2010 – das Jahr der Inklusion - Die Gesellschafter
2010 – das Jahr der Inklusion - Die Gesellschafter
2010 – das Jahr der Inklusion - Die Gesellschafter
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März <strong>2010</strong> / Nummer 19 EINE INITIATIVE DER<br />
JUGENDPRESSE<br />
SynagogenbeSuch<br />
Begegnungen, die<br />
Vertrauen schaffen<br />
REPoRtAGE<br />
Seite 3<br />
Suizidgefahr<br />
Jugendliche helfen<br />
teenagern in Not<br />
SchwERPUNkt<br />
arbeit<br />
Reformen, Jobs und<br />
<strong>der</strong> Streit ums Geld<br />
PRoJEktE<br />
Seiten 8<strong>–</strong>22<br />
barrierefreiheit<br />
<strong>Die</strong> Stadt kiel räumt<br />
hin<strong>der</strong>nisse weg<br />
INtERVIEw<br />
Seiten 6<strong>–</strong>7<br />
Seite 23<br />
rudi Völler<br />
Im Alltag nicht<br />
mehr wegsehen<br />
Seite 28<br />
<strong>2010</strong> <strong>–</strong> <strong>das</strong> <strong>Jahr</strong> <strong>der</strong> <strong>Inklusion</strong><br />
Ein vor einem <strong>Jahr</strong> fast unbekannter Begriff beginnt, die Gesellschaft zu verän<strong>der</strong>n<br />
Vor einem <strong>Jahr</strong> lud die<br />
Stadt Nor<strong>der</strong>stedt zu einer<br />
Infoveranstaltung zur Frage<br />
„<strong>Inklusion</strong> <strong>–</strong> was ist <strong>das</strong>?“<br />
ein. Heute reichen Google<br />
0,13 Sekunden, um 311.000<br />
Treffer zum Begriff <strong>Inklusion</strong><br />
aufzulisten. Und in ein<br />
paar <strong>Jahr</strong>en? Dann könnte<br />
die Debatte um <strong>Inklusion</strong><br />
unsere Gesellschaft bereits<br />
nachhaltig verän<strong>der</strong>t haben<br />
<strong>–</strong> von <strong>der</strong> Arbeitswelt<br />
über unsere Schulen bis<br />
zum Leben in Städten und<br />
Gemeinden.<br />
<strong>Inklusion</strong> bedeutet, <strong>das</strong>s zum<br />
Beispiel Menschen mit Behin<strong>der</strong>ungen<br />
ein Recht auf<br />
Teilhabe in allen Lebensbereichen<br />
haben. Sie sollen nicht<br />
mehr nur als „die An<strong>der</strong>en“<br />
in die „normale Gesellschaft“<br />
integriert werden. <strong>Inklusion</strong>,<br />
<strong>das</strong> heißt Unterschiedlichkeiten<br />
als Normalität und Teil<br />
<strong>der</strong> menschlichen Vielfalt zu<br />
begreifen.<br />
Impulsgeber<br />
neuen Denkens<br />
Als eine <strong>der</strong> ersten Organisationen<br />
in Deutschland hat sich<br />
die Aktion Mensch auf den<br />
Weg <strong>der</strong> <strong>Inklusion</strong> gemacht.<br />
Am 1. März ist es zehn <strong>Jahr</strong>e<br />
her, <strong>das</strong>s sie ihren Namen<br />
geän<strong>der</strong>t hat <strong>–</strong> aus „Aktion<br />
Sorgenkind“ wurde „Aktion<br />
Mensch“. Der Schritt war <strong>das</strong><br />
Ergebnis eines langen Ringens<br />
um die Stellung von Menschen<br />
mit Behin<strong>der</strong>ungen in <strong>der</strong><br />
Gesellschaft. Den Menschen<br />
zu sehen, nicht <strong>das</strong> „Sorgenkind“,<br />
war ein erster Schritt<br />
weg von <strong>der</strong> Ausgrenzung<br />
hin zur Einbeziehung aller.<br />
Deshalb versteht sich die Aktion<br />
Mensch heute auch als<br />
Impulsgeber für eine Position,<br />
die Anfang 2009 von <strong>der</strong><br />
neuer auftritt: aktion-menSch.de<br />
<strong>Die</strong> Aktion Mensch zeigt<br />
jetzt ein an<strong>der</strong>es Gesicht<br />
<strong>–</strong> zumindest online: Denn ab<br />
sofort steht allen Interessierten<br />
<strong>das</strong> neue Internetportal<br />
zur Verfügung. Abgebildet<br />
sind die drei Säulen <strong>der</strong><br />
Aktion Mensch: „Spielen<br />
und gewinnen“, „För<strong>der</strong>n<br />
und verän<strong>der</strong>n“ sowie „Engagieren<br />
und Diskutieren“.<br />
Jedes Element lässt sich per<br />
Mausklick öffnen und nutzen.<br />
Den Besucher erwarten<br />
neue, aber auch bekannte<br />
Menschen mit Behin<strong>der</strong>ung gehören selbstverständlich dazu.<br />
Inhalte. Dokumentiert<br />
werden etwa Projekte, die<br />
<strong>das</strong> Leben von Menschen<br />
mit Behin<strong>der</strong>ungen o<strong>der</strong><br />
sozialen Schwierigkeiten<br />
verbessern; jeden Monat<br />
werden rund 500 geför<strong>der</strong>t.<br />
<strong>Die</strong> Basis dafür legen die<br />
Lotterieteilnehmer mit ihrem<br />
finanziellen Einsatz.<br />
Sie ermöglichen eine Kultur<br />
des Weitergebens, die auf<br />
klare Prinzipien und flexible<br />
und verlässliche Programme<br />
setzt.<br />
deutschen Politik mit <strong>der</strong> Ratifizierung<br />
<strong>der</strong> UN-Behin<strong>der</strong>tenrechtskonvention<br />
offiziell<br />
bestätigt wurde. <strong>Die</strong> Konvention<br />
schreibt unter an<strong>der</strong>em<br />
<strong>das</strong> Recht auf gemeinsame<br />
Bildung und Erziehung sowie<br />
auf Gesundheit, Rehabilitation<br />
und Arbeit fest. <strong>Die</strong> Aktion<br />
Mensch unterstützt Projekte,<br />
die konkret zeigen, wie <strong>Inklusion</strong><br />
in diesem Sinn ganz<br />
praktisch gelingen kann.<br />
Um <strong>Inklusion</strong> geht es auch<br />
am 5. Mai, dem Europäischen<br />
Protesttag zur Gleichstellung<br />
von Menschen mit Behin<strong>der</strong>ung.<br />
Unter dem Motto „<strong>Inklusion</strong><br />
<strong>–</strong> dabei sein. Von Anfang<br />
an.“ werden wie<strong>der</strong> rund<br />
100.000 Menschen mit und<br />
ohne Behin<strong>der</strong>ung zwischen<br />
Flensburg und Oberammergau<br />
auf die Straße gehen und<br />
ihren Mitbürgern den Nutzen<br />
ihrer Projekte vorstellen.<br />
Denn von <strong>Inklusion</strong> profitiert<br />
letztlich die gesamte Gesellschaft.<br />
Wer erst gar nicht<br />
ausgeson<strong>der</strong>t wird, muss später<br />
nicht (kostspielig) wie<strong>der</strong><br />
integriert werden.<br />
Weniger an die kommunale<br />
Ebene als an die große Politik<br />
<strong>–</strong> kostenlos <strong>–</strong><br />
wendet sich im Juni <strong>der</strong> 15.<br />
Weltkongress von Inclusion<br />
International. Mehr als Tausend<br />
Menschen mit und ohne<br />
geistige Behin<strong>der</strong>ung, Experten<br />
und Engagierte werden<br />
in Berlin vier Tage lang über<br />
die Chancen diskutieren, die<br />
<strong>Inklusion</strong> den Staaten <strong>der</strong><br />
Welt bietet. Workshops wie<br />
„Selbstständig in <strong>der</strong> Gemeinde<br />
leben“, „Arbeit für<br />
alle“ o<strong>der</strong> „Aktiv werden<br />
für mehr inklusive Bildung“<br />
werden zeigen, <strong>das</strong>s <strong>Inklusion</strong><br />
kein einseitiger Prozess ist.<br />
<strong>Die</strong> Menschen, die inkludiert<br />
werden, verän<strong>der</strong>n und bereichern<br />
die Gesellschaft <strong>–</strong> durch<br />
ihre Erfahrungen, ihre Bedürfnisse<br />
und <strong>–</strong> nicht zuletzt<br />
<strong>–</strong> ihre normale Unterschiedlichkeit.<br />
Und wenn dann in<br />
ein paar <strong>Jahr</strong>en ein Schüler<br />
einer normalen Schule, wie<br />
kürzlich in <strong>der</strong> Frankfurter<br />
Rundschau, bekennt: „Was ist<br />
<strong>Inklusion</strong>? Keine Ahnung“, ist<br />
<strong>das</strong> völlig in Ordnung <strong>–</strong> denn<br />
dann drücken dort Schüler<br />
mit und ohne Behin<strong>der</strong>ung<br />
hoffentlich längst gemeinsam<br />
die Schulbank.<br />
Christian Schmitz
2 März <strong>2010</strong><br />
gloSSe<br />
Hartsi o<strong>der</strong> Freddy Quinn<br />
Von Günter Gleim<br />
Über die Höhe von Hartz<br />
IV wird seit langem diskutiert.<br />
Seit einigen Wochen<br />
nun auch über den Namen.<br />
Empfänger dieser Sozialleistung<br />
fühlen sich diskriminiert,<br />
weil <strong>der</strong> Namensgeber<br />
Peter Hartz mittlerweile<br />
wegen Untreue und<br />
Vorteilsnahme verurteilt<br />
und vorbestraft ist.<br />
Unser Autor Günter Gleim<br />
spielt in seiner Glosse<br />
Möglichkeiten durch, die<br />
zu einem neuen Namen<br />
führen könnten.<br />
Hartz IV muss weg. Jedenfalls<br />
<strong>der</strong> Name. CDU-Vize<br />
Jürgen Rüttgers sagt, solche<br />
Umbenennungen seien gang<br />
und gäbe: So hieße zum Beispiel<br />
Udo Jürgens früher Udo<br />
Jürgen Bockelmann. Es sei<br />
also einfach <strong>der</strong> letzte<br />
Namensteil entfernt<br />
und an den<br />
verbleibenden,<br />
nun letzten<br />
Namensteil<br />
ein „s“ angehängtworden.<br />
Bei einer<br />
ähnliche Vorg<br />
e h e n s w e i -<br />
se würde aus<br />
Hartz IV „Hartz<br />
Is“. Allerdings wolle<br />
Rüttgers damit nur<br />
zeigen, <strong>das</strong>s Namensän<strong>der</strong>ungen<br />
etwas ganz Normales<br />
seien. Im konkreten Fall wäre<br />
die Ähnlichkeit von „Hartz Is“<br />
mit dem ursprünglichen Namen<br />
noch zu groß.<br />
Claudia Roth von den Grünen<br />
for<strong>der</strong>t einen Doppelnamen<br />
mit Bindestrich, wobei<br />
die Reihenfolge keine Rolle<br />
spiele. „Hartz-VIII“ o<strong>der</strong> „VI-<br />
II-Hartz“. Jürgen Rüttgers<br />
ließ über seinen Pressesprecher<br />
mitteilen, <strong>das</strong>s er<br />
diese Vorschlag für „blanken<br />
Unsinn“ halte. Eine Verdoppelung,<br />
wie sie die Grünen<br />
vorschlagen, müsste streng<br />
genommen zu „Hartz-Hartz-<br />
VIII“ führen. Mit solchen<br />
Namensmonster habe man<br />
keine guten Erfahrungen<br />
gemacht, wie an <strong>der</strong> Glaubensschwester<br />
Oda-Gebbine<br />
Hölze-Stäblein zu sehen sei.<br />
Für die Sozialdemokraten<br />
empfahl Wolfgang Thierse,<br />
den Namen Hartz IV mit<br />
altbekannten und neutralen<br />
Verfremdungstechniken zu<br />
verän<strong>der</strong>n. Als Anagramm,<br />
dem Vertauschen von Buchstaben,<br />
entstünde zum Beispiel<br />
„Thzar VI“. O<strong>der</strong> als<br />
Ananym (rückwärts) „VI<br />
Ztrah“. Gegen den Vorschlag<br />
<strong>der</strong> Grünen merkte Thierse<br />
an, <strong>das</strong>s man die Version<br />
„Hartz VIII“ bei schlampiger<br />
Aussprache auch als „Hab´<br />
Acht“ verstehen könnte, was<br />
einen militärischen Ton in<br />
die staatliche Unterstützung<br />
bringen könnte.<br />
Der Parteivorsitzende <strong>der</strong><br />
FDP, Außenminister Westerwelle,<br />
empfiehlt, <strong>das</strong> Wort<br />
Hartz doch einfach in eine an<strong>der</strong>e<br />
Sprache zu übersetzen.<br />
So könnte Deutschland<br />
seine Weltoffenheit<br />
dokumentieren,<br />
zumal ja auch<br />
Bürger aus<br />
an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>n<br />
Hartz<br />
IV bezögen.<br />
Er wisse zwar<br />
nicht, ob auch<br />
Finnen mit<br />
L e i s t u n g e n<br />
nach Hartz IV<br />
unterstützt würden.<br />
Aber <strong>das</strong> finnische<br />
Wort „hartsi“ klänge doch<br />
ganz gut. Für Jürgen Rüttgers<br />
ist <strong>der</strong> Erkennungswert<br />
„hartsi“ viel zu hoch. Es<br />
ginge doch darum, den Namen<br />
deutlich zu verän<strong>der</strong>n.<br />
Thierese hält „hartsi“ für<br />
zu „putzig“, darunter könne<br />
sich doch kein Bürger eine<br />
seriöse staatliche För<strong>der</strong>ung<br />
vorstellen. Da könne man ja<br />
gleich <strong>das</strong> Phraseonym „Farin<br />
Urlaub“ nehmen.<br />
Bundeskanzlerin Angela<br />
Merkel ließ verlauten, <strong>das</strong>s<br />
sie die ganze Umbennerei<br />
für überflüssig halte. Ihrem<br />
Parteifreund Rüttgers habe<br />
sie telefonisch mitgeteilt, er<br />
solle doch statt Udo Jürgens<br />
den Sänger Freddy Quinn<br />
nehmen. Der ist übrigens<br />
als Franz Eugen Helmuth<br />
Manfred Nidl auf die Welt<br />
gekommen.<br />
Meinung<br />
Eine Entschuldigung ist überfällig<br />
contergan-opfer sehen die Bundesrepublik in <strong>der</strong> Pflicht<br />
<strong>Die</strong> britische Regierung<br />
will Contergan-Opfer mit<br />
rund 22,5 Millionen Euro<br />
entschädigen. Der contergangeschädigte<br />
Künstler<br />
Christian Knabe for<strong>der</strong>t nun<br />
auch für die deutschen Opfer<br />
einen Ausgleich.<br />
„Großbritannien entschuldigt<br />
sich bei den Conterganopfern.“<br />
Das war keine Genugtuung<br />
im üblichen Sinn,<br />
son<strong>der</strong>n weckte in mir die<br />
Erinnerungen an harte Zeiten,<br />
denn auch in Deutschland<br />
wünschen sich die Betroffenen<br />
eine Entschuldigung <strong>der</strong><br />
Regierung. Wofür aber sollte<br />
sich die Bundesregierung entschuldigen<br />
und warum?<br />
Es geht um ein Zeichen an<br />
die Betroffenen. Man musste<br />
damals einen Strafprozess<br />
führen, weil es keine an<strong>der</strong>e<br />
rechtliche Handhabe gab.<br />
Es fehlte ein vernünftiges<br />
Arzneimittelgesetz, und die<br />
Ärzteschaft hatte durch ihr<br />
Versagen die Tragödie mit<br />
verursacht.<br />
christian knabe,<br />
<strong>Jahr</strong>gang<br />
1961, ist Grafikdesigner,Fotograf<br />
, Journalist.<br />
Der Staat hat die Verpflichtung<br />
übernommen, eine Entschädigung<br />
zu zahlen und war<br />
dabei bis heute so sparsam,<br />
<strong>das</strong>s viele unter Folgeschäden<br />
leiden, die sie sonst nicht<br />
hätten. Eigentlich arbeitsun-<br />
fähige Menschen schufteten<br />
sich krank, um ihre Familien<br />
zu ernähren. Einige tun <strong>das</strong><br />
übrigens bis heute.<br />
Eine längst überfällige Entschuldigung<br />
<strong>der</strong> Bundesregierung<br />
bei den Conterganopfern,<br />
<strong>der</strong>en Eltern und Freunden ist<br />
nicht nur ein moralisches<br />
Muss, son<strong>der</strong>n auch eine<br />
wichtige Klarstellung für die<br />
Betroffenen. Sie kann aber nur<br />
funktionieren, wenn man die<br />
Conterganrente gleichzeitig<br />
so stark erhöht, <strong>das</strong>s sich die<br />
Opfer selbst helfen können.<br />
Ich meine, ein Land wie<br />
die Bundesrepublik kann es<br />
sich moralisch nicht leisten,<br />
hier nichts zu unternehmen.<br />
Es geht hier um Menschen,<br />
<strong>der</strong>en Leben und ein bisschen<br />
Liebe.<br />
die geSellSchafter-initiatiVe <strong>der</strong> aktion menSch<br />
a„In<br />
was für einer Gesellschaft<br />
wollen wir leben?“<br />
Auf <strong>der</strong> Internetseite<br />
die<strong>Gesellschafter</strong>.<br />
de werden Antworten<br />
auf diese Frage gesammelt,<br />
diskutiert und<br />
kommentiert.<br />
aWer<br />
sich freiwillig engagieren<br />
möchte, kann<br />
in einer Datenbank nach wohnortnahen<br />
Adressen von Verbänden und Initiativen<br />
suchen.<br />
aNeue<br />
Ideen für Projekte und Aktionen<br />
können mit bis zu 4.000 Euro geför<strong>der</strong>t<br />
werden.<br />
aIn<br />
speziellen Themenforen können The-<br />
men wie Armut, Bildung,<br />
Familienpolitik, Teilhabe,<br />
Konsum und Glück,<br />
Umwelt, Wirtschaft und<br />
Arbeit aktiv und kontrovers<br />
diskutiert werden.<br />
aZu<br />
den Diskussionen<br />
tragen auch Persönlichkeiten<br />
des öffentlichen<br />
Lebens (Wissenschaftler,<br />
Künstler, Unternehmer etc.) bei. Sie erläutern<br />
ihre Konzepte und Modelle für die<br />
Fortentwicklung unserer Gesellschaft und<br />
stellen sie zur Diskussion.<br />
a<strong>Die</strong><br />
<strong>Gesellschafter</strong>-Zeitung kann online<br />
heruntergeladen und kostenfrei bestellt<br />
werden.
Junge Journalisten<br />
PC-Spiele sind am Sabbat kein Tabu<br />
Nürnberger Jugendliche lernen beim Besuch <strong>der</strong> Synagoge ihrer Stadt einiges dazu<br />
Von Alexan<strong>der</strong> Demling<br />
Zu Juden fällt vielen Jugendlichen<br />
außer Vorurteilen<br />
wenig ein. In <strong>der</strong> Begegnung<br />
mit einer jüdischen<br />
Religionsklasse lernen<br />
Schüler einer Nürnberger<br />
Hauptschule, wie ähnlich<br />
beide Seiten einan<strong>der</strong> sind.<br />
„Wisse, wen du vor dir hast“<br />
bedeuten die großen hebräischen<br />
Buchstaben, die als<br />
silberne Gravuren den Gebetsraum<br />
<strong>der</strong> Synagoge <strong>der</strong><br />
israelitischen Kultusgemeinde<br />
in Nürnberg schmücken.<br />
<strong>Die</strong> 15-jährige Tudaniya hat<br />
noch keine Ahnung, wen<br />
sie gleich vor sich haben<br />
wird. Das muslimische Mädchen<br />
mit dem dunklen Teint<br />
und dem schwarzen Pferdeschwanz<br />
sitzt zwischen ihren<br />
Klassenkameraden auf engen<br />
Holzbänken und schiebt einen<br />
weißen Zettel zwischen<br />
ihren Fingern hin und her.<br />
Darauf hat Tudaniya Fragen<br />
notiert, die sie den jüdischen<br />
Religionsschülern stellen will,<br />
die ihre Klasse heute besucht.<br />
„So ein paar Sachen hat man<br />
ja mal gehört, <strong>das</strong> mit <strong>der</strong><br />
Beschneidung o<strong>der</strong> <strong>das</strong>s die<br />
am Sabbat irgendwie nichts<br />
machen dürfen. Aber manches<br />
wüsste ich halt einfach gern<br />
genauer“, sagt die Hauptschülerin<br />
fröhlich und grinst dabei<br />
so, <strong>das</strong>s man ihre Eckzähne<br />
sehen kann.<br />
Wissen schafft<br />
Vertrauen<br />
Mit dabei ist Michaela Baetz.<br />
<strong>Die</strong> Pädagogin vom privaten<br />
Institut für Medien- und Projektarbeit<br />
(IMEDANA) organisiert<br />
Gespräche zwischen<br />
jüdischen Religionsschülern<br />
und nicht-jüdischen Schulklassen.<br />
„Viele Jugendliche<br />
Jugendliche in Nürnbergs neuer Synagoge.<br />
Foto: picture alliance<br />
Nürnberg Ende des 19. <strong>Jahr</strong>un<strong>der</strong>ts: Im hintergrund ist die alte, 19 8 zerstörte Synagoge zu sehen.<br />
kennen gar keine Menschen<br />
jüdischen Glaubens. Wir sollen<br />
sehen, <strong>das</strong>s diese Kultur<br />
nichts Fremdes ist, son<strong>der</strong>n<br />
<strong>der</strong> eigenen sogar sehr ähnlich“,<br />
erklärt Baetz.<br />
Erst traut sich noch keiner so<br />
recht, doch dann meldet sich<br />
Tudaniya: „Wie ist <strong>das</strong> mit <strong>der</strong><br />
Beschneidung bei euch eigentlich?“<br />
„Wir werden am achten<br />
Tag nach unserer Geburt beschnitten“,<br />
antwortet Ilja, ein<br />
großer Kerl mit dunkelblonden<br />
Locken. „Tut aber nicht weh,<br />
zumindest kann ich mich<br />
nicht daran erinnern“, ergänzt<br />
er und erntet<br />
lautes Gelächter.<br />
Nun trauen sich<br />
auch an<strong>der</strong>e, ihre<br />
Gegenüber zu<br />
befragen: „Was<br />
bedeutet koscher<br />
essen?“, will ein<br />
Mädchen wissen,<br />
„Wie feiert ihr<br />
den Sabbat?“ ein<br />
an<strong>der</strong>es. Schnell<br />
wird deutlich,<br />
Foto: Alexan<strong>der</strong> Demling<br />
<strong>das</strong>s nicht alle jüdischen Familien<br />
die vielen ungewöhnlich<br />
erscheinenden Geboten so genau<br />
nehmen: „Am Sabbat darf<br />
man streng genommen keine<br />
elektrische Geräte anmachen“,<br />
erzählt Ilja. „Aber ich will an<br />
diesen Tagen nicht auf PC-<br />
Spiele verzichten.“ <strong>Die</strong> meisten<br />
Familien essen Fleisch von<br />
Tieren, die nicht geschächtet<br />
wurden <strong>–</strong> obwohl <strong>das</strong> die jüdischen<br />
Speisegesetze eigentlich<br />
vorsehen. Religionslehrer<br />
German Djanatliev räumt ein:<br />
„Wir leben in Mitteleuropa, da<br />
kann man nicht erwarten, <strong>das</strong>s<br />
sich je<strong>der</strong> exakt an die Gesetze<br />
<strong>der</strong> Thora hält.“<br />
„Jude“ als Schimpfwort<br />
missbraucht<br />
Wäre <strong>das</strong> Ziel des Projektes,<br />
ein nettes Gespräch zwischen<br />
Jugendlichen zu organisieren,<br />
wäre es schon nach wenigen<br />
Minuten erfüllt. Michaela<br />
Baetz will jedoch mehr: „Wir<br />
wollen bewusst auch ju-<br />
denfeindliche Stereotype und<br />
Vorurteile aufdecken, die in<br />
den Köpfen herumschwirren.<br />
Viele glauben, <strong>das</strong>s Antisemitismus<br />
mit dem Nationalsozialismus<br />
verschwunden sei. Wir<br />
wollen ein Bewusstsein für<br />
den aktuellen Antisemitismus<br />
schaffen.“<br />
Was <strong>das</strong> bedeutet, darüber<br />
kann die 17-jährige Nadja viel<br />
erzählen: An ihrem ersten<br />
Tag in <strong>der</strong> Hauptschule stellte<br />
<strong>der</strong> Lehrer sie als Jüdin vor.<br />
„Ich wollte <strong>das</strong> nicht. Was<br />
macht denn <strong>das</strong> für einen<br />
Unterschied, welcher Religion<br />
ich angehöre?", ärgert<br />
sie sich noch heute. Für ihre<br />
Mitschüler war sie damit ein<br />
gefundenes Fressen: „Jude,<br />
Jude riefen sie mir ständig<br />
hinterher, ohne zu wissen, was<br />
<strong>das</strong> eigentlich bedeutet.“ Zu<br />
den seelischen Verletzungen<br />
hat sie mittlerweile eine Distanz<br />
aufbauen können: „Das<br />
hatte ja nichts mit mir zu tun.<br />
<strong>Die</strong> kannten mich gar nicht,<br />
die haben sich nie mit dem Ju-<br />
März <strong>2010</strong><br />
JugendpreSSe<br />
Nachwuchsjournalisten <strong>der</strong><br />
Jugendpresse Deutschland<br />
haben erstmals 2007/2008<br />
bundesweit Projekte besucht,<br />
die im Rahmen <strong>der</strong><br />
<strong>Gesellschafter</strong>-Initiative<br />
geför<strong>der</strong>t werden. Im Mai<br />
2009 meldeten sich weitere<br />
junge Reporter zwischen<br />
16 und 28 <strong>Jahr</strong>en, die über<br />
soziale Themen berichten<br />
wollten. Sie alle sammelten<br />
Eindrücke, sprachen<br />
mit den Beteiligten und<br />
portraitierten zahlreiche<br />
Initiativen. Eine Auswahl<br />
veröffentlicht die <strong>Gesellschafter</strong>zeitung<br />
Ausgabe für<br />
Ausgabe.<br />
Zwar gibt es viele Ideen<br />
für eine lebenswertere Gesellschaft,<br />
doch nicht immer<br />
gelingt es, sie auch Realität<br />
werden zu lassen. die<strong>Gesellschafter</strong>.de<br />
unterstützt engagierte<br />
Menschen bei <strong>der</strong><br />
Umsetzung ihrer Konzepte<br />
in konkrete Projekte mit bis<br />
zu 4.000 Euro.<br />
Anträge können gestellt<br />
werden unter: foer<strong>der</strong>ung.<br />
aktion-mensch.de<br />
dentum auseinan<strong>der</strong>gesetzt.<br />
<strong>Die</strong> haben einfach ein Opfer<br />
gesucht“, meint sie heute.<br />
Nadja möchte nicht als an<strong>der</strong>s<br />
wahrgenommen werden.<br />
Doch bewirkt eine arrangierte<br />
