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Der Sinn vom Ganzen - Die Gesellschafter

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Dezember 2008 / Nummer 14<br />

JUGENDPRESSE<br />

DIE CARITAS HILFT<br />

Rückzugsraum für<br />

junge Türkinnen<br />

REPoRTaGE<br />

SEITE 3<br />

CLOWNS-ARMEE<br />

Bunter, frecher und<br />

friedlicher Protest<br />

SEITEN 4 uND 5<br />

SchwERPUNkT<br />

DEMOKRATIE<br />

Zwischen Lethargie<br />

und Neubeginn<br />

ENGaGEMENT<br />

SEITEN 6–18<br />

uMWELT<br />

Im Test fallen die<br />

Verbraucher durch<br />

INTERVIEw<br />

SEITE 21<br />

CHRISTINE NEuBAuER<br />

als Prominente auch<br />

ohne Presse helfen<br />

SEITE 28<br />

In was für einer Gesellschaft wollen wir leben?<br />

<strong>Der</strong> <strong>Sinn</strong> <strong>vom</strong> <strong>Ganzen</strong><br />

Erster „Engagementatlas“ zeigt, wo sich die Deutschen engagieren – und warum<br />

Nun wissen wir es genau:<br />

Engagierte Bürger in<br />

Deutschland tragen durch<br />

Freiwilligenarbeit und Ehrenamt<br />

„jährlich eine Arbeitsleistung<br />

im Wert von<br />

nahezu 35 Milliarden Euro<br />

zum Gemeinwesen bei“.<br />

<strong>Die</strong>s rechnet der Versicherungskonzern<br />

AMB Generali<br />

vor, der den ersten „Engagementatlas“Deutschlands<br />

in Auftrag gegeben<br />

hat. Gemessen am Volkseinkommen<br />

sei dies ein<br />

Anteil von 2 Prozent.<br />

Für die Studie hat die Prognos<br />

AG mehr als 44.000<br />

Menschen in 439 Städten<br />

und Landkreisen befragt und<br />

dabei erstaunliche regionale<br />

Unterschiede herausgearbeitet:<br />

In einigen Landkreisen<br />

liegt die Engagementquote<br />

bei rund 50 % (z.B.: Osthessen<br />

51 %, Lüneburg 51 %, Franken<br />

50 %, Allgäu 48 %), in anderen<br />

um die 20% oder darunter<br />

(Uckermark-Barnim: 14 %,<br />

Berlin 19 %, Duisburg/Essen<br />

22 %). Den ersten Platz nach<br />

Ländern teilen sich Baden-<br />

Württemberg und Hessen (je<br />

40 %), Schlusslichter sind Bre-<br />

men (23 %) und Berlin (19 %).<br />

Besonders interessant ist<br />

die Studie, wo sie den regionalen<br />

Unterschieden nachspürt:<br />

So führt beispielsweise<br />

eine schwierige soziale Lage<br />

mit hoher Arbeitslosigkeit und<br />

eine hohe Sozialhilfequote<br />

zu einem niedrigeren Engagement.<br />

<strong>Die</strong> Auffassung,<br />

der Rückgang der sozialen<br />

EHRuNg FüR DIE gESELLSCHAFTER<br />

Für seine Reportage „Ohne<br />

Mitleidsschiene“ in die<strong>Gesellschafter</strong>.de<br />

(Ausgabe<br />

April 2008) erhält der<br />

Journalist Herbert Mackert<br />

den diesjährigen <strong>Die</strong>trich<br />

Oppenberg-Medienpreis.<br />

<strong>Die</strong> Stiftung Lesen prämiert<br />

mit dem Oppenberg-Medienpreis<br />

herausragende<br />

Sicherung führe zu mehr dem<br />

Gemeinwohl verpflichteter<br />

Arbeit, muss damit relativiert<br />

werden: <strong>Der</strong> ausgrenzende<br />

Charakter von Armut erstreckt<br />

sich auch auf Freiwilligenarbeit<br />

und Ehrenamt.<br />

<strong>Die</strong> Studie zeigt auch: nicht<br />

nur die individuelle, sondern<br />

auch die wirtschaftliche Leistungskraft<br />

einer Region hat<br />

Auswirkungen auf die ehrenamtlichen<br />

Aktivitäten.<br />

Unterschiede finden sich<br />

auch in den Altersgruppen:<br />

Durchschnittlich sind 34 %<br />

journalistische Arbeiten<br />

zum Thema Lesekultur und<br />

zur Entwicklung von Medienkompetenz.<br />

Mackerts<br />

Beitrag handelt von den<br />

Machern der Nürnberger<br />

Obdachlosenzeitung „Straßenkreuzer“.<br />

Das Preisgeld<br />

will Mackert mit dem Straßenkreuzer-Team<br />

teilen.<br />

aller Personen über 16 Jahren<br />

bürgerschaftlich engagiert. Da-<br />

bei ist die Gruppe der 30 bis<br />

55jährigen überdurchschnittlich<br />

vertreten. Im Alter nimmt<br />

das Engagement allerdings ab:<br />

Mit einer Quote von 26 % ist<br />

die Generation der über 65jährigen<br />

nur unterdurchschnittlich<br />

vertreten, obwohl sie nicht<br />

mehr im Berufsleben steht.<br />

Freiwilliges Engagement<br />

findet sich häufig in Bereichen<br />

wie Sport, Freizeit und Vereinen,<br />

Kinder- und Jugendarbeit<br />

sowie Kirche und Religion.<br />

In Politik, Engagement für<br />

ältere Bürger sowie Umwelt-<br />

und Tierschutz sind dagegen<br />

jeweils weniger als 5 Prozent<br />

der Bevölkerung engagiert.<br />

<strong>Die</strong> meisten Engagierten<br />

möchten „die Gesellschaft im<br />

Kleinen mitgestalten“ (29,6 %)<br />

und „mit anderen zusammenkommen“<br />

(25,9 %). Sie sehen<br />

„Engagement als wichtige<br />

gesellschaftliche Aufgabe“<br />

(23,7 %) und möchten ihre<br />

„Interessen vertreten und Probleme<br />

lösen“ (17,8 %).<br />

– kostenlos –<br />

ENgAgEMENT<br />

