br />

Vielfalt sind <strong>–</strong> und folglich<br />

normal.<br />

Deutschland steht hier aber<br />

erst am Anfang: <strong>Die</strong> gleichen<br />

Chancen auf Zugang zum Bildungssystem;<br />

<strong>das</strong> Recht auf<br />

die Möglichkeit, den eigenen<br />

Lebensunterhalt durch Arbeit<br />

zu verdienen; die unabhängige<br />

Lebensführung und die<br />

Einbeziehung in die Gemeinschaft<br />

<strong>–</strong> <strong>das</strong> sind nur einige<br />

von vielen Bereichen, in denen<br />

<strong>Inklusion</strong> noch längst nicht<br />

Realität ist.<br />

chancengleichheit <strong>–</strong> eines <strong>der</strong> themen beim Start <strong>der</strong> <strong>Gesellschafter</strong>-Initiative 2006.<br />

<strong>Die</strong> Aktion Mensch för<strong>der</strong>t<br />

Projekte, die konkret zeigen,<br />

<strong>das</strong>s und wie <strong>Inklusion</strong> gelingen<br />

kann. Dadurch sollen<br />

auch gesellschaftliche Debatten<br />

angestoßen werden,<br />

wie zwei Beispiele zeigen.<br />

Erstens: Auch Menschen mit<br />

einer geistigen Behin<strong>der</strong>ung<br />

sind Staatsbürger und haben<br />

<strong>das</strong> Wahlrecht. Vor den<br />

Bundestagswahlen 2009 hat<br />

die Lebenshilfe Freiburg politische<br />

Bildung und Teilhabe<br />

an politischer Willensbildung<br />

zum Thema eines sechsteiligen<br />

Kurses gemacht. <strong>Die</strong> Teil-<br />

Fragen vor Antworten <strong>–</strong> 1000fragen-Projekt 2004.<br />

nehmer erfuhren, wie Politik<br />

funktioniert, welche Möglichkeiten<br />

<strong>der</strong> Teilhabe es für Menschen<br />

mit geistiger Behin<strong>der</strong>ung<br />

gibt und wie man wählt.<br />

Sie diskutierten in leichter<br />

Sprache vorliegende Wahlprogramme<br />

und besuchten<br />

Wahlveranstaltungen.<br />

Und zweitens: Ein umfangreichesQualifikationsprogramm<br />

hilft Mitarbeitern in<br />

„CAP“-Supermärkten. „CAP“<br />

steht für Handicap. Hier<br />

arbeiten Menschen mit körperlicher,<br />

seelischer und/o<strong>der</strong><br />

geistiger Behin<strong>der</strong>ung.<br />

Das Recht auf Beteiligung nutzen <strong>–</strong> <strong>Gesellschafter</strong>-Initiative 2009.


Aus Rücksicht wird Respekt, aus hilfe wird Partnerschaft <strong>–</strong> Plakat zur Namensän<strong>der</strong>ung 2000.<br />

Ansichten März <strong>2010</strong> 27<br />

Mit und ohne Augen sehen, <strong>das</strong> Sosein an<strong>der</strong>er verstehen <strong>–</strong> Aktion Mensch Anzeige 200 . Grundrechte einfor<strong>der</strong>n <strong>–</strong> 5. Mai-Aktion 2009.


28 März <strong>2010</strong><br />

Aktion Mensch · 53175 Bonn<br />

PVST, DPAG „Entgelt bezahlt“ „Ich möchte in einer Gesellschaft leben, die überlebensfähig<br />

ist. Durch unser kurzsichtiges Handeln in <strong>der</strong> Vergangenheit<br />

haben wir auf vielen Gebieten nur noch eingeschränkte Wahlmöglichkeiten.<br />

Nur eine ökologisch nachhaltige und faire<br />

Gesellschaft bietet eine Zukunft für meine Kin<strong>der</strong>!“<br />

„Nicht auf einem Sockel stehen“<br />

Deutschlands beliebtester Fußballspieler, heute Bundesligamanager im Gespräch<br />