Begegnung zwischen Juden<br />
und Nicht-Juden nicht genau<br />
<strong>das</strong> Gegenteil? „Einerseits<br />
wollen wir darstellen, <strong>das</strong>s die<br />
an<strong>der</strong>e Kultur nichts Fremdes<br />
ist, an<strong>der</strong>erseits tut man genau<br />
<strong>das</strong>, wenn man extra ein<br />
Projekt über sie macht. Das<br />
lässt sich nicht aufheben“, sagt<br />
Michaela Baetz.<br />
Als Tudaniya nach dem Besuch<br />
zur U-Bahn geht, spricht<br />
sie mit ihren Freundinnen<br />
noch lange über koschere<br />
Fische und darüber, <strong>das</strong>s man<br />
am Sabbat kein Licht anmachen<br />
darf. <strong>Die</strong> Frage, ob sich<br />
man sich da nicht viele blaue<br />
Flecken hole, löst Gekicher<br />
aus. Bei einer Erkenntnis<br />
jedoch werden Tudaniyas Augen<br />
vor lauter Überraschung<br />
ganz groß: „<strong>Die</strong> sind ja echt<br />
genau wie wir!“
4 März <strong>2010</strong><br />
Immer mehr Menschen mit<br />
geistiger Behin<strong>der</strong>ung gehen<br />
den Weg in die Normalität<br />
<strong>–</strong> beispielsweise indem<br />
sie eine eigene Wohnung<br />
beziehen. Mitten in <strong>der</strong><br />
Gesellschaft zu stehen bedeutet<br />
aber auch, sich zu<br />
engagieren. Mancher mag<br />
sich wun<strong>der</strong>n, aber auch<br />
Menschen mit geistiger Behin<strong>der</strong>ung<br />
setzen sich aktiv<br />
ein: für Ältere und für Kin<strong>der</strong>,<br />
bei <strong>der</strong> Feuerwehr, im<br />
Naturschutz und an vielen<br />
an<strong>der</strong>en Orten.<br />
Uwe Mathias, Bernd Helmbrecht,<br />
Ingo Dörnte und Andreas<br />
Böker zum Beispiel.<br />
Alle paar Wochen ziehen die<br />
vier ihre Gummistiefel an und<br />
fahren in den Nationalpark<br />
Harz. Um in <strong>der</strong> schönen Natur<br />
zu sein, klar. Doch sie haben<br />
hier auch eine Aufgabe. In ehrenamtlicher<br />
Arbeit schneiden<br />
sie Wan<strong>der</strong>wege frei und legen<br />
Wasserabläufe, sie bauen<br />
Zäune und pflanzen Buchen.<br />
<strong>Die</strong> Nationalpark-Mitarbeiter<br />
Steffen Küppers und Uwe<br />
Lohde sind begeistert von den<br />
vier jungen Männern, die in<br />
einer Wohnstätte in Northeim<br />
leben: „Das Engagement unserer<br />
Freiwilligen ist beeindruckend.<br />
Sie packen mit an und<br />
zeigen durch ihren Einsatz,<br />
<strong>das</strong>s Naturschutz alle angeht<br />
<strong>–</strong> ob behin<strong>der</strong>t o<strong>der</strong> nicht.“<br />
Wer sich sozial engagiert,<br />
gewinnt an Selbstständig-<br />
Unter dem Motto „<strong>Inklusion</strong><br />
<strong>–</strong> Dabei sein. Von Anfang<br />
an.“ werden auch in diesem<br />
<strong>Jahr</strong> bundesweit zahlreiche<br />
Aktionen anlässlich des<br />
Europäischen Protesttages<br />
zur Gleichstellung von Menschen<br />
mit Behin<strong>der</strong>ung<br />
stattfinden. Veranstalter:<br />
Verbände und Organisationen<br />
<strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>tenhilfe-<br />
und Selbsthilfe.<br />
Ziel <strong>der</strong> Aktionen ist es, auf die<br />
Situation von Menschen<br />
mit Behin<strong>der</strong>ung<br />
aufmerksam<br />
zu machen<br />
und ein<br />
selbstvers<br />
t ä n d -<br />
liches und<br />
gleichberechtigtesZusammenleben<br />
aller Menschen<br />
einzufor<strong>der</strong>n.<br />
Wie in den vergangenen Jah-<br />
Aktionen<br />
Ehrenamt <strong>–</strong> mal von <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite!<br />
Projekt „Lebenshilfe aktiv“ unterstützt <strong>das</strong> Engagement von Menschen mit geistiger Behin<strong>der</strong>ung<br />
WettbeWerb<br />
Mach Dir ein Bild: Was<br />
bedeutet Heimat im Einwan<strong>der</strong>ungslandDeutschland<br />
sowie Integration,<br />
Toleranz, Gemeinschaft in<br />
Alltag, Beruf, Familie und<br />
Freizeit? Noch bis zum 31.<br />
März läuft <strong>der</strong> Fotowettbewerb<br />
„ZusammenLeben“<br />
von Caritas und Aktion<br />
Mensch. Bereits eingereichte<br />
Bil<strong>der</strong> stehen im Internet<br />
unter die<strong>Gesellschafter</strong>.de/<br />
fotowettbewerb; weitere<br />
Fotos können hinzugefügt<br />
werden. Der Versand ist<br />
auch per Post o<strong>der</strong> per<br />
E-Mail möglich: Aktion<br />
Mensch, Heinemannstraße<br />
36, 53175 Bonn, fotowettbewerb@die<strong>Gesellschafter</strong>.de.<br />
<strong>Die</strong> Preise: Kamera-<br />
Gutscheine im Wert von<br />
1.000 Euro und die Teilnahme<br />
an einem Fotoworkshop.<br />
Teilnahmeunterlagen und<br />
Infos unter: die<strong>Gesellschafter</strong>.de/fotowettbewerb<br />
Foto: Aktion Mensch / hans-<strong>Die</strong>trich Beyer<br />
<strong>Die</strong> Lebenshilfe sucht weitere Freiwillige <strong>–</strong> ein Mausklick genügt: www.lebenshilfe-aktiv.de<br />
keit, Selbstbewustsein und<br />
Lebensqualität <strong>–</strong> und hat<br />
Spaß dabei. Das Projekt<br />
„Lebenshilfe aktiv“ <strong>der</strong> Bundesvereinigung<br />
Lebenshilfe<br />
für Menschen mit geistiger<br />
Behin<strong>der</strong>ung e.V. för<strong>der</strong>t diese<br />
Freiwilligenarbeit <strong>–</strong> sowohl<br />
für als auch von Menschen<br />
mit geistiger Behin<strong>der</strong>ung.<br />
Dabei sein <strong>–</strong> am 5. Mai<br />
ren unterstützt die<br />
Aktion Mensch im<br />
Rahmen ihrer <strong>Gesellschafter</strong>-Initiative<br />
Veranstaltungen<br />
zum 5. Mai sowohl<br />
mit Materialien zur<br />
Öffentlichkeitsarbeit<br />
als auch finanziell.<br />
Und falls Sie noch<br />
keine Idee für eine<br />
passende Aktion<br />
haben, kann diese<br />
gleich mitgeliefert<br />
werden: Beispielsweise<br />
in Form<br />
eines großen<br />
B l a n k o -<br />
Pl a k a t e s ,<br />
inklusive<br />
Pinsel und<br />
F a r b e n .<br />
Unter <strong>der</strong><br />
Frage „Was<br />
ist <strong>Inklusion</strong>?<br />
Und wie kann sie<br />
bildlich dargestellt<br />
werden?“ können<br />
Foto: Enno hurlin<br />
<strong>Die</strong> Aktion Mensch unterstützt<br />
<strong>das</strong> Projekt finanziell<br />
und hat gemeinsam mit <strong>der</strong><br />
Lebenshilfe im Rahmen von<br />
die<strong>Gesellschafter</strong>.de einen<br />
Flyer erstellt, <strong>der</strong> gelungene<br />
Beispiele des ehrenamtlichen<br />
Engagements von Menschen<br />
mit geistiger Behin<strong>der</strong>ung<br />
vorstellt und weitere Informa-<br />
Beim Protesttag im Mai 2009 in Berlin.<br />
för<strong>der</strong>ung<br />
aÜber<br />
<strong>das</strong> <strong>Gesellschafter</strong>-För<strong>der</strong>programm<br />
können Projekte bezuschusst<br />
werden, in<br />
denen sich Menschen<br />
freiwillig engagieren.<br />
Für Menschen, die kein<br />
eigenes Projekt starten<br />
möchten, bietet eine<br />
Freiwilligendatenbank<br />
über 3.000 Möglichkeiten,<br />
sich mit an<strong>der</strong>en<br />
und für an<strong>der</strong>e zu engagieren.<br />
Weitere Informationen<br />
unter die<strong>Gesellschafter</strong>.de<br />
tionen bereithält. Der Flyer<br />
kann kostenlos angefor<strong>der</strong>t<br />
werden bei:<br />
Aktion Mensch,<br />
Tel.: 0228/2092 - 370,<br />
info@die<strong>Gesellschafter</strong>.de<br />
o<strong>der</strong> Projekt „Lebenshilfe aktiv“,<br />
Tel.: 06421/491 - 115,<br />
aktiv@lebenshilfe.de<br />
<strong>Gesellschafter</strong>-Initiative unterstützt Aktionen <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>tenhilfe und -selbsthilfe<br />
Sie gemeinsam mit<br />
Passanten, eingeladenen<br />
Politikern<br />
und Menschen des<br />
öffentlichen Lebens<br />
<strong>das</strong> Plakat<br />
gestalten. O<strong>der</strong> Sie<br />
organisieren ein<br />
Wissens-Quiz zum<br />
Thema <strong>Inklusion</strong>,<br />
mit Hilfe <strong>der</strong> von<br />
<strong>der</strong> Aktion Mensch<br />
bereitgestellten<br />
Postkarten.<br />
Der diesjährige<br />
Aktionszeitraum<br />
reicht vom 1. Mai<br />
bis zum 16. Mai<br />
<strong>2010</strong>.<br />
Termine und Orte<br />
<strong>der</strong> verschiedenen<br />
Aktionen, Bestellung<br />
von Materialien<br />
sowie weitere<br />
Informationen zum<br />
5. Mai unter<br />
die<strong>Gesellschafter</strong>.de/5mai
Mehr vom Leben<br />
Jetzt als Buch: Beiträge zu „Frauen sind an<strong>der</strong>s. Männer auch!“<br />
Wie nehme ich meinen<br />
Körper wahr? Wie gestalten<br />
sich die sozialen Kontakte,<br />
Partnersuche und Sexualität,<br />
Arbeit und Freizeit?<br />
Zu diesen und an<strong>der</strong>en Fragen<br />
haben seit dem Frühjahr<br />
2009 über 300 Menschen<br />
mit Behin<strong>der</strong>ung ihre persönlichen<br />
Geschichten erzählt.<br />
Der Schreibwettbewerb war<br />
eine Idee <strong>der</strong> Aktion Mensch<br />
und des Bundesverbandes<br />
für körper- und mehrfachbehin<strong>der</strong>te<br />
Menschen (BVKM)<br />
e.V.. Anfang Mai erscheint<br />
nun in <strong>der</strong> Reihe „BALANCE<br />
Gleich mit zwei Beiträgen<br />
hat die 17-jährige<br />
Kathrin Lemler, die im<br />
Rollstuhl sitzt und sich<br />
mit Hilfe eines Sprachcomputers<br />
verständigt,<br />
den Schreibwettbewerb<br />
für sich entschieden: „Als<br />
Zeugin vor Gericht“ und<br />
„Nur einen Personalausweis<br />
beantragen“. In beiden<br />
schil<strong>der</strong>t sie eigene<br />
Erlebnisse. Geschichten,<br />
die davon erzählen, <strong>das</strong>s<br />
auch die sogenannten<br />
„normalen“ Menschen<br />
Ängste zu überwinden<br />
haben, wenn sie auf Menschen<br />
mit Behin<strong>der</strong>ung<br />
treffen.<br />
Wie je<strong>der</strong> Bundesbürger<br />
musste ich auch, als ich 16<br />
wurde, einen Personalausweis<br />
beantragen. (…) Als<br />
die Frau, ohne von mir Notiz<br />
zu nehmen, sich in<br />
ihre Akten vertiefte,<br />
schaltete<br />
ich mei-<br />
kathrin Lemler<br />
erfahrungen“ unter dem Titel<br />
„Mehr vom Leben. Frauen<br />
und Männer mit Behin<strong>der</strong>ung<br />
erzählen“ eine Auswahl <strong>der</strong><br />
besten Beiträge.<br />
Herzzerreißend unsentimental<br />
ist beispielsweise <strong>das</strong><br />
Bild, <strong>das</strong> die junge Wettbewerbsgewinnerin<br />
Kathrin<br />
Lemler von sich selbst gibt:<br />
„Ich weiß, wie ich aussehe:<br />
ein kleines, zappelndes Etwas,<br />
dem <strong>der</strong> Speichel aus dem<br />
Mund läuft. Auf Grund meiner<br />
Behin<strong>der</strong>ung wirke ich nicht<br />
gerade attraktiv!“ Hoffnungsvoll<br />
schreibt sie weiter: „Irgendwann<br />
lerne ich bestimmt<br />
nen Computer an: „Guten Tag.<br />
Ich heiße Kathrin Lemler und<br />
möchte einen Personalausweis<br />
beantragen. Können sie<br />
mir bitte helfen?“ Sie schrak<br />
auf. Im ersten Moment wusste<br />
sie nicht, woher die Stimme<br />
kam. Dann bemerkte sie mich.<br />
Ich hielt es für sinnvoll, meine<br />
Aussage zu wie<strong>der</strong>holen:<br />
„Guten Tag. Ich heiße Kathrin<br />
Lemler und möchte einen<br />
Personalausweis beantragen.<br />
Können sie mir bitte helfen?“<br />
Jetzt reagierte die Dame. Sie<br />
schrie mich an (vermutlich<br />
meinte sie, ich sei schwerhörig):<br />
„SIE WOLLEN EINEN<br />
PERSONALAUSWEIS?“ Ich<br />
nickte ganz deutlich. „MO-<br />
MENT, ICH HOLE GERADE<br />
MAL JEMANDEN!“ Sie griff<br />
zum Telefonhörer: „Hallo?<br />
Hier ist jemand im Rollstuhl.<br />
Ich glaube, sie will einen<br />
Personalausweis beantragen.<br />
Können sie sie abholen?“ Zu<br />
mir gewandt: „ES KOMMT<br />
GLEICH JEMAND!“ Ich wartete.<br />
Eine junge Frau mit blondem<br />
Haar kam. Ich spulte<br />
wie<strong>der</strong> meinen Text ab:<br />
„Guten Tag. Ich heiße Kathrin<br />
Lemler und möchte<br />
einen Personalausweis<br />
beantragen. Können sie<br />
mir bitte helfen?“ Ich war<br />
froh, <strong>das</strong>s ich diesen Satz<br />
eingespeichert hatte. Verdutzt<br />
antwortete die Frau:<br />
„Natürlich kann ich Ihnen<br />
helfen. Kommen sie bitte mit.“<br />
Ich entdeckte <strong>das</strong> Namensschild<br />
auf ihrer Bluse. Sie hieß<br />
wettbewerbe<br />
jemanden kennen, dem meine<br />
strahlenden Augen, mein einzigartiges<br />
Lachen und meine<br />
grenzenlose Power den Kopf<br />
verdrehen. Das wäre mein<br />
größter Wunsch! Vielleicht<br />
passiert es morgen, vielleicht<br />
in einem <strong>Jahr</strong>, vielleicht in<br />
zehn <strong>Jahr</strong>en o<strong>der</strong> vielleicht<br />
auch gar nicht. Aber ich werde<br />
nie aufgeben, daran zu<br />
glauben.“<br />
„Mehr vom Leben. Frauen<br />
und Männer mit Behin<strong>der</strong>ung<br />
erzählen“, BALANCE buch +<br />
medien verlag, ca. 192 Seiten<br />
mit Abbildungen, 14,95 Euro<br />
Frau Schmidt.<br />
<strong>Die</strong> junge Frau<br />
führte mich<br />
zum Fahrstuhl,<br />
jedenfalls versuchte<br />
sie es.<br />
Ich hätte es<br />
ahnen müssen.<br />
Genau in<br />
dem Moment,<br />
als ich hätte<br />
losfahren sollen,<br />
fuchtelte<br />
mein Arm<br />
wild umher.<br />
Ich bekam<br />
ihn einfach<br />
nicht an den<br />
Steuerknüppel!<br />
„Soll<br />
ich Ihnen<br />
h e l f e n? “,<br />
fragte Frau<br />
S c h m i d t .<br />
Mein Arm<br />
f uc htelte<br />
noch heftiger.<br />
Ich<br />
schüttelte<br />
den Kopf<br />
und dachte: „Mist, es<br />
hat so schön angefangen und<br />
jetzt hält sie mich bestimmt<br />
für bescheuert.“ Ich hatte es<br />
inzwischen geschafft, meinen<br />
Arm an die Steuerung zu<br />
bekommen. Ich folgte Frau<br />
Schmidt, die immer wie<strong>der</strong><br />
zurückblickte, um sich zu<br />
vergewissern, <strong>das</strong>s ich noch<br />
hinter ihr war, obwohl sie es<br />
doch am Geräusch meines<br />
Rollstuhls hören konnte. Wir<br />
fuhren in den ersten Stock<br />
impreSSum<br />
März <strong>2010</strong> 5<br />
herausgeber: Aktion Mensch, Heinemannstraße 36, 53175 Bonn.<br />
Leitung: Christian Scheifl, Christian Schmitz (V.i.S.d.P.).<br />
Redaktion: Reinhard Backes (Chef vom <strong>Die</strong>nst), Mark Czogalla,<br />
Bithja Isabel Gehrke (Layout), Eva Girke-Labonté (Korrektur),<br />
Jutta vom Hofe (Textredaktion), Karin Jacek, Ulrich Steilen,<br />
Stefanie Wulff<br />
kontakt zur Redaktion: Tel. 02 28 - 20 92-388, Fax 02 28 - 20 92-333.<br />
E-Mail: zeitung@die<strong>Gesellschafter</strong>.de, Druck: General-Anzeiger, Bonn.<br />
die<strong>Gesellschafter</strong>.de erscheint regelmäßig kostenlos und liegt bundesweit<br />
an ausgewählten Stellen aus. Interessenten, die die Zeitung auslegen<br />
möchten, können sich unter www.die<strong>Gesellschafter</strong>.de/zeitung<br />
eintragen o<strong>der</strong> wenden sich an Tel. 02 28 - 20 92-345.<br />
<strong>Die</strong> in den Zitaten und Forumsbeiträgen abgedruckten Meinungen geben nicht<br />
in jedem Fall die Meinung <strong>der</strong> Redaktion wie<strong>der</strong>.<br />
auSSchnitt auS dem geWinnerbeitrag „nur einen perSonalauSWeiS beantragen“ Von kathrin lemler<br />
Alltagsgeschichten von Menschen mit Behin<strong>der</strong>ung.<br />
und in ihr Büro. Frau Schmidt<br />
wies mich an, einen Moment<br />
zu warten, während sie ins<br />
Hinterzimmer verschwand.<br />
Ich hörte ihre Stimme und<br />
die eines Mannes, die aufgeregt<br />
miteinan<strong>der</strong> sprachen.<br />
Ich verstand nur Wortfetzen:<br />
„Frau im Rollstuhl ... komische<br />
Computerstimme ...<br />
kein Betreuer ... Polizei ...“<br />
Mir schwante Schlimmes. Ich<br />
überlegte, wie ich aus dieser<br />
Situation glimpflich<br />
rauskommen sollte.<br />
Da kam Frau Schmidt<br />
aus dem Hinterzimmer<br />
und sagte ganz<br />
freundlich: „Dann<br />
wollen wir mal anfangen.<br />
Haben Sie Ihre<br />
Papiere dabei?“ Ich<br />
grübelte. Offensichtlich<br />
hatte irgendeiner<br />
von den beiden den<br />
an<strong>der</strong>en davon überzeugt,<br />
<strong>das</strong>s wir keine<br />
Polizei benötigten. Ich<br />
war sehr froh darüber.<br />
Zu Frau Schmidt<br />
gewandt, lächelte ich,<br />
nickte und spulte meine<br />
vorbereitete Antwort ab:<br />
„Meine Papiere sind in<br />
<strong>der</strong> kleinen schwarzen<br />
Tasche, die hinten an<br />
meinem Rollstuhl hängt.“<br />
Sofort kam Frau Schmidt<br />
hinter ihrem Schreibtisch<br />
hervor. Sie fand meine<br />
Papiere. „<strong>Die</strong> Papiere sind<br />
vollständig,“ sagte sie, „Sie<br />
können in einer Woche<br />
Ihren Ausweis abholen.“<br />
Ich nickte und spulte meine<br />
dritte vorbereitete Aussage<br />
ab: „Ich habe noch eine Frage.<br />
Wie ist <strong>das</strong>, wenn man<br />
nicht unterschreiben kann?“.<br />
Frau Schmidt schaute so,<br />
als hätte sie noch nie vor<br />
diesem Problem gestanden.<br />
Sie versprach, sich darum<br />
zu kümmern. Ich hatte es<br />
geschafft! Ich hatte meinen<br />
Personalausweis ganz allein<br />
beantragt! (…)
6 März <strong>2010</strong><br />
„Wir tun, was Freunde füreinan<strong>der</strong> tun“<br />
In Freiburg beraten Jugendliche junge Menschen in krisen und bei Suizidgefahr via Internet<br />
Von Anja Martin<br />
„Hi, ich hab ein Problem.<br />
Ich will nicht mehr leben.<br />
Ich hab keine Lebenslust<br />
mehr und weiß nicht mehr<br />
weiter“, heißt es in <strong>der</strong><br />
Mail einer 14-Jährigen. „Ich<br />
kann mit niemandem darüber<br />
reden!! Doch in letzter<br />
Zeit wurde mir klar, <strong>das</strong>s<br />
ich Hilfe brauche.“ Im Internet<br />
stieß <strong>das</strong> Mädchen<br />
auf U25, ein Projekt zur<br />
Suizidprävention für unter<br />
25-Jährige. Unter www.u25freiburg.de<br />
loggte sich die<br />
Schülerin ein und mailte<br />
ihren anonymisierten Hilferuf:<br />
„Was soll ich jetzt<br />
machen?“<br />
Antwort bekam sie von einem<br />
<strong>der</strong> 23 ehrenamtlichen Peerberater<br />
des Projekts U25.<br />
„Peer“ kommt aus dem Englischen<br />
und bedeutet „Gleicher“<br />
o<strong>der</strong> „Ebenbürtiger“.<br />
<strong>Die</strong> Berater sind deshalb auch<br />
keine Psychotherapeuten o<strong>der</strong><br />
Sozialpädagogen, son<strong>der</strong>n <strong>–</strong><br />
wie ihre Klienten <strong>–</strong> Schüler,<br />
Studenten o<strong>der</strong> Auszubildende,<br />
die nicht älter als 25 <strong>Jahr</strong>e<br />
sind.<br />
„Wir bereiten sie in einem<br />
sechsmonatigen Kurs auf ihre<br />
Aufgabe vor“, berichtet Projektleiterin<br />
Solveig Rebholz.<br />
Vermittelt werden unter an<strong>der</strong>em<br />
Informationen über<br />
Entstehung und Verlauf von<br />
Krisen sowie Einblicke in verschiedene<br />
psychische Erkrankungen.<br />
„Wir machen auch<br />
klar, <strong>das</strong>s Suizidgedanken<br />
an sich keine Krankheit sind,<br />
Gerade Menschen<br />
in kritischen Lebenssituationen,<br />
die als einzigen<br />
Ausweg den Selbstmord<br />
sehen, stehen auf <strong>der</strong><br />
Schwelle zwischen Leben<br />
und Tod. <strong>Die</strong>se Menschen<br />
wollen leben, können es<br />
aber nicht mehr. Ihr Anruf<br />
bei <strong>der</strong> Telefonseelsorge ist<br />
oft ein letzter Hilfeschrei<br />
und zeigt, <strong>das</strong>s etwas in<br />
ihnen noch leben will.<br />
Und so geht es in jedem<br />
Gespräch darum, auf Entdeckungsreise<br />
nach diesem<br />
noch vorhandenen, vitalen<br />
Foto: picture alliance<br />
son<strong>der</strong>n erst einmal Ausdruck<br />
für eine Krise.“<br />
Jugendliche sind<br />
beson<strong>der</strong>s gefährdet<br />
Alle 54 Minuten nimmt sich<br />
in Deutschland ein Mensch<br />
<strong>das</strong> Leben, <strong>das</strong> sind rund<br />
10.000 pro <strong>Jahr</strong>. <strong>Die</strong> Zahl <strong>der</strong><br />
Suizidversuche liegt noch um<br />
ein Zehnfaches höher. „<strong>Die</strong><br />
Versuchsrate ist bei Jugendlichen<br />
und jungen Erwach-<br />
Reportage<br />
Psychische Erkrankungen sind nicht selten Ursache für einen Selbstmord bzw. Suizidversuch.<br />
Lebensimpuls zu gehen. Es<br />
gibt keine Garantie dafür,<br />
<strong>das</strong>s man ihn findet. Aber<br />
wenn es gelingt, kann sich<br />
<strong>der</strong> Anrufer o<strong>der</strong> die Anruferin<br />
vielleicht in einem<br />
neuen Sinn „<strong>das</strong> Leben<br />
geben“, anstatt es sich zu<br />
nehmen. In Kooperation<br />
mit <strong>der</strong> Telekom finanzieren<br />
die Kirchen die 105<br />
Telefonseelsorgestellen in<br />
Deutschland fast völlig aus<br />
Kirchensteuermitteln.<br />
werner korsten, Pfarrer<br />
3 die<strong>Gesellschafter</strong>.de<br />
Fotos: wolfram Scheible<br />
senen beson<strong>der</strong>s hoch“, so<br />
Rebholz. Ausgerechnet diese<br />
Altersgruppe werde von den<br />
klassischen Beratungsangeboten,<br />
die auf persönlichen<br />
Gesprächen mit Erwachsenen<br />
beruhen, jedoch kaum<br />
erreicht. Für den Freiburger<br />
Arbeitskreis Leben (AKL), <strong>der</strong><br />
schon seit über 30 <strong>Jahr</strong>en<br />
Menschen in Lebenskrisen,<br />
Suizidgefährdete und Hinterbliebene<br />
nach Suizid betreut,<br />
war diese Erkenntnis Grund<br />
genug, ein jugendgerechtes<br />
Angebot zu schaffen: <strong>Die</strong><br />
Online-Beratung von Jugendlichen<br />
für Jugendliche. U25<br />
war geboren.<br />
Bundesweit gibt es kaum<br />
mehr als eine Handvoll solcher<br />
Projekte. Doch die Nachfrage<br />
ist groß. Allein bei den Freiburgern<br />
gehen pro <strong>Jahr</strong> ca.<br />
1.500 Mails von rund 300 Jugendlichen<br />
aus ganz Deutschland<br />
und dem benachbarten<br />
Ausland ein. „Auslöser <strong>der</strong> An-<br />
fragen sind meist Probleme in<br />
Schule o<strong>der</strong> Familie, Mobbing<br />
und Liebeskummer, aber auch<br />
Gewalterfahrungen und sexueller<br />
Missbrauch“, berichtet<br />
die 29-Jährige.<br />
Jeden Morgen checkt sie die<br />
eingegangenen Erstanfragen<br />
und fragt dann im Berater-<br />
Team nach, wer einen neuen<br />
Kontakt übernehmen möchte.<br />
„Wer gerade Stress im Studium<br />
hat o<strong>der</strong> aus an<strong>der</strong>en<br />
Gründen nicht kann, darf<br />
wolfgang Stich leitet den Arbeitskreis Leben. Solveig Rebholz verantwortet <strong>das</strong> Projekt.