Damit die Umsetzung guter<br />

Ideen für unsere Gesellschaft<br />

nicht am Geld scheitert,<br />

unterstützt die Aktion<br />

Mensch im Rahmen der<br />

<strong>Gesellschafter</strong>-Initiative<br />

neue Projekte, die im Wesentlichen<br />

von Freiwilligen<br />

und Ehrenamtlichen getragen<br />

werden, mit bis zu<br />

4000 Euro. Alle, die sich in<br />

bestehenden Projekten engagieren<br />

wollen, finden in<br />

der Freiwilligendatenbank<br />

die Adressen der nächstgelegenen<br />

Einsatzorte. Oder<br />

Sie bringen sich ein in die<br />

Diskussion der Frage „In<br />

was für einer Gesellschaft<br />

wollen wir leben?“ und<br />

diskutieren aktiv mit – denn<br />

die Zukunft entsteht zuerst<br />

im Gespräch.<br />

die<strong>Gesellschafter</strong>.de<br />

Und was ist mit jenen 66<br />

Prozent der Bevölkerung, die<br />

sich bisher nicht engagieren?<br />

Nur drei Prozent sind überzeugte<br />

Nichtstuer: „Ich finde,<br />

dafür sind andere zuständig,<br />

zum Beispiel der Staat“,<br />

lautet ihr Credo. Fast vierzig<br />

Prozent der bisher nicht<br />

Engagierten könnten sich<br />

durchaus vorstellen, in der<br />

Zukunft aktiv zu werden. Das<br />

mit Abstand wichtigste Argument<br />

für gesellschaftliche<br />

Passivität lautet: „Ich habe<br />

keine Zeit“ (67,5 %). Erwerbstätigkeit<br />

und Familienarbeit<br />

belasten viele Menschen so<br />

sehr, dass ihre Situation ein<br />

uneigennütziges Engagement<br />

nicht zulässt. Gesundheitliche<br />

Gründe führen 15,8 %<br />

der befragten Nichtengagierten<br />

an.<br />

Rund 5,6 Prozent würden<br />

sich gerne engagieren, wissen<br />

aber nicht „wie und wo“. Und<br />

jeder hundertste (1,3 %) gibt<br />

an, kein Geld zu haben, um<br />

seine gesellschaftlichen Ideen<br />

umsetzen zu können. hz


2 Dezember 2008<br />

AuS DEM gESELLSCHAFTER-TAgEBuCH<br />

Nach dem Bildungsgipfel<br />

Von Elias Bierdel<br />

Groß war der Andrang auf<br />

dem „Qualifizierungsgipfel“<br />

von Bund und Ländern<br />

Ende Oktober in Dresden.<br />

Herausgekommen ist aber<br />

kaum etwas Konkretes.<br />

Warum tut sich die Politik<br />

so schwer mit dem zentralen<br />

Zukunftsthema „Bildung“?<br />

Wo wären Veränderungen<br />

dringend nötig? Im<br />

<strong>Gesellschafter</strong>-Tagebuch<br />

finden sich Antworten.<br />

<strong>Die</strong> Ausgaben für Bildung sollen<br />

steigen. Das haben die 16<br />

Ministerpräsidenten gemeinsam<br />

mit der Bundesregierung<br />

im Grundsatz beschlossen.<br />

Aber wer die Kosten am Ende<br />

tragen soll, bleibt weiterhin<br />

offen. So werden dringend<br />

nötige Reformen weiter auf<br />

die lange Bank geschoben,<br />

meint der Dirigent Peter<br />

S t a n -<br />

gel in<br />

seinem<br />

Eintrag.<br />

„ G a n z<br />

einfach:<br />

Alle wollenBild<br />

u n g ,<br />

aber keiner<br />

will sie<br />

bezahlen, so sieht<br />

die Realität leider allzu häufig<br />

aus.“<br />

Und beim Dauer-Streit<br />

ums liebe Geld fallen die<br />

wahren Probleme weiterhin<br />

unter den Tisch: „Wie sollen<br />

junge Menschen denn<br />

motiviert werden“, fragt der<br />

Bildungsexperte <strong>Die</strong>ter Dohmen,<br />

„wenn sie so oder so<br />

kaum einen Ausbildungsplatz<br />

finden?“ Chancen haben<br />

aber viele nur, wenn<br />

sie in der Schule individuell<br />

gefördert werden – anstatt<br />

sie strikt nach Leistungskriterien<br />

auszusieben. So<br />

dreht sich die Frust-Spirale<br />

weiter. Ein Systemfehler,<br />

glaubt Familienberater Mathias<br />

Voelchert: „<strong>Die</strong> Schule<br />

sucht nach den Schwächen<br />

der Schüler und produziert<br />

auf diese Weise mehr<br />

Bildungsverlierer, als wir<br />

uns leisten können.“ <strong>Die</strong>ser<br />

alte Typus der „Abrichtungsschule“<br />

sei am Ende, findet<br />

Voelchert – und fordert<br />

einen Paradigmenwechsel:<br />

„<strong>Die</strong> Alternative zu Gehorsam<br />

ist nicht Ungehorsam,<br />

sondern Verantwortung. Es<br />

ist die Aufgabe der Eltern<br />

und Lehrer, den Kindern und<br />

Jugendlichen diese innere<br />

Haltung vorzuleben.“<br />

Statt des Leistungsdrucks<br />

könnte so in der Schule der<br />

Zukunft ein neuer Umgang<br />

miteinander gelehrt und gelernt<br />

werden. <strong>Die</strong>ser Wandel<br />

müsse mit der Lehrerausbildung<br />

beginnen, findet der Sozialpädagoge<br />

Pat Flatau: „Ich<br />

wünsche mir Lehrerinnen<br />

und Lehrer, die selektiv offen<br />

sind und sich mit ihren<br />

Fähigkeiten und Mängeln<br />

zeigen können. <strong>Die</strong> ihren<br />

eigenen Lebensplan als eine<br />

der vielen Möglichkeiten des<br />

Lebbaren begreifen.“<br />

In Schulen, die von einem<br />

solchen Geist erfüllt sind,<br />

wäre auch die Forderung von<br />