Rudi Völler (50), Ex-Teamchef<br />

<strong>der</strong> deutschen Fußball-Nationalelf<br />

und seit<br />

2005 Sportchef des Bundesligisten<br />

Bayer 04 Leverkusen,<br />

engagiert sich<br />

unter an<strong>der</strong>em für die DFB-<br />

Stiftung Egidius Braun, ist<br />

Schirmherr <strong>der</strong> hessischen<br />

Initiative „SMOG <strong>–</strong> Schule<br />

machen ohne Gewalt“ und<br />

Botschafter des „Starke-<br />

Kids-Netzwerkes“ <strong>der</strong> AOK.<br />

herr Völler, in was für<br />

einer Gesellschaft möchten<br />

Sie leben?<br />

Letztes <strong>Jahr</strong> wurde an einer S-<br />

Bahn-Station ein Mann zu Tode<br />

geprügelt und keiner kam<br />

ihm zu Hilfe. Das bedrückt<br />

mich noch heute. Deshalb<br />

glaube ich: Einan<strong>der</strong> helfen ist<br />

<strong>das</strong> wichtigste in einer Gesellschaft.<br />

Nicht wegsehen, wenn<br />

jemand Hilfe braucht.<br />

wie helfen Sie<br />

ganz konkret?<br />

Das ist unterschiedlich. Mal<br />

setze ich meine Bekanntheit<br />

ein und unterstütze ein Projekt<br />

einfach dadurch, <strong>das</strong>s ich<br />

da bin. Mal stelle ich meine<br />

Gage zur Verfügung o<strong>der</strong><br />

spende. Aber <strong>das</strong> ist nur die<br />

an <strong>der</strong> ecke<br />

eine Seite, denn auch im Alltag<br />

gibt es viele Möglichkeiten.<br />

Da braucht es dann we<strong>der</strong><br />

Berühmtheit noch Geld. Da<br />

geht es einfach darum, besser<br />

miteinan<strong>der</strong> umzugehen.<br />

Sie unterstützen zahlreiche<br />

Projekte und Initiativen für<br />

kin<strong>der</strong> und Jugendliche in<br />

schwierigen Lebenssituationen…<br />

Ja, aber was ich überhaupt<br />

nicht mag, ist, auf einen Sockel<br />

gestellt zu werden, denn<br />

ich weiß, viele an<strong>der</strong>e engagieren<br />

sich auch. Außerdem<br />

muss ich auch viele Anfragen<br />

auf Unterstützung absagen,<br />

weil ich <strong>das</strong> zeitlich gar nicht<br />

alles schaffe. Es sind einfach<br />

zu viele.<br />

wie wählen Sie denn die<br />

Projekte aus, für die Sie<br />

sich einsetzen?<br />

Ich kann darauf gar keine klare<br />

Antwort geben. Oft entscheide<br />

ich <strong>das</strong> aus dem Bauch heraus.<br />

Wenn ich <strong>das</strong> Gefühl habe,<br />

<strong>das</strong> ist eine gute Sache, und es<br />

passt zeitlich, dann mache ich<br />

<strong>das</strong>. Außerdem ist mir wichtig,<br />

die handelnden Personen zu<br />

kennen, damit ich mir sicher<br />

sein kann, <strong>das</strong>s die Hilfe vor<br />

Foto: picture alliance<br />

Foto: world Future council<br />

Le tzte<br />

Jakob von Uexküll, Grün<strong>der</strong> des world Future<br />

council und des Alternativen Nobelpreises<br />

Garant für Erfolg: Rudi Völler bei <strong>der</strong> wM 1990 in Italien.<br />

Ort auch wirklich ankommt.<br />

Mein engster Kontakt besteht<br />

deshalb zur DFB-Stiftung Egidius<br />

Braun, die sich für soziale<br />

Integration, Kin<strong>der</strong> in Not und<br />

Mexico-Hilfe engagiert.<br />

wie hat die Zusammenarbeit<br />

begonnen?<br />

Das war bei <strong>der</strong> WM 1986 in<br />

Mexiko. Da haben wir mit <strong>der</strong><br />

Mannschaft ein Waisenhaus<br />

in <strong>der</strong> Nähe von Mexiko City<br />

3 die<strong>Gesellschafter</strong>.de<br />

besucht und die furchtbaren<br />

Zustände dort gesehen. Egidius<br />

Braun, <strong>der</strong> damalige<br />

Präsident des Deutschen Fußballbundes,<br />

hat die Initiative<br />

ergriffen und die Mexico-Hilfe<br />

gegründet. Ich war damals<br />

einer <strong>der</strong> ersten, <strong>der</strong> gespendet<br />

hat. Daraus entstand eine<br />

Stiftung, die heute im In- und<br />

Ausland Projekte unterstützt,<br />

etwa ein Straßenkin<strong>der</strong>projekt<br />

in Mexiko o<strong>der</strong> eine Initiative<br />

für Flüchtlingskin<strong>der</strong> in<br />

Freiburg.<br />

Auch Bundesligist Bayer 04,<br />

dessen Sportchef Sie sind,<br />

för<strong>der</strong>t soziale Projekte.<br />

Ja, wir haben extra ein Tochterunternehmen<br />

gegründet,<br />

um die unterschiedlichen Aktivitäten<br />

zu bündeln. Dazu<br />

gehören die Unterstützung<br />

eines Kin<strong>der</strong>hospizes, die För<strong>der</strong>ung<br />

von Ehrenamt in Vereinen,<br />

Jugendcamps für junge<br />

Menschen mit Behin<strong>der</strong>ungen<br />

und vieles mehr. Als Sportchef<br />

bin ich in die Auswahl <strong>der</strong><br />

Projekte zwar nicht involviert.<br />

Aber wenn ich für Aktionen<br />

gebraucht werde, springe ich<br />

immer gerne ein.<br />

Interview: Anja Martin

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