Suizide WeltWeit<br />
Informationen <strong>der</strong> Weltgesundheitsorganisationzufolge<br />
sterben jährlich weltweit<br />
fast eine Million Menschen<br />
durch Suizid; <strong>das</strong> entspricht<br />
etwa 14,5 Gestorbenen je 100<br />
000 Einwohner <strong>der</strong> heutigen<br />
durchschnittlichen Weltbevölkerung<br />
o<strong>der</strong> annähernd<br />
alle 40 Sekunden einem<br />
Suizidtoten. Insbeson<strong>der</strong>e in<br />
<strong>der</strong> Altersgruppe <strong>der</strong> 20- bis<br />
44-Jährigen ist <strong>der</strong> Anteil <strong>der</strong><br />
Suizidtoten sehr hoch. <strong>Die</strong>s<br />
gilt auch in Europa. Eine Untersuchung<br />
des Statistischen<br />
Amtes <strong>der</strong> Europäischen Gemeinschaften<br />
(Eurostat) bemisst<br />
den Anteil <strong>der</strong> Suizide<br />
an allen Todesfällen bei den<br />
Männern dieser Altersgruppe<br />
auf 31 Prozent und bei<br />
den Frauen auf 32 Prozent.<br />
Nach den Sterbefällen durch<br />
äußere Ursachen ist <strong>der</strong> Sui-<br />
ruhig ablehnen.“ Denn meist<br />
ist es mit einer Antwort-Mail<br />
nicht getan. Häufig entwickelt<br />
sich eine längere E-Mail-<br />
Begleitung.<br />
„Ich betreue eine Klientin<br />
schon seit fast einem <strong>Jahr</strong>“, erzählt<br />
die 18-Jährige Christine<br />
(alle Peerberater werden im<br />
E-Mail-Kontakt und auf <strong>der</strong><br />
Website nur mit ihrem Vornamen<br />
genannt), die sich seit<br />
2007 als Peerberaterin engagiert.<br />
„Im Schnitt schreiben<br />
wir uns einmal die Woche,<br />
aber wenn es ihr schlecht<br />
geht, dann kann <strong>das</strong> auch<br />
mehrmals am Tag sein.“<br />
Überfor<strong>der</strong>t fühlt sich die<br />
Schülerin, die kurz vor dem<br />
zid damit die zweithäufigste<br />
Todesursache in <strong>der</strong> betrachteten<br />
Altersgruppe.<br />
Trotz <strong>der</strong> seit <strong>Jahr</strong>zehnten<br />
rückläufigen Zahl an Suiziden,<br />
scheidet heutzutage<br />
dennoch je<strong>der</strong> 100. Mensch<br />
in Deutschland freiwillig aus<br />
dem Leben. <strong>Die</strong> Gründe hierfür<br />
können unterschiedlich<br />
sein. Der amtlichen Statistik<br />
ist es aufgrund <strong>der</strong> jetzigen<br />
Erhebungsmodalitäten nicht<br />
möglich, hier detailliertere<br />
Informationen zu geben.<br />
Da die Todesursachenstatistik<br />
letztlich auch Grundlage<br />
für politische und ökonomische<br />
Entscheidungen<br />
ist, hat es Folgen, wenn die<br />
Suizidraten systematisch unterschätzt<br />
werden.<br />
Quelle: Statistisches Bundesamt,<br />
Wiesbaden (www.<br />
Abitur steht, dennoch nicht.<br />
„Wenn es bei mir zeitlich eng<br />
wird o<strong>der</strong> ich in Urlaub fahre,<br />
dann schreibe ich ihr <strong>das</strong> und<br />
frage auch, ob sie sich solange<br />
an ein an<strong>der</strong>es Teammitglied<br />
wenden möchte.“<br />
Bei Störungen<br />
helfen Experten<br />
Eine große Hilfe sind die regelmäßigenSupervisionstreffen<br />
des Beraterteams unter<br />
<strong>der</strong> Leitung von Sozialarbeiterin<br />
Rebholz. Erfahrungen<br />
werden ausgetauscht, Fälle<br />
diskutiert und Hilfestellungen<br />
gegeben. Bei Bedarf, etwa<br />
bei Hinweisen auf psychische<br />
Reportage<br />
Störungen, können auch Psychotherapeuten<br />
und an<strong>der</strong>e<br />
Fachkräfte des AKL hinzugezogen<br />
werden.<br />
Viele Peerberater, die im<br />
Bekanntenkreis von ihrem<br />
Engagement erzählen, berichten,<br />
<strong>das</strong>s sie erstaunt<br />
gefragt werden, ob diese<br />
Aufgabe nicht zu groß für sie<br />
sei. Schließlich seien sie doch<br />
keine Therapeuten.<br />
Zuhören und<br />
Nachfragen<br />
„Wir sind we<strong>der</strong> Ärzte noch<br />
Therapeuten“, erklärt Rebholz.<br />
„Wir diagnostizieren<br />
nicht. Wir therapieren nicht.<br />
Alles was wir tun, ist nachfragen,<br />
Tipps geben und vor<br />
allem eine vertrauensvolle<br />
Beziehung aufbauen.“ Denn:<br />
Wissenschaftliche Studien<br />
haben ergeben, <strong>das</strong>s suizidgefährdete<br />
Menschen zwischenmenschliche<br />
Beziehungen<br />
abbrechen und sich zurück-<br />
destatis.de) Fotos: wolfram Scheible<br />
Abstimmung und Austausch sind wichtig: Gruppengespräch mit Projektleiterin Solveig Rebholz (r).<br />
ziehen. „Deshalb ist es uns<br />
wichtig, eine Beziehung aufzubauen“,<br />
so Rebholz. „Denn<br />
wer in Beziehung ist, bringt<br />
sich so schnell nicht um.“ In<br />
<strong>der</strong> Beratung gehe es daher<br />
oft darum, die sozialen Ressourcen<br />
zu reaktivieren und<br />
den Blick auf Möglichkeiten<br />
zu Begegnung und Hilfe zu<br />
öffnen. Dazu gehörten auch<br />
Informationen zu Beratungsstellen<br />
und an<strong>der</strong>en Hilfsangeboten<br />
in Wohnortnähe <strong>der</strong><br />
Betroffenen.<br />
„Eigentlich tun wir nichts<br />
an<strong>der</strong>es als <strong>das</strong>, was Freunde<br />
füreinan<strong>der</strong> tun: Wir hören<br />
zu, wir fragen nach und versuchen,<br />
beim Finden einer<br />
Lösung zu helfen“, bringt es<br />
Christine auf den Punkt. <strong>Die</strong><br />
Anonymität des Internets sei<br />
dabei kein Hin<strong>der</strong>nis. Vielmehr<br />
för<strong>der</strong>e sie die Offenheit<br />
des Austauschs: „Das Internet<br />
kann sehr nah sein.“<br />
Seit 2004 steht <strong>das</strong> Projekt<br />
auch in regelmäßigem Kontakt<br />
mit Freiburger Schulen, organisiert<br />
Info-Tische in großen<br />
Pausen, bietet Unterrichtseinheiten<br />
und Fortbildungen<br />
für Lehrer an. „Wir möchten<br />
<strong>das</strong> Thema Suizid gern aus<br />
<strong>der</strong> Tabuzone holen und in<br />
<strong>der</strong> Öffentlichkeit Verständnis<br />
wecken für Menschen, die<br />
in einer Lebenskrise an die<br />
Grenze zwischen Leben und<br />
Tod gehen“, erklärt AKL-Leiter<br />
Wolfgang Stich (54).<br />
Aber die Depression<br />
for<strong>der</strong>t nicht unmittelbar<br />
eine Antwort, ein Handeln<br />
heraus. Sie stört in Maßen.<br />
Dass allerdings jemand<br />
abgrundtief traurig und<br />
desorientiert ist - sei es<br />
aus Veranlagung o<strong>der</strong> infolge<br />
von Traumata o<strong>der</strong><br />
Schicksalsschlägen - wirkt<br />
wie ein giftiger Stachel<br />
in einer Gesellschaft mit<br />
hohem Anspruchsdenken.<br />
Nicht nur in Deutschland<br />
jagen die Menschen dem<br />
Glück hinterher, <strong>das</strong>s<br />
einem angst und bange<br />
März <strong>2010</strong> 7<br />
<strong>Die</strong> 18-Jährige christine Schweizer korrespondiert mit Betroffenen.<br />
Immer öfter werden auch<br />
die Medien auf U25 aufmerksam.<br />
Im letzten <strong>Jahr</strong> wurde<br />
<strong>der</strong> Film „Hallo Jule, ich<br />
lebe noch“ bundesweit ausgestrahlt,<br />
in dem die Arbeit <strong>der</strong><br />
Peerberater eine große Rolle<br />
spielt. Doch erfolgreiche Öffentlichkeitsarbeit<br />
hat eine<br />
Kehrseite: Nachdem <strong>der</strong> Film<br />
gelaufen war, konnte sich<br />
<strong>das</strong> Beraterteam vor Anfragen<br />
kaum retten. „Es fehlen<br />
bundesweit noch mindestens<br />
vier weitere solcher Projekte,<br />
um die Nachfrage wenigstens<br />
ansatzweise decken zu können“,<br />
so Stich. „Das Problem<br />
ist aber, wie so oft, <strong>das</strong> Geld.“<br />
Auch die Finanzierung von<br />
U25 ist nur bis 2011 gesichert.<br />
wird. Der vermeintliche<br />
Anspruch auf Glück zu je<strong>der</strong><br />
Zeit, an jedem Ort und<br />
in je<strong>der</strong> Hinsicht verträgt<br />
sich nicht mit <strong>der</strong> abgründig-bedrohlichen<br />
Welt <strong>der</strong><br />
Depressiven. Und gerade<br />
<strong>das</strong> macht diese Krankheit<br />
zum Tabu. Wünschenswert<br />
wäre <strong>das</strong> Aushalten von<br />
Normalität, <strong>das</strong> Zulassen<br />
von Mittelmaß und Pechsträhnen.<br />
Isabel Fannrich-Lautenschläger<br />
3 die<strong>Gesellschafter</strong>.de
8 März <strong>2010</strong><br />
Fluch und Segen zugleich<br />
Eine kleine Geschichte <strong>der</strong> Arbeit <strong>–</strong> von <strong>der</strong> Antike bis in die Mo<strong>der</strong>ne<br />
Von Jutta vom Hofe<br />
Wie kam die Arbeit in die<br />
Welt? <strong>Die</strong> Bibel erzählt es<br />
so: Adam und Eva, verführt<br />
von <strong>der</strong> Schlange, hatten<br />
trotz göttlichen Verbots vom<br />
Baum <strong>der</strong> Erkenntnis gegessen.<br />
Zur Strafe vertreibt Gott<br />
sie nicht nur aus dem Paradies.<br />
Er schickt ihnen auch<br />
noch einen Fluch hinterher:<br />
„Verflucht sei <strong>der</strong> Acker um<br />
deinetwillen, mit Kummer<br />
sollst du dich darauf ernähren<br />
ein Leben lang.“<br />
Das Paradies war <strong>der</strong> Ort, <strong>der</strong><br />
keine Arbeit kannte. Danach<br />
war damit Schluss. Und die<br />
meisten haben dies seitdem<br />
mehr als Fluch empfunden<br />
denn als Segen.<br />
In <strong>der</strong> Antike herrschte eine<br />
skeptische Haltung gegenüber<br />
<strong>der</strong> Arbeit vor. Bei den alten<br />
Griechen war Arbeit ein Zeichen<br />
von Unfreiheit, die Muße<br />
dagegen, so Aristoteles, „die<br />
Schwester <strong>der</strong> Freiheit“. Allerdings<br />
konnten sich die meisten<br />
diese Einstellung nicht leisten,<br />
mussten sie doch als Sklaven<br />
dafür sorgen, <strong>das</strong>s sich die<br />
freien Bürger Athens dem Müßiggang<br />
hingeben konnten.<br />
Vom Schmuddelimage<br />
zur ehrbaren Arbeit<br />
<strong>Die</strong> jüdisch-christliche Tradition<br />
entwickelte ein ambivalentes<br />
Verhältnis zum meist<br />
unvermeidlichen Tagewerk:<br />
Arbeit galt als Fluch und<br />
Segen, als Strafe und göttlicher<br />
Auftrag zugleich. Oft<br />
mit <strong>der</strong> mehr o<strong>der</strong> weniger<br />
versteckten Botschaft, in <strong>der</strong><br />
Eine Maschine ist<br />
„Kapital“ und sie produziert<br />
mehr. Seitdem unsere Produktion<br />
immer effizienter<br />
arbeitet, ist die Vollbeschäf-<br />
tigung eine Illusion. <strong>Die</strong><br />
Selbsttäuschung bei den<br />
Politikern besteht im „Mehr-<br />
Gewinne-machen-heißtmehr-Beschäftigung“<br />
und<br />
eigentlich sollten die Gewerkschaften<br />
an <strong>der</strong> Zerstörung<br />
dieser Illusion arbeiten.<br />
christoph Engel<br />
3 die<strong>Gesellschafter</strong>.de<br />
Foto: Seidensticker Gmbh, Firmenarchiv<br />
harten Arbeit auch ein Stück<br />
Buße für die menschliche<br />
Sündhaftigkeit zu sehen.<br />
Erst im späten Mittelalter<br />
streifte die Arbeit ihr Schmuddelimage<br />
ab. Ehrbare Arbeit<br />
wurde hoch geachtet, ja<br />
sogar zur Voraussetzung zur<br />
Erlangung von Freiheit und<br />
Stadtbürgerrechten.<br />
Damit war die Aufwertung<br />
<strong>der</strong> Arbeit als Krönung eines<br />
gelungenen Lebens nicht mehr<br />
aufzuhalten. Im 17. und 18.<br />
<strong>Jahr</strong>hun<strong>der</strong>t galt sie nicht nur<br />
als Quelle von Reichtum und als<br />
Kennzeichen des entstehenden<br />
Bürgertums, sie wurde auch als<br />
Ursprung einer neuen Form <strong>der</strong><br />
Entwicklung angesehen: <strong>der</strong><br />
Selbstverwirklichung. Mit <strong>der</strong><br />
Aufklärung bekam sie einen<br />
sittlichen Wert, <strong>der</strong> Beruf wurde<br />
als Berufung verstanden.<br />
Im Lauf des 19. und 20. <strong>Jahr</strong>hun<strong>der</strong>ts<br />
verengte sich <strong>der</strong><br />
Begriff <strong>der</strong> Arbeit auf den <strong>der</strong><br />
Erwerbsarbeit. Gleichzeitig<br />
löste sich die Arbeit mehr und<br />
mehr aus früheren sozialen<br />
Bezügen: aus <strong>der</strong> Familie und<br />
dem Haus, den Zünften o<strong>der</strong><br />
<strong>der</strong> Leibeigenschaft. <strong>Die</strong> Menschen<br />
boten ihre Leistungen<br />
an, wurden Lohnarbeiter. <strong>Die</strong><br />
Arbeit wurde zur Ware.<br />
Mit <strong>der</strong> Trennung von Arbeitsplatz<br />
und familiärer Sphäre<br />
ging auch die Erfindung <strong>der</strong><br />
Schwerpunk t > Arbeit<br />
Näherinnen in Bielefeld in den 60er <strong>Jahr</strong>en: Foto aus <strong>der</strong> Ausstellung „hauptsache Arbeit“ im Bonner „haus <strong>der</strong> Geschichte“.<br />
Freizeit einher. Was vorher<br />
ineinan<strong>der</strong> floss <strong>–</strong> die Tätigkeit<br />
im Haus, für die Familie<br />
und zum Broterwerb <strong>–</strong> wurde<br />
getrennt. Gleichzeitig fielen<br />
an<strong>der</strong>e Aufgaben <strong>–</strong> etwa Kin<strong>der</strong>betreuung<br />
o<strong>der</strong> Hausarbeit<br />
<strong>–</strong> nicht mehr in die Kategorie<br />
Erwerbsarbeit. Mit <strong>der</strong> Industrialisierung<br />
hatten viele nur<br />
noch eine Erwerbsquelle, die<br />
Berufsarbeit auf Lebenszeit<br />
breitete sich aus. Damit einher<br />
gingen oft katastrophale Bedingungen<br />
mit Arbeitsunfällen,<br />
Verelendung, drücken<strong>der</strong><br />
Akkord- und Kin<strong>der</strong>arbeit. Es<br />
entstand ein Bewusstsein für<br />
die sozialen Fragen, die Arbeiterbewegung<br />
formierte sich.<br />
Nicht, ob wir arbeiten, war die<br />
Frage, son<strong>der</strong>n wie.<br />
Basis für Identität<br />
und Teilhabe<br />
Gleichzeitig war <strong>das</strong> Wirtschaftssystem<br />
schon damals<br />
durch rapide Umstrukturierungen<br />
geprägt. Deshalb war<br />
<strong>das</strong> „Normalarbeitsverhältnis“<br />
mit einem die Existenz sichernden<br />
Einkommen und auf<br />
Dauer angelegt schon damals<br />
eher die Ausnahme. Selten<br />
reichte <strong>der</strong> Lohn des Arbeiters<br />
für die ganze Familie: Frauen<br />
mussten dazu verdienen, viele<br />
verdingten sich als Wan<strong>der</strong>-,<br />
Saison- und Gelegenheitsarbeiter.<br />
Erst mit dem Ausbau des<br />
Sozialstaates <strong>–</strong> vor allem zwischen<br />
1950 und 1975 <strong>–</strong> wurde<br />
<strong>das</strong> „Normalarbeitsverhältnis“<br />
tatsächlich die Regel. Und ist<br />
seitdem von einer steten Erosiongekennzeichnet.<br />
Heute wird<br />
E r werbsa rbeit<br />
nach<br />
wie vor mit<br />
Arbeit gleichgesetzt.Dabei<br />
ist unser<br />
Ve r h ä l t n i s<br />
zur Arbeit so<br />
a mbiva lent<br />
wie eh und<br />
je. Mit allen<br />
Facetten<br />
Foto: Stiftung haus <strong>der</strong> Geschichte, Bonn<br />
ihrer historischenEntw<br />
i c k l u n g :<br />
die Arbeit<br />
als Last und<br />
Lust, Übel und Sinnstifter,<br />
als Grundlage <strong>der</strong> eigenen<br />
Identität, als Zugangsbedingung<br />
für die Teilhabe an <strong>der</strong><br />
Gesellschaft. Dabei erweist<br />
sich gerade letzteres als gefährlicher<br />
Bumerang für eine<br />
Arbeitsgesellschaft, <strong>der</strong> gerade<br />
die Arbeit ausgeht. „<strong>Die</strong> Erwerbsarbeit<br />
hat sich von einem<br />
Instrument <strong>der</strong> Integration in<br />
<strong>Die</strong> Ausstellung läuft noch bis<br />
zum 5. April <strong>2010</strong> in Bonn.<br />
ein Instrument <strong>der</strong> Desintegration<br />
verän<strong>der</strong>t“, schreibt <strong>der</strong><br />
Soziologe Ulrich Beck.<br />
Mittlerweile halten wir einen<br />
Strauß von Lösungen bereit:<br />
Wir schwanken zwischen dem<br />
Ruf nach einem Recht auf Arbeit<br />
(am liebsten im Grundgesetz)<br />
und <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung<br />
nach<br />
einer Arbeitspflicht<br />
(etwa<br />
für Hartz-IV-<br />
Empfänger).<br />
Wir träumen<br />
von einer<br />
g r ö ß e r e n<br />
Vereinbarkeit<br />
z w i s c h e n<br />
Berufs- und<br />
Familienarbeit(Teilzeitarbeit)<br />
und<br />
kämpfen für<br />
unbefristete<br />
Vollerwerbsarbeitsplätze.<br />
Wir diskutieren<br />
die größere Emanzipation<br />
vom Joch <strong>der</strong> Arbeit (bedingungsloses<br />
Grundeinkommen)<br />
und klagen über <strong>das</strong> Los <strong>der</strong><br />
Langzeitarbeitslosen.<br />
Nur eins scheint fest zu<br />
stehen: Dass Arbeit immer ein<br />
Fluch und ein Segen bleiben<br />
wird. Das war schon bei Adam<br />
und Eva so. Jedenfalls seit <strong>der</strong><br />
Vertreibung aus dem Paradies.
Schwerpunk t > Arbeit<br />
Aus Passion fürs Gepäck<br />
Der Dresdner Ingolf harre ist <strong>der</strong> einzige private kofferträger in Deutschland<br />
Von Heidrun Böger<br />
Koffertragen <strong>–</strong> am liebsten<br />
würde Ingolf Harre genau<br />
<strong>das</strong> jeden Tag tun, von früh<br />
bis spät. „Ich war schon als<br />
kleiner Stift mit und hab auf<br />
<strong>das</strong> Gepäck aufgepasst, <strong>das</strong><br />
mein Vati zu transportieren<br />
hatte“, sagt <strong>der</strong> 48-Jährige.<br />
Sie waren vier Kin<strong>der</strong> zu<br />
Hause, die Mutter Hausfrau.<br />
Und alle lebten von<br />
den Koffern, die Vater Harre<br />
schleppte. Der wie<strong>der</strong>um<br />
hatte in <strong>das</strong> Geschäft eingeheiratet,<br />
<strong>das</strong> schon seit<br />
1900 im Besitz <strong>der</strong> Familie<br />
seiner Frau war.<br />
So nennt sich Ingolf Harre<br />
heute noch <strong>Die</strong>nstmann und<br />
ist stolz darauf. Wenn jemand<br />
in Dresden auf einem<br />
<strong>der</strong> beiden Bahnhöfe einen<br />
Kofferträger braucht, ruft er<br />
vorher die Servicenummer des<br />
Bahnhofes an und Harre hilft.<br />
Für 2,50 Euro pro Person: „Der<br />
Preis war schon zu DDR-Zeiten<br />
so, nur damals in Ostmark<br />
natürlich.“ Trinkgeld gab und<br />
gibt es wenig.<br />
Warum er es trotzdem tut,<br />
sogar mit Freude? „Wegen des<br />
Umgangs mit den Menschen,<br />
ganz klar.“ Da stört den gebürtigen<br />
Dresdner auch nicht,<br />
<strong>das</strong>s es immer mal Ärger gibt.<br />
Vor ein paar Tagen fehlte bei<br />
einer größeren Reisegruppe<br />
ein Gepäckstück. Harre wurde<br />
erst mal angemotzt. Der<br />
Koffer fand sich Gott sei Dank<br />
wie<strong>der</strong>. Ingolf Harre erzählt<br />
beim Frühstück im Dresdner<br />
Hauptbahnhof mit einem<br />
Augenzwinkern davon, ohne<br />
jeden Frust.<br />
Freundlich grüßt er an diesem<br />
bitterkalten Wintertag<br />
die Kolleginnen vom Service<br />
Point. Er geht über den sanierten<br />
Bahnhof, freut sich,<br />
<strong>das</strong>s <strong>der</strong> so schön geworden<br />
ist. Ob er auch mal Reisende<br />
direkt anspricht? „Nein, <strong>das</strong><br />
lohnt sich nicht.“<br />
Zu DDR-Zeiten gab<br />
es viel zu tun<br />
„Früher hatte ich den Fahrplan<br />
im Kopf, kannte jede Wagenreihung.“<br />
<strong>Die</strong> Mühe macht er<br />
sich heute nicht mehr. Denn<br />
Koffer hat er wenig zu tragen,<br />
in Zeiten von Gepäckwagen.<br />
In den Achtzigern war <strong>das</strong> an<strong>der</strong>s.<br />
Das DDR-Reisebüro <strong>–</strong> es<br />
gab nur <strong>das</strong> eine <strong>–</strong> beauftragte<br />
Ingolf Harre regelmäßig, die<br />
Koffer von Westdeutschen,<br />
Amerikanern o<strong>der</strong> Japanern<br />
vom Dresdner Hauptbahnhof<br />
in die nahe gelegenen<br />
großen Hotels in <strong>der</strong> Prager<br />
Straße zu transportieren. Der<br />
<strong>Die</strong>nstmann, <strong>der</strong> übrigens kein<br />
Englisch, dafür ein schönes<br />
Dresdner Sächsisch spricht, ist<br />
heute noch begeistert: „Ich hatte<br />
diese großen Gepäckkarren,<br />
hing zwei, drei zusammen und<br />
ab ging es.“ Überhaupt war damals<br />
einiges an<strong>der</strong>s. Da konnte<br />
er <strong>das</strong> Gepäck auch mal auf<br />
dem Bahnsteig unbeaufsichtigt<br />
lassen, heute undenkbar.<br />
Kampf um den<br />
Gewerbeschein<br />
1979 wollte <strong>der</strong> damals 23-<br />
Jährige nach einer Ausbildung<br />
zum Betonfacharbeiter <strong>das</strong><br />
Geschäft vom Vater übernehmen.<br />
„Das war ein Theater!“<br />
VergeSSene dienStleiStung<br />
Bei „Kofferträger“ denken<br />
die meisten Zeitgenossen<br />
an eine Dachhalterung<br />
fürs Auto. Den wenigsten<br />
kommt in den Sinn, <strong>das</strong>s<br />
es sich um eine <strong>Die</strong>nstleistung<br />
handelt. Das ist<br />
allerdings verständlich,<br />
denn in Deutschland wird<br />
sie nur noch äußerst selten<br />
angeboten. Allenfalls Hotels<br />
<strong>der</strong> gehobenen Klasse<br />
beschäftigen Mitarbeiter,<br />
die den Gästen schon an<br />
<strong>der</strong> Tür vieles abnehmen<br />
<strong>–</strong> vom Koffer bis zum Wagen.<br />
Dem Neuankömmling<br />
wird fast je<strong>der</strong> Wunsch<br />
von den Lippen abgelesen.<br />
Zumeist tragen die Helfer<br />
elegante Uniformen, denn<br />
die Reiseutensilien <strong>der</strong><br />
Gäste schleppen sie in <strong>der</strong><br />
Regel nicht selbst. <strong>Die</strong> werden<br />
nicht selten auf einen<br />
Handwagen gehievt und<br />
mit dem Lift aufs Zimmer<br />
gebracht.<br />
Foto: Johannes Backes<br />
Arbeitsplatz hauptbahnhof: Ingolf harre schleppt für an<strong>der</strong>e koffer.<br />
Der Kofferträgerservice war<br />
ja privat, <strong>das</strong> wurde von den<br />
DDR-Oberen kritisch beäugt.<br />
Und dann <strong>der</strong> Kontakt zu<br />
den West-Urlaubern. Ganz<br />
schlecht. Zweieinhalb <strong>Jahr</strong>e<br />
kämpfte Ingolf Harre damals<br />
für den Gewerbeschein <strong>–</strong> und<br />
setzte sich durch. Nur um dann<br />
am Kauf eines Kleintransporters<br />
zu scheitern. Kleintransporter<br />
gab es nicht, jedenfalls<br />
nicht für ihn. Also besorgte er<br />
sich einen Skoda mit Anhänger.<br />
Dann lief <strong>das</strong> Geschäft.<br />
Doch mit <strong>der</strong> Wende kam<br />
für Harre eine harte Zeit. Von<br />
einem Tag auf den an<strong>der</strong>en<br />
brach <strong>das</strong> Geschäft weg. Er<br />
putzte Züge, fuhr Zeitungen<br />
und Essen aus. Doch er erkämpfte<br />
sich neue Aufträge,<br />
war glücklich und schleppte<br />
Koffer, bis ihm die Deutsche<br />
Bahn 1993 <strong>das</strong> Signal auf Rot<br />
stellte: Bahnangestellte trugen<br />
jetzt die Koffer, jedenfalls<br />
die nächsten acht <strong>Jahr</strong>e. Harre<br />
war für diese Zeit raus aus dem<br />
Geschäft.<br />
Ein Anruf<br />
än<strong>der</strong>t alles<br />
Auch heute noch sind es<br />
deutschlandweit vor allem<br />
Mitarbeiter <strong>der</strong> Deutschen<br />
Bahn, die <strong>das</strong> Gepäck <strong>der</strong><br />
Reisenden tragen. An zehn<br />
Bahnhöfen in Deutschland<br />
gibt es diesen Service. Bis eine<br />
Stunde vor Ankunft des Zuges<br />
kann man buchen. Der Preis<br />
ist überall <strong>der</strong> gleiche: 2,50<br />
Euro. Harre ist <strong>der</strong> einzige<br />
private Kofferträger. Lediglich<br />
in München betreibt <strong>der</strong><br />
Katholische Männerfürsorgeverein<br />
noch einen ähnlichen<br />
Service.<br />
März <strong>2010</strong> 9<br />
Nach dem Aus<br />
1993 fuhr Ingolf<br />
Harre für eine<br />
Spedition. Doch<br />
plötzlich, im <strong>Jahr</strong><br />
2001, erhielt er<br />
den ersehnten Anruf:<br />
„Herr Harre,<br />
Sie können Ihre<br />
<strong>Die</strong>nste wie<strong>der</strong><br />
anbieten.“ <strong>Die</strong>nstmann<br />
Harre zögerte<br />
keine Sekunde<br />
<strong>–</strong> und hatte<br />
Pech: „2001 war<br />
<strong>der</strong> 11. September,<br />
ganze Reisegruppen<br />
stornierten.“<br />
Kaum hatte er<br />
sich berappelt,<br />
kam die Flut. „Der<br />
Bahnhof ist 2002<br />
komplett abgesoffen.“<br />
Doch Harre<br />
wäre nicht Harre,<br />
wenn er aufgegeben<br />
hätte.<br />
Zufriedene<br />
Kunden<br />
Heute Mittag ist<br />
er mit Margarete<br />
Spettmann (71)<br />
auf dem Dresdner<br />
H a u p t b a h n h o f<br />
verabredet. <strong>Die</strong><br />
gebürtige Dresdnerin<br />
kommt<br />
regelmäßig aus<br />
Gelsenkirchen in<br />
ihre alte Heimat:<br />
„Ich bin froh, <strong>das</strong>s<br />
es den Kofferträger gibt, er ist<br />
sehr zuverlässig.“ Viermal im<br />
<strong>Jahr</strong> besucht sie Dresden, und<br />
immer bringt Ingolf Harre ihr<br />
Gepäck ins Hotel. „Da ist fast<br />
schon eine Freundschaft entstanden“,<br />
sagt die alte Dame.<br />
Leben kann Ingolf Harre,<br />
<strong>der</strong> dieses <strong>Jahr</strong> heiraten will,<br />
vom Koffertragen nicht. Seit<br />
einigen <strong>Jahr</strong>en hat er einen<br />
Fuhrbetrieb und fährt in Dresden<br />
hergestellte Schleifmittel<br />
nach Hamburg, Holland und<br />
Italien. Am späten Nachmittag<br />
muss er noch nach<br />
Tschechien. Dennoch arbeitet<br />
er weiter auf dem Dresdner<br />
Flughafen und natürlich auf<br />
dem Hauptbahnhof. Ganze<br />
Son<strong>der</strong>züge mit 200 bis 300<br />
Reisenden bedient er. Solche<br />
Tage sind ihm die liebsten,<br />
dann schleppt er Koffer von<br />
früh bis spät.