A n k e<br />

K o c h<br />

R ö t -<br />

t e r i n g<br />

leichter zu<br />

erfüllen. <strong>Die</strong><br />

Malerin ist<br />

M u t t e r<br />

eines 14jä<br />

h r igen<br />

Sohnes mit<br />

Down Syndrom:<br />

„Es ist höchste Zeit<br />

für die Inklusive Schule, in<br />

der Kinder und Jugendliche<br />

mit und ohne Behinderung<br />

entsprechend ihren individuellen<br />

Fähigkeiten gemeinsam<br />

lernen.“ Dass dies ohne weiteres<br />

möglich wäre, zeigt ein<br />

Blick in Richtung Norden: In<br />

Deutschland werden nur 12<br />

Prozent der behinderten Kinder<br />

in allgemeinen Schulen<br />

unterrichtet, in den skandinavischen<br />

Ländern dagegen bis<br />

zu 80 Prozent. Und am Ende<br />

ließen sich so auch noch Kosten<br />

sparen. Tagebuch-Autor<br />

Keyvan Dahesch, selbst von<br />

Geburt an blind, erinnert an<br />

einen Ausspruch von Richard<br />

von Weizsäcker: „Was im<br />

Vorhinein nicht ausgegrenzt<br />

wird, muss hinterher nicht<br />

eingegliedert werden.“<br />

<strong>Die</strong> Beiträge komplett zum<br />

Nachlesen stehen im Internet<br />

unter: die<strong>Gesellschafter</strong>.de/<br />

tagebuch<br />

Meinung<br />

Stasi 2.0 – <strong>Die</strong> „Visa-Warndatei“<br />

arzt und Globalisierungskritiker Niklas Schurig kommentiert<br />

<strong>Der</strong> Datenschützer und Globalisierungskritiker<br />

Niklas<br />

Schurig kommentiert die<br />

von der Großen Koalition<br />

geplante Einführung einer<br />

„Visa-Warndatei“. In dieser<br />

sollen alle Menschen<br />

erfasst werden, die visumspflichtige<br />

Ausländer zu sich<br />

nach Hause einladen.<br />

Auch Gastfreundschaft wird<br />

ab jetzt mit deutscher Gründlichkeit<br />

überwacht. Dass der<br />

Staat damit wieder 99 Prozent<br />

seiner Bürger zu Unrecht<br />

misstraut, sollte uns ebenfalls<br />

misstrauisch werden lassen.<br />

<strong>Die</strong> realen Auswirkungen<br />

dieser neuen rassistischen<br />

Schnüffeldatei werden vor<br />

allem jene Menschen spüren,<br />

die Globalisierung leben: Kir-<br />

DIE INITIATIVE<br />

a„In<br />

was für einer Gesellschaft<br />

wollen wir leben?“<br />

Auf der Internetseite<br />

die<strong>Gesellschafter</strong>.de<br />

werden Antworten auf diese<br />

Frage gesammelt, diskutiert<br />

und kommentiert.<br />

aWer<br />

sich freiwillig engagieren<br />

möchte, kann in einer Datenbank nach<br />

wohnortnahen Adressen von Verbänden<br />

und Initiativen suchen.<br />

aNeue<br />

Ideen für Projekte und Aktionen<br />

können mit bis zu 4000 Euro gefördert<br />

werden.<br />

aIn<br />

speziellen Themenforen können Themen<br />

wie Armut, Bildung, Familienpolitik,<br />

Teilhabe, Konsum und Glück, Umwelt,<br />

chen, Sportclubs, Festivalveranstalter<br />

und insbesondere<br />

internationale Familien. Sie<br />

alle werden bereits jetzt an<br />

den Grenzen wie Verbrecher<br />

erkennungsdienstlich erfasst,<br />

pauschal auf Vorrat gespeichert<br />

und mit anderen geheimen<br />

Listen verknüpft. Und<br />

ausländische Geheimdienste<br />

und befreundete Diktaturen<br />

wie Russland oder China<br />

freuen sich über diese neuen<br />

Datenquellen – es ist immer<br />

gut zu wissen, welche Dissidenten<br />

und Menschenrechtsaktivisten<br />

sich gerade in welchem<br />

Land befinden.<br />

Ziel dieser Datei ist, die<br />

bereits jetzt fast unüberwindbaren<br />

Außengrenzen der EU –<br />

geschützt durch Kriegsschiffe<br />

und Drohnen –, tödlich für tau-<br />

Datenschützer<br />

Niklas Schurig<br />

engagiert sich<br />

seit 2001 für das<br />

Netzwerk attac.<br />

sende Flüchtlinge jedes Jahr,<br />

noch effektiver zu machen.<br />

Statt nur die Außengrenzen<br />

gegen die zunehmenden Klimaflüchtlinge<br />

abzuschotten,<br />

wird diese Liste einen weiteren<br />

Überwachungsschleier<br />

über unbescholtene Bürger,<br />

deren Freunde und Verwandte<br />

legen. Mehr Überwachung<br />

bringt jedoch nicht mehr<br />

Sicherheit. Und kein Bürger<br />

ist in diesen geheimen Datenbanken<br />

mehr unverdächtig,<br />

sondern nur noch nicht verdächtig<br />

– Stasi 2.0.<br />

Wirtschaft und Arbeit aktiv<br />

und kontrovers diskutiert<br />

werden.<br />

aZu<br />

den Diskussionen tragen<br />

auch Persönlichkeiten<br />

des öffentlichen Lebens<br />

(Wissenschaftler, Künstler,<br />

Unternehmer etc.) bei. Sie<br />

erläutern ihre Konzepte und Modelle für<br />

die Fortentwicklung unserer Gesellschaft<br />

und stellen sie zur Diskussion.<br />

aIn<br />

einem Tagebuch stellt täglich ein anderer<br />

Gastkommentator eine Zeitungsmeldung<br />

des Tages vor und kommentiert sie.<br />

a<strong>Die</strong><br />

<strong>Gesellschafter</strong>-Zeitung kann online<br />

heruntergeladen und kostenfrei bestellt<br />

werden.