10 März <strong>2010</strong><br />
Beson<strong>der</strong>s häufig<br />
werden Leiharbeitskräfte<br />
in call-centern, in <strong>der</strong><br />
Produktion und als Reinigungskräfte<br />
eingesetzt.<br />
„<strong>Die</strong> Festanstellung wird zum Privileg“<br />
Vollzeit-Stellen als Luxus: weshalb immer mehr „atypische Beschäftigungen“ entstehen<br />
Von Erik Heier<br />
Zeitarbeit. Es war ihr erster<br />
Job. Kein Wunschtraum, sicher.<br />
Aber immerhin: ein Job.<br />
Bea Kraus (Name von <strong>der</strong> Redaktion<br />
geän<strong>der</strong>t) hatte gerade<br />
ihr Studium abgeschlossen,<br />
zur Diplomingenieurin.<br />
Sie bewarb sich bei einem<br />
Berliner Großunternehmen.<br />
Dort erfuhr sie: Das geht nur<br />
über eine Zeitarbeitsfirma,<br />
eine <strong>der</strong> größten Deutschlands.<br />
Bea Kraus sagte zu.<br />
Sie bereute es schnell.<br />
Da war <strong>der</strong> Stundenlohn, den<br />
ihr die Zeitarbeitsfirma aus-<br />
Seit sechs <strong>Jahr</strong>en befindet<br />
sich Norbert im freien<br />
sozialen Fall. Sein Absturz<br />
begann mit dem Verkauf<br />
eines Tochterunternehmens<br />
von Thyssen, in dem er 28<br />
<strong>Jahr</strong>e lang als Betriebsschlosser<br />
gearbeitet hatte.<br />
Nach seiner Entlassung fand<br />
er über zwei <strong>Jahr</strong>e lang auf<br />
dem regulären Arbeitsmarkt<br />
keinen Job und geriet in die<br />
Mühlen von Mini-Jobs und<br />
Zeitarbeit. Seine Geschichte<br />
ist die von Vielen. Prozess<br />
einer Deklassierung. <strong>Die</strong><br />
Fotos: picture alliance<br />
zahlte: ein Drittel weniger, als<br />
ihr <strong>das</strong> Großunternehmen, ihr<br />
Entleiher, versprochen hatte.<br />
Dann die Arbeitszeit: Stunden<br />
über ihre bezahlte Monatszeit<br />
hinaus gingen auf ein Zeitkonto,<br />
mit dem die Verleihfirma<br />
kurzerhand <strong>–</strong> und unerlaubt<br />
<strong>–</strong> Krankenstunden ausglich.<br />
Bea Kraus beschwerte sich<br />
über fehlerhafte Gehaltsabrechnungen,<br />
per Einschreiben.<br />
Korrigiert wurde nichts.<br />
Stattdessen <strong>das</strong>: Wenige<br />
Tage vor Ende <strong>der</strong> Probezeit<br />
kündigte ihr die Zeitarbeitsfirma.<br />
Mitten im Einsatz beim<br />
Entleihbetrieb. Deshalb darf<br />
in diesem Text we<strong>der</strong> ihr<br />
Karten sind neu gemischt.<br />
Für Norbert ein Spiel ohne<br />
Trümpfe. Trümpfe haben<br />
nur jene, die von seiner<br />
prekären Lage profitieren.<br />
In seinem Fall sind es Leiharbeitsfirmen,<br />
die unter<br />
Ausschöpfung <strong>der</strong> für sie<br />
günstigen gesetzlichen<br />
Rahmenbedingungen einen<br />
Arbeitsmarkt forcieren, den<br />
Unternehmer schon immer<br />
gefor<strong>der</strong>t haben.<br />
Reinhard Schnei<strong>der</strong><br />
3 die<strong>Gesellschafter</strong>.de<br />
Schwerpunk t > Arbeit<br />
Name noch <strong>der</strong> <strong>der</strong> Firmen<br />
genannt werden. „Man ist<br />
sonst gebrandmarkt“, sagt Bea<br />
Kraus bitter.<br />
Eine Vollzeit-Festanstellung<br />
als Luxus: Es ist ein Trend, <strong>der</strong><br />
immer stärker wird. <strong>Die</strong> so genannten<br />
atypischen Beschäftigungen<br />
ersetzen zunehmend<br />
die normalen Arbeitsverhältnisse.<br />
Ihr Gesamtanteil, 1998<br />
bei 16 Prozent, ist binnen<br />
zehn <strong>Jahr</strong>en auf 22 Prozent<br />
gestiegen. Rund je<strong>der</strong> zweite<br />
<strong>der</strong>artige Arbeitnehmer muss<br />
mittlerweile mit einem Stundenlohn<br />
von maximal 9,62<br />
€ auskommen. Das ist die<br />
Niedriglohngrenze, die die Organisation<br />
für wirtschaftliche<br />
Zusammenarbeit und Entwicklung<br />
(OECD) festgelegt hat.<br />
Unter den atypischen Beschäftigungen<br />
am weitesten<br />
verbreitet: Teilzeit, in <strong>der</strong><br />
mehr als ein Viertel <strong>der</strong> Beschäftigten<br />
arbeiten, darunter<br />
meist Frauen. Geringfügig<br />
Beschäftigte in Mini-Jobs: um<br />
die 20 Prozent. Befristete Verträge:<br />
um die zehn Prozent.<br />
Leiharbeit ist mit rund zwei<br />
Prozent <strong>das</strong> kleinste Segment.<br />
Aber eines mit hohen Wachstumsraten.<br />
Zwischen 2005<br />
und 2008 gingen 20 Prozent<br />
<strong>der</strong> zusätzlichen sozialversicherungspflichtigen<br />
Jobs auf<br />
ihr Konto. Vor <strong>der</strong> Wirtschafts-<br />
Foto: IG Metall<br />
krise waren in Deutschland<br />
bereits knapp 800.000 Leiharbeiter<br />
beschäftigt <strong>–</strong> knapp<br />
doppelt soviel wie noch 2004.<br />
Als die Wirtschaft im vergangenen<br />
<strong>Jahr</strong> drastisch einbrach,<br />
wurden 300.000 Zeitarbeiter<br />
schnell wie<strong>der</strong> entlassen.<br />
Aber Petra Jentzsch von <strong>der</strong><br />
IG Metall Berlin-Brandenburg<br />
Petra Jentzsch, IG Metall<br />
sagt: „Wir nehmen jetzt schleichend<br />
wahr, <strong>das</strong>s die Zeitarbeiter<br />
wie<strong>der</strong> da sind. Ich war<br />
neulich in einem Betrieb, <strong>der</strong><br />
zu Beginn <strong>der</strong> Krise 80 Zeitarbeiter<br />
entlassen hat. Jetzt sind<br />
schon wie<strong>der</strong> 40 da.“<br />
Nicht erst seit den kürzlich<br />
bekannt gewordenen dubiosen<br />
Praktiken beim Drogeriekonzern<br />
Schlecker steht die<br />
Zeitarbeitsbranche als Lohn-<br />
drücker am Pranger. Schlecker<br />
hatte Angestellte zu deutlich<br />
schlechteren Konditionen in<br />
eine eigene Zeitarbeitsfirma<br />
ausgelagert. Ein krasser Einzelfall,<br />
sagen Zeitarbeitsverbände.<br />
So heißt es in einer<br />
Stellungnahme des Bundesverbandes<br />
Zeitarbeit (BZA)<br />
<strong>–</strong> mit 629 Mitgliedsfirmen, darunter<br />
den Marktführern Man-<br />
power, Randstad und Adecco:<br />
„Der Verband distanziert<br />
sich von <strong>der</strong> Geschäftspolitik<br />
Schleckers, spricht sich aber<br />
nicht pauschal gegen konzerninterne<br />
Zeitarbeit aus.“ Der Soziologe<br />
Klaus Dörre, Professor<br />
an <strong>der</strong> Friedrich-Schiller-Universität<br />
Jena, sagt dagegen:<br />
„<strong>Die</strong> wenigen Betriebsräte in<br />
<strong>der</strong> Zeitarbeitsbranche sagen<br />
uns, wenn die Mikrofone ausgeschaltet<br />
sind: Es gibt kein<br />
sauberes Verleihgeschäft. Da<br />
läuft vieles in <strong>der</strong> Grauzone.“<br />
Der Boom <strong>der</strong> Leiharbeit begann<br />
2004. Bis dahin wurde die<br />
seit 1972 gesetzlich geregelte<br />
Arbeitnehmerüberlassung rigide<br />
reguliert. Ihre Funktion:<br />
kurzfristiger Krankenersatz,<br />
Abfe<strong>der</strong>ung von Produktionsspitzen.<br />
Dann aber entdeckte<br />
Kanzler Gerhard Schrö<strong>der</strong><br />
(SPD) die Branche als vermeintlichen<br />
Jobmotor. Mit <strong>der</strong><br />
Liberalisierung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes
2004 konnten Firmen nun<br />
zeitlich unbegrenzt Zeitarbeiter<br />
leihen.<br />
<strong>Die</strong> Leiharbeiter würden<br />
nun zunehmend von Betrieben<br />
strategisch eingesetzt, sagt<br />
Klaus Dörre, dauerhaft, mit<br />
Anteilen von 20 Prozent an <strong>der</strong><br />
Belegschaft, auch mit Kernfunktionen<br />
<strong>–</strong> wie Stammkräfte.<br />
Nur mit oft weitaus weniger<br />
Lohn und Rechten. Wichtig vor<br />
allem für die Großindustrie.<br />
Betriebe wie BMW in Leipzig<br />
beschäftigten zeitweilig<br />
sogar rund ein Drittel <strong>der</strong><br />
Arbeitskräfte als Leiharbeiter.<br />
Dörre nennt sie: stilbildende<br />
Betriebe. Vorreiter mit Signalfunktion<br />
für die Branche.<br />
Arbeiter zweiter<br />
und dritter Klasse<br />
Zwar konstatierte Arbeitsministerin<br />
Ursula von <strong>der</strong> Leyen<br />
(CDU) Anfang des <strong>Jahr</strong>es,<br />
„<strong>das</strong>s Zeitarbeit Brücken in<br />
Arbeit baut für Menschen, die<br />
sonst schlechtere Chancen auf<br />
dem Arbeitsmarkt hätten“. Der<br />
von den Befürwortern <strong>der</strong> Zeitarbeit<br />
propagierte „Brückeneffekt“<br />
für die Beschäftigten in<br />
den regulären Arbeitsmarkt ist<br />
aber weitgehend ausgeblieben.<br />
Das schreibt selbst <strong>das</strong> Institut<br />
für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung<br />
<strong>der</strong> Bundesagentur<br />
für Arbeit, <strong>das</strong> von <strong>der</strong> Leyen<br />
seinen Bericht zugeliefert hatte:<br />
„Mit 80 Prozent verbleibt<br />
sogar ein Großteil <strong>der</strong>jenigen,<br />
die bereits einmal in <strong>der</strong> Arbeitnehmerüberlassung<br />
tätig<br />
Foto: Michael Schinke<br />
waren, in dieser Branche.“<br />
Wissenschaftler Dörre bilan-<br />
ziert deshalb: „Inzwischen<br />
kann man sagen, <strong>das</strong>s in <strong>der</strong><br />
Bundesrepublik ein prekärer<br />
Sektor entstanden ist, wo<br />
nicht nur Arbeiter zweiter<br />
o<strong>der</strong> sogar dritter Klasse herausgebildet<br />
werden, son<strong>der</strong>n<br />
wo dieser Sektor auch disziplinierend<br />
auf die Stammbelegschaft<br />
wirkt.“ <strong>Die</strong> Signale:<br />
Es geht auch ohne euch. Sogar<br />
Prof. klaus Dörre, Uni Jena<br />
billiger. Dörre: „<strong>Die</strong> Festanstellung<br />
wird zum Privileg, die<br />
man auf Kosten von qualitativen<br />
Standards verteidigt, die<br />
man sonst einklagen würde.“<br />
Allerdings könnte Leiharbeit<br />
auch zu einem wichtigen<br />
Faktor für den nächsten Aufschwung<br />
werden. Dörre formuliert<br />
es so: „<strong>Die</strong> Leiharbeits-<br />
firmen haben ein Interesse,<br />
ihre Kräfte stabil zu platzieren<br />
und ihre Einnahmen zu sichern.<br />
<strong>Die</strong>jenigen Arbeitnehmer,<br />
die jetzt ihren festen Job<br />
Schwerpunk t > Arbeit<br />
verlieren, haben große Chancen,<br />
nach <strong>der</strong> Krise als Leiharbeiter<br />
zurückzukommen.“<br />
2007 hat <strong>der</strong> Deutsche<br />
Gewerkschaftsbund DGB ausgerechnet,<br />
<strong>das</strong>s je<strong>der</strong> achte<br />
Zeitarbeiter so wenig verdiente,<br />
<strong>das</strong>s er ergänzend<br />
Hartz-IV-Leistungen bekam.<br />
Selbst einer <strong>der</strong> Branchenverbände,<br />
<strong>der</strong> Bundesverband<br />
Zeitarbeit (BZA) mit 629<br />
Mitgliedsfirmen, darunter<br />
die Marktführer Manpower,<br />
Randstad und Adecco, tritt<br />
für einen Mindestlohn in <strong>der</strong><br />
Zeitarbeitsbranche ein.<br />
Zwar schreibt <strong>das</strong> 2004 in<br />
Kraft getretene Gesetz für<br />
Zeitarbeiter gleichen Lohn und<br />
gleiche Ansprüche bei Lohn,<br />
Arbeitszeit und Urlaub wie<br />
für die Stammbelegschaft vor.<br />
Mit einer Ausnahme: wenn<br />
ein Tarifvertrag an<strong>der</strong>e Bedingungen<br />
festlegt. In <strong>der</strong> Realität<br />
sind <strong>das</strong> meist schlechtere.<br />
Tarifverträge<br />
vor Gericht<br />
<strong>Die</strong> bis dato kaum bekannte<br />
Tarifgemeinschaft Christlicher<br />
Gewerkschaften für Zeitarbeit<br />
und PersonalService-Agenturen<br />
(CGZP) schloss zum<br />
Beispiel schnell Flächentarifverträge<br />
mit mittelständischen<br />
Zeitarbeitgeberverbänden ab,<br />
die die Standards deutlich<br />
absenkten, teilweise mit Stundenlöhnen<br />
unter fünf Euro. Der<br />
DGB folgte dann notgedrungen<br />
mit eigenen Verträgen, etwa mit<br />
dem BZA. Der Arbeitsmarktex-<br />
Arbeitnehmer von Zeitarbeitsfirmen sind selbstbewusster geworden, wehren sich und for<strong>der</strong>n mehr Rechte.<br />
leiharbeit<br />
aDAS<br />
GESETZ:<br />
Nach Empfehlungen<br />
<strong>der</strong> Hartz-Kommission<br />
von 2002 reformierte<br />
die Regierung Schrö<strong>der</strong><br />
2003 <strong>das</strong> Arbeitnehmerüberlassungsgesetz:<br />
Aufhebung <strong>der</strong> Überlassungshöchstdauer<br />
von zwei <strong>Jahr</strong>en, des<br />
Wie<strong>der</strong>einstellungs- und<br />
des Synchronisierungsverbots<br />
(Dauer des Zeitarbeitvertrags<br />
entspricht<br />
Dauer des Leiheinsatzes).<br />
Gleicher Lohn<br />
und gleiche Behandlung<br />
von Zeit- und Stammarbeitern.<br />
Ausnahme: ein<br />
Tarifvertrag. Das neue<br />
Gesetz trat Anfang 2004<br />
in Kraft.<br />
aDER<br />
BOOM<br />
Seit dem zweiten Halb-<br />
perte Achim Vanselow vom Institut<br />
Arbeit und Qualifikation<br />
<strong>der</strong> Universität Duisburg-Essen<br />
sagt: „Da haben wir ein Gesetz,<br />
<strong>das</strong> zu fast 100 Prozent nicht<br />
angewendet wird. Das ist sehr<br />
fragwürdig.“<br />
Nun aber blickt ein Großteil<br />
<strong>der</strong> Zeitarbeitsbranche bange<br />
nach Erfurt. Am Bundesarbeitsgericht<br />
steht die Entscheidung<br />
an, ob die christlichen<br />
Gewerkschaften überhaupt<br />
Tarifverträge für die Branche<br />
abschließen dürfen. Zuvor<br />
hatten <strong>das</strong> Arbeitsgericht Ber-<br />
Foto: picture alliance<br />
März <strong>2010</strong> 11<br />
jahr 2004 stieg die Unternehmenszahl<br />
in <strong>der</strong><br />
Branche bis Mitte 2008<br />
von 10.373 auf 25.164:<br />
plus 143 Prozent.<br />
aDIE<br />
VERSTÖSSE<br />
<strong>Die</strong> Bundesagentur für<br />
Arbeit leitete zwischen<br />
2005 und 2007 jährlich<br />
knapp 600 Bußgeldverfahren<br />
wegen<br />
gesetzlicher Verstöße<br />
bei <strong>der</strong> Arbeitnehmerüberlassung<br />
ein. 2008<br />
schnellte die Zahl, auch<br />
durch die bessere Erfassung<br />
mit dem neuen<br />
Zentralen Statistischen<br />
Meldedienst, auf 2139<br />
Fälle hoch. Wesentliche<br />
Gründe: Verstöße gegen<br />
Auflagen, Anzeigepflichten,Arbeitsvertragsnormen.<br />
lin und <strong>das</strong> Landesarbeitsgericht<br />
Berlin-Brandenburg <strong>das</strong><br />
bereits verneint. Grund: zu<br />
wenige Mitglie<strong>der</strong>, zu dürftiger<br />
Organisationsgrad.<br />
Verlieren die christlichen<br />
Gewerkschaften auch in Erfurt,<br />
wären ihre Billigtarifverträge<br />
etwa mit dem Arbeitgeberverband<br />
Mittelständischer<br />
Personaldienstleister (AMP)<br />
reif für den Reißwolf. <strong>Die</strong> betroffenen<br />
rund 280.000 Zeitarbeiter<br />
könnten dann rückwirkend<br />
Lohnnachzahlungen<br />
einklagen, weil dann tatsächlich<br />
<strong>der</strong> Gesetzesgrundsatz<br />
des gleichen <strong>–</strong> und damit<br />
höheren <strong>–</strong> Lohns gelten würde.<br />
Mit entsprechend höheren<br />
Kranken- und Rentenversicherungsbeiträgen,<br />
die wie<strong>der</strong>um<br />
die Sozialkassen nachfor<strong>der</strong>n<br />
dürfen. Und sollten die Zeitarbeitsfirmen<br />
nicht zahlen, wären<br />
die Kundenunternehmen<br />
selbst dran. Es könnte richtig<br />
teuer werden. Arbeitsmarktexperte<br />
Vanselow: „Da bewegen<br />
wir uns im dreistelligen<br />
Millionenbereich.“<br />
Nie wie<strong>der</strong><br />
Zeitarbeit<br />
Auch Zeitarbeiterin Bea Kraus<br />
hat ihre Leiharbeitsfirma wegen<br />
<strong>der</strong> vielen Verstöße verklagt<br />
Seit ihrer Kündigung<br />
ist sie arbeitslos. Sie schreibt<br />
Bewerbungen. Aber nicht für<br />
Zeitarbeit: „Davon bin ich erstmal<br />
geheilt.“ Sie träumt weiter<br />
von einer Festanstellung. Wie<br />
viele an<strong>der</strong>e.
12 März <strong>2010</strong><br />
Ein Hauch von Freiheit<br />
Vier Selbstständige aus vier Branchen <strong>–</strong> mit gleichen hoffnungen und Sorgen<br />
Von Miriam Olbrisch<br />
und Karen Haak<br />
Der eigene Chef sein. Für<br />
viele ist <strong>das</strong> <strong>der</strong> Traum<br />
schlechthin. Kein Befehlsempfänger<br />
mehr sein, nicht<br />
nach <strong>der</strong> Stechuhr arbeiten,<br />
eigene Ideen verwirklichen.<br />
Trotzdem sind nur neun Prozent<br />
<strong>der</strong> Deutschen selbstständig.<br />
Etwa je<strong>der</strong> fünfte<br />
Beschäftigte kann sich vorstellen,<br />
ein eigenes Business<br />
zu gründen. In <strong>der</strong> Krise<br />
sieht mancher seine Chance<br />
im eigenen Geschäft. Doch<br />
meist begleitet die Existenzgrün<strong>der</strong><br />
die Angst vor <strong>der</strong><br />
Pleite. Nicht ohne Grund:<br />
Je<strong>der</strong> zweite gibt nach sechs<br />
<strong>Jahr</strong>en wie<strong>der</strong> auf. Was ist<br />
dran am Mythos vom „freien“<br />
Unternehmer o<strong>der</strong> vom<br />
„besserverdienenden“ Freiberufler?<br />
Vier Selbstständige<br />
berichten.<br />
Erfolgsrezept<br />
hohe Qualität<br />
Jochen Richrath, Händler<br />
für „Obs un Jemös“<br />
Eine rote und eine gelbe Paprika,<br />
ein kleiner Brokkoli sowie<br />
eine grüne Gurke. Jochen<br />
Richrath packt alles in eine<br />
Tüte, was die Kundin für <strong>das</strong><br />
Abendessen braucht. Der Gemüsehändler<br />
kennt die Frau<br />
schon länger. Denn wer in dem<br />
kleinen Laden in <strong>der</strong> Kölner<br />
Südstadt einmal einkaufen<br />
war, kommt gerne wie<strong>der</strong>. „90<br />
Prozent sind Stammkunden“,<br />
erzählt Jochen Richrath.<br />
Sein Geheimnis: hohe Qualität<br />
statt ein paar Cent billiger.<br />
SelbStStändig<br />
Nicht nur <strong>der</strong> angespannte<br />
Arbeitsmarkt führt manchen<br />
Arbeitnehmer in die Selbstständigkeit.<br />
Der Schritt will<br />
allerdings gut überlegt sein.<br />
Für potenzielle Existenzgrün<strong>der</strong><br />
hat <strong>das</strong> Bundesministerium<br />
für Wirtschaft<br />
und Technologie (BMWi)<br />
deshalb ein eigenes Portal<br />
eingerichtet. Es soll helfen,<br />
Eignung und Fähigkeiten<br />
gezielt zu überprüfen.<br />
www.existenzgruen<strong>der</strong>.de<br />
Fotos: Michael Bause<br />
Dafür steht <strong>der</strong> 38-Jährige<br />
jeden Morgen um fünf Uhr<br />
auf und fährt zum Großmarkt.<br />
Während in den Discountern<br />
Paprika, Brokkoli und Gurken<br />
einen Tag im Lager verbringen<br />
o<strong>der</strong> im Lkw auf <strong>der</strong> Straße<br />
unterwegs sind, liegt Richraths<br />
Gemüse bereits um sieben Uhr<br />
in den Regalen. Bis 20 Uhr steht<br />
er dann im Laden. Das sind lange<br />
Arbeitstage und <strong>der</strong>zeit auch<br />
ziemlich kalte. Bei zehn Grad<br />
unter Null helfen auch Thermoklamotten<br />
am Ende wenig.<br />
An einem Samstag im Januar<br />
ist Richrath fast die ganze Ware<br />
erfroren. Minus 15 Grad hat <strong>das</strong><br />
Gemüse nicht überstanden.<br />
Aber <strong>das</strong> sind Ausnahmen,<br />
und eigentlich läuft <strong>das</strong> Geschäft<br />
nicht schlecht, zwei<br />
feste Mitarbeiter und zwei<br />
Aushilfen gehören zum Team.<br />
Aber sorgenfrei ist Jochen<br />
Richrath nicht. <strong>Die</strong> letzte<br />
Steuerklärung für seinen Laden<br />
hat er zwar endlich fertig,<br />
aber <strong>der</strong> Ärger mit den Ämtern<br />
nimmt dennoch kein Ende.<br />
„Ich hatte mir überlegt, an<br />
den Karnevalstagen Glühwein<br />
auszuschenken. Soll ja kalt<br />
Schwerpunk t > Arbeit<br />
Schon <strong>der</strong> Großvater von Jochen Richrath war Unternehmer.<br />
werden“, erzählt <strong>der</strong> Kleinunternehmer.<br />
Und wenn in Köln<br />
die jecken Tage sind, kaufen<br />
die Leute kein Gemüse. Aber<br />
die Auflagen <strong>der</strong> Stadt für die<br />
Son<strong>der</strong>genehmigung sind für<br />
Richrath nicht zu erfüllen. Er<br />
müsste eigene Toiletten für die<br />
Kundschaft zur Verfügung stellen.<br />
Daran schließen sich auch<br />
wie<strong>der</strong> hygienische Auflagen<br />
an. Es ärgert den Händler,<br />
<strong>das</strong>s er wegen <strong>der</strong> Bürokratie<br />
auf <strong>das</strong> einträgliche Zusatzgeschäft<br />
verzichten muss.<br />
Bevor Jochen Richrath seinen<br />
Laden „Obs un Jemös“<br />
aufmachte, absolvierte er<br />
eine kaufmännische Ausbildung<br />
und auch eine Lehre<br />
als Kälteanlagenbauer. „Je<strong>der</strong><br />
Unternehmer muss auch mal<br />
eine Schraube selbst reindrehen<br />
können“, findet Richrath.<br />
Den Schritt in die Selbstständigkeit<br />
bereut <strong>der</strong> gelernte<br />
Kaufmann und ausgebildete<br />
Kälteanlagenbauer dennoch<br />
nicht: „Ich bin mein eigener<br />
Chef.“ Und <strong>das</strong> Händler<strong>das</strong>ein<br />
liegt Jochen Richrath im<br />
Blut. Schon sein Großvater<br />
und Vater hatten ein eigenes<br />
Geschäft in Köln.<br />
„Keine Geschäfte, bei<br />
denen nur einer lacht“<br />
Ismet Koyun sieht sein<br />
Unternehmen als Familie<br />
Mit gerade mal 18 <strong>Jahr</strong>en<br />
kam Ismet Koyun nach Worms<br />
in Rheinland-Pfalz. Hier wollte<br />
er Informatik studieren. Aufgewachsen<br />
war er in einem<br />
kleinen Ort in <strong>der</strong> Nähe <strong>der</strong><br />
türkischen Hauptstadt Ankara.<br />
Im Sommer hatte er dort<br />
immer auf den Fel<strong>der</strong>n seiner<br />
Großeltern gearbeitet. Heute,<br />
mehr als 30 <strong>Jahr</strong>e später, leitet<br />
er ein führendes Unternehmen<br />
für IT-Sicherheit in Deutschland.<br />
Doch aus seiner Jugend<br />
hat er die Grundsätze für seine<br />
Unternehmensphilosophie behalten:<br />
„Wenn man auf dem<br />
Feld steht, muss man drei Tage<br />
vorher wissen, wann ein Sturm<br />
aufzieht. So viel Weitsicht<br />
brauchen auch Manager.“<br />
1986 gründete Ismet Koyun<br />
die Kobil Systems GmbH. Am<br />
Anfang kaufte er PCs aus Taiwan,<br />
bastelte an ihnen herum<br />
und machte so lahme Rechner<br />
flott. Schritt für Schritt baute<br />
Koyun <strong>das</strong> Unternehmen auf.<br />
Für viele Innovationen lieferte<br />
er selbst die zündende Idee,<br />
die er mit seinen Programmierern<br />
bis zur Marktreife bringt.<br />
Sein Ziel: <strong>das</strong> Internet sicherer<br />
machen. Zum Beispiel schützt<br />
ein kleiner „Kobil-Stick“ den<br />
Nutzer, wenn er seine Bankgeschäfte<br />
im Internet erledigt.<br />
Dabei hatte Ismet Koyun in<br />
seinen 30 <strong>Jahr</strong>en als Unternehmer<br />
in Deutschland mit<br />
vielen Problemen zu kämpfen.<br />
Als Türke ist er oft auf Vorurteile<br />
und Ignoranz gestoßen.<br />
„Wir Türken werden meistens<br />
als Gemüsehändler betrachtet“,<br />
sagt Koyun.<br />
Ein Problem haben aber alle<br />
deutschen und nichtdeutschen<br />
Mittelständler: Neue Ideen auf<br />
den Markt zu bringen, kostet<br />
Geld. Und in vielen Fällen<br />
verweigern die Banken <strong>das</strong><br />
Startkapital. Deswegen gehen<br />
viele Unternehmer an die Börse.<br />
Aber Koyun wollte mit Kobil<br />
nicht auf <strong>das</strong> glatte Parkett:<br />
„An <strong>der</strong> Börse gewinnen die<br />
einen, weil die an<strong>der</strong>en verlieren.<br />
Ich will keine Geschäfte,<br />
bei denen nur einer lacht.“<br />
Mehr als hun<strong>der</strong>t Mitarbeiter<br />
arbeiten für und mit Ismet<br />
Koyun. Stolz nennen sie sich<br />
Kobilianer. „Wir sind wie eine<br />
Familie. Wir arbeiten zusammen,<br />
wir streiten zusammen,<br />
wir feiern zusammen“, erzählt<br />
<strong>der</strong> Unternehmer. <strong>Die</strong>ser Zusammenhalt<br />
ist für ihn die<br />
Ismet koyun, seit 24 <strong>Jahr</strong>en selbstständig, beschäftigt mehr als hun<strong>der</strong>t Mitarbeiter.
Grundlage für den wirtschaftlichen<br />
Erfolg.<br />
Was braucht ein Unternehmer<br />
sonst noch? Ismet Koyun:<br />
„Man muss mutige Entscheidungen<br />
treffen, auch mal ein<br />
Risiko eingehen.“<br />
„Davon leben<br />
kann ich nicht“<br />
Marlis vom Hau ist Hebamme<br />
in Eigenregie<br />
Irgendwann war es zu viel.<br />
Wenn Marlis vom Hau beschreiben<br />
soll, wie sich sich<br />
vor etwa zehn <strong>Jahr</strong>en gefühlt<br />
hat, wird die lebenslustige Frau<br />
auf einmal ernst. „Ich bin auf<br />
dem Zahnfleisch gegangen“,<br />
sagt sie. „Es ging nicht mehr.“<br />
Marlis vom Hau ist Hebamme.<br />
Hun<strong>der</strong>te Kin<strong>der</strong> erblickten<br />
in ihrem Beisein <strong>das</strong> Licht<br />
<strong>der</strong> Welt. „Ein sehr dankbarer<br />
Beruf“, sagt sie bestimmt. „Ich<br />
habe mir nie einen an<strong>der</strong>en<br />
gewünscht.“ Und dennoch: <strong>Die</strong><br />
Frau hat Schmerzen, <strong>das</strong> Team<br />
muss perfekt zusammenarbei-<br />
ten, und nervöse Ehemänner,<br />
die fast mehr leiden als die<br />
werdende Mutter, sind oft<br />
keine große Bereicherung im<br />
Kreißsaal. „Manche Geburten<br />
sind wahnsinnig stressig <strong>–</strong><br />
nicht nur für die Frau, auch<br />
für uns.“ So stressig, <strong>das</strong>s die<br />
55-Jährige irgendwann Klinik<br />
und Kreißsaal hinter sich ließ<br />
und gegen den ausgebauten<br />
Keller in ihrem Einfamilienhaus<br />
eintauschte. Denn Heb-<br />
hun<strong>der</strong>ten Müttern hat Marlis vom hau geholfen, ihr kind zur welt zu bringen.<br />
„Erst muss <strong>das</strong> Geld<br />
verdient werden und dann<br />
kann es an die Verteilung<br />
gehen“? Ein platzen<strong>der</strong><br />
Traum! An dem ersten Teil<br />
geht <strong>der</strong> Mensch zu Grunde,<br />
wenn nicht, vergisst<br />
er den zweiten. Das sehen<br />
wir doch. Der kleine Mann<br />
schuftet ein Leben lang,<br />
um überhaupt leben zu<br />
können. Der Mittelständler<br />
wirtschaftet ein Leben lang,<br />
um seinen Status zu halten.<br />
Der Manager managt eine<br />
ammenkunst ist mehr als<br />
Geburtshilfe: Vorbereitung<br />
und Nachsorge, Babymassage<br />
und Rückbildungsgymnastik<br />
gehören ebenfalls dazu. Was<br />
zunächst stundenweise neben<br />
dem Schichtdienst im Krankenhaus<br />
begann, ist heute Lebensmittelpunkt.<br />
Vom Hau ist<br />
jetzt ihre eigene Chefin. „Eine<br />
gute Entscheidung“, sagt die<br />
Solingerin heute. Obwohl die<br />
Situation zunehmend schwierig<br />
wird. 40 freiberufliche<br />
Hebammen arbeiten <strong>der</strong>zeit<br />
in Solingen <strong>–</strong> zu viele für eine<br />
Stadt mit 160.000 Einwoh-<br />
Firma nach <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en ab,<br />
um Geld einzusammeln (ich<br />
will hier nicht behaupten,<br />
<strong>das</strong>s <strong>das</strong> bei allen so ist, aber<br />
über die Medien und die<br />
Presse kommt es so rüber).<br />
<strong>Die</strong> abgeführten Steuern<br />
kommen nicht ins Sozialsystem,<br />
son<strong>der</strong>n dienen dem<br />
Staatshaushalt. Hier sehe<br />
ich keinen, <strong>der</strong> ans Verteilen<br />
denkt.<br />
thomas Götte<br />
3 die<strong>Gesellschafter</strong>.de<br />
Schwerpunk t > Arbeit<br />
nern. Vor 15 <strong>Jahr</strong>en waren es<br />
noch knapp die Hälfte. Ihre<br />
Kurse wurden kleiner und kleiner,<br />
Werbung half wenig. Vor<br />
fünf <strong>Jahr</strong>en gab vom Hau dann<br />
schweren Herzens auf. „Das<br />
hat sich lei<strong>der</strong> nicht mehr gerechnet.“<br />
Danach spezialisierte<br />
sie sich auf Vor- und Nachsorge,<br />
betreut Frauen vor und nach<br />
<strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>kunft. Im Schnitt<br />
besucht sie drei am Tag. „Wäre<br />
ich auf mich allein gestellt,<br />
müsste ich definitv wie<strong>der</strong> in<br />
<strong>der</strong> Klinik arbeiten“, sagt vom<br />
Hau. <strong>Die</strong> fünf Kin<strong>der</strong> sind zwar<br />
mittlerweile aus dem Haus,<br />
„davon leben könnte ich trotzdem<br />
nicht.“ Umso wichtiger ist,<br />
<strong>das</strong>s sie mit ihrem Mann einen<br />
verständnisvollen Partner gefunden<br />
hat, <strong>der</strong> als Lehrer auch<br />
die nötige finanzielle Stabilität<br />
sicherstellt <strong>–</strong> und <strong>der</strong> nicht<br />
murrt, wenn sie Haushalt,<br />
Wäsche und mitunter auch ihn<br />
selbst stehen lassen muss, weil<br />
bei einer „ihrer“ Frauen spontan<br />
Probleme auftreten. Ganz<br />
im Gegenteil: Mehr als einmal<br />
hat Friedhelm vom Hau am<br />
Telefon schon aufgeregte werdende<br />
Väter beruhigt, wenn<br />
seine Frau gerade unterwegs<br />
war. „Das macht er gut“, lobt<br />
die Gattin und betont: „Ohne<br />
ihn ginge <strong>das</strong> alles nicht.“<br />
Unternehmer in<br />
Gummistiefeln<br />
Stefan Schulte ist selbstständiger<br />
Landschaftsgärtner<br />
Krise? Das ist für Stefan<br />
Schulte ein Fremdwort. „Krise<br />
krieg‘ ich nur, wenn wir wie<strong>der</strong><br />
zwei Wochen Regen am Stück<br />
haben.“ Besorgt blickt er in<br />
den wolkenverhangenen Himmel<br />
und stützt sich für einen<br />
Moment auf seinen Spaten. Es<br />
regnet nicht. Noch nicht. Mit<br />
gelben Gummistiefeln und<br />
grüner Latzhose erfüllt <strong>der</strong><br />
46-Jährige zumindest äußerlich<br />
alle Klischees, die man mit<br />
Gärtnern verbindet.<br />
Seit 1996 arbeitet Schulte als<br />
selbstständiger Landschaftsgärtner,<br />
tauschte die Sicherheit<br />
eines Angestellten<strong>das</strong>eins<br />
gegen die Chancen und Risiken<br />
eines Unternehmers. Zusammen<br />
mit einem Gesellen und<br />
einem Auszubildenden gestaltet<br />
er Terrassen und Teiche,<br />
pflastert Wege und Einfahrten,<br />
baut Mauern, fällt Bäume und<br />
räumt im Winter auch mal<br />
Schnee. Doch <strong>das</strong>, was seinen<br />
Alltag heute von seinem vorherigen<br />
Leben als Gärtnermeister<br />
in Festanstellung unterscheidet,<br />
spielt sich meist nicht im<br />
Freien ab. Aufträge an Land ziehen,<br />
zusammen mit den Kunden<br />
die Gestaltung <strong>der</strong> Gärten<br />
planen, die Büroarbeit nehmen<br />
rund die Hälfte seiner Arbeitszeit<br />
ein. Genau <strong>das</strong> war auch<br />
<strong>der</strong> Grund, es als Selbstständiger<br />
zu versuchen. „Ich wollte<br />
selbst entscheiden, welche Art<br />
von Steinen am besten auf einer<br />
Terrasse aussehen und wo man<br />
welche Sträucher hinsetzt.“ So<br />
kreativ könne man als Angestellter<br />
niemals sein.<br />
Dafür kann man nachts<br />
vielleicht ruhiger schlafen.<br />
März <strong>2010</strong> 1<br />
Wenn es im Winter schneit,<br />
ist um vier Uhr die Nacht zu<br />
Ende. „<strong>Die</strong> Gehwege müssen<br />
um sieben geräumt sein, <strong>das</strong><br />
ist <strong>der</strong> Auftrag.“ Egal, ob dabei<br />
die Hände abfrieren, o<strong>der</strong> man<br />
länger braucht, weil ein Mitarbeiter<br />
krank ist. Doch auch im<br />
Rest des <strong>Jahr</strong>es ist <strong>das</strong> Wetter<br />
Schultes größter Feind. Wenn<br />
tagelange Regenfälle den Boden<br />
aufweichen, wünscht er<br />
sich manchmal einen ganz<br />
normalen Bürojob. „Man ist<br />
nass bis auf die Haut, die<br />
Geräte sind nass, Baumaterialien<br />
auch. Das macht einfach<br />
keinen Spaß.“ Dennoch: Für<br />
eine Regenpause o<strong>der</strong> Hitzefrei<br />
im Sommer ist keine Zeit.<br />
Es muss weitergehen, zur Not<br />
auch samstags. „Wenn sich<br />
die Fertigstellung verzögert,<br />
merken sich die Kunden <strong>das</strong> <strong>–</strong><br />
und beauftragen beim nächsten<br />
Mal jemand an<strong>der</strong>en.“<br />
Der persönliche Kontakt, ein<br />
nettes Wort, ein kleiner Scherz<br />
o<strong>der</strong> eine gemeinsame Tasse<br />
Kaffee gehen ihm dabei über<br />
alles. Denn wie eigentlich alle<br />
Handwerker, lebt auch Stefan<br />
Schulte von seinem Renommee.<br />
Und <strong>das</strong> scheint gut zu<br />
sein. <strong>Die</strong> Auftragsbücher für<br />
die nächsten Monate sind voll.<br />
„Ein beruhigendes Gefühl“,<br />
sagt er. Weil Planungssicherheit<br />
unter Selbstständigen<br />
nun mal ein Luxusgut ist.<br />
Für Stefan Schulte gibt es keine Regenpause und kein hitzefrei.
14 März <strong>2010</strong> Schwerpunk t > Arbeit<br />
Sieben magere fette <strong>Jahr</strong>e<br />
Fazit <strong>der</strong> Agenda <strong>2010</strong>: Probleme mit dem Sozialstaat im Billig-Land<br />
Von Joachim Rogosch<br />
Im <strong>Jahr</strong> 2003 verkündet Bundeskanzler<br />
Gerhard Schrö<strong>der</strong><br />
(SPD) seine Agenda für die<br />
kommenden sieben <strong>Jahr</strong>e.<br />
<strong>Die</strong> sind nun vorbei. Sieben<br />
fette <strong>Jahr</strong>e. Sieben magere<br />
<strong>Jahr</strong>e. Je nachdem, für wen.<br />
Im Buch Genesis liest sich<br />
die Sache so: Als Joseph dem<br />
Pharao dessen Traum mit den<br />
fetten und mageren Kühen<br />
deutete, war gleich klar, wie<br />
man die Sache anpackt: Ägypten<br />
legte in den guten <strong>Jahr</strong>en<br />
Vorräte an, was in den darauffolgenden<br />
schlechten nicht<br />
nur dem Volk nutzte, son<strong>der</strong>n<br />
auch dem Staat zu enormem<br />
Reichtum verhalf. Joseph war<br />
ein Glücksfall für die Ägypter.<br />
So geht gute Politik.<br />
Autos und Milch<br />
im Überfluss<br />
Heute ist die Lage ungleich<br />
verworrener. Es gibt Autos<br />
im Überfluss, Fernseher für<br />
je<strong>der</strong>mann, Milch bis zum<br />
Wegschütten, und deshalb/<br />
dennoch ein Wachstumsbeschleunigungsgesetz.<br />
Hat hier<br />
jemand vor, in den fetten <strong>Jahr</strong>en<br />
für die mageren anzusparen?<br />
Nein. Es sieht eher so aus,<br />
als wolle jemand Magerkeit<br />
durch Fettsucht bekämpfen.<br />
Das verdirbt den Magen.<br />
Der Versuch ist nicht neu.<br />
Vor sieben <strong>Jahr</strong>en hatte eine<br />
rot-grüne Bundesregierung<br />
erkannt, <strong>das</strong>s die sozialen<br />
Sicherungssysteme in akuten<br />
Finanznöten waren. <strong>Die</strong> Globalisierung<br />
verstärkte den<br />
Konkurrenzdruck. <strong>Die</strong> Kon-<br />
Unser Sozialsystem<br />
ist zu einem bürokratischen<br />
Moloch verkommen. Ob nun<br />
alle einzahlen o<strong>der</strong> nicht,<br />
spielt dabei keine große<br />
Rolle. Auch dann würden<br />
Leistungen weiter gekürzt<br />
und einseitige Zuzahlungen<br />
notwendig sein. Der eigentliche<br />
Fehler liegt doch in <strong>der</strong><br />
Abhängigkeit des Sozialen<br />
von <strong>der</strong> Finanzierbarkeit.<br />
Udo Reidegeld<br />
3 die<strong>Gesellschafter</strong>.de<br />
Foto: picture alliance<br />
junktur lahmte. So Schrö<strong>der</strong>s<br />
Analyse 2003. Das Zauberwort<br />
lautete „Agenda <strong>2010</strong>“.<br />
Der Lösungsvorschlag: Wirtschaftswachstum.<br />
Egal wohin.<br />
<strong>Die</strong> mageren <strong>Jahr</strong>e sollten<br />
in fette verwandelt werden.<br />
Fett wurden sie. Der Dax<br />
stieg zwischendurch um 6.000<br />
Punkte, die Arbeitslosigkeit<br />
sank, <strong>das</strong> Wirtschaftswachstum<br />
stieg an. <strong>Die</strong> Experten<br />
wissen bis heute nicht, ob trotz<br />
o<strong>der</strong> wegen <strong>der</strong> Agenda <strong>2010</strong>.<br />
Mit <strong>der</strong> Bankenkrise war dann<br />
die Blüte allerdings vorerst<br />
vorbei.<br />
Wieviel <strong>das</strong> Sammelsurium<br />
aus Ich-AG, Hartz IV, Bildungsinitiative,<br />
Lockerung <strong>der</strong> Ladenöffnungszeiten<br />
und des<br />
Kündigungsschutzes, Minijob<br />
und Steuersenkung dazu beigetragen<br />
hat, die Wirtschaft<br />
anzukurbeln, lässt sich nicht<br />
ausrechnen. Als Ergebnis steht<br />
fest: <strong>Die</strong> Steuerlast ist trotz<br />
aller Senkungen insgesamt<br />
gestiegen, Arbeitsplätze im<br />
Handwerk o<strong>der</strong> Einzelhandel<br />
sind weniger geworden.<br />
Heute, sieben <strong>Jahr</strong>e nach<br />
dem „Aufbruch“, haben Regierungszusammensetzung<br />
und Bundeskanzler(in) gewechselt.<br />
<strong>Die</strong> Politik ist die<br />
gleiche geblieben. Noch immer<br />
wird als Heilsweg für alle Probleme<br />
des Landes ein stärkeres<br />
Wirtschaftswachstum angepriesen.<br />
Wozu wir arbeiten,<br />
welche Arbeit in unserer Gesellschaft<br />
eigentlich dringend<br />
getan werden müsste, woran<br />
es uns fehlt <strong>–</strong> <strong>das</strong> ist egal.<br />
Hauptsache Autos produzie-<br />
ren. Und wenn es zu viele davon<br />
gibt, schlagen wir eben ein<br />
paar Tausend kaputt, gegen<br />
Geldprämie, versteht sich. So<br />
zieht sich Baron Münchhausen<br />
am eigenen Schopf aus dem<br />
Sumpf. Spätere Generationen<br />
werden lachen über unseren<br />
sinnlosen Fleiß.<br />
Wenn niemand mehr fragt,<br />
was er eigentlich tun will, wofür<br />
es sich einzusetzen lohnt,<br />
wie er leben will, dann sind die<br />
fantastischsten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen<br />
möglich.<br />
Dann kümmern sich Frauen<br />
(manchmal auch Männer) gegen<br />
Geld um die Babies an<strong>der</strong>er<br />
Eltern, damit diese erwerbstätig<br />
sein können, damit <strong>der</strong> Staat genug<br />
Steuern einnehmen kann,<br />
damit er die Erzieherinnen<br />
für die Kin<strong>der</strong> bezahlen kann.<br />
Dasselbe Spiel mit Alten und<br />
Kranken. So entstehen Hektik<br />
und Bruttosozialprodukt. Und<br />
niemand hat mehr Zeit füreinan<strong>der</strong>,<br />
trotz ständig steigen<strong>der</strong><br />
Lebensdauer.<br />
Außer die Arbeitslosen und<br />
die Rentner. <strong>Die</strong> hat es aus<br />
dem Spiel herausgewirbelt.<br />
Weil aber Produktivität alles<br />
und Müßiggang ein Laster ist<br />
und diese Menschengruppen<br />
nur kosten und nichts bringen,<br />
müssen die sich schlecht füh-<br />
len. Politiker wie Hessens Ministerpräsident<br />
Roland Koch<br />
(CDU) und Außenminister<br />
Guido Westerwelle (FDP)<br />
haben jüngst wie<strong>der</strong> dazu<br />
beigetragen, indem sie Hartz-<br />
IV-Empfänger verdächtigen,<br />
ihre Abhängigkeit als „angenehme<br />
Variante“ des Lebens<br />
anzusehen. Dass unser Wirtschaftssystem<br />
immer mehr<br />
Menschen daran hin<strong>der</strong>t, von<br />
ihrer eigenen Hände Arbeit<br />
in Würde zu leben, haben sie<br />
nicht dazugesagt.<br />
Das ist <strong>das</strong> paradoxe Ergebnis<br />
<strong>der</strong> „Agenda <strong>2010</strong>“: Dass<br />
sie zu mehr Eigenständigkeit<br />
und Selbstverantwortung anleiten<br />
wollte, und am Ende eine<br />
größere Abhängigkeit dabei<br />
herauskam. Dass sie die Sozialsysteme<br />
entlasten wollte,<br />
und heute Staat und Bürger<br />
am Sozialsystem zu ersticken<br />
drohen. Dass jene, die erwerbstätig<br />
sind, unzufrieden<br />
sind, weil sie so viele Abgaben<br />
zahlen müssen. Und jene, die<br />
die Abgaben bekommen, unzufrieden<br />
sind, weil <strong>–</strong> ja weil?<br />
Weil sie keine Perspektive<br />
haben. Für sich selber zu sorgen,<br />
lohnt sich nicht. Reich<br />
werden dürfen sie nicht.<br />
„wirtschaftswachstum um jeden Preis“: Das kommt dabei heraus, wenn man die Probleme <strong>der</strong> welt mit Geld lösen will: Schrott.<br />
Durch Leistung wie<strong>der</strong> auf<br />
eigene Beine zu kommen,<br />
gelingt ihnen nicht. <strong>Die</strong> Mischung<br />
aus Sozialstaat und<br />
Billiglohnland funktioniert<br />
eben nicht.<br />
Alle zahlen, aber<br />
wenige profitieren<br />
„Ein Leben in Wohlstand und<br />
sozialer Sicherheit“ hatte die<br />
„Agenda <strong>2010</strong>“ einst versprochen.<br />
Ein unbefriedigendes<br />
Leben auf Pump ist dabei herausgekommen.<br />
Wie es richtig<br />
wäre, weiß je<strong>der</strong>: Gerechte<br />
Löhne und faire Preise statt<br />
immer nur „billig“. Verantwortung<br />
tragen statt umherschieben.<br />
So handeln, <strong>das</strong>s alle profitieren,<br />
und nicht so, <strong>das</strong>s alle<br />
zahlen, damit ich profitiere.<br />
So was ist illusorisch? Das behaupten<br />
nur die Profiteure des<br />
bestehenden Systems.
Raus aus <strong>der</strong> Tristesse<br />
Von Heidrun Böger<br />
„Stellt beide Füße fest auf<br />
den Boden und singt <strong>das</strong><br />
schön in den Raum hinein!“<br />
Spirituals singen und dann<br />
an den Noten hängen, „<strong>das</strong><br />
geht gar nicht“, findet<br />
Chorleiter Michael Reuter,<br />
den alle duzen, und den sie<br />
scherzhaft „Dr. Michael“<br />
nennen. Der for<strong>der</strong>t viel:<br />
„Konzentriert Euch!“ Wie<br />
jeden Donnerstagvormittag<br />
probt <strong>der</strong> Arbeitslosenchor<br />
La Bohéme im Saal des<br />
Heinrich-Budde-Hauses in<br />
Leipzig-Gohlis. Von draußen<br />
scheint die Wintersonne<br />
herein, sie bringt die<br />
Gesichter zum Leuchten.<br />
Es gibt fast 300 Chöre allein<br />
in Sachsen. Aber dieser ist<br />
an<strong>der</strong>s. Karin Schaknat findet<br />
gut, <strong>das</strong>s er für Arbeitslose ist,<br />
aber auch, <strong>das</strong>s alle bei Null<br />
anfangen. „Ich hätte mich<br />
nicht getraut, in einen Chor<br />
zu gehen, in dem alle schon<br />
singen können“, sagt sie. Als<br />
Stefan Kugler vom Leipziger<br />
Chorverband die Idee zu<br />
einem Chor speziell mit Arbeitslosen<br />
hatte, stieß er auf<br />
viel Begeisterung. <strong>Die</strong> „Aktion<br />
Mensch“ und <strong>das</strong> Kulturamt<br />
<strong>der</strong> Stadt Leipzig sagten finanzielle<br />
För<strong>der</strong>ung zu. Im August<br />
2009 begannen die Proben.<br />
Ina Heide hatte es in <strong>der</strong> Zei-<br />
tung gelesen: „In einem <strong>der</strong><br />
Anzeigenblätter, die Leipziger<br />
Volkszeitung kann ich mir<br />
nicht leisten.“ <strong>Die</strong> 71-Jährige<br />
ist Rentnerin, war davor aber<br />
viele <strong>Jahr</strong>e arbeitslos: „Genau<br />
so etwas wie diesen Chor habe<br />
ich mir immer gewünscht.“<br />
Wie die meisten an<strong>der</strong>en auch<br />
hatte sie zuvor noch nie gesungen<br />
- außer im Kin<strong>der</strong>chor.<br />
Aber sie kann Klavier spielen.<br />
<strong>Die</strong> Noten-Kenntnisse helfen<br />
ihr jetzt bei <strong>der</strong> Alt-Stimme:<br />
„Wissen Sie, da muss ich gegen<br />
den Melodieverlauf singen,<br />
<strong>das</strong> ist schwer.“<br />
An diesem Donnerstag proben<br />
sie noch einmal <strong>das</strong><br />
Spiritual, <strong>das</strong> sie schon bei<br />
ihrem ersten großen Auftritt<br />
im letzten Dezember im Leipziger<br />
Gewandhaus gesungen<br />
haben, wo sie gemeinsam mit<br />
an<strong>der</strong>en sächsischen Chören<br />
auftraten. Das Konzert dort<br />
haben sie als „große Ehre“<br />
empfunden. Ida Heide war<br />
im Vorfeld des Auftritts ganz<br />
bange: „Der Auftritt gab mir<br />
und den an<strong>der</strong>en aber viel<br />
Selbstvertrauen.“<br />
Bunte Mischung<br />
Gleichgesinnter<br />
<strong>Die</strong> „La Bohème“-Sänger üben<br />
zweimal die Woche, je zwei<br />
Stunden. Altersmäßig sind<br />
sie bunt gemischt, die meisten<br />
sind ohne Job, aber es<br />
gibt auch junge Mütter, Minijobber,<br />
Selbstständige und<br />
Rentner. Dass die meisten<br />
arbeitslos sind, empfinden<br />
sie als Vorteil: Das macht die<br />
Gespräche einfacher. Pjotr Selend:<br />
„Man lernt sich leichter<br />
kennen.“<br />
Für die meisten hier ist es<br />
wichtig, den Tag zu strukturieren<br />
und „weg zu sein von<br />
<strong>der</strong> Glotze“, wie Pjotr Selend<br />
sagt. Der studierte Biologe ist<br />
seit <strong>der</strong> Wende arbeitslos und<br />
ein bisschen stolz, einer <strong>der</strong><br />
rar gesäten Männer im Chor<br />
Schwerpunk t > Arbeit März <strong>2010</strong> 15<br />
In Leipzig entdecken arbeitslose Menschen im „chor La Bohème“ die Lust am Singen<br />
konzentriert Euch! chorleiter Michael Reuter for<strong>der</strong>t Engagement.<br />
Fotos: hendrik Schmidt<br />
Das komplette Ensemble vor dem Leipziger heinrich-Budde-haus.<br />
zu sein: „<strong>Die</strong> werden in jedem<br />
Chor mit Goldstaub gehandelt.“<br />
Wie die an<strong>der</strong>en auch<br />
schwärmt er vom erfahrenen<br />
Chorleiter Michael Reuter,<br />
einem promovierten Musikwissenschaftler.<br />
Sie wissen,<br />
<strong>das</strong>s <strong>der</strong> 66-jährige Rentner<br />
früher erfolgreich an <strong>der</strong> Leipziger<br />
Hochschule für Musik<br />
gearbeitet hat und ein ganz<br />
Großer in seinem Metier ist.<br />
Aber <strong>das</strong> ist es nicht allein.<br />
Reuter führt die Sängerinnen<br />
und Sänger mit viel Diplomatie,<br />
er stellt keinen bloß. Niemand<br />
singt falsch, höchstens<br />
gibt es „hier in dieser Ecke“<br />
einen schiefen Ton. Der- o<strong>der</strong><br />
diejenige weiß dann schon<br />
Bescheid.<br />
Von Anfang an erregte <strong>der</strong><br />
Chor viel Medieninteresse.<br />
Damals wollte allerdings nicht<br />
je<strong>der</strong> mit aufs Foto, die Nachbarn<br />
könnten ja so von <strong>der</strong> Arbeitslosigkeit<br />
erfahren. Deshalb<br />
haben sie sich auch den<br />
Namen „Bohème“ gegeben.<br />
Bloß weg von <strong>der</strong> Tristesse.<br />
Der Name ist eine Hommage<br />
an die arbeitslosen Künstler<br />
des 19. und 20. <strong>Jahr</strong>hun<strong>der</strong>ts<br />
<strong>–</strong> mit ihrer leidenschaftlichen<br />
Hingabe an die Kunst, selbst<br />
wenn sie nicht zum Broterwerb<br />
reicht.<br />
Inzwischen sind sie selbstbewusster<br />
geworden, sagt Chormanagerin<br />
Sarie Teichfischer<br />
(31). Alle sprechen jetzt vom<br />
Arbeitslosenchor. Kein Problem.<br />
Dafür brennt ihnen nun<br />
etwas ganz an<strong>der</strong>s auf den Nägeln,<br />
nämlich wie es mit dem<br />
Chor weiter gehen soll. Nach<br />
dem großen Auftritt im Gewandhaus<br />
gründete <strong>der</strong> Chor<br />
einen gemeinnützigen Verein,<br />
mit vorerst 30 Mitglie<strong>der</strong>n. Bis<br />
Ende April will <strong>der</strong> neue Vorstand<br />
verlässliche finanzielle<br />
Bedingungen schaffen, damit<br />
<strong>der</strong> Chor weiter bestehen<br />
kann. Jedes Mitglied leistet<br />
einen geringen Mitgliedsbeitrag.<br />
„La Bohème“ ist jedoch<br />
auf Sponsoren angewiesen,<br />
um die jährlich anfallenden<br />
6000 Euro für Raummieten,<br />
Noten und den Chorleiter zu<br />
bezahlen.<br />
„Guckt mal alle ein bisschen<br />
nach vorn, dann klappt <strong>das</strong><br />
auch!“, for<strong>der</strong>t „Dr. Michael“.<br />
Und siehe da, jetzt treffen sie<br />
die Töne von „Virgin Mary had<br />
a baby boy“: „Aber Eure Hüfte<br />
ist ganz steif!“ Da muss Bewegung<br />
rein. „Mit Schmackes“<br />
sollen sie singen. Und die Begleitstimmen<br />
müssen sich „ein<br />
bisschen zarter um die Männer<br />
drum rum ranken“. Und<br />
siehe da: Sie kommen immer<br />
besser rein in die Musik. <strong>Die</strong><br />
Füße wippen, die Blicke gehen<br />
zum Chorleiter, jetzt stimmt<br />
plötzlich alles. Und es klingt<br />
verdammt gut. Genau dafür<br />
singt er, sagt Pjotr Selend, „für<br />
dieses Gänsehaut-Gefühl“.<br />
Kontakt: Chorverband<br />
Leipzig e. V., Tel. 4 12 83 41<br />
www.chor-la-boheme.de<br />
Natürlich gibt es Arbeitslose<br />
<strong>–</strong> und beson<strong>der</strong>s<br />
Mütter, die echtes Ehrenamt<br />
ohne Bezahlung leisten.<br />
Ansonsten ergibt sich<br />
für Arbeitslose nicht selten<br />
aus dem Ehrenamt heraus<br />
eine Möglichkeit, Arbeit zu<br />
finden, woraus sich dann<br />
ein schiefes Bild ergibt,<br />
<strong>das</strong>s Arbeitslose nicht ehrenamtlich<br />
tätig sein sollen.<br />
c.k.<br />
3 die<strong>Gesellschafter</strong>.de
16 März <strong>2010</strong><br />
<strong>Die</strong> geheimen Augen des Arbeitgebers<br />
Überwachung in Betrieben: was chefs über ihre Mitarbeiter wissen dürfen<br />
Von Rüdiger Liedtke<br />
Videoüberwachung und geheime<br />
Krankenakten bei<br />
Lidl, Bluttests und Urinproben<br />
bei Daimler, Datenabgleich<br />
und Schnüffelei<br />
bei Bahn und Telekom.<br />
Hun<strong>der</strong>ttausende Arbeitnehmer<br />
werden von ihren<br />
Arbeitgebern regelmäßig<br />
bespitzelt, kontrolliert und<br />
überprüft. Meist auf illegalem<br />
Wege und geheim.<br />
Dass die großen Discounter<br />
nicht zimperlich mit ihren<br />
Mitarbeitern umgehen, ist<br />
nicht neu. Dass diese ihre<br />
Mitarbeiter aber auch noch<br />
überwachen und ausspionieren<br />
lassen, so wie es beim<br />
Discounter Lidl gängige Praxis<br />
war, hat selbst Kenner <strong>der</strong><br />
Branche verblüfft. Ohne jeden<br />
Skrupel wurden Mitarbeiter<br />
in Hun<strong>der</strong>ten Lidl-Filialen<br />
per Video überwacht, durch<br />
Detektive observiert. Aufgezeichnet<br />
wurden selbst Toilettenbesuche,<br />
gelistet wann<br />
jemand musste und wie häufig<br />
am Tag. Auch die Arbeitsmoral<br />
wurde ausspioniert, ob<br />
jemand „fleißig o<strong>der</strong> faul“ ist.<br />
„Stasi-Methoden beim Discounter“<br />
titelte <strong>der</strong> „Spiegel“<br />
im März 2008. Ein klarer Verstoß<br />
gegen Artikel 2 Grundgesetz,<br />
meinen Arbeitsrechtler.<br />
Ein Angriff auf die freie Entfaltung<br />
<strong>der</strong> Persönlichkeit.<br />
Nicht genug: Lidl hatte auch<br />
noch detaillierte Krankenakten<br />
über seine Mitarbeiter<br />
geführt, fein säuberlich aufgelistet,<br />
warum und woran jemand<br />
erkrankt war. Doch <strong>der</strong><br />
Grund einer Erkrankung geht<br />
Telekom, Lidl, Edeka,<br />
Daimler, Deutsche Bahn. <strong>Die</strong><br />
Dimension <strong>der</strong> Kontrollen ist<br />
Angst einflößend. In allen<br />
Fällen verfolgte die Mitarbeiterüberwachungnachvollziehbare<br />
Unternehmensziele,<br />
zum Beispiel die Aufklärung<br />
von Informationslecks, die<br />
Verbesserung des Krankheitsstandes<br />
o<strong>der</strong> die Verhin<strong>der</strong>ung<br />
von Warendiebstählen.<br />
<strong>Die</strong> Unternehmen<br />
setzten dabei aber technische<br />
Ermittlungsmaßnahmen ein,<br />
den Arbeitgeber „grundsätzlich<br />
nichts an“, meint Deutschlands<br />
oberster Datenschützer<br />
Peter Schaar.<br />
In vielen Unternehmen<br />
gehören Drogentests sowie<br />
Blut- und Urinuntersuchungen<br />
bei<br />
<strong>der</strong> Einstellung<br />
von Mitarbeitern,<br />
aber auch<br />
regelmäßige<br />
Gesundheitsu<br />
n t e r s u -<br />
c h u n g e n<br />
zum Alltag<br />
<strong>–</strong> sind aber<br />
in aller Regelunzulässig.Gen<br />
e t i s c h e<br />
U n t e r s u -<br />
c h u n g e n<br />
sind nach<br />
dem Anfang<br />
Februar<br />
<strong>2010</strong> in Kraft<br />
g e t r e t e n e n<br />
Gendiagnostikgesetz<br />
sogar generell<br />
verboten. Das<br />
heißt: Arbeitgeber und<br />
Versicherungen dürfen<br />
von Bewerbern und Kunden<br />
grundsätzlich keine Gentests<br />
for<strong>der</strong>n.<br />
Auch die Blutproben, die <strong>der</strong><br />
Stuttgarter Daimler-Konzern<br />
vor <strong>der</strong> Einstellung von Mitarbeitern<br />
verlangt hat, bewegen<br />
sich an <strong>der</strong> Grenze <strong>der</strong> Illegalität.<br />
„Da gibt es we<strong>der</strong> eine<br />
Betriebsvereinbarung, noch<br />
eine rechtliche Grundlage“<br />
<strong>–</strong> so Daimler-Betriebsrat Uwe<br />
Werner. Da Blutabnahmen<br />
rein rechtlich immer den<br />
Tatbestand einer Körperverletzung<br />
darstellen, muss <strong>der</strong><br />
mit denen ohne konkreten<br />
Verdacht, sozusagen präventiv<br />
die Privatsphäre verletzt<br />
wurde. In allen Fällen wurde<br />
bedenkenlos über die Persönlichkeitsrechte<br />
<strong>der</strong> Mitarbeiter<br />
und über geltendes<br />
Datenschutzrecht hinweggegangen.<br />
Trotz all <strong>der</strong> Skandale<br />
ist auf Managementebene<br />
<strong>der</strong> Datenschutz zumeist noch<br />
nicht angekommen.<br />
Dr. thilo weichert<br />
3 die<strong>Gesellschafter</strong>.de<br />
Schwerpunk t > Arbeit<br />
Foto: picture alliance<br />
Überwachung in Unternehmen ist keine Illusion mehr, son<strong>der</strong>n Realität.<br />
Betroffene<br />
einer Blutuntersuchung<br />
grundsätzlich zustimmen.<br />
Und es muss ihm klar<br />
sein, auf was genau hin sein<br />
Blut untersucht wird. Aber<br />
welcher Arbeitnehmer lehnt<br />
vor seiner Einstellung schon<br />
einen solchen vom Unternehmen<br />
verlangten Test ab?<br />
Unternehmen weisen<br />
Kritik zurück<br />
Der Daimler-Konzern wehrt<br />
sich gegen diese Darstellung<br />
und betont, <strong>das</strong>s bei Einstelluntersuchungen<br />
we<strong>der</strong> gegen<br />
den Datenschutz noch <strong>das</strong> Arbeitsrecht<br />
verstoßen wurde.<br />
Das Unternehmen verweist<br />
auf eine Stellungnahme des<br />
Innenministeriums von Baden-Württemberg:<br />
„Nach dem<br />
gegenwärtigen Stand ihrer<br />
Erkenntnisse geht die Aufsichtsbehörde<br />
davon aus, <strong>das</strong>s<br />
die Daimler AG Gesundheitsuntersuchungen<br />
durch den<br />
Werksärztlichen <strong>Die</strong>nst erst<br />
durchführen lässt, wenn beabsichtigt<br />
ist, einen Bewerber<br />
<strong>–</strong> vorbehaltlich<br />
des Ergebnisses dieser<br />
Untersuchung <strong>–</strong> einzustellen.<br />
<strong>Die</strong>s entspricht datenschutzrechtlichen<br />
Erfor<strong>der</strong>nissen.“<br />
Obwohl den Befugnissen<br />
<strong>der</strong> Arbeitsgeber durch die<br />
Rechtsprechung enge Grenzen<br />
gesetzt sind, ist <strong>der</strong> „gläserne<br />
Arbeitnehmer“ in vielen<br />
Unternehmen längst Realität.<br />
<strong>Die</strong> aufsehenerregenden Datenschutzaffären<br />
bei Bahn<br />
und Telekom haben Arbeitnehmerschutz<br />
in weiten Teilen<br />
zur Makulatur werden lassen.<br />
Bei <strong>der</strong> Bahn wurden Daten<br />
von über 170.000 Mitarbeitern,<br />
also nahezu <strong>der</strong> gesamten<br />
Belegschaft, über mehrere<br />
<strong>Jahr</strong>e hinweg abgeglichen,<br />
also überprüft, geheim und<br />
ganz im Stillen. Angeblich zur<br />
internen Korruptionsbekämpfung.<br />
Und die Telekom schnüffelte<br />
in Telefonrechnungen<br />
„unliebsamer“ Kunden und<br />
„auffälliger“ Mitarbeiter. Zur<br />
Unterbindung von Verrat interner<br />
Geheimnisse, wie es<br />
hieß. Bahn und Telekom: Fälle<br />
für den Staatsanwalt.<br />
Wie weit darf <strong>der</strong> Arbeitgeber<br />
aber gehen bei <strong>der</strong> Kontrolle<br />
und Durchleuchtung seiner<br />
Beschäftigten? Das Unternehmen<br />
darf ausschließlich Daten<br />
von Mitarbeitern erheben,<br />
die für die Ausführung<br />
<strong>der</strong> Tätigkeit unbedingt<br />
erfor<strong>der</strong>lich sind.<br />
„Das Betriebsverfassungsgesetz<br />
lässt<br />
technische Einrichtungen<br />
zur<br />
Verhaltens- und<br />
Leistungskontrolle<br />
zu. Alles<br />
an<strong>der</strong>e ist strikt<br />
u n t e r s a g t “,<br />
meint Norbert<br />
Warga,<br />
Datenschutzbeauf<br />
tragter<br />
<strong>der</strong> <strong>Die</strong>nstleistungsgewerkschaft<br />
Verdi.<br />
„Und alle Kontrollmaßnahmen<br />
müssen für den Arbeitsnehmervollständig<br />
transparent sein.“<br />
Der Einsatz <strong>der</strong> „geheimen<br />
Augen“ durch den<br />
Arbeitgeber darf also nie zur<br />
heimlichen Überwachung <strong>der</strong><br />
Beschäftigten führen. Das<br />
gilt auch für Videoüberwachungen,<br />
wenn ein beson<strong>der</strong>es<br />
Sicherheitsbedürfnis besteht.<br />
Ob es um die Videoüberwachung<br />
des Schalterraums<br />
einer Bank geht o<strong>der</strong> die<br />
Webcam gegen <strong>Die</strong>bstahl im<br />
Warenhaus: Der Betriebsrat<br />
muss grundsätzlich zustimmen.<br />
Was aber, wenn es, wie<br />
bei den Discountern Lidl und<br />