Zutritt verboten für Eltern und Jungs<br />

Von Hannah Schepers<br />

Laute Technomusik schallt<br />

aus dem Erdgeschoss, orientalischer<br />

Gesang aus den<br />

Dachfenstern. Beim Betreten<br />

des gelb gestrichenen<br />

Hauses am Marienplatz in<br />

Dinslaken/Lohberg werden<br />

die Technoklänge leiser,<br />

stattdessen ist nun<br />

gleichmäßiges Getrappel<br />

aus dem Obergeschoss<br />

zu hören. Hier, in einer<br />

Dreizimmerwohnung, üben<br />

Reyhan (17), Betül (14) und<br />

Funda (15) Tanzschritte ein.<br />

„Tanzen ist super“, sagt<br />

Betül und dreht die Musik<br />

ab. Pause!<br />

„Mädchentreff“ steht an der<br />

Klingel der Wohnung, doch<br />

inzwischen ist sie weit mehr<br />

als ein „Treff“. „Für die Mädchen<br />

ist die Wohnung zu<br />

einem zweiten Zuhause geworden“,<br />

erzählt Thomas Ochtrop,<br />

Leiter der katholischen<br />

Offenen Tagesstätte Lohberg<br />

der Caritas. Gemeinsam mit<br />

Kollegen initiierte er 2006<br />

das Projekt „Raum schaffen“.<br />

Im doppelten Wortsinne: <strong>Die</strong><br />

Idee war, dass die Mädchen<br />

im Stadtteil hier ihre Freizeit<br />

verbringen können. Und: <strong>Die</strong><br />

Mädchen mussten selbst anpacken<br />

– sie waren in Planung,<br />

Gestaltung und Einrichtung<br />

der Wohnung einbezogen.<br />

In der Küche stehen Kaffeemaschine<br />

und Wasserkocher,<br />

auf den Sofas liegen bunte<br />

Kissen. Ein hartes Stück Arbeit<br />

sei es gewesen, für eine<br />

gemütliche Atmosphäre zu<br />

sorgen, erzählt Funda: „Wir<br />

haben alles selber gestrichen<br />

und gestaltet. Es hat Spaß gemacht,<br />

aber es war manchmal<br />

anstrengend.“ Doch die Mädchen<br />

hätten dabei gelernt, so<br />

Ochtrop, eigenverantwortlich<br />

und im Team zu arbeiten.<br />

Junge Journalisten<br />

In Lohberg ist Multikulturalität<br />

eine Selbstverständlichkeit:<br />

Knapp die Hälfte der<br />

Bewohner des Dinslakener<br />

Stadtteils hat einen Migrationshintergrund.<br />

Und genau<br />

deshalb ist Mädchenarbeit in<br />

Lohberg so wichtig: Türkische<br />

Eltern zum Beispiel lassen ihren<br />

Töchtern nicht immer die<br />

Freiräume, die für deutsche<br />

Jugendliche selbstverständlich<br />

sind. Vor Projektbeginn<br />

gab es für Mädchen in Lohberg<br />

keine Rückzugsmöglichkeit:<br />

„<strong>Die</strong> Mädchen treffen<br />

hier im Stadtteil ständig<br />

Verwandte und Bekannte, sie<br />

sind nie unter sich“, sagt Julia<br />

Tatai, die das Projekt betreut<br />

und bei allen Treffen dabei<br />

ist. Männer – einschließlich<br />

Thomas Ochtrop – haben in<br />

der Wohnung nämlich nichts<br />

zu suchen.<br />

Während es für die Mädchen<br />

zum Problem werden<br />

kann, dass Lohberg ein<br />

„Dorf“ ist, in dem jeder<br />

jeden kennt, sieht Ochtrop<br />

auch die Potenziale der fa-<br />

Dezember 2008<br />

Junge Deutschtürkinnen renovieren Dinslakener wohnung – ein Rückzugsraum nur für Mädchen<br />

Geschafft! Junge Dinslakenerinnen in der neuen wohnung.<br />

Foto: Picture alliance<br />

Gerade junge Türkinnen verstehen es, kulturen und Mentalitäten zu verbinden.<br />

Foto: hannah Schepers<br />

miliären Atmosphäre: „<strong>Die</strong><br />

Menschen kennen sich und<br />

helfen einander.“ Es gebe<br />

viel Offenheit und Toleranz.<br />

Allen Problemen – wie unzureichender<br />

Integration oder<br />

Arbeitslosigkeit – zum Trotz.<br />

Auch der Caritas kamen die-<br />

se Vorteile der „Dorfgemeinschaft“<br />

zugute: „Wir mussten<br />

nur einen Hinweis aushängen,<br />

dann haben sich unsere<br />

Pläne schnell herumgesprochen.“<br />

Zudem genieße die<br />

Caritas einen guten Ruf: „<strong>Die</strong><br />

Eltern haben keine Sorge, ihre<br />

Kinder zu uns zu schicken“,<br />

erzählt Ochtrop. Sie wissen:<br />

In dem „Mädchentreff“<br />

sind ihre Töchter unter sich,<br />

in einem geschützten Raum<br />

ohne Jungs. Und Julia Tatai<br />

ist gleichermaßen Ansprechpartnerin<br />

für die Mädchen wie<br />

auch für die Eltern. Manchmal<br />

sei es nicht einfach, sich in<br />

die Besonderheiten der muslimischen<br />

Kultur einzufinden,<br />

sagt sie. Aber sie lerne auch<br />

viel über die andere Kultur<br />

– zum Beispiel beim Tanzen.<br />

Vertrauensvorschuss<br />

für die Caritas<br />

Bei diesem Stichwort bekommen<br />

die drei Mädchen leuchtende<br />

Augen, Tanzen ist ihre<br />

große Leidenschaft und neben<br />

dem Reden auch der größte<br />

Reiz, in die „eigene“ Wohnung<br />

zu kommen. Dass die Musik<br />

schon mal auf lautester Stärke<br />

läuft, stört hier niemanden:<br />

„Es ist o.k., die Mädchen können<br />

hier ganz sie selber sein,<br />

müssen sich nicht beobachtet<br />

fühlen“, so Tatai. Denn<br />

manchmal seien Jungs nervig<br />

und störend, sagt Funda.<br />

Ganz ohne Jungs geht es<br />

natürlich nicht: Reyhan, Betül<br />

und Funda kennen durchaus<br />

den Wunsch nach Spaß und<br />

Party mit Jungs. Dank der<br />

Angebote der Offenen Tagesstätte<br />

lässt sich ein Mittelweg<br />

finden. „Wir unterstützen die<br />

Mädchen darin, mit den<br />

Jungs zusammen Ausflüge zu<br />

machen“, so Ochtrop. Denn:<br />

„Ausflüge in der Gruppe erlauben<br />

die Eltern. Sie wissen:<br />

In der Gemeinschaft passiert<br />

nichts.“<br />

JugENDpRESSE STELLT pROJEKTE VOR<br />

aNachwuchsjournalisten<br />

der Jugendpresse Deutschland<br />

im Alter von 16 bis<br />

27 Jahren haben bundesweit<br />

Projekte besucht, die<br />

im Rahmen der <strong>Gesellschafter</strong>-Initiativegefördert<br />

werden. Sie sammelten<br />

Eindrücke, sprachen<br />

mit den Beteiligten und<br />

portraitierten verschiedene<br />

Einrichtungen.<br />

aIdeen<br />

für eine lebenswertere<br />

Gesellschaft gibt es viele.<br />

Nicht immer gelingt es, diese<br />

Realität werden zu lassen.<br />

die<strong>Gesellschafter</strong>.de unterstützt<br />

engagierte Menschen<br />

bei der Umsetzung ihrer<br />

Ideen in konkrete Projekte<br />

mit bis zu 4000 Euro.<br />

aAnträge<br />

können gestellt<br />

werden unter: foerderung.<br />

aktion-mensch.de


4 Dezember 2008<br />

„Wir sind Clowns und wir sind frei!“<br />

Raus aus dem Zirkus – und auf die Straße: widerstand, gewalt-, aber nicht spaßfrei<br />