Co., keinen Betriebsrat gibt?<br />
Dann muss <strong>der</strong> Arbeitnehmer<br />
selbst vor Gericht klagen,<br />
meint Arbeitsrechtler Peter<br />
Wedde, Direktor <strong>der</strong> Frankfurter<br />
„Akademie <strong>der</strong> Arbeit“.<br />
Ein mutiges Unterfangen,<br />
denn eine solche Klage dürfte<br />
seitens des Arbeitsgebers in<br />
<strong>der</strong> Regel mit Kündigung quittiert<br />
werden.<br />
Klare Sanktionen<br />
bei Verstößen<br />
<strong>Die</strong> Affären um Lidl, Daimler,<br />
Bahn und Telekom haben auch<br />
die Politik wachgerüttelt. Immer<br />
lauter wird <strong>der</strong> Ruf nach<br />
einer verbindlichen Rechtsgrundlage<br />
bei Bewerbungsgesprächen.<br />
Verlangt wird
<strong>der</strong> verantwortungsbewusste<br />
Umgang mit sensiblen Arbeitnehmerdaten;<br />
unter an<strong>der</strong>em<br />
bei <strong>der</strong> Videoüberwachung,<br />
<strong>der</strong> Kontrolle von E-Mails,bei<br />
medizinischen Checks und<br />
dem Einsatz von Detektiven.<br />
Gefor<strong>der</strong>t werden auch klare<br />
Sanktionen bei Verstößen<br />
durch die Arbeitsgeber.<br />
Sogar Lügen<br />
sind erlaubt<br />
Nach Ansicht vieler Experten<br />
reicht es längst nicht mehr<br />
aus, den Arbeitnehmerdatenschutz<br />
als geson<strong>der</strong>ten Passus<br />
im Bundesdatenschutzgesetz<br />
zu verankern. Heute findet<br />
Minutiöse kontrolle am<br />
Arbeitsplatz per Videokamera<br />
und über Gesprächsmitschnitte.<br />
Missbräuche<br />
in etlichen Branchen<br />
haben die Beschäftigten<br />
aufgeschreckt. Sie for<strong>der</strong>n<br />
mehr transparenz und<br />
wollen wissen, welche<br />
persönlichen Daten ihre<br />
Unternehmen erheben.<br />
Nach zahlreichen Datenskandalen<br />
und Bespitzelungsaffären<br />
will die schwarzgelbe<br />
Bundesregierung den<br />
Arbeitnehmerdatenschutz<br />
gesetzlich neu regeln. Der<br />
Koalitionsvertrag sieht dafür<br />
ein eigenes Kapitel im<br />
Bundesdatenschutzgesetz<br />
vor. Für Bundesjustizministerin<br />
Sabine Leutheusser-<br />
Schnarrenberger, die seit<br />
<strong>Jahr</strong>en gegen jede Art <strong>der</strong><br />
„Datenvorratsspeicherung“<br />
streitet, ist ein solches Gesetz<br />
unablässig.<br />
was gehört für Sie in dieses<br />
Gesetz unbedingt hinein?<br />
Es muss eindeutig geregelt<br />
werden, unter welchen VoraussetzungenArbeitneh-<br />
Foto: fotolia<br />
Arbeitnehmerschutz meist auf<br />
dem Rechtsweg statt. Danach<br />
sind sogar Lügen erlaubt, so<br />
Arbeitsrechtler Jochen Homburg<br />
von <strong>der</strong> IG Metall. Eine<br />
Schwangere darf auf die entsprechende<br />
Frage des Arbeitsgebers<br />
bei <strong>der</strong> Einstellung mit<br />
„Nein“ antworten. Höchstrichterlich<br />
sanktioniert.<br />
Doch die Politik, die den<br />
Bürger eigentlich in seinen<br />
Grund- und Bürgerrechten<br />
schützen soll, ist selbst nicht<br />
zimperlich. Beispiel „Elena“.<br />
Der „elektronische Entgeltnachweis“<br />
war eigentlich dazu<br />
gedacht, Jobcentern die<br />
Berechnung des Arbeitslosengeldes<br />
und <strong>der</strong> Sozial-<br />
merdaten überhaupt erhoben,<br />
verarbeitet und genutzt<br />
werden dürfen. Wir brauchen<br />
auch Klarheit, wonach <strong>der</strong><br />
Arbeitgeber bei <strong>der</strong> Einstellung<br />
fragen darf. Fragen nach<br />
einer Schwangerschaft sind<br />
heute schon tabu, da ist die<br />
Rechtsprechung eindeutig.<br />
Bessere Maßstäbe brauchen<br />
wir etwa bei Gesundheitsdaten.<br />
Ausgangpunkt muss<br />
immer <strong>der</strong> konkrete Arbeitsplatz<br />
sein. Beim Piloten muss<br />
<strong>der</strong> Arbeitgeber mehr über<br />
die Gesundheit wissen als bei<br />
<strong>der</strong> Kassiererin. Und weiter:<br />
Eine lückenlose Verhaltens-<br />
und Leistungskontrolle am<br />
Arbeitsplatz müssen wir verhin<strong>der</strong>n.<br />
An<strong>der</strong>erseits muss<br />
festgelegt werden, unter wel-<br />
Schwerpunk t > Arbeit<br />
leistungen zu vereinfachen.<br />
<strong>Die</strong> Idee: Arbeitgeber sollen<br />
regelmäßig Datensätze zu<br />
Einkommen und Arbeitsverhältnissen<br />
ihrer Beschäftigten<br />
an eine zentrale Speicherstelle<br />
<strong>der</strong> Deutschen Rentenversicherung<br />
liefern. Betroffen von<br />
dem <strong>2010</strong> in Kraft getretenen<br />
Gesetz sind rund 40 Millionen<br />
Arbeitnehmer. Doch „Elena“<br />
hat sich zu einem „Daten-<br />
monster“ entwickelt.<br />
Arbeitsverhalten<br />
wird geprüft<br />
Plötzlich sollen Arbeitgeber<br />
neben Einkommen sowie Art<br />
und Dauer <strong>der</strong> Beschäftigung<br />
„Es muss eindeutige Regeln geben“<br />
<strong>Die</strong> Bundesjustizministerin for<strong>der</strong>t „Arbeitnehmerdatenschutz aus einem Guss“<br />
chen Vorraussetzungen ein<br />
Arbeitgeber Daten von Arbeitnehmern<br />
verwenden darf,<br />
wenn es zum Beispiel um die<br />
Aufklärung von Straftaten,<br />
die Verletzung von Betriebsgeheimnissen<br />
o<strong>der</strong> den Verdacht<br />
auf Korruption geht. Und<br />
wir wollen die Stellung des<br />
betrieblichen Datenschutzbeauftragten<br />
weiter stärken.<br />
Gelten die neuen Regelungen<br />
auch für den Bereich<br />
E-Mail und Internet?<br />
Internet und E-Mail sind<br />
heute Standard am Arbeitsplatz.<br />
Selbst bei ausschließlich<br />
dienstlicher Nutzung ist<br />
eine lückenlose Überwachung<br />
nicht zulässig. Denn <strong>das</strong> hieße<br />
ja, den Arbeitnehmer ständig<br />
auch <strong>das</strong> Arbeitsverhalten<br />
melden: Fehlzeiten, Abmahnungen,<br />
Kündigungsgründe<br />
und die Betriebsratstätigkeit.<br />
Auf diese „Begehrlichkeiten<br />
<strong>der</strong> Politik“ hagelt es massive<br />
Kritik von Gewerkschaften<br />
und Datenschützern. Für den<br />
Arbeitsrechtler Jochen Homburg<br />
von <strong>der</strong> IG Metall<br />
verstößt „Elena“ gegen bestehendes<br />
Datenschutzrecht.<br />
„Eine solche Vorratsdatenspeicherung<br />
ist nicht erlaubt.“<br />
Verdi-Datenschützer Norbert<br />
Warga sieht in <strong>der</strong> Diskussion<br />
um „Elena“ aber auch etwas<br />
Positives: „Das Interesse am<br />
Arbeitnehmerschutz ist jetzt<br />
auf breiter Front gestiegen.“<br />
bei allem, was er tut, zu kontrollieren.<br />
Aber natürlich kann<br />
es stichprobenartige Kontrollen<br />
geben. Was die private<br />
Nutzung von Internet und E-<br />
Mail am Arbeitsplatz betrifft,<br />
lassen sich Einzelfragen gut<br />
in Betriebsvereinbarungen<br />
regeln. <strong>Die</strong> gibt es aber nicht<br />
überall. Der Gesetzgeber muss<br />
sich auch hier zu den Grenzen<br />
<strong>der</strong> Kontrolle äußern. Den<br />
gläsernen Arbeitnehmer darf<br />
es nicht geben.<br />
Sind Sie sicher, <strong>das</strong>s die<br />
Politik den Arbeitnehmerdatenschutz<br />
in dieser Legislaturperiode<br />
auf den weg<br />
bringt?<br />
Der Bundesinnenminister hat<br />
klar gesagt, <strong>das</strong>s <strong>der</strong> Arbeit-<br />
März <strong>2010</strong> 17<br />
elena<br />
„Sehr frühzeitig war ich<br />
über <strong>das</strong> Projekt informiert<br />
und konnte so eine Reihe<br />
von Schutzvorkehrungen<br />
durchsetzen. Wenn sich <strong>der</strong><br />
Gesetzgeber trotz datenschutzrechtlicher<br />
Bedenken<br />
gleichwohl für ein solches<br />
Verfahren entscheidet,<br />
dann muss zumindest ein<br />
möglichst hoher Datenschutzstandardgewährleistet<br />
werden.“<br />
Peter Schaar, Bundesbeauftragter<br />
für den Datenschutz<br />
und die Informationsfreiheit.<br />
<strong>Die</strong> Bundesjustizministerin<br />
Sabine<br />
Leutheusser-<br />
Schnarrenberger<br />
(FDP).<br />
nehmerdatenschutz für ihn<br />
absolute Priorität hat. Entsprechend<br />
hoch ist die Erwartungshaltung<br />
ihm gegenüber.<br />
Auch von meiner Seite. Ich<br />
halte <strong>das</strong> für eines <strong>der</strong> wichtigsten<br />
Themen dieser Legislaturperiode.<br />
Wir müssen da<br />
zügig ran und dürfen nicht<br />
den Eindruck erwecken, als<br />
wäre uns <strong>das</strong> Thema nicht<br />
wichtig.<br />
Interview: Rüdiger Liedtke
18 März <strong>2010</strong><br />
„Man akzeptiert mich, so wie ich bin“<br />
In den Dk Integrationsbetrieben arbeiten behin<strong>der</strong>te und nicht behin<strong>der</strong>te Menschen zusammen<br />
Von Ulrich Steilen<br />
Thomas Reuter kommt im<br />
Stechschritt, den Oberkörper<br />
leicht vorgebeugt, aus<br />
<strong>der</strong> Spülküche geschossen.<br />
Seine blaue Schirmmütze<br />
zur Begrüßung einiger Mittagsgäste<br />
schwenkend, eilt<br />
er an den wohlgeordneten<br />
Stuhlreihen und <strong>der</strong> bunten<br />
Salatbar vorbei zu einem<br />
<strong>der</strong> vollen Tablettwagen. Es<br />
ist Mittagszeit in <strong>der</strong> Mensa<br />
des Schulzentrums von<br />
Neunkirchen-Seelscheid.<br />
Rush Hour.<br />
Reuter ist einer von zehn<br />
Mitarbeitern im Team von Küchenchef<br />
Omar Gagem (44).<br />
Das Beson<strong>der</strong>e an Gagems<br />
Mannschaft: Neben einem<br />
Beikoch, einer Ernährungsberaterin<br />
und drei hauswirtschaftlichen<br />
Mitarbeiterinnen<br />
sind hier fünf Menschen mit<br />
einer schweren Behin<strong>der</strong>ung<br />
vollzeit im Einsatz. Alle haben<br />
einen unbefristeten Tarifvertrag<br />
und sind sozialversicherungspflichtig<br />
beschäftigt.<br />
Gemeinsam bewirtschaften<br />
sie seit Oktober 2008 die 400<br />
Quadratmeter große, helle<br />
Mensa des Schulzentrums.<br />
Der Arbeitsplatz<br />
als Glücksfall<br />
Hinter <strong>der</strong> Kasse steht Gabi<br />
Schmidt. „Für mich war die<br />
Eröffnung <strong>der</strong> Mensa nach<br />
<strong>der</strong> Trennung von meinem<br />
Mann ein Glücksfall“, sagt<br />
die zierliche Frau, die an Arthrose<br />
in den Beinen leidet.<br />
Mit ihren beiden Söhnen hat<br />
die gelernte Rechtsanwaltsgehilfin<br />
in Sichtweite ihrer<br />
Arbeitsstelle eine Wohnung<br />
dki gmbh<br />
a<strong>Die</strong><br />
DK Integrationsbetriebe<br />
werden als gemeinnützige<br />
GmbH vom<br />
Landschaftsverband<br />
Rheinland finanziell<br />
unterstützt. <strong>Die</strong> Aktion<br />
Mensch för<strong>der</strong>t den<br />
Mensabetrieb in Neunkirchen-Seelscheid<br />
über<br />
einen Zeitraum von fünf<br />
<strong>Jahr</strong>en mit insgesamt<br />
250.000 Euro.<br />
Fotos: Michael Bause<br />
gefunden, auf die sie ihre Kollegin<br />
Enza Giunta aufmerksam<br />
machte. Enza Giunta,<br />
eine kleine, flinke Frau mit<br />
schwarzen Locken, hilft im<br />
Küchenbereich. Seit sie im Alter<br />
von acht <strong>Jahr</strong>en von einem<br />
LKW angefahren wurde, lebt<br />
sie mit einer starken Hör- und<br />
Sprachbehin<strong>der</strong>ung. „Es hat<br />
schon sechs bis acht Wochen<br />
gebraucht, bis ich Frau Giunta<br />
verstanden habe“, sagt<br />
Küchenchef Gagem, „inzwischen<br />
funktioniert <strong>das</strong> ganz<br />
gut, auch wenn wir Späße<br />
machen.“<br />
Omar Gagem ist ein geduldiger,<br />
in sich ruhen<strong>der</strong><br />
Mensch. Unter seiner Regie<br />
werden in <strong>der</strong> hochmo<strong>der</strong>nen<br />
und blitzblanken Mensaküche<br />
jeden Tag 750 Essen zubereitet.<br />
250 davon für den Mensabetrieb<br />
in <strong>der</strong> Schule, <strong>der</strong> Rest<br />
geht an an<strong>der</strong>e Betriebe. Beim<br />
Ausfahren sind auch Thomas<br />
Reuter, <strong>der</strong> eine Lernbeeinträchtigung<br />
hat, und Lesslie<br />
Mammah mit von <strong>der</strong> Partie.<br />
Mammah, gelernter Kfz-Mechaniker,<br />
stapelt gerade die<br />
leeren Thermoboxen von <strong>der</strong><br />
heutigen Auslieferung übereinan<strong>der</strong>.<br />
Der Mann aus Sierra<br />
Leone mit dem offenen Gesicht<br />
und den wachen Augen<br />
zählt 54 <strong>Jahr</strong>e, sieht aber<br />
jünger aus. Seine rechte Hand<br />
kann er nicht bewegen. „Das<br />
ist vor vielen <strong>Jahr</strong>en vor Korea<br />
passiert. Ich habe damals<br />
auf einem Schiff gearbeitet.<br />
Schwerpunk t > Arbeit<br />
küchenchef otmar Gagem (re.) im Gespräch mit Dirk Neumann.<br />
Bei einem Unfall wurde mir<br />
<strong>der</strong> Unterarm zerquetscht“,<br />
erzählt Lesslie Mammah, <strong>der</strong><br />
seit 26 <strong>Jahr</strong>en in Deutschland<br />
lebt und vier Kin<strong>der</strong> hat.<br />
Menschen wie Thomas Reuter,<br />
Enza Giunta und Lesslie<br />
Mammah haben es schwer,<br />
in einem gewöhnlichen Unternehmen<br />
beschäftigt zu<br />
werden. Frau Giunta hat als<br />
Friseurin angefangen, aber ihre<br />
Kommunikationsprobleme<br />
haben <strong>das</strong> mit <strong>der</strong> Zeit unmöglich<br />
gemacht. Thomas Reuter<br />
versuchte sich zunächst<br />
als Bäckerlehrling. Auch in<br />
einem Metallbaubetrieb hat<br />
er gearbeitet. Aber es gab<br />
immer Probleme. „Hier hab´<br />
ich mich von Anfang an wohl<br />
gefühlt. <strong>Die</strong> Kollegen akzeptieren<br />
mich, so wie ich bin“,<br />
sagt er.<br />
Sieben Betriebe in<br />
<strong>der</strong> Gastronomie<br />
„Zu uns kommen immer wie<strong>der</strong><br />
Leute, die in ihren früheren<br />
Betrieben aussortiert wurden,<br />
weil sie mit dem Druck und <strong>der</strong><br />
Geschwindigkeit nicht mehr<br />
klar kamen. Viele sind erst<br />
deswegen krank geworden“,<br />
berichtet Christoph Rohm,<br />
Prokurist <strong>der</strong> DK Integrationsbetriebe.<br />
Das Unternehmen unterhält<br />
sieben Filialen für gastronomische<br />
<strong>Die</strong>nstleistungen.<br />
Eine davon ist die Mensa in<br />
Neunkirchen-Seelscheid. Gut<br />
50 Prozent <strong>der</strong> insgesamt<br />
100 Angestellten bei den<br />
DKI sind Menschen mit einer<br />
Behin<strong>der</strong>ung. <strong>Die</strong> Tatsache,<br />
<strong>das</strong>s sich gewöhnliche Unternehmen<br />
nach wie vor schwer<br />
tun, Arbeitnehmer mit einer<br />
Behin<strong>der</strong>ung einzustellen,<br />
liegt nach Rohms Ansicht<br />
meist an Fehleinschätzungen<br />
und Vorurteilen: „Wenn ich<br />
Arbeitgeber auf die Thematik<br />
anspreche, bekomme ich oft<br />
zu hören: Lass mich damit in<br />
Ruhe, ich hab´ ganz an<strong>der</strong>e<br />
Sorgen. Viele befürchten zum<br />
Beispiel große Umbauaktionen.<br />
In den meisten Fällen<br />
ist <strong>das</strong> aber gar nicht nötig,<br />
und wenn, dann wird es ja<br />
bezuschusst.“<br />
Zusammenhalt<br />
stärkt <strong>das</strong> Team<br />
Der Mittagsbetrieb in <strong>der</strong><br />
Neunkirchener Mensa ebbt<br />
allmählich ab. Thomas Reuter<br />
rollt einen weiteren Tablettwagen<br />
in die Spülküche. Gemeinsam<br />
mit Kollege Mammah<br />
räumt er die Tabletts ab, schüttet<br />
Essensreste in eine große<br />
Abfalltonne und stellt Teller<br />
und Geschirr in den Spülautomaten.<br />
„Wir beide arbeiten<br />
gerne zusammen, wir nehmen<br />
aufeinan<strong>der</strong> Rücksicht“,<br />
erklärt Lesslie Mammah. Und<br />
Thomas Reuter dreht seinen<br />
Kopf zur Seite und sagt voller<br />
Überzeugung: „Ich freue mich<br />
jeden Tag, wenn ich aufstehe,<br />
auf die Arbeit. Und wenn<br />
ich nachmittags nach Hause<br />
fahre, freue ich mich schon auf<br />
den nächsten Tag.“<br />
Schätzen teamwork: thomas Reuter und Lesslie Mammah.
Der Traum von <strong>der</strong> Vollbeschäftigung<br />
scheint ausgeträumt.<br />
Dennoch sind nach<br />
Ansicht des Ökonomen Joachim<br />
Weimann die Chancen,<br />
mehr Stellen zu schaffen,<br />
längst nicht ausgeschöpft.<br />
Zum Beispiel durch neue<br />
Kombilohnmodelle und eine<br />
intelligentere Sozialpolitik.<br />
In vielen Län<strong>der</strong> arbeiten <strong>–</strong><br />
gemessen an <strong>der</strong> Gesamt-<br />
bevölkerung <strong>–</strong> mehr Menschen<br />
als in Deutschland.<br />
wie kommt es, <strong>das</strong>s<br />
Deutschland da hinterher<br />
hinkt?<br />
Ein Grund ist, <strong>das</strong>s <strong>der</strong> Anteil<br />
<strong>der</strong> Frauen, die arbeiten, bei<br />
uns immer noch niedriger ist<br />
als in an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>n. Ein<br />
zweiter Grund ist im Arbeitsmarkt<br />
für Geringqualifizierte<br />
zu suchen. Wir schaffen es<br />
nicht, diese Menschen in den<br />
Arbeitsprozess zu integrieren.<br />
Stattdessen streiten wir seit<br />
<strong>Jahr</strong>en nur darum, wie wir sie<br />
versorgen sollen und regen<br />
uns darüber auf, <strong>das</strong>s <strong>der</strong><br />
„Niedriglohnsektor“ zu klein<br />
ist. Da sind uns an<strong>der</strong>e Län<strong>der</strong><br />
voraus, die auch Menschen<br />
mit niedriger Bildung am Arbeitsmarkt<br />
eine echte Chance<br />
geben.<br />
Als Mitinitator <strong>der</strong> „Magdeburger<br />
Alternative“<br />
vertreten Sie ein kombilohnmodell<br />
zur Schaffung<br />
von Arbeitsplätzen im Niedriglohnsektor.<br />
wie soll <strong>das</strong><br />
funktionieren?<br />
Geringqualifizierte haben<br />
doch deshalb am Arbeitsmarkt<br />
keine echte Chance, weil ihre<br />
Arbeit gemessen an <strong>der</strong> Pro-<br />
duktivität einfach zu teuer ist.<br />
Ein Unternehmer stellt aber<br />
nur dann jemanden ein, wenn<br />
dessen Arbeit mindestens so<br />
viel einbringt, wie sie ihn<br />
kostet. Liegen die Kosten über<br />
dem, was <strong>der</strong> Arbeiter erwirtschaftet,<br />
kommt es nicht zur<br />
Beschäftigung. Das Problem<br />
ist, <strong>das</strong>s wir in Deutschland<br />
auch einfache Arbeit mit den<br />
vollen Sozialabgaben belasten.<br />
Das sind vom ersten<br />
Euro an 42 Prozent des Bruttoarbeitsentgelts.<br />
Das macht<br />
einfache Arbeit zu teuer. <strong>Die</strong><br />
Magdeburger Alternative for<strong>der</strong>t,<br />
die Bezieher geringer<br />
Löhne von <strong>der</strong> Last <strong>der</strong> Sozialabgaben<br />
zu befreien. Damit<br />
wird ihre Arbeit schlagartig<br />
um mehr als ein Drittel billiger,<br />
ohne <strong>das</strong>s <strong>der</strong> Nettolohn<br />
für den Einzelnen sinkt. Auch<br />
für den Staat lohnt sich <strong>das</strong>.<br />
Solange jemand arbeitslos ist,<br />
zahlt er we<strong>der</strong> in die Renten-<br />
o<strong>der</strong> Krankenversicherung<br />
ein, noch kann er aus eigener<br />
Kraft seinen Lebensunterhalt<br />
bestreiten.<br />
Und worin besteht <strong>der</strong> Anreiz<br />
für die Unternehmen?<br />
Wenn einfache Arbeit billiger<br />
wird, dann werden erstens<br />
ganz neue Produkte <strong>–</strong> vor<br />
allem einfache <strong>Die</strong>nstleistungen<br />
<strong>–</strong> entstehen und damit<br />
auch neue Betätigungsfel<strong>der</strong><br />
für Unternehmen. Zweitens<br />
wird sich dann allmählich<br />
auch die Produktionsweise<br />
verän<strong>der</strong>n, weil es dann vielfach<br />
wie<strong>der</strong> günstiger wird,<br />
Menschen arbeiten zu lassen,<br />
als Maschinen.<br />
Reichen diese Maßnahmen<br />
denn aus, um Massenarbeitslosigkeit<br />
abzubauen<br />
o<strong>der</strong> sogar Vollbeschäftigung<br />
zu erreichen?<br />
Wir sind sicher, <strong>das</strong>s die Magdeburger<br />
Alternative einen<br />
substanziellen Beitrag zum<br />
Abbau <strong>der</strong> Massenarbeitslosigkeit<br />
unter den Geringqualifizierten<br />
leisten könnte.<br />
Für Vollbeschäftigung reicht<br />
<strong>das</strong> nicht, aber es würde unseren<br />
Arbeitsmarkt und die<br />
öffentlichen Kassen massiv<br />
entlasten.<br />
Müsste sich hier nicht auch<br />
<strong>der</strong> Staat aktiver einbringen<br />
als bisher?<br />
Ja, aber eben nicht als <strong>der</strong> Almosen<br />
verteilende Staat, <strong>der</strong><br />
denen, die am Arbeitsmarkt<br />
durch <strong>das</strong> Raster gefallen<br />
sind, den Lebensunterhalt<br />
spendiert. <strong>Die</strong> Aufgabe besteht<br />
vielmehr darin, eine<br />
intelligente Sozialpolitik zu<br />
betreiben, um jenen, die nur<br />
mit einer geringen Produktivität<br />
ausgestattet sind, eine faire<br />
Chance zu geben.<br />
Bleiben bei diesem Modell<br />
nicht vor allem die qualifizierten<br />
Arbeitskräfte wie<br />
Facharbeiter und sogar<br />
hochschulabsolventen auf<br />
<strong>der</strong> Strecke?<br />
<strong>Die</strong> Magdeburger Alternative<br />
ist ein Instrument zur<br />
Bekämpfung <strong>der</strong> Arbeitslosigkeit<br />
Geringqualifizierter.<br />
Nicht mehr und nicht weniger.<br />
<strong>Die</strong> Probleme, die sich<br />
in an<strong>der</strong>en Segmenten des<br />
Arbeitsmarktes stellen, lassen<br />
sich damit nicht beheben.<br />
Aber angesichts eines Anteils<br />
von annähernd 40 Prozent<br />
Langzeitarbeitslosen, von denen<br />
die meisten gering qualifiziert<br />
sind, wäre schon viel<br />
gewonnen.<br />
März <strong>2010</strong> 19<br />
„Faire Beschäftigungschancen für alle“<br />
wirtschaftswissenschaftler will mit <strong>der</strong> „Magdeburger Alternative“ mehr Arbeitsplätze schaffen<br />
„Vollbeschäftigung“<br />
bedeutet nichts an<strong>der</strong>es als<br />
<strong>das</strong>s je<strong>der</strong> etwas dazu beitragen<br />
muss, damit sich unsere<br />
„Lebensqualität“ verbessert.<br />
Welche „Arbeiten“<br />
o<strong>der</strong> „Beschäftigungen“<br />
<strong>das</strong> sein werden, bestimmt<br />
allein <strong>der</strong> Mensch. Damit<br />
<strong>das</strong>s auch so ist, müssen die<br />
erbrachten Leistungen auch<br />
bei den Menschen bleiben.<br />
Eckhard Bock<br />
3 die<strong>Gesellschafter</strong>.de<br />
Foto: picture alliance<br />
Schwerpunk t > Arbeit<br />
Neues konzept: Einfache Arbeiten sollen billiger werden, um Geringqualifizierten eine chance zu geben.<br />
Ihr Buch trägt den titel<br />
„Arbeit ist machbar“. Das<br />
klingt verhältnismäßig<br />
simpel.<br />
Natürlich ist es nicht simpel.<br />
<strong>Die</strong> Magdeburger Alternative<br />
ist ein durchaus komplexer<br />
Vorschlag. Sie sieht einige<br />
wichtige Regelungen vor, um<br />
beispielsweise zu verhin<strong>der</strong>n,<br />
<strong>das</strong>s Unternehmen einfach<br />
Arbeitslose einstellen, die von<br />
den Sozialabgaben befreit<br />
sind, und gleichzeitig Beschäftigte<br />
entlassen, um so<br />
die Sozialabgeben insgesamt<br />
zu sparen.<br />
Und wenn es trotz allem<br />
nicht gelingt, mehr Arbeit<br />
zu schaffen?<br />
<strong>Die</strong> Alternative wäre die<br />
dauerhafte finanzielle Unterstützung<br />
von mehr als drei bis<br />
vier Millionen Arbeitslosen<br />
durch jene, die beschäftigt<br />
sind. Das sollte man sich nicht<br />
wünschen.<br />
wie können Menschen ohne<br />
Job aktiv ihre chancen auf<br />
einen Arbeitsplatz verbessern?<br />
Nach wie vor gilt, <strong>das</strong>s eine<br />
gute und qualifizierte Ausbildung<br />
<strong>der</strong> beste Schutz vor Arbeitslosigkeit<br />
ist. Deshalb gewinnt<br />
auch die Weiterbildung,<br />
die neben dem Beruf erfolgt,<br />
immer mehr an Bedeutung.<br />
Das Problem ist, <strong>das</strong>s viele<br />
Menschen auch durch massive<br />
För<strong>der</strong>ung ihre Produktivität<br />
nicht nachhaltig steigern<br />
können. Unsere Aufgabe ist<br />
es, auch denen zu einer fairen<br />
Chance zu verhelfen.<br />
Interview: Joachim Merkl<br />
prof. Weimann<br />
Joachim Weimann ist<br />
Professor für Volkswirtschaftslehre<br />
an <strong>der</strong> Universität<br />
Magdeburg und<br />
Mitbegrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> „Magdeburger<br />
Alternative“.