Von Elias Bierdel<br />

<strong>Die</strong> Protestkultur in Deutschland<br />

ist in den letzten<br />

Jahren sichtbar bunter geworden:<br />

Bei Demonstrationen<br />

treten immer häufiger<br />

junge Frauen und Männer in<br />

Clowns-Kostümen auf, die<br />

für erhebliche Verwirrung<br />

sorgen. Es sind Mitglieder<br />

der „Clowns-Armee“, die<br />

sich lustvoll und bestens<br />

organisiert ins Getümmel<br />

stürzen. Wer steckt dahinter?<br />

Was wollen die<br />

rotnasigen Truppen? Unser<br />

Reporter Elias Bierdel<br />

hat versucht, der Sache<br />

im Selbstversuch auf den<br />

Grund zu gehen – als Rekrut<br />

in einem Trainingscamp der<br />

„Clowns-Armee“.<br />

<strong>Die</strong> letzten Anweisungen von<br />

„Rädelsführer Carraldo“ sowie<br />

Informationen zum genauen<br />

Treffpunkt hatte es kurzfristig<br />

per E-Mail gegeben:<br />

„... bequeme Klamotten mitbringen<br />

sowie Utensilien zur<br />

Gestaltung einer Multiform<br />

(der speziellen Clowns-Variante<br />

der Uniform). Rote Nasen<br />

und Schminksachen werden<br />

gestellt.“ Natürlich muss es<br />

in einer heimlichen Armee<br />

hoch konspirativ zugehen.<br />

Kein Schild weist deshalb den<br />

Weg durch das Labyrinth des<br />

alternativen Kulturzentrums<br />

„Alte Feuerwache“ im Kölner<br />

Agnes-Viertel. <strong>Die</strong> neuen RekrutInnen<br />

müssen sich schon<br />

selbst durchfragen. Immerhin<br />

45 angehende Clownsrebellen<br />

haben diese erste Prüfung be-<br />

standen und sitzen schließlich<br />

an einem Freitagabend zur<br />

Begrüßungsrunde auf dem<br />

schon recht ramponierten <strong>Die</strong>lenboden.<br />

Gerade mal 17 Jahre zählt<br />

der jüngste Teilnehmer, ein<br />

eher zartgliedriger Schüler<br />

aus Aachen. Das Gros in der<br />

Runde befindet sich in den<br />

20ern, etwa gleich viele<br />

Frauen und Männer: Es dominieren<br />

kunstvoll-verfilzte<br />

„Dreadlock“-Frisuren, weit<br />

geschnittene Pullis und Hosen<br />

in Naturfarben. Gelegent-<br />

IN DER TRADITION DER NARREN<br />

<strong>Die</strong> „Clandestine Insurgant<br />

Rebel Clown Army“ (Heimliche<br />

aufständische Rebellen-<br />

Clown-Armee) trat erstmals<br />

im Jahr 2000 in Großbritannien<br />

öffentlich in Erscheinung.<br />

<strong>Die</strong> Initiatoren<br />

wollten „die Clowns aus<br />

dem Zirkus befreien, wo<br />

sie zu belanglosen Spaßmachern<br />

zur Volksbelustigung<br />

degeneriert“ seien. Vielmehr<br />

solle die anarchische gesellschaftliche<br />

Kraft der Clowns<br />

in der Tradition der Narren<br />

des Mittelalters wieder er-<br />

Fotos: Michael Bause<br />

Reportage<br />

Echte Militärs würden sich wohl die haare raufen, denn uniform sind bei diesen „Soldaten“ nur die roten Nasen.<br />