20 März <strong>2010</strong><br />
„Mädchen haben mehr Chancen“<br />
Der Bildungssoziologe Martin Baethge for<strong>der</strong>t bessere Berufsvorbereitung von Schulabgängern<br />
prof. baethge<br />
Prof. Dr. Martin Baethge<br />
ist Präsident des SoziologischenForschungsinstituts<br />
(Sofi) an <strong>der</strong> Universität<br />
Göttingen.<br />
Der Ausbildungsmarkt sortiert<br />
aus. Jugendliche werden<br />
„geparkt“. was ist zu tun?<br />
<strong>Die</strong> Übergänge zwischen<br />
Schule und Beruf müssen<br />
besser und flexibler gestaltet<br />
werden: Momentan sind<br />
400.000 bis 500.000 Jugendliche<br />
im Übergangssystem<br />
„verwahrt“, befinden<br />
sich also zum Beispiel in<br />
Berufsgrundschuljahren o<strong>der</strong><br />
Berufsvorbereitungsjahren.<br />
<strong>Die</strong>se Zeiten werden nicht<br />
auf eine Ausbildung angerechnet,<br />
bereiten nicht zielgerichtet<br />
auf einen Beruf vor.<br />
Schwerpunk t > Arbeit<br />
Auf <strong>der</strong> Startbahn in den Job<br />
Mit Eigeninitiative, Engagement und ein bisschen Glück: Jugendliche auf ihrem weg in den Beruf<br />
Von Ursula Porwol<br />
„Dumm, faul, verantwortungslos“,<br />
meinen die<br />
einen <strong>–</strong> „flexibel, aufgeschlossen,<br />
motiviert“,<br />
sagen die an<strong>der</strong>en. Das<br />
Thema Auszubildende wird<br />
sehr emotional diskutiert.<br />
Feststeht: Je niedriger <strong>der</strong><br />
Schulabschluss, desto<br />
schwieriger ist <strong>der</strong> Start ins<br />
Arbeitsleben. Ein Haupt-,<br />
ein Realschüler, eine Abiturientin<br />
und ein Hochschulabsolvent<br />
berichten.<br />
Der Friseur:<br />
Chancen nutzen<br />
Hauptschulabsolvent Alper<br />
Tamer ist glücklich: Im vergangenen<br />
Sommer ruft Friseurmeister<br />
Robert Fuhs ihn<br />
an und teilt sachlich mit, sein<br />
neuer Chef zu sein. Der in<br />
Deutschland geborene Sohn<br />
einer türkischen Familie ist<br />
am Ziel. Eine Lehrstelle in<br />
seinem Wunschberuf Friseur.<br />
Alper hat dafür gekämpft. Er<br />
besuchte die Hauptschule in<br />
Meckenheim und erzählt von<br />
<strong>der</strong> Unterstützung, die er auch<br />
von seinen Lehrern bekommen<br />
hat. „Wir haben gelernt,<br />
uns auf dem Arbeitsmarkt<br />
kundig zu machen.“ Sein Tipp<br />
ist Eigeninitiative. „Ich habe<br />
mehrere Praktika absolviert.“<br />
Unter an<strong>der</strong>em auch bei<br />
Friseur Fuhs, <strong>der</strong> sich seinen<br />
potenziellen Auszubildenden<br />
Fotos: Michael Bause<br />
Alper tamer hat endlich einen Ausbildungsplatz.<br />
mehrmals zum Probearbeiten<br />
ins Geschäft holte, vor allem<br />
um eines zu beurteilen: Das Interesse<br />
an dem Beruf. Viele seiner<br />
Kollegen nähmen nur noch<br />
Auszubildende, die mindestens<br />
einen Realschulabschluss in die<br />
Waagschale werfen könnten.<br />
„Völliger Quatsch“, findet Fuhs,<br />
<strong>der</strong> beim Zentralverband des<br />
Deutschen Friseurhandwerks<br />
den Berufsbildungs-Ausschuss<br />
leitet. Er ortet <strong>das</strong> Problem<br />
auch bei den Betrieben, die<br />
<strong>Die</strong> Jugendlichen verharren<br />
in Perspektivlosigkeit und<br />
reagieren auf die „Aufbewahrung“<br />
demotiviert. Gute<br />
Erfahrungen wurden in Bayern<br />
etwa mit „Praktikumsklassen“<br />
gemacht: schulmüde<br />
Jugendliche gehen zwei Tage<br />
wöchentlich in Betriebe, <strong>das</strong><br />
kognitive Niveau dieser Klassen<br />
ist etwas niedriger <strong>–</strong> dafür<br />
steigt aber die Motivation.<br />
wie kann die allgemeinbildende<br />
Schule unterstützen?<br />
Beson<strong>der</strong>s die Hauptschule<br />
muss ein höheres Niveau er-<br />
<strong>Die</strong> Berufswahl fiel christoph Brassel schwer.<br />
Jugendliche „unterstützen<br />
müssen, wenn Defizite da<br />
sind.“ Auch Hauptschüler<br />
könnten mit Lernbereitschaft<br />
viel erreichen, unentbehrlich<br />
aber seien die überfachlichen<br />
Qualifikationen, also etwa<br />
reichen und noch stärker bei<br />
<strong>der</strong> Berufsorientierung helfen,<br />
etwa durch Integration zusätzlicher<br />
praktischer Phasen<br />
in Unternehmen. Das für die<br />
Berufsentscheidung erfor<strong>der</strong>liche<br />
Maß an Eigeninitiative<br />
bringen nicht alle Jugendlichen<br />
selbstständig auf. Jungen haben<br />
übrigens größere Schwierigkeiten<br />
im Schulsystem als<br />
Mädchen, die <strong>das</strong> entschieden<br />
bessere Bildungsniveau haben.<br />
<strong>Die</strong> Mädchen hängen die<br />
Jungen ab?<br />
Mädchen haben auch deut-<br />
Verantwortungsbewusstsein<br />
und Teamorientierung. Alper<br />
Tamer, <strong>der</strong> gutaussehende junge<br />
Mann mit dem schmalen<br />
Bartstreifen und <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen<br />
schwarzen Hornbrille, nutzt<br />
seine Chance: Charmant regelt<br />
lich mehr Optionen auf dem<br />
Ausbildungsmarkt als Jungen.<br />
<strong>Die</strong> Entwicklung des<br />
Arbeitsmarktes hin zu <strong>Die</strong>nstleistungsberufen,<br />
wie etwa im<br />
Pflegebereich, ist positiv. In<br />
den klassischen Facharbeiterberufen,<br />
die Jungen vorziehen,<br />
sind die Angebote drastisch zurückgegangen.<br />
Das ist einer <strong>der</strong><br />
Gründe, warum 60 Prozent <strong>der</strong><br />
Jugendlichen im Übergangssystem<br />
Jungen sind. Zukünftig<br />
muss es heißen: „Männer in<br />
Frauenberufe“.<br />
Interview: Ursula Porwol
er die Termine, serviert Kaffee<br />
und schneidet auch schon<br />
Haare <strong>–</strong> allerdings erst an Modellen,<br />
so wie es sich im ersten<br />
Lehrjahr gehört.<br />
Der Kaufmann:<br />
Auf Umwegen zum Ziel<br />
Christoph Brassel, 21 <strong>Jahr</strong>e,<br />
hat schon eine kleine Odyssee<br />
hinter sich. Das mit dem Realschulabschluss<br />
klappt noch<br />
ganz gut. Aber die eigenen<br />
Fähigkeiten einschätzen können?<br />
Das hat nicht auf Anhieb<br />
hingehauen. Es gibt auch einfachere<br />
Dinge, als sich auf dem<br />
Arbeitsmarkt orientieren zu<br />
müssen. „Allein seit 1996 sind<br />
80 Ausbildungsberufe neu erfunden<br />
worden“, sagt Joachim<br />
Ulrich vom Bundesinstitut<br />
für Berufsbildung (BiBB). Für<br />
Christoph Brassel zu viele Entscheidungsmöglichkeiten.<br />
Der<br />
Computerfan will zunächst<br />
aus seinem Hobby einen Beruf<br />
machen, geht ein <strong>Jahr</strong> auf<br />
eine Informatik-Fachschule,<br />
bis ihm klar wird, „<strong>das</strong> ist es<br />
nicht“. Also Neustart. Es folgen<br />
Praktika als Koch, Raumausstatter<br />
und Verkäufer. <strong>Die</strong> Orientierungsangebote<br />
<strong>der</strong> Schule<br />
waren zwar da, aber die Entscheidung<br />
über die Richtung<br />
des zukünftigen Lebens muss<br />
<strong>der</strong> Jugendliche selbst fällen.<br />
Er bewirbt sich bei Knauber,<br />
einem großen Freizeitmarkt,<br />
als Kaufmann im Einzelhandel<br />
<strong>–</strong> und beweist schon in seinem<br />
ersten Lehrjahr, <strong>das</strong>s er genau<br />
<strong>der</strong> Richtige ist. Begeistert<br />
berichtet er von dem Gefühl,<br />
dazuzugehören. Brassel hat<br />
sich seine Ausbildungsstelle<br />
erkämpft, dafür musste er sich<br />
gehörig auf den Zahn fühlen<br />
lassen. Ausbildungsleiterin<br />
Gabi Dumjahn erläutert <strong>das</strong><br />
Verfahren, <strong>das</strong> alle Bewerber<br />
absolvieren müssen: „Bewerbungsunterlagen,Gruppendiskussion,<br />
Rollenspiele, Einzelinterviews,Schnupperarbeiten.<br />
„Mein Herz hat bis zum<br />
Hals gepocht“, erinnert sich<br />
Christoph Brassel, <strong>der</strong> heute<br />
im Sanitär- und Elektrobereich<br />
eingesetzt ist. Gabi Dumjahn<br />
achtet auf die Einstellung <strong>der</strong><br />
Jugendlichen. „Für uns ist auch<br />
<strong>der</strong> Umgang mit den Kunden<br />
entscheidend. <strong>Die</strong> Auszubildenden<br />
müssen es wollen. Alles<br />
an<strong>der</strong>e kann man lernen!“<br />
<strong>Die</strong> Krankenschwester:<br />
Lebenslang lernen<br />
Wo soll es nach dem Abi hingehen?<br />
<strong>Die</strong> heute 22-jährige<br />
Madeleine Rüdiger fühlt sich<br />
in ihrer Schulzeit in Lörrach<br />
Engagiert in <strong>der</strong> krankenpflege: Madeleine Rüdiger.<br />
Schwerpunk t > Arbeit<br />
<strong>der</strong> Biologie zugetan, „ <strong>das</strong> war<br />
auch einer meiner Leistungskurse“.<br />
Sie nimmt schon als<br />
Schülerin Kontakt mit Laboren<br />
auf, schnuppert dort in<br />
den Ferientagen rein. Schnell<br />
zeigt sich: „Das ist es nicht.“<br />
Den ganzen Tag allein mit Reagenzgläsern<br />
unter Neonlampen<br />
stehen. Das kann sie sich<br />
beim besten Willen „nicht für<br />
<strong>das</strong> ganze Leben“ vorstellen.<br />
Sie geht in an<strong>der</strong>e Bereiche,<br />
macht Praktika: Physiotherapie,<br />
Datenanalyse und Servicekraft<br />
in einem Restaurant.<br />
Alles nichts. Dann beginnt sie<br />
im Herbst 2008 eine Ausbildung<br />
in <strong>der</strong> Gesundheits- und<br />
Krankenpflege <strong>der</strong> Uni-Klinik<br />
Köln. <strong>Die</strong> zierliche Frau mit den<br />
dunklen, kurzgeschnittenen<br />
Haaren zieht vom Süden ins<br />
Rheinland. Und wirft sich ins<br />
Berufsleben. Sechs Wochen<br />
Schule, sechs Wochen Station<br />
<strong>–</strong> anstrengend, aber ihre braunen<br />
Augen leuchten, wenn sie<br />
von ihrem Beruf erzählt, und<br />
lassen <strong>das</strong> Engagement <strong>der</strong><br />
jungen Krankenpflegeschülerin<br />
erahnen. Außerdem wisse<br />
sie jetzt ganz genau, was sie<br />
wolle: eine solide Ausbildung,<br />
die Möglichkeiten des Aufstiegs<br />
böte. Ihr Leben mit 30<br />
<strong>Jahr</strong>en? Ganz klar, weiterbilden.<br />
Bis zur Rente tagtäglich<br />
auf die gleiche Station gehen,<br />
dort die Schicht absolvieren<br />
und <strong>das</strong> war es? „Nein, ich<br />
werde meine Optionen im<br />
Schwesternberuf nutzen.“ <strong>Die</strong><br />
Ausbildungsleiterin <strong>der</strong> Uni-<br />
Klinik Köln, Susanne Hombach-Böhnke,<br />
macht es sich<br />
nicht einfach mit <strong>der</strong> Auswahl<br />
passen<strong>der</strong> Bewerber. Bis zu<br />
1200 Interessenten schickten<br />
ihre Bewerbung, 90 würden<br />
ausgewählt.<br />
Der Diplom-Kaufmann:<br />
Fit für die Spitze<br />
<strong>Die</strong> zukünftigen Führungskräfte<br />
<strong>der</strong> Telekom werden<br />
beson<strong>der</strong>s gehegt. Caglar Bilgin,<br />
26 <strong>Jahr</strong>e, in Deutschland<br />
geborener Sohn türkischer<br />
Einwan<strong>der</strong>er, ist einer von<br />
ihnen. Dunkler Anzug, dezent<br />
rose-farbenes Hemd, gestreifte<br />
Krawatte. Äußerlich<br />
schon Top-Manager. Und innerlich<br />
auf dem Weg dorthin,<br />
obwohl er bescheiden verkündet:<br />
Nicht je<strong>der</strong> Teilnehmer<br />
des „Start-up!“-Programms<br />
<strong>der</strong> Telekom kann Führungskraft<br />
werden. Aber Start-up!<br />
sieht genau <strong>das</strong> vor: 50 Menschen<br />
mit Führungspotenzial<br />
werden aus 4.400 Bewerbern<br />
herausgefiltert. Alle haben einen<br />
akademischen Abschluss.<br />
Das Studium zum Diplom-<br />
Kaufmann an <strong>der</strong> Uni Köln<br />
„war gut“. Berufsorientierung<br />
am Gymnasium in Nie<strong>der</strong>kassel?<br />
„Gab es bestimmt“, meint<br />
Caglar Bilgin, erinnern könne<br />
er sich aber nicht wirklich.<br />
<strong>Die</strong> akademische Ausbildung<br />
könne nur Theorie<br />
vermitteln, <strong>der</strong> Rest käme im<br />
Unternehmen. Bilgin bereitet<br />
momentan Präsentationen für<br />
den Vorstand vor. Seine Schul-<br />
und Unikarriere ist glatt, beinahe<br />
wie aus dem Lehrbuch.<br />
Sogar <strong>das</strong> soziale Engagement<br />
fehlt nicht. „Nur studieren<br />
reicht nicht. <strong>Die</strong> eigene Persönlichkeit<br />
zu entwickeln ist<br />
wichtig.“<br />
März <strong>2010</strong> 21<br />
will sich bei <strong>der</strong> telekom weiterentwickeln: caglar Bilgin.<br />
In Bezug auf die Erwartungen<br />
an die Ausbildungspraxis<br />
zeigt sich,<br />
<strong>das</strong>s die Auszubildenden<br />
hohen Wert darauf legen,<br />
in den Betrieben „echte<br />
Arbeit“ zu leisten und dabei<br />
auch Verantwortung<br />
zu übernehmen. Hierfür<br />
sind sie häufig auch bereit,<br />
Belastungen wie Überstunden<br />
auf sich zu nehmen. In<br />
„Ein zentraler Punkt“, unterstreicht<br />
Bilgins Mentor, Christoph<br />
Hör<strong>der</strong>, Leiter Konzerncontrolling<br />
für die Bereiche Regulierung<br />
und Personal. „Wir<br />
achten bei <strong>der</strong> Auswahl für <strong>das</strong><br />
Start-up!-Programm sehr auf<br />
die Persönlichkeit. <strong>Die</strong> Zeugnisse<br />
sind nur die Eintrittskarte,<br />
wir sind nicht auf Einser-Absolventen<br />
beschränkt.“<br />
Caglar Bilgin freut sich<br />
schon auf seinen Auslandsaufenthalt<br />
bei T-Mobile in Seattle.<br />
An <strong>der</strong> Uni in San <strong>Die</strong>go war er<br />
schon während des Studiums.<br />
Und plötzlich ist er nicht mehr<br />
busy, son<strong>der</strong>n einfach ein<br />
junger Mann, <strong>der</strong> sich freudig<br />
daran erinnert, <strong>das</strong>s er in San<br />
<strong>Die</strong>go am „22. Dezember noch<br />
surfen konnte“.<br />
den Antworten <strong>der</strong> Auszubildenden<br />
wird allerdings<br />
auch deutlich, <strong>das</strong>s sie ihre<br />
Leistungsbereitschaft an<br />
Bedingungen knüpfen: Es<br />
ist ihnen wichtig, nicht nur<br />
in die Arbeitsabläufe, son<strong>der</strong>n<br />
auch in den Kollegenkreis<br />
integriert zu werden.<br />
Andreas krewerth<br />
3 die<strong>Gesellschafter</strong>.de
22 März <strong>2010</strong><br />
Von Jutta vom Hofe<br />
In Bremen attackiert eine<br />
Handvoll Aktivisten die herrschende<br />
Arbeitsmoral. Ihr<br />
Verein nennt sich Otium <strong>–</strong><br />
Initiative zur Rehabilitation<br />
von Muße und Müßiggang.<br />
Seit zehn <strong>Jahr</strong>en kämpfen die<br />
Mitglie<strong>der</strong> von Otium (lat. für<br />
Muße) nun schon für mehr<br />
Pausen, Einkehr und einen<br />
entspannteren Alltag. Ihre<br />
Waffen: Lesungen, Vorträge,<br />
Happenings. Ihr größter<br />
Feind: <strong>der</strong> Acht-Stunden-Tag.<br />
An vor<strong>der</strong>ster Front: Felix<br />
Quadflieg, 51 <strong>Jahr</strong>e alt und<br />
einer <strong>der</strong> Vereinsgrün<strong>der</strong>.<br />
Sind Sie ein Müßiggänger?<br />
Lei<strong>der</strong> noch nicht. Aber ich<br />
versuche mein Bestes.<br />
wie wollen Sie Sie Ihrem<br />
Ziel näher kommen?<br />
Ich habe eine halbe Stelle als<br />
Lehrer. So habe ich mehr Zeit<br />
fürs Theaterspielen, meine<br />
Lesungen für Otium, zum<br />
Nachdenken o<strong>der</strong> einfach fürs<br />
Nichtstun. Dafür verzichte ich<br />
auf Einkommen, lebe aber genussvoller,<br />
habe einfach mehr<br />
Lebensqualität.<br />
warum ist Müßiggang für<br />
Sie und Ihren Verein so<br />
wichtig?<br />
In unserer Gesellschaft definiert<br />
sich je<strong>der</strong> nur über<br />
Arbeit. Wer nicht sehr viel<br />
im Beruf leistet, ist mit sich<br />
unzufrieden und wird gesellschaftlich<br />
geächtet. Er o<strong>der</strong> sie<br />
gilt als überflüssig und fühlt<br />
sich auch so. Überall wird man<br />
auf Effizienz getrimmt, sogar<br />
in <strong>der</strong> Freizeit und im Urlaub<br />
geht es um Leistung. Zu diesem<br />
Denken passt es, <strong>das</strong>s zum<br />
Beispiel auch Hartz-IV-Empfänger<br />
zur Arbeit gezwungen<br />
werden sollen <strong>–</strong> und wenn sie<br />
die städtischen Grünanlagen<br />
Schwerpunk t > Arbeit<br />
„Faulheit ist nichts Schlechtes“<br />
Gegen die Idealisierung von Arbeit <strong>–</strong> Bremer Verein setzt sich für die För<strong>der</strong>ung des Müßiggangs ein<br />
„<br />
Foto: picture alliance<br />
fegen. Das wichtigste im Leben<br />
ist aber, mit Freude und<br />
Muße zu leben. Und Zeit zu<br />
haben, sich weiter zu entwickeln,<br />
eigene Fähigkeiten zu<br />
entdecken, die über den Job<br />
hinausgehen. Wir möchten,<br />
<strong>das</strong>s <strong>das</strong> Innehalten endlich<br />
wertgeschätzt wird. Arbeit<br />
darf nicht mehr <strong>der</strong> einzige Zugang<br />
zu Sinn, Status und Geld<br />
sein. Zur Zeit ist es bei uns so,<br />
<strong>das</strong>s die Leute ohne Arbeit gar<br />
nicht mehr leben können.<br />
können Sie denn ohne leben?<br />
Nee, könnte ich nicht. Das<br />
wollte ich auch gar nicht. Aber<br />
ich möchte Arbeit und Muße<br />
in meinem Leben an<strong>der</strong>s gewichten<br />
als <strong>das</strong> üblicherweise<br />
<strong>der</strong> Fall ist. Muße und Müßiggang<br />
sollten wie<strong>der</strong> als <strong>der</strong><br />
Ausgangspunkt menschlichen<br />
Seins benannt werden. Heute<br />
Müßiggang ist aller<br />
Laster Anfang und aller<br />
entscheidenden Fähigkeiten<br />
Ursprung, Prüfung<br />
und Lohn.<br />
Heimito von Do<strong>der</strong>er (1896 <strong>–</strong> 1966)<br />
otium e.V. rät allen Zeitgenossen, öfters mal auszuspannen.<br />
“<br />
hat man fast vergessen, <strong>das</strong>s<br />
<strong>das</strong> Ziel allen menschlichen<br />
Trachtens war, mit technischen<br />
Erfindungen <strong>das</strong> Leben zu<br />
erleichtern, also sich von <strong>der</strong><br />
Bürde <strong>der</strong> Arbeit zu befreien.<br />
Selbst beim oft missverstandenen<br />
Marx bedeutet Arbeit<br />
ja Mittel zum Zweck ihrer<br />
Überwindung und nicht etwa<br />
Selbstzweck, geschweige denn<br />
menschliche Bestimmung.<br />
warum sprechen Sie nicht<br />
von Faulheit?<br />
Ich habe nichts gegen Faulheit,<br />
<strong>das</strong> ist nichts Schlechtes.<br />
Je<strong>der</strong> Mensch sollte ein Recht<br />
auf Faulheit haben. Aber <strong>der</strong><br />
Mensch ist nicht darauf angelegt,<br />
nur faul zu sein. Das ist<br />
letztlich unbefriedigend. Er<br />
will sich betätigen, selbst erfahren,<br />
entwickeln. Aber man<br />
kann eben auch mit Muße tätig<br />
sein. Muße ist nicht <strong>das</strong>selbe<br />
wie Faulheit, aber Faulheit ist<br />
auch ein Teil von Muße.<br />
Gibt es einen Unterschied<br />
zwischen „tätigkeit“ und<br />
„Arbeit“?<br />
Wenn ich mich in einer Tätigkeit<br />
verliere, dann ist es für<br />
mich nicht mehr Arbeit. Dann<br />
kann ich auch mal Tag und<br />
Nacht an etwas sitzen. Wenn<br />
ich <strong>das</strong>, was ich tue, aber in<br />
Geld und Stunden umrechne,<br />
dann ist es Arbeit.<br />
was sagen eigentlich arbeitslose<br />
Menschen zu<br />
Ihren Vereinszielen?<br />
Einige finden es toll. Bei an<strong>der</strong>en<br />
ernten wir allerdings<br />
wütenden Protest. Sie fühlen<br />
sich missverstanden und nicht<br />
ernst genommen.<br />
wer sind eigentlich die Mitglie<strong>der</strong><br />
in Ihrem Verein?<br />
Rentner, ein ehemaliger Ingenieur,<br />
ein frühpensionierter<br />
Lehrer, jemand von einem<br />
Hospizdienst, eine Theaterpädagogin.<br />
„<br />
keine Manager o<strong>der</strong><br />
Selbstständigen?<br />
In Unternehmen und Managerkreisen<br />
gibt es durchaus Interesse<br />
an unserem Thema. Wir<br />
werden zum Beispiel von großen<br />
Firmen zu Vorträgen eingeladen.<br />
Unvergessen ist eine<br />
Wortmeldung einer Managerin<br />
eines großen Autokonzerns, die<br />
meinte, für sie wäre es unmöglich,<br />
auch nur 14 Tage Urlaub im<br />
<strong>Jahr</strong> zu nehmen. Dann würde<br />
je<strong>der</strong> sagen, wer sich <strong>das</strong> leisten<br />
kann, ist überflüssig.<br />
wie soll denn <strong>der</strong> Müßiggang<br />
<strong>der</strong> Menschen finanziert<br />
werden?<br />
Geld ist genug da. Das haben wir<br />
nicht zuletzt in <strong>der</strong> Finanzkrise<br />
gesehen. O<strong>der</strong> schauen Sie sich<br />
Über otium<br />
„Wir können nur noch<br />
in den tiefsten Erinnerungsschichten<br />
erahnen,<br />
was Muße, Müßiggang<br />
einmal gewesen sind. <strong>Die</strong><br />
beiden Begriffe haben einen<br />
enormen Wertewandel<br />
durchlaufen. Sicher<br />
seit Martin Luther werden<br />
die Tugenden <strong>der</strong> Muße<br />
und des Müßiggangs<br />
systematisch zu Lastern<br />
umgemünzt. Seitdem etwa<br />
heißt es, <strong>das</strong>s <strong>der</strong> Müßiggang<br />
aller Laster Anfang<br />
sei. Muße sollte unserer<br />
Meinung nach aber wie<strong>der</strong><br />
als <strong>der</strong> Ausgangspunkt<br />
menschlichen Seins benannt<br />
werden.“<br />
die obszön hohen Gehälter von<br />
manchen Managern, manchen<br />
Sportlern o<strong>der</strong> Künstlern an.<br />
<strong>Die</strong>se Menschen können <strong>das</strong><br />
Geld, <strong>das</strong> sie verdienen, gar<br />
nicht ausgeben. Sie haben auch<br />
gar nicht die Zeit dazu. Statt <strong>das</strong><br />
Geld - wie in den letzten <strong>Jahr</strong>en<br />
geschehen - von unten nach<br />
oben zu verteilen, sollte man<br />
von oben nach unten verteilen.<br />
Nie wie<strong>der</strong><br />
Vollbeschäftigung <strong>–</strong> wir haben<br />
Besseres zu tun!<br />
Ulrich Beck (1844)<br />
“<br />
Ich plädiere deshalb auch für<br />
ein bedingungsloses Grundeinkommen.<br />
Je<strong>der</strong> soll auch ohne<br />
Arbeit leben dürfen.<br />
Glauben Sie nicht, <strong>das</strong>s <strong>das</strong><br />
ausgenutzt werden könnte?<br />
Nein, weil es einfach ein Bedürfnis<br />
des Menschen ist, sich<br />
zu betätigen. Man sollte dies<br />
nur nicht erzwingen. Das beraubt<br />
die Menschen ihrer Kreativität,<br />
macht sogar krank. Den<br />
Raubbau sehen wir auch in <strong>der</strong><br />
Natur, im Verbrauch unserer<br />
Ressourcen. Je<strong>der</strong> Mensch,<br />
<strong>der</strong> viel arbeiten will, sollte es<br />
tun. Aber je<strong>der</strong> sollte auch mit<br />
demselben Recht und Respekt<br />
nichts tun dürfen.<br />
www.otium-bremen.de
Hürdenlauf am Stock<br />
In kiel testen Verwaltungsmitarbeiter, wie behin<strong>der</strong>tenfreundlich die Stadt ist<br />
Von Esther Geißlinger<br />
Je<strong>der</strong> Bürgersteig neigt sich<br />
<strong>der</strong> Straße zu. Muss so<br />
sein, damit <strong>der</strong> Regen sich<br />
nicht sammelt. Ist mir nie<br />
aufgefallen, aus Fußgängerperspektive.<br />
Jetzt reißt<br />
die unsichtbare Neigung an<br />
meinen Schultern, meinem<br />
Armen. Ich kämpfe, aber<br />
ich rolle unhaltbar <strong>der</strong> Straße<br />
entgegen. Kurz bevor<br />
ich über die Bordsteinkante<br />
kippe, steuere ich<br />
mit vollem Körpereinsatz<br />
gegen. „Nicht mit den Füßen“,<br />
sagt Sabine Dittmann<br />
streng. Richtig, <strong>das</strong> darf ich<br />
nicht. Denn ich bin, ein paar<br />
Stunden lang, Rollstuhlfahrerin,<br />
und Sabine Dittmann<br />
zeigt mir, wie <strong>das</strong> geht.<br />
<strong>Die</strong> 44-Jährige sitzt selbst<br />
im Rollstuhl, eine schlanke,<br />
sportliche Frau <strong>–</strong> meist fährt<br />
sie per Handbike durch Kiel<br />
und misst hauptberuflich die<br />
Stadt für die Neuausgabe<br />
eines Rollstuhl-Stadtführers<br />
aus. Dittmann ist Fachfrau für<br />
Rampen und behin<strong>der</strong>tengerechte<br />
Klos, kennt sich aus mit<br />
Treppen und Kanten, die <strong>das</strong><br />
Leben mit Rollstuhl, Rollator<br />
o<strong>der</strong> an Krücken erschweren.<br />
Sie weiß natürlich auch über<br />
<strong>das</strong> Gefälle Bescheid, <strong>das</strong> in<br />
jeden Bürgersteig eingebaut<br />
ist. Nur ein o<strong>der</strong> zwei Grad<br />
<strong>–</strong> aber ich fahre Schlangenlinien.<br />
Rainer Bohn dagegen<br />
hat den Trick schon raus:<br />
„Gegenlenken, wie beim Paddeln!“,<br />
sagt <strong>der</strong> 55-Jährige,<br />
<strong>der</strong> im Kieler Tiefbauamt ar-<br />
Ich möchte erleben,<br />
wie ein Rollstuhlfahrer<br />
vor dem Aufzug steht und<br />
die Leute für ihn aussteigen<br />
und <strong>das</strong> Treppenhaus<br />
benutzen! Erläuterung:<br />
Während eines Urlaubes<br />
auf einem Kreuzfahrtschiff<br />
standen wir in einem vollen<br />
Aufzug. Der Fahrstuhl hielt<br />
und für den Rollstuhlfahrer,<br />
<strong>der</strong> rein wollte, war<br />
kein Platz. Keiner, auch wir<br />
nicht, stieg aus.<br />
Andreas Man<strong>der</strong>feld<br />
3 die<strong>Gesellschafter</strong>.de<br />
Fotos: Esther Geisslinger<br />
Sabine Dittman, Fachfrau für Rollstuhlfahrer.<br />
beitet. Und noch etwas hat er<br />
gelernt: „Bei langen Rampen<br />
muss man Pausen machen,<br />
also geht es gar nicht ohne<br />
Plateaus.“<br />
Hin<strong>der</strong>nisse<br />
entdecken<br />
Eben solche Dinge sind es, die<br />
Maria Pötter, in <strong>der</strong> Verwaltung<br />
zuständig für barrierefreies<br />
Bauen, vermitteln möchte. <strong>Die</strong><br />
Stadt Kiel tut einiges, damit<br />
Menschen mit Behin<strong>der</strong>ungen<br />
sich eigenständig bewegen<br />
können. So gibt es einen Beirat,<br />
dem Menschen mit unterschiedlichen<br />
Behin<strong>der</strong>ungen<br />
angehören. Das Gremium steht<br />
<strong>der</strong> „Beratungsstelle für barrierefreies<br />
Bauen“ zur Seite, die<br />
bei städtischen Baumaßnahmen<br />
ein Wörtchen mitzureden<br />
hat und Privatleute gebührenfrei<br />
berät. Wenn Hin<strong>der</strong>nisse<br />
auffallen <strong>–</strong> bei Begehungen<br />
o<strong>der</strong> weil sich jemand beschwert<br />
<strong>–</strong> versucht die Stadt,<br />
sie zu beheben. Jährlich stehen<br />
dafür 150.000 Euro zur Verfügung:<br />
Das reicht immerhin, um<br />
Kleinigkeiten zu verbessern.<br />
Hin und wie<strong>der</strong> lädt Pötter<br />
die Fachleute <strong>der</strong> Verwaltung<br />
Engagement<br />
ein zu erleben, wie sich ihre<br />
Stadt aus Rollstuhlperspektive<br />
o<strong>der</strong> am Blindenstock anfühlt.<br />
Denn was dem einen hilft, ist<br />
für den an<strong>der</strong>en ein Problem:<br />
Wird ein Bordstein auf Null abgesenkt,<br />
wie Rollstuhlfahrer es<br />
wünschen, stehen Blinde ohne<br />
Vorwarnung auf <strong>der</strong> Straße:<br />
„Und dann ist <strong>das</strong> nächste Auto<br />
meins“, sagt Hiro Weinhold.<br />
<strong>Die</strong> energische 64-Jährige ist<br />
die zweite Trainerin an diesem<br />
Tag. 1991 ist die ehemalige<br />
Röntgenassistentin nach einer<br />
Star-Operation erblindet. Meist<br />
ist sie mit ihrem Labrador Ronnie<br />
unterwegs, aber heute hat<br />
<strong>der</strong> Blindenhund frei. Weinhold<br />
verteilt schwarze Brillen<br />
und Stöcke und lauscht amüsiert<br />
unseren tapsigen Tastversuchen.<br />
„Ja, die Stadt gibt sich<br />
schon Mühe“, sagt sie. Dennoch<br />
gebe es immer wie<strong>der</strong> etwas zu<br />
bemängeln. „Aber ich trample<br />
den Leuten gern auf die Füße.<br />
Und irgendwann kriege ich<br />
meine sprechende Ampel.“<br />
Blind sein<br />
ist Stress<br />
<strong>Die</strong> könnte ich jetzt brauchen:<br />
<strong>Die</strong> Autos klingen riesig. „Ist<br />
<strong>das</strong> ein Lastwagen?“, frage ich.<br />
„Nee, ein Smart“, sagt Marc<br />
Jestrimsky. Er selbst hat schon<br />
nach ein paar Metern mit Stock<br />
und Brille aufgegeben: „Ich<br />
kann <strong>das</strong> nicht, ich habe Angst.“<br />
Hilflos zu sein, passe ihm gar<br />
nicht, sagt <strong>der</strong> 41-jährige Architekt,<br />
<strong>der</strong> sich seit <strong>Jahr</strong>en für<br />
Barrierefreiheit einsetzt: „Aus<br />
purem Egoismus. Irgendwann<br />
bin ich alt, dann vielleicht<br />
selbst auf Rollstuhl o<strong>der</strong> Blindenstock<br />
angewiesen. Dann<br />
will ich nicht mehr kämpfen,<br />
also tue ich es heute.“<br />
Rollstuhlfahren ist anstrengend,<br />
aber Blindsein bedeutet<br />
Stress. Ich merke, wie ich mich<br />
krümme vor Angst, gegen ein<br />
Hin<strong>der</strong>nis zu laufen. Dabei<br />
fängt es gut an: An unserem<br />
Startpunkt verläuft ein Plattenweg,<br />
in dessen Rillen die<br />
Gummikappe des Stocks bequem<br />
dahin gleitet. Plötzlich<br />
Erfahrung gewinnen: Mitarbeiter <strong>der</strong> Stadt kiel ertasten „neue“ wege.<br />
März <strong>2010</strong> 2<br />
aber endet <strong>der</strong> Weg, <strong>das</strong> Feld<br />
dahinter fühlt sich unter dem<br />
Stock rau an. Teilt sich hier die<br />
Strecke, droht eine Gefahr? Sabine<br />
Dittmann, die neben den<br />
Stockgängern herfährt <strong>–</strong> „die<br />
Lahmen helfen den Blinden“,<br />
kommentiert Hiro Weinhold <strong>–</strong><br />
beruhigt: „Nur ein Stück Kopfsteinpflaster.“<br />
Offenbar aus<br />
optischen Gründen <strong>–</strong> Weinhold<br />
schnaubt verärgert <strong>–</strong> ist die<br />
Führungsspur unterbrochen.<br />
Es sind nur 50 Zentimeter, aber<br />
es dauert, dieses Hin<strong>der</strong>nis mit<br />
dem Stock abzutasten und zu<br />
überwinden. Kurz darauf hört<br />
die Rillenreihe einfach auf.<br />
Über solch mangelnde Sorgfalt<br />
regt sich Marc Jestrimsky<br />
auf. Genau wie über die frisch<br />
eingeweihte Behin<strong>der</strong>tentoilette,<br />
von <strong>der</strong> Sabine Dittmann<br />
erzählt: An beiden Seiten des<br />
Klos sind Griffe befestigt, die<br />
sich nicht hochklappen lassen.<br />
„Dabei ist Geräteturnen nicht<br />
mal paralympische Sportart“,<br />
sagt sie und erklärt, warum die<br />
Zufahrt beidseits möglich sein<br />
muss: „Nicht alle Rollstuhlfahrer<br />
haben zwei starke Hände.“<br />
Ein Seminar<br />
bringt weiter<br />
Aus solchen Erfahrungen sei<br />
die Idee mit dem Seminar geboren,<br />
sagt Dittmann: „Wenn<br />
wie<strong>der</strong> Quatsch gebaut wird,<br />
möchte man den Leuten zeigen,<br />
wie sich <strong>das</strong> auswirkt.“ Mit dem<br />
aktuellen Seminar ist sie zufrieden.<br />
„Aber es wäre schön, wenn<br />
nicht immer nur die kommen,<br />
die sich ohnehin mit dem Thema<br />
beschäftigt haben.“
24 März <strong>2010</strong> Forschung<br />
Wie Forscher <strong>das</strong> Gehirn durchleuchten<br />
Volltreffer für die werbeindustrie <strong>–</strong> Manipulationsgefahr für die Menschen?<br />
Von Ursula Porwol<br />
Eifrig suchen sie ihn: Den<br />
„Knopf im Gehirn“, den sie<br />
drücken müssen, damit <strong>das</strong><br />
richtige Produkt gekauft<br />
wird. Neurowissenschaftler<br />
durchleuchten Gehirne, um<br />
Werbekampagnen noch erfolgreicher<br />
zu machen.<br />
Forscher schieben Testpersonen<br />
in einen Hirnscanner<br />
und zeigen ihnen unterschiedliche<br />
Fotos. <strong>Die</strong> Probanden<br />
sprechen nicht <strong>–</strong> und verraten<br />
dennoch viel. <strong>Die</strong> Reaktionen<br />
ihrer Gehirne auf die präsentierten<br />
Fotos, die sich auf<br />
Bildschirmen zeigen, geben<br />
den Blick auf Informationen<br />
frei. Mo<strong>der</strong>ne, bildgebende<br />
Verfahren offenbaren die „Erregung“<br />
<strong>der</strong> Hirnareale: <strong>Die</strong><br />
aktivierten Nervenzellen benötigen<br />
vermehrt Sauerstoff,<br />
deshalb fließt viel Blut in diese<br />
Bereiche. Der Fachmann ordnet<br />
die verschiedenen Farbwerte<br />
den unterschiedlichen<br />
Orten im Gehirn zu und weiß,<br />
ob gerade unser Belohnungs-,<br />
Gedächtnis- o<strong>der</strong> emotionales<br />
Hirnareal auf Touren ist.<br />
Kunden verstehen<br />
bringt Umsatz<br />
<strong>Die</strong> Wissenschaft vermag inzwischen<br />
zwar ziemlich genau<br />
zu verorten, wo Entscheidungen<br />
im Hirn getroffen<br />
werden. „Wir können zwar<br />
noch keine Aussage darüber<br />
treffen, was <strong>der</strong> Konsument<br />
fühlt o<strong>der</strong> denkt“, erläutert<br />
einer <strong>der</strong> führenden Hirnforscher,<br />
Professor Dr. Christian<br />
Elger, wissenschaftlicher Leiter<br />
von Life & Brain in Bonn,<br />
aber die erregten Hirnregionen<br />
sprächen Bände. Der Mediziner<br />
berichtet von einem im<br />
Auftrag des Konzerns Procter<br />
& Gamble durchgeführten Experiments,<br />
bei dem es um<br />
Dove- und Pantene-Werbung<br />
ging. „<strong>Die</strong> hochgelobte und<br />
mit viel öffentlicher Aufmerksamkeit<br />
begleitete Dove-Werbung<br />
arbeitete erstmals mit<br />
durchschnittlich aussehenden<br />
Frauen, die Marke Pantene<br />
mit überstylten Models. Wir<br />
befragten 22 Frauen zwischen<br />
30 und 45 <strong>Jahr</strong>en nach ihren<br />
Vorlieben.“ Das Ergebnis: <strong>Die</strong><br />
überwältigende Mehrheit fa-<br />
Foto: picture alliance<br />
Bil<strong>der</strong> vermitteln Botschaften, die Gefühle beeinflussen und kaufentscheidungen mitbestimmen.<br />
vorisierte in <strong>der</strong> mündlichen<br />
Befragung die Dove-Werbung.<br />
Doch <strong>der</strong> Blick ins Gehirn<br />
offenbarte ganz an<strong>der</strong>es. <strong>Die</strong><br />
Gehirne <strong>der</strong> Frauen reagierten<br />
wesentlich stärker in den<br />
kaufrelevanten „Belohnungs“-<br />
Regionen auf die überirdisch<br />
schönen Pantene-Models. „Das<br />
Neuromarketing bildet nicht<br />
<strong>das</strong> sozial erwünschte Verhalten<br />
ab, son<strong>der</strong>n ermöglicht einen<br />
Blick in <strong>das</strong> Innere, auf die<br />
nicht steuerbaren Aktivitäten<br />
des Gehirns“, so Elger.<br />
Auch <strong>das</strong> Phänomen <strong>der</strong> Rabatte-Käufe<br />
ließ den Wissenschaftler<br />
nicht ruhen. Warum<br />
wird <strong>der</strong> Verstand ausgeschal-<br />
neuromarketing<br />
Neuromarketing ist Teil <strong>der</strong><br />
Marktforschung. Es untersucht<br />
Formen <strong>der</strong> Informationsaufnahme<br />
und nutzt<br />
dafür Erkenntnisse aus <strong>der</strong><br />
psychologischen Forschung<br />
wie <strong>der</strong> Gehirnforschung.<br />
Es spürt den Prozessen<br />
nach, die bei Konsumenten<br />
zum Kauf bzw. Nicht-Kauf<br />
tet, wenn ein vermeintliches<br />
Schnäppchen zu ergattern ist?<br />
Elger und sein Team machten<br />
den „Sockentest“: Sie zeigten<br />
Personen im Hirnscanner eine<br />
einzelnes Sockenpaar ohne<br />
Rabattzeichen und ein Dreierset<br />
mit Rabattschild. „Obwohl<br />
drei einzelne Sockenpaare<br />
billiger gewesen wären, zog<br />
die große Mehrheit die Dreiersets<br />
mit dem Rabattzeichen<br />
vor.“ <strong>Die</strong> Aussicht auf<br />
ein Schnäppchen aktiviere<br />
<strong>das</strong> Belohnungssystem. <strong>Die</strong><br />
für kritische Abwägungen<br />
zuständigen Strukturen im<br />
Gehirn könnten so überlistet<br />
werden.<br />
bestimmter Produkte führen,<br />
<strong>das</strong> heißt konkret:<br />
den Gehirnarealen, die<br />
durch die verschiedenen<br />
Produkte <strong>–</strong> und die Art für<br />
sie zu werben <strong>–</strong> stimuliert<br />
werden. Ziel ist die Offenlegung<br />
(und Steuerung) von<br />
Verbraucherwünschen und<br />
-bedürfnissen.<br />
Auch die Autoindustrie versucht<br />
die Erkenntnisse <strong>der</strong><br />
Neurowissenschaftler gezielt<br />
einzusetzen. Audi ließ Professor<br />
Elger Frontpartien von<br />
Fahrzeugen mit den Mitteln<br />
des Neuromarketings testen.<br />
Das Ergebnis: „Frauen mögen<br />
keine aggressiven Autofronten,<br />
sie mögen es harmonisch.“<br />
Solche Informationen seien<br />
bedeutend, weil „die meisten<br />
Autokäufe durch Frauen entschieden<br />
werden“, sagt Elger.<br />
Den Einwand, bei <strong>der</strong> Manipulation<br />
von Menschen behilflich<br />
zu sein, weist Elger von<br />
sich. „Wir sind Wissenschaftler,<br />
machen alle Ergebnisse<br />
öffentlich. Und Neuromarketing<br />
gehört in verantwortliche<br />
Hände, die zuverlässig nach<br />
wissenschaftlichen Kriterien<br />
arbeiten.“<br />
Kritisch beleuchtet dagegen<br />
<strong>der</strong> Deutsche Ethikrat <strong>das</strong> Thema.<br />
„Bei einer Verwertung zu<br />
kommerziellen Zwecken <strong>–</strong> etwa<br />
durch <strong>das</strong> Neuromarketing<br />
<strong>–</strong> ist <strong>der</strong> Schutz <strong>der</strong> mentalen<br />
Privatsphäre nicht gewährleistet“,<br />
so Professor John-Dylan<br />
Haynes von <strong>der</strong> Charité in Berlin.<br />
Beim Einsatz <strong>der</strong> Hirnfor-<br />
schung in medizinischen Einrichtungen<br />
gäbe es „wirksame<br />
Datenschutzvorkehrungen“.<br />
Der Wissenschaftler plädierte<br />
für eine Regulierung des<br />
zu kommerziellen Zwecken<br />
genutzten „Auslesens von Gehirnaktivitäten“,<br />
sofern dies<br />
möglich sein sollte.<br />
<strong>Die</strong> Strategie:<br />
Gehirne führen<br />
Auch Brigitte Rittmann-Bauer<br />
von <strong>der</strong> Verbraucherberatung<br />
NRW findet klare<br />
Worte: „Der Illusion, <strong>das</strong>s wir<br />
freie Kaufentscheidungen<br />
treffen, kann man sich nicht<br />
mehr hingeben. Wir können<br />
nicht mehr auseinan<strong>der</strong>halten,<br />
was durch Werbung beeinflusst<br />
ist und was nicht.“<br />
Das Neuromarketing sei ein<br />
Puzzleteil mehr zur Verfeinerung<br />
<strong>der</strong> Methoden. <strong>Die</strong><br />
Verbraucherschützerin verweist<br />
auf ein weiteres Beispiel,<br />
die Verfeinerung von<br />
Einstellungstests o<strong>der</strong> <strong>–</strong> wie<br />
ein Buch des Neurowissenschaftlers<br />
Elger verspricht<br />
<strong>–</strong> <strong>das</strong> „hirngerechte Führen“<br />
von Mitarbeitern.
„den kopf frei haben fÜr kin<strong>der</strong>“<br />
Über <strong>das</strong> Rollenbild von<br />
Müttern in <strong>der</strong> Gesellschaft<br />
entzündet sich eine alte<br />
Streitfrage: Vollzeit-Mama<br />
o<strong>der</strong> Karriere-Mutter? <strong>Die</strong><br />
Diskussion im Themenforum<br />
„Familienpolitik“<br />
<strong>der</strong> <strong>Gesellschafter</strong>-Initiative<br />
spiegelt alte Rollen-<br />
klischees, sucht aber auch<br />
nach neuen Antworten.<br />
<strong>Die</strong> Debatte ist so alt wie die<br />
Emanzipation <strong>der</strong> Frau und<br />
die Auflösung <strong>der</strong> klassischen<br />
Geschlechterrollen. Stellt sich<br />
Nachwuchs ein, bleibt zwar<br />
auch heute noch meist die<br />
Frau für die Kin<strong>der</strong>-Betreuung<br />
zu Hause <strong>–</strong> die Frage lautet jedoch<br />
zunehmend: Wie lange<br />
eigentlich? Muss eine Mutter<br />
ausschließlich für die Kleinen<br />
da sein? Soll sie arbeiten gehen?<br />
<strong>Die</strong> Diskussion im Forum<br />
ist geprägt vom Konflikt zwischen<br />
dem Lebensmodell <strong>der</strong><br />
Vollzeit-Mama und dem <strong>der</strong><br />
berufstätigen Mutter sowie<br />
<strong>der</strong> Frage, welches davon am<br />
besten für die Kin<strong>der</strong> ist.<br />
<strong>Die</strong> Verfechter <strong>der</strong> Vollzeitbetreuung<br />
zu Hause wollen<br />
so viel Zeit wie möglich<br />
Kein Gegeneinan<strong>der</strong> inszenieren<br />
Zwischen politischen Sachzwängen und dem wunsch nach mehr Ehrlichkeit<br />
Auf „die<strong>Gesellschafter</strong>.de“<br />
diskutieren Tausende die<br />
Frage: In was für einer<br />
Gesellschaft wollen wir leben?<br />
<strong>Die</strong> Antworten kreisen<br />
um viele Themen, darunter<br />
Fragen zu Arbeit und Bildung,<br />
aber auch zu den<br />
Werten, die ein Gemeinwe-<br />
sen zusammenhalten.<br />
Wir vermissen die<br />
Gemeinschaft in unserer<br />
Gesellschaft! Wir wollen eine<br />
Gesellschaft, in <strong>der</strong> Menschen<br />
nicht gegeneinan<strong>der</strong>,<br />
son<strong>der</strong>n miteinan<strong>der</strong> leben.<br />
F.S.<br />
3 die<strong>Gesellschafter</strong>.de<br />
mit ihren Kin<strong>der</strong>n verbringen<br />
und sind dafür bereit, alles<br />
an<strong>der</strong>e <strong>–</strong> auch die Karriere<br />
<strong>–</strong> zurückzustellen. „Ich weiß<br />
nicht, warum man Kin<strong>der</strong> in<br />
die Welt setzt, wenn man an<br />
ihrem Leben, ihren Sorgen<br />
und Nöten, ihrer Entwicklung<br />
gar nicht teilhaben will o<strong>der</strong><br />
kann?“, so eine Erzieherin<br />
und zweifache Mutter. Für<br />
eine gefestigte Bindung und<br />
die Entwicklung einer starken<br />
Persönlichkeit sei die Mutter<br />
als ständige Bezugsperson<br />
vonnöten. Zu frühe Fremdbetreuung<br />
überfor<strong>der</strong>e die<br />
Kleinen nur und schade damit<br />
ihrer Entwicklung.<br />
Völlig falsch, entgegnet<br />
die Fraktion <strong>der</strong> Berufstätigen,<br />
im Gegenteil würde <strong>der</strong><br />
Nachwuchs zu Hause nicht<br />
genug geför<strong>der</strong>t: Gerade im<br />
Kontakt mit an<strong>der</strong>en Kin<strong>der</strong>n<br />
und Erwachsenen würden<br />
soziale Kompetenz erlernt<br />
und wichtige Anregungen<br />
für die Entwicklung gegeben.<br />
Für eine gefestigte Mutter-<br />
Kind-Bindung komme es, so<br />
eine Lehrerin, „weniger auf<br />
die Menge <strong>der</strong> Zeit an, die<br />
die Mutter mit dem Kind<br />
Es braucht Ehrlichkeit<br />
unter denen, die gewählt<br />
worden sind, die Geschicke<br />
des Landes maßgeblich zu<br />
bestimmen und es braucht<br />
auch Ehrlichkeit <strong>der</strong>er, die<br />
sie wählen, <strong>das</strong>s es nicht<br />
so kommt, wie es einmal<br />
jemand recht unverblümt<br />
in einer Radioreportage ins<br />
Mikrofon hinein gesprochen<br />
hat: Ich wähle den, <strong>der</strong> am<br />
Meisten für mich rausholt.<br />
Das ist dann die Lobby- und<br />
Klientelpolitik, <strong>das</strong> inszenierte<br />
gesellschaftliche Gegeneinan<strong>der</strong>,<br />
gleich welcher<br />
Vorzeichen und zunächst<br />
auch gleich welcher Größenordnung.<br />
<strong>Die</strong> höhere Stufenleiter<br />
macht es dann nur<br />
noch zum größeren Schaden.<br />
helmut krüger<br />
3 die<strong>Gesellschafter</strong>.de<br />
Diskussion<br />
verbringt, als vielmehr eben<br />
auf die Qualität <strong>der</strong> Zeit“. So<br />
entwickeln sich im erbitterten<br />
Wettstreit <strong>der</strong> Lebensmodelle<br />
immer wie<strong>der</strong> die klassischen<br />
„Hausfrauen-sind-Deppencontra-Berufstätige-sind-Rabenmütter“-Vorwürfe.<br />
Auch in den aktuellen politischen<br />
Konzepten zur Familienpolitik,<br />
die im Forum intensiv<br />
diskutiert werden, treffen<br />
Foto: fotolia<br />
diese unterschiedlichen Modelle<br />
aufeinan<strong>der</strong>. <strong>Die</strong> einen<br />
sehen im Elterngeld und dem<br />
parallelen Ausbau von Kita-<br />
Plätzen die Lösung, die ande-<br />
ren in <strong>der</strong> sogenannten „Herdprämie“.<br />
Echte Wahlfreiheit<br />
zwischen den beiden Lebensentwürfen,<br />
so sehen es einige<br />
Diskutierende, sei jedoch erst<br />
bei <strong>der</strong>en finanzieller Gleichstellung<br />
gegeben, etwa durch<br />
den Vorschlag dieser Mutter:<br />
‚Ein Müttersoli wäre eine gute<br />
Idee, zumindest in den ersten<br />
<strong>Jahr</strong>en <strong>–</strong> damit sie den Kopf<br />
frei haben für ihre Kin<strong>der</strong>.‘<br />
kin<strong>der</strong> suchen Zuwendung, ob die Mutter daheim ist o<strong>der</strong> nicht.<br />
In einer Gesellschaft,<br />
die Anreize für Arbeit<br />
schafft, anstatt über Erhöhungen<br />
von Hartz IV zu<br />
diskutieren. Wie war <strong>der</strong><br />
Slogan vor ein paar <strong>Jahr</strong>en?<br />
Vorfahrt für Arbeit <strong>–</strong> aber<br />
dann bitte soweit, <strong>das</strong>s<br />
man davon leben kann und<br />
dafür nicht entwe<strong>der</strong> drei<br />
Jobs braucht o<strong>der</strong> 60 Stunden<br />
per Woche, son<strong>der</strong>n<br />
mit Maß und Raum für die<br />
Familie, Hobbys und Weiterbildung.<br />
R.B.<br />
3 die<strong>Gesellschafter</strong>.de<br />
Bis dahin ginge es letztlich<br />
vor allem um die Frage, ob<br />
Frauen es sich überhaupt<br />
leisten könnten, im Beruf auszusetzen<br />
o<strong>der</strong> gar langfristig<br />
Ich möchte in einer<br />
Gesellschaft leben, in <strong>der</strong> die<br />
wahren Werte noch zählen.<br />
Nicht nur egoistisches, spaßorientiertesKampfsaudenken,<br />
son<strong>der</strong>n gegenseitige<br />
Achtung, Respekt und Anerkennung.<br />
Eine Gesellschaft,<br />
in <strong>der</strong> man es mit Wissen<br />
und Können zu etwas bringen<br />
kann. Eine Gesellschaft,<br />
die Arbeit fair belohnt und<br />
in <strong>der</strong> leichtsinnige Fehler<br />
konsequent bestraft werden.<br />
Es kann nicht sein, <strong>das</strong>s<br />
Banker, die große Summen<br />
an Vermögen verspielen, dafür<br />
auch noch Abfindungen<br />
kassieren. Ich suche nach<br />
den wahren Werten wie Aufrichtigkeit,<br />
Ehrlichkeit und<br />
Freundschaft.<br />
Felix hofrichter<br />
3 die<strong>Gesellschafter</strong>.de<br />
März <strong>2010</strong> 25<br />
auf einen Teil des Familieneinkommens<br />
zu verzichten:<br />
„Mütter sind nämlich zunehmend<br />
gezwungen, arbeiten<br />
zu gehen. Denn neben ganz<br />
viel Liebe, unendlich viel<br />
Zeit und Zuwendung kosten<br />
Kin<strong>der</strong> richtig Geld!“,<br />
weiß eine Mutter zweier<br />
Teenager.<br />
Bei aller Verbissenheit<br />
melden sich auch versöhnliche<br />
Stimmen zu Wort,<br />
die gegen einen „Ideologiestreit“<br />
und für eine Solidarisierung<br />
von Frauen und<br />
Müttern plädieren. Schließlich<br />
könne frau es sowieso<br />
nicht jedem recht machen,<br />
glaubt eine zweifache Mutter:<br />
„Frauen, und zwar wir<br />
alle, sind in unserem Land<br />
einem ständigen Rechtfertigungszwang<br />
ausgesetzt,<br />
egal, ob wir unsere Kin<strong>der</strong><br />
zu Hause betreuen, Teilzeit<br />
in Betreuungseinrichtungen<br />
lassen, o<strong>der</strong> ob wir gar keine<br />
Kin<strong>der</strong> haben.“<br />
Mehr zu den Diskussionen<br />
finden Sie unter: dieGe-<br />
sellschafter.de/diskussion/<br />
forum/index.php<br />
Den Bürgern einmal<br />
die Meinung sagen? <strong>das</strong><br />
ging für Ludwig Erhard mit<br />
seinem „Maßhalteappell“<br />
nicht so gut aus. Ein Politiker<br />
lebt von <strong>der</strong> Politik,<br />
da schießt er sich nicht<br />
selbst heraus. Schulden machen<br />
ist eine <strong>der</strong> leichten<br />
Übungen des Politikers! Ein<br />
einzelner Bürger wird von<br />
<strong>der</strong> Politik nicht gehört.<br />
Allerlei Interessenverbände<br />
sind hinter den Kulissen<br />
am Werk; diesen dient die<br />
Politik, nicht dem Bürger<br />
unmittelbar.<br />
Günther hoffmann<br />
3 die<strong>Gesellschafter</strong>.de
26 März <strong>2010</strong><br />
Keinen Menschen ausschließen<br />
Zehn <strong>Jahr</strong>e Namensän<strong>der</strong>ung: aus „Aktion Sorgenkind“ wurde „Aktion Mensch“<br />
Von Reinhard Backes<br />
Seit dem 1. März 2000 gilt<br />
<strong>der</strong> neuer Name: Aktion<br />
Mensch. <strong>Die</strong> bis dahin gültige<br />
Bezeichnung „Aktion<br />
Sorgenkind“ ist Geschichte.<br />
Hintergrund: Der alte<br />
Begriff wurde eher negativ<br />
wahrgenommen: Sorgenkin<strong>der</strong><br />
waren die, die an<strong>der</strong>en<br />
Probleme bereiteten.<br />
Das verlieh <strong>der</strong> Ausgrenzung<br />
(Exklusion) Vorschub.<br />
Stattdessen sollte je<strong>der</strong> als<br />
Mensch ernst genommen<br />
werden, dazu gehören.<br />
Es ging fortan um „Einbeziehung“,<br />
was die Plakate auf diesen<br />
Seiten belegen. <strong>Die</strong> Aktion<br />
Mensch ist Impulsgeber für eine<br />
Position geworden, die Anfang<br />
2009 von <strong>der</strong> deutschen Politik<br />
mit <strong>der</strong> Ratifizierung <strong>der</strong> UN-<br />
Behin<strong>der</strong>tenrechtskonvention<br />
offiziell bestätigt wurde. Jetzt<br />
gilt, <strong>das</strong>s Menschen mit Behin<strong>der</strong>ung<br />
ein Recht auf Teilhabe<br />
an <strong>der</strong> Gesellschaft haben.<br />
Nicht mehr Integration, also<br />
die Einglie<strong>der</strong>ung des „An<strong>der</strong>en“<br />
in die Gesellschaft, ist <strong>das</strong><br />
Ziel, son<strong>der</strong>n die „<strong>Inklusion</strong>“,<br />
was nichts an<strong>der</strong>es bedeutet,<br />
Anstoß zur Debatte über Möglichkeiten <strong>der</strong> wissenschaft <strong>–</strong> 1000fragen-Projekt 2004.<br />
Ansichten<br />
als <strong>das</strong>s alle Unterschiedlichkeiten<br />
Teil <strong>der</strong> menschlichen<br />
Vielfalt sind <strong>–</strong> und folglich<br />
normal.<br />
Deutschland steht hier aber<br />
erst am Anfang: <strong>Die</strong> gleichen<br />
Chancen auf Zugang zum Bildungssystem;<br />
<strong>das</strong> Recht auf<br />
die Möglichkeit, den eigenen<br />
Lebensunterhalt durch Arbeit<br />
zu verdienen; die unabhängige<br />
Lebensführung und die<br />
Einbeziehung in die Gemeinschaft<br />
<strong>–</strong> <strong>das</strong> sind nur einige<br />
von vielen Bereichen, in denen<br />
<strong>Inklusion</strong> noch längst nicht<br />
Realität ist.<br />
chancengleichheit <strong>–</strong> eines <strong>der</strong> themen beim Start <strong>der</strong> <strong>Gesellschafter</strong>-Initiative 2006.<br />
<strong>Die</strong> Aktion Mensch för<strong>der</strong>t<br />
Projekte, die konkret zeigen,<br />
<strong>das</strong>s und wie <strong>Inklusion</strong> gelingen<br />
kann. Dadurch sollen<br />
auch gesellschaftliche Debatten<br />
angestoßen werden,<br />
wie zwei Beispiele zeigen.<br />
Erstens: Auch Menschen mit<br />
einer geistigen Behin<strong>der</strong>ung<br />
sind Staatsbürger und haben<br />
<strong>das</strong> Wahlrecht. Vor den<br />
Bundestagswahlen 2009 hat<br />
die Lebenshilfe Freiburg politische<br />
Bildung und Teilhabe<br />
an politischer Willensbildung<br />
zum Thema eines sechsteiligen<br />
Kurses gemacht. <strong>Die</strong> Teil-<br />
Fragen vor Antworten <strong>–</strong> 1000fragen-Projekt 2004.<br />
nehmer erfuhren, wie Politik<br />
funktioniert, welche Möglichkeiten<br />
<strong>der</strong> Teilhabe es für Menschen<br />
mit geistiger Behin<strong>der</strong>ung<br />
gibt und wie man wählt.<br />
Sie diskutierten in leichter<br />
Sprache vorliegende Wahlprogramme<br />
und besuchten<br />
Wahlveranstaltungen.<br />
Und zweitens: Ein umfangreichesQualifikationsprogramm<br />
hilft Mitarbeitern in<br />
„CAP“-Supermärkten. „CAP“<br />
steht für Handicap. Hier<br />
arbeiten Menschen mit körperlicher,<br />
seelischer und/o<strong>der</strong><br />
geistiger Behin<strong>der</strong>ung.<br />
Das Recht auf Beteiligung nutzen <strong>–</strong> <strong>Gesellschafter</strong>-Initiative 2009.
Aus Rücksicht wird Respekt, aus hilfe wird Partnerschaft <strong>–</strong> Plakat zur Namensän<strong>der</strong>ung 2000.<br />
Ansichten März <strong>2010</strong> 27<br />
Mit und ohne Augen sehen, <strong>das</strong> Sosein an<strong>der</strong>er verstehen <strong>–</strong> Aktion Mensch Anzeige 200 . Grundrechte einfor<strong>der</strong>n <strong>–</strong> 5. Mai-Aktion 2009.
28 März <strong>2010</strong><br />
Aktion Mensch · 53175 Bonn<br />
PVST, DPAG „Entgelt bezahlt“ „Ich möchte in einer Gesellschaft leben, die überlebensfähig<br />
ist. Durch unser kurzsichtiges Handeln in <strong>der</strong> Vergangenheit<br />
haben wir auf vielen Gebieten nur noch eingeschränkte Wahlmöglichkeiten.<br />
Nur eine ökologisch nachhaltige und faire<br />
Gesellschaft bietet eine Zukunft für meine Kin<strong>der</strong>!“<br />
„Nicht auf einem Sockel stehen“<br />
Deutschlands beliebtester Fußballspieler, heute Bundesligamanager im Gespräch<br />
Rudi Völler (50), Ex-Teamchef<br />
<strong>der</strong> deutschen Fußball-Nationalelf<br />
und seit<br />
2005 Sportchef des Bundesligisten<br />
Bayer 04 Leverkusen,<br />
engagiert sich<br />
unter an<strong>der</strong>em für die DFB-<br />
Stiftung Egidius Braun, ist<br />
Schirmherr <strong>der</strong> hessischen<br />
Initiative „SMOG <strong>–</strong> Schule<br />
machen ohne Gewalt“ und<br />
Botschafter des „Starke-<br />
Kids-Netzwerkes“ <strong>der</strong> AOK.<br />
herr Völler, in was für<br />
einer Gesellschaft möchten<br />
Sie leben?<br />
Letztes <strong>Jahr</strong> wurde an einer S-<br />
Bahn-Station ein Mann zu Tode<br />
geprügelt und keiner kam<br />
ihm zu Hilfe. Das bedrückt<br />
mich noch heute. Deshalb<br />
glaube ich: Einan<strong>der</strong> helfen ist<br />
<strong>das</strong> wichtigste in einer Gesellschaft.<br />
Nicht wegsehen, wenn<br />
jemand Hilfe braucht.<br />
wie helfen Sie<br />
ganz konkret?<br />
Das ist unterschiedlich. Mal<br />
setze ich meine Bekanntheit<br />
ein und unterstütze ein Projekt<br />
einfach dadurch, <strong>das</strong>s ich<br />
da bin. Mal stelle ich meine<br />
Gage zur Verfügung o<strong>der</strong><br />
spende. Aber <strong>das</strong> ist nur die<br />
an <strong>der</strong> ecke<br />
eine Seite, denn auch im Alltag<br />
gibt es viele Möglichkeiten.<br />
Da braucht es dann we<strong>der</strong><br />
Berühmtheit noch Geld. Da<br />
geht es einfach darum, besser<br />
miteinan<strong>der</strong> umzugehen.<br />
Sie unterstützen zahlreiche<br />
Projekte und Initiativen für<br />
kin<strong>der</strong> und Jugendliche in<br />
schwierigen Lebenssituationen…<br />
Ja, aber was ich überhaupt<br />
nicht mag, ist, auf einen Sockel<br />
gestellt zu werden, denn<br />
ich weiß, viele an<strong>der</strong>e engagieren<br />
sich auch. Außerdem<br />
muss ich auch viele Anfragen<br />
auf Unterstützung absagen,<br />
weil ich <strong>das</strong> zeitlich gar nicht<br />
alles schaffe. Es sind einfach<br />
zu viele.<br />
wie wählen Sie denn die<br />
Projekte aus, für die Sie<br />
sich einsetzen?<br />
Ich kann darauf gar keine klare<br />
Antwort geben. Oft entscheide<br />
ich <strong>das</strong> aus dem Bauch heraus.<br />
Wenn ich <strong>das</strong> Gefühl habe,<br />
<strong>das</strong> ist eine gute Sache, und es<br />
passt zeitlich, dann mache ich<br />
<strong>das</strong>. Außerdem ist mir wichtig,<br />
die handelnden Personen zu<br />
kennen, damit ich mir sicher<br />
sein kann, <strong>das</strong>s die Hilfe vor<br />
Foto: picture alliance<br />
Foto: world Future council<br />
Le tzte<br />
Jakob von Uexküll, Grün<strong>der</strong> des world Future<br />
council und des Alternativen Nobelpreises<br />
Garant für Erfolg: Rudi Völler bei <strong>der</strong> wM 1990 in Italien.<br />
Ort auch wirklich ankommt.<br />
Mein engster Kontakt besteht<br />
deshalb zur DFB-Stiftung Egidius<br />
Braun, die sich für soziale<br />
Integration, Kin<strong>der</strong> in Not und<br />
Mexico-Hilfe engagiert.<br />
wie hat die Zusammenarbeit<br />
begonnen?<br />
Das war bei <strong>der</strong> WM 1986 in<br />
Mexiko. Da haben wir mit <strong>der</strong><br />
Mannschaft ein Waisenhaus<br />
in <strong>der</strong> Nähe von Mexiko City<br />
3 die<strong>Gesellschafter</strong>.de<br />
besucht und die furchtbaren<br />
Zustände dort gesehen. Egidius<br />
Braun, <strong>der</strong> damalige<br />
Präsident des Deutschen Fußballbundes,<br />
hat die Initiative<br />
ergriffen und die Mexico-Hilfe<br />
gegründet. Ich war damals<br />
einer <strong>der</strong> ersten, <strong>der</strong> gespendet<br />
hat. Daraus entstand eine<br />
Stiftung, die heute im In- und<br />
Ausland Projekte unterstützt,<br />
etwa ein Straßenkin<strong>der</strong>projekt<br />
in Mexiko o<strong>der</strong> eine Initiative<br />
für Flüchtlingskin<strong>der</strong> in<br />
Freiburg.<br />
Auch Bundesligist Bayer 04,<br />
dessen Sportchef Sie sind,<br />
för<strong>der</strong>t soziale Projekte.<br />
Ja, wir haben extra ein Tochterunternehmen<br />
gegründet,<br />
um die unterschiedlichen Aktivitäten<br />
zu bündeln. Dazu<br />
gehören die Unterstützung<br />
eines Kin<strong>der</strong>hospizes, die För<strong>der</strong>ung<br />
von Ehrenamt in Vereinen,<br />
Jugendcamps für junge<br />
Menschen mit Behin<strong>der</strong>ungen<br />
und vieles mehr. Als Sportchef<br />
bin ich in die Auswahl <strong>der</strong><br />
Projekte zwar nicht involviert.<br />
Aber wenn ich für Aktionen<br />
gebraucht werde, springe ich<br />
immer gerne ein.<br />
Interview: Anja Martin