weckt werden. Dabei gilt<br />

Gewaltfreiheit als oberstes<br />

Prinzip. Bei Großdemonstrationen<br />

in ganz Europa (und<br />

in Israel) sind mittlerweile<br />

Clowns anzutreffen, die<br />

durch militärisch-präzise<br />

Manöver sowohl Ordnungshüter<br />

als auch gewaltbereite<br />

Demonstranten irritieren. In<br />

Deutschland machten sie<br />

erstmals 2007 beim G8-Gipfel<br />

in Heiligendamm auf sich<br />

aufmerksam. Bundesweit<br />

wird die Zahl der Aktivisten<br />

auf rund 400 geschätzt.<br />

lich blitzt ein winziger Brillant<br />

aus einem Nasenstecker,<br />

glänzt ein Stahlstift aus einer<br />

Augenbraue. <strong>Der</strong> Eine oder<br />

die Andere hat sein Strickzeug<br />

mitgebracht. <strong>Die</strong> meisten<br />

hier sind an irgendeiner Uni<br />

eingeschrieben. Mehr muss<br />

niemand wissen – schließlich<br />

geht es ja hier auch um wichtigere<br />

Dinge: die Befreiung<br />

des „inneren Clowns“.<br />

Gleich am nächsten Morgen<br />

steht „Theorie“ auf dem Ausbildungsplan.<br />

„Rädelsführer<br />

Carraldo“, Armee-Clown der<br />

ersten Stunde, kann sich bei<br />

den noch leidlich verschlafenen<br />

Rekruten zunächst<br />

nicht recht verständlich machen:<br />

„Dein Clown ist keine<br />

Rolle, die du spielst, um<br />

Leute zum Lachen zu bringen.<br />

Dein Clown ist eine<br />

Figur, die du aus dir selbst<br />

erschaffst. Wie genau sich<br />

diese Figur nachher verhält,<br />

kann niemand wissen. Nicht<br />

einmal du selbst!“ Gelangweilte<br />

Gesichter, bestenfalls<br />

halbherziges Grübeln im Sitzkreis.<br />

Ja, wie denn nun?<br />

Weitere Kernbegriffe fallen<br />

– „Authentizität“, „Spontaneität“,<br />

„Expressivität“ ...<br />

„Täterää-tätät!“, ruft ein<br />

vorlauter Nachwuchsclown<br />

dazwischen. So endet die<br />

Theoriestunde wenigstens in<br />

allgemeinem Gelächter.<br />

Zwischen Hüftschwung<br />

und Rolle vorwärts<br />

Als es an die praktischen<br />

Übungen geht, sind sofort alle<br />

hellwach. „Jules“, der sanftmütige<br />

Ausbildungsoffizier,<br />

gibt die Aufgabe bekannt:<br />

einzeln sollen die künftigen<br />

Rebellenclowns hinter einem<br />

Vorhang herausspringen und<br />

„Jippieeh!“ rufen. Klingt einfach,<br />

entpuppt sich aber<br />

als große Herausforderung.<br />

Kaum zu glauben, aber es<br />

gibt tatsächlich 45 komplett<br />

unterschiedliche, individuelle<br />

Darbietungen zu sehen,<br />

<strong>vom</strong> schüchtern-fragenden bis<br />

hin zum triumphal-herausgeschmetterten<br />

„Jippieh“-Ruf,<br />

nebst Hüftschwung und Rolle<br />

vorwärts! Das macht sichtlich<br />

allen Spaß. „Es ist schön, dass<br />

wir alle so verschieden sind“,<br />

findet Anja schließlich, „aber<br />

müssen wir denn unbedingt<br />

eine Armee bilden? Ist das<br />

nicht ein Widerspruch?“ <strong>Die</strong><br />

Anwort kann nur ein gewiefter<br />

Altclown wie „Lefou“<br />

geben: „<strong>Der</strong> Clown kümmert<br />

sich nicht um Logik. Deshalb<br />

kann er widersprüchlich sein,<br />

ohne darunter zu leiden!“<br />

Schließlich hätten die<br />

Clowns ja einen Kampf zu<br />

führen, so lernen wir. Und:<br />

„Keine Nase kämpft für sich<br />

allein“, fügt unser Ausbilder<br />

mahnend hinzu. „Deshalb<br />

schließen wir uns ja zur<br />

heimlichen Rebellen-Armee<br />

zusammen!“ Doch so einfach<br />

lässt sich Anja nicht abspeisen,<br />

sie ist hartnäckiger, als<br />

ihre sanfte Stimme vermuten<br />

lässt : „Worum geht es denn<br />

in diesem Kampf?“ Allgemeine<br />

Zustimmung, das wollten<br />

offenbar alle schon lange mal<br />

gefragt haben. „Unser Kampf“,<br />

hier macht „Jules“ eine feierliche<br />

Pause, „richtet sich gegen<br />

jede Art der Unterdrückung!“<br />

„Schließt dieser Kampf auch<br />

die Anwendung von Gewalt<br />

ein?“, will ein Teilnehmer<br />

wissen, der nach eigenem Bekunden<br />

„damals beim Castor“<br />

von etlichen Gummiknüppeln<br />

getroffen wurde. Schlagartig<br />

wird es still im Raum.<br />

„Gewalt muss auf jeden Fall<br />

ausgeschlossen sein!“, gibt der<br />

„Rädelsführer“ die Devise aus.<br />

„Wir Clowns greifen repressive<br />

Normen an, wir brechen Muster<br />

auf und wollen so ein neues<br />

Denken, einen neuen Umgang


miteinander ermöglichen. Und<br />

das kann selbstverständlich<br />

nur heißen: absoluter Gewaltverzicht!“<br />

„Und wenn die<br />

Bullen auf uns einprügeln?“,<br />

wird der „Castor“-Veteran nun<br />

deutlicher. „Unsere Methode<br />

ist die Parodie“, legt sich „Carraldo“<br />

fest, „wir verspotten die<br />

Autoritäten zum Zeichen, dass<br />

wir uns nicht unterwerfen.<br />

Aber niemals beantworten wir<br />

Gewalt mit Gegengewalt: Ein<br />

einziger Clown, der einen Stein<br />

wirft, gefährdet die ganze<br />

Bewegung!“ Und „Jules“ berichtet,<br />

wie man sowohl allzu<br />

sportliche Polizisten als auch<br />

gewaltbereite Demonstranten<br />

durch „Spiegelung“ entlarven<br />

kann: „Da stelle ich mich als<br />

Clown daneben und mache<br />

dieses ganze aufgeblasene Gehabe<br />

nach, übersteigere es ins<br />

Lächerliche ... das wirkt!“ Er<br />

führt zur Veranschaulichung<br />

einige filmreife Posen vor.<br />

Am Sonntag wird es endlich<br />

ernst, wir ziehen zum „Drill“<br />

ins Freie. <strong>Der</strong> heruntergekommene<br />

Spielplatz in einem<br />

Kölner Park ist das Trainingsgelände.<br />

In unseren selbstgebastelten<br />

Multiformen, je nach<br />

Geschmack aus militärischen-<br />

und clownesken Elementen<br />

zusammengestellt, stehen tatsächlich<br />

39 frischgebackene<br />

Clowns-Rekruten (sechs sind<br />

mittlerweile abgesprungen) in<br />

Reih und Glied. <strong>Die</strong> meisten<br />

Spaziergänger können ein Lächeln<br />

nicht unterdrücken, als<br />

sie unvermutet auf die schrille<br />

Versuch des Interviews mit<br />

einer Clownin. „Vila“ ist<br />

nach eigenen Angaben „so<br />

alt wie eine Schildkröte,<br />

aber eine kleine!“ Ohne die<br />

obligatorische rote Nase<br />

sieht sie allerdings auf den<br />

ersten Blick eher aus wie<br />

eine ganz normale Pädagogik-Studentin<br />

aus Norddeutschland.<br />

(„Vila“ nestelt an den Knöpfen<br />

ihrer Jacke herum): „Er liebt<br />

sich, er liebt sich nicht ...“<br />

Eine schöne Jacke<br />

hast du an.<br />

Das weiß ich selber.<br />

Darf ich dir ein paar<br />

Fragen stellen?<br />

Foto: Michael Bause<br />

Truppe stoßen. Nur eine ältere<br />

Dame, die einen ziemlich<br />

runden Dackel hinter sich<br />

herzieht, scheint das Ansehen<br />

der Wehrmacht ernsthaft in<br />

Gefahr zu sehen: „Eine Unverschämtheit!<br />

Sowas hätte<br />

es damals nicht gegeben!“<br />

Dem können die Clowns nur<br />

zustimmen. „Danke für den<br />

Hinweis!“, ruft einer. Frauchen<br />

sowie Dackel ziehen Leine.<br />

Eine bunte Schar ohne<br />

Ernst und Hierarchie<br />

Tatsächlich hätte es das, was<br />

nun folgt, „früher“ ganz gewiss<br />

nicht gegeben: die bunte Schar<br />

marschiert, tippelt, hüpft oder<br />

kriecht nach jedem neuen<br />

Kommando. „Socke“, „Bauch“<br />

oder „Ärscheln“ heißen die<br />

Befehle. Gegeben werden sie<br />

– das gibt es in keiner anderen<br />

Armee der Welt! – von jedem,<br />

der gerade Lust hat. Zwar gibt<br />

es ältere, erfahrene Clowns,<br />

von denen die jüngeren Ratschläge<br />

entgegennehmen.<br />

Aber eine Hierarchie kennen<br />

die Clowns nicht.<br />

Jeder kann per Internet<br />

einen Aufruf verschicken –<br />

und muss warten, ob andere<br />

Clowns sein Anliegen unterstützen.<br />

Auch im Einsatz ist einer<br />

genau so lange Anführer,<br />

wie die anderen ihm folgen.<br />

Notfalls wird ein Plenum einberufen,<br />

auf dem die Rotnasen<br />

– untergehakt wie Eishockey-<br />

Spieler – entscheiden, wie es<br />

weitergeht.<br />

<strong>Die</strong> clowns-armee in aktion.<br />

Reportage Dezember 2008 5<br />

Dass unter diesen Umständen<br />

überhaupt noch irgendeine koordinierte<br />

Bewegung zustande<br />

kommt, grenzt an ein Wunder.<br />

Aber die Sache funktioniert:<br />

wenn die bunt verkleideten<br />

„Gaggles“ (jede Einheit umfasst<br />

jeweils bis zu 10 Clowns)<br />

ausrücken, geben sie sich zuvor<br />

einen eigenen Einsatzbefehl,<br />

der möglichst entlarvend<br />

wirken soll. Da werden zum<br />

Beispiel Passanten lauthals vor<br />

„drohenden touristischen Angriffen“<br />

gewarnt oder vor dem<br />

Anstieg des Rheinpegels, „weil<br />

ja die Tarnkappen abschmelzen!“.<br />

Kaum jemand, der sich<br />

angesichts solcher Gefahrenlagen<br />

nicht gerne mittels<br />

was machen clowns<br />

denn lieber?<br />

Unordnung schaffen, Chaos<br />

stiften, äußerst verzwickte<br />

Verwirrungen anzetteln,<br />

knuddeln bis die Feuerwehr<br />

anrückt. Was so anliegt eben.<br />

aber ihr seid eine<br />

richtige armee?<br />

Na klar, und wie! Au ja, endlich<br />

mal eine richtige Armee!<br />

Eine superbunte, voll zackige,<br />

klasse durchgeknallte Spitzen-Armee!<br />

Wir helfen überall<br />

da, wo die Staatsmacht nicht<br />

mehr weiter weiß.<br />

Ihr helft der Polizei?<br />

Naja, die kommen doch oft<br />

gar nicht mehr klar. Dann begleiten<br />

wir die armen Staats-<br />

Wasserfarben-Malkasten bereitwillig<br />

die Fingerabdrücke<br />

nehmen ließe. Wenn sich so<br />

irgendjemand zum Nachdenken<br />

anregen ließe, wäre schon<br />

das erste Freiluft-Training ein<br />

voller Erfolg. „Ein einzelner<br />

Clown kann von außen als<br />

Spinner abgetan werden. Aber<br />

wenn viele Clowns in gleicher<br />

Weise spinnen, dann lässt sich<br />

das nicht mehr ignorieren.<br />

Denn die Menschen sind es<br />

gewohnt, sich an der Mehrheit<br />

zu orientieren“, gibt uns<br />

Ausbilder „Jules“ noch mit auf<br />

den Weg.<br />

Nun, bis die Clowns die<br />

Mehrheit stellen werden, ist<br />

es sicherlich noch eine Weile<br />

diener, damit sie sich zum<br />

Beispiel auf einer Demo nicht<br />

so verloren fühlen. Mit einem<br />

Clown an deiner Seite sieht<br />

das Leben doch gleich wieder<br />

besser aus und die Arbeit geht<br />

viel besser von der Hand in<br />

den Mund! Und andersherum<br />

auch.<br />

warum bist du zur clownsarmee<br />

gegangen?<br />

Oder ist die Clownsarmee zu<br />

mir gekommen? Ich weiß es<br />

nicht mehr. Ich glaube, das<br />

war eine Idee meines Steuerverdrahters.<br />

Ich sollte endlich<br />

mal was Vernünftiges tun!<br />

(kichert)<br />

ach, die clowns sind also<br />

doch vernünftig?<br />

hin. Aber dass es stetig mehr<br />

werden, lässt sich wohl nicht<br />

mehr aufhalten. Denn auf der<br />

Suche nach neuen Formen<br />

des Protests ist die rotnasige<br />

Rebellenarmee bei jungen<br />

Widerständlern ziemlich angesagt.<br />

Und ihre Marschlieder<br />

treffen wohl den Ton<br />

der Zeit: „Wir sind Clowns<br />

und wir sind frei“, heißt es in<br />

einem. Ein anderer verweist<br />

auch auf die Hippiebewegung<br />

als Vorläufer des heutigen<br />

Rebellennachwuchses: „Left,<br />

right, left – love and respect.“<br />

Tatsächlich sieht man die ein<br />

oder andere Blume im Haar.<br />

Manches ist eben doch wie<br />

„früher“. Nur später.<br />

Wenn die Staatsmacht nicht mehr weiter weiß<br />

Bei clowns ist es wie bei Politikern: Nimmt man sie beim wort, bleiben Überraschungen nicht aus<br />

Nö. Ich glaube, meine Clownin<br />

will das nicht.<br />

warum?<br />

Vielleicht ist sie ein bisschen<br />

schüchtern, vielleicht hat sie<br />

einfach keine Lust. Keine Ahnung.<br />

Clowns machen meistens<br />

nicht das, was man gerade<br />

von ihnen erwartet.<br />

<strong>Der</strong> närrische Protest ist einfach umwerfend komisch, entkrampft und löst so viele Spannungen.<br />

Hast du Radieschen in der Nase?<br />

Ich sagte doch ausdrücklich:<br />

Unvernünftig!<br />

Nein, du hast „vernünftig“<br />

gesagt. Ich habe es ja eben<br />

auf dem Bandgerät aufgenommen<br />

...<br />

Das habe ich überhaupt und<br />

ganz und gar nicht! Aha, du<br />

glaubst also deinem blöden<br />

Band mehr als meinen eigenen<br />

frisch geduschten Ohren!?<br />

wir könnten es ja<br />

zusammen abhören?<br />

Das können wir eben nicht!<br />

Denn jetzt hast du mich beleidigt<br />

und ich sage gar nichts<br />

mehr. Ätsch!<br />

Interview: Elias Bierdel


6 Dezember 2008<br />

„Nur noch inszenierte Konflikte“<br />

colin crouch über die chancen, der Demokratie wieder mehr Leben einzuhauchen<br />

Immer mehr politische Entscheidungen<br />

werden in Hinterzimmern<br />

getroffen, die<br />

Wirtschaftseliten gewinnen<br />

an Macht, die Parteien reagieren<br />

hilflos. <strong>Der</strong> britische<br />

Politikwissenschaftler Colin<br />

Crouch beschreibt in seinem<br />

gleichnamigen Buch<br />

die Gefahren der „Postdemokratie“.<br />

Sie schreiben, weltgeschichtlich<br />

betrachtet sei<br />

die Demokratie an einem<br />

höhepunkt angelangt.<br />

heißt das: Von nun an<br />

geht’s bergab?<br />

Ich sage nicht, dass wir uns<br />

bereits in einem Zustand<br />

der Postdemokratie befinden,<br />

aber wir bewegen uns in diese<br />

Richtung. In diesem Zustand<br />

sind noch alle demokratischen<br />

Institutionen – wie Parteien<br />

oder Wahlen – vorhanden. Das<br />

Problem ist, dass die politische<br />

Energie aus diesen Institutionen<br />

entweicht, weil kleine<br />

politisch und wirtschaftlich<br />

motivierte Zirkel immer mehr<br />

Macht gewinnen.<br />

Inwiefern?<br />

<strong>Die</strong> Probleme, vor denen wir<br />

heute stehen – der Klimawandel,<br />

die Verknappung der<br />

Ressourcen, die Kontrolle der<br />

globalen Wirtschaft – kann<br />

keine nationale Regierung<br />

allein bewältigen. Sie müssten<br />

ZuR pERSON<br />

C o l i n<br />

C r o u c h ,<br />

64, lehrt<br />

am Institut<br />

für Regierungsf<br />

ü h r u ng<br />

und Öffentliches Management<br />

an der Universität<br />

Warwick in Großbritannien.<br />

Mit seinem Buch<br />

„Postdemokratie“ hat er<br />

eine der meist beachteten<br />

politischen Schriften der<br />

letzten Jahre vorgelegt.<br />

Mittlerweile wurde das<br />

Buch in sieben Sprachen<br />

übersetzt und liegt nun<br />

auch auf Deutsch vor.<br />

„Postdemokratie“, von Colin<br />

Crouch, Suhrkamp-Verlag,<br />

Frankfurt 2008, 10 €.<br />

Schwerpunk t > Demokr atie<br />

auf europäischer oder internationaler<br />

Ebene gelöst werden.<br />

Doch das klappt nicht oder<br />

kaum – wie man am<br />

Beispiel der Europäischen<br />

Union sieht.<br />

Statt dessen treten<br />

alle möglichenInteressenverbände<br />

und Lobbyisten<br />

in diese<br />

Lücke<br />

– die aber<br />

nie gewählt<br />

wurden. <strong>Die</strong><br />

eigentlichen<br />

politischen<br />

Auseinandersetzungenwerden<br />

hinter verschlossenen<br />

Türen<br />

ausgetragen.<br />

wer hat versagt?<br />

<strong>Die</strong> Parteien?<br />

Es ist für die Parteien<br />

sehr schwierig geworden<br />

zu agieren. Sie<br />

haben Angst. In einer<br />

globalen Ökonomie<br />

können die Parteien<br />

zum Beispiel kaum<br />

noch wirtschaftskritische<br />

Positionen vertreten.<br />

Sie stehen unter enormem<br />

Druck: entweder sie lassen<br />

die Unternehmen gewähren<br />

und legen ihnen möglichst<br />

wenig Regeln auf – oder sie<br />

wandern ab.<br />

Mangelnde Steuerung des<br />

Finanzsektors war eine<br />

wichtige Ursache für die<br />

krise...<br />

Genau. Wir erleben zur Zeit<br />

zwei Dinge: Zum einen sehen<br />

wir ein enges Bündnis<br />

zwischen den Regierungen<br />

und den großen Banken und<br />

Konzernen; sie ziehen in dieser<br />

Krise an einem Strang.<br />

Zum anderen können die<br />

Parteien in der Frage der<br />

Rettung des Finanzsektors<br />

keine Konflikte riskieren. Es<br />

bleibt kaum Zeit zu steuern.<br />

Das sieht man an McCain<br />

und Obama, auch bei Merkel<br />

und Steinbrück. <strong>Die</strong> Parteien<br />

profilieren sich nur noch über<br />

inszenierte Konflikte – wie die<br />

Pendlerpauschale – ,erfunden<br />

von professionellen PR-Teams.<br />

Aber bei substanziellen Fragen<br />

müssen die Parteien zusammenstehen.<br />

Foto: Picture alliance<br />

Zeichen der Ermutigung: Viele setzen sich für mehr Mitsprache ein,<br />

wie die 250.000 Unterschriftsbögen für ein Volksbegehren zeigen.<br />

Viele Menschen haben jetzt<br />

in der Bankenkrise den Eindruck,<br />

dass Geld plötzlich<br />

keine Rolle mehr spielt.<br />

<strong>Die</strong> Leute registrieren das<br />

alles sehr genau. Sie analysieren<br />

das vielleicht nicht im<br />

Detail, aber sie spüren die<br />

Konsequenzen. Wir haben<br />

eine neue Lebhaftigkeit in der<br />

politischen Diskussion. Und<br />

das ist gut so.<br />

wird es jetzt ein stärkeres<br />

Primat der Politik geben,<br />

mit mehr kontrollen, um<br />

auswüchse wie bei der<br />

jetzigen Bankenkrise nicht<br />

noch einmal zu erleben?<br />

Davon kann man zunächst<br />

einmal ausgehen. Aber nach<br />

ein paar Monaten oder Jahren<br />

werden die Banken sagen:<br />

<strong>Die</strong>se neuen Regeln sind zu<br />

streng. So können wir keine<br />

Gewinne erwirtschaften. Wir<br />

brauchen mehr Spielraum.<br />

So war es auch nach den großen<br />

Bilanz-Skandalen in den<br />

USA, zum Beispiel um den<br />

Energieriesen Enron oder den<br />

Telekom-Konzern WorldCom.<br />

Danach hat die Politik sehr<br />

strikte Regeln geschaffen. <strong>Die</strong><br />

Unternehmen haben daraufhin<br />

gesagt: O.k., dann gehen<br />

wir nach London, dort ist es<br />

einfacher für uns. Was wir<br />

brauchen, sind globale Regeln<br />

für die großen Unternehmen,<br />

aber die nationalen Demokratien<br />

sind zu schwach, um das<br />

durchzusetzen.<br />

In Deutschland zeigen Umfragen,<br />

dass nur noch 50<br />

Prozent der Menschen mit<br />

der Demokratie zufrieden<br />

sind, die Poltikverdrossenheit<br />

nimmt zu, die wahlbeteiligung<br />

ab.<br />

Ich bin überzeugt, dass das in<br />

Deutschland nur ein temporäres<br />

Problem ist. Verglichen<br />

mit der Wahlbeteiligung in<br />

Großbritannien zum Beispiel,<br />

stehen sie noch gut da. Und<br />

erst recht im Vergleich zu den<br />

USA, wo diesmal zwar mehr<br />

Menschen zur Wahl gegangen<br />

sind, aber insgesamt doch immer<br />

noch wenige.<br />

welche chancen<br />

sehen Sie, der Demokratie<br />

neues<br />

Leben einzuhauchen?<br />

Es gibt immer<br />

mehr neue<br />

soziale Bewegungen,Nichtregierungsorganisationen,<br />

und die könnten<br />

eine Hoffnung<br />

für eine Erneuerung<br />

der Parteien<br />

und ihrer Politik<br />

sein. Teilweise geschieht<br />

das auch<br />

als kritische<br />

Reaktion auf<br />

die neue politische<br />

Rolle der<br />

Konzerne. Heute<br />

gibt es für jedes große<br />

Unternehmen eine<br />

Internetseite mit<br />

Kritik an deren<br />

Politik, sei es von<br />

Bürgerinitiativen<br />

oder anderen sozialen<br />

Bewegungen, wie<br />

Attac. So entsteht ein neuer<br />

politischer Raum. <strong>Die</strong> sind<br />

zwar auch nicht demokratisch<br />

legitimiert, aber sie setzen<br />

an den Interessen und Bedürfnissen<br />

der Menschen an.<br />

Momentan ist die Beziehung<br />

dieser neuen Bewegungen zu<br />

den politischen Parteien allerdings<br />

noch sehr schwach, aber<br />

das kann sich in der Zukunft<br />

entwickeln.<br />

also ein ansatzpunkt für<br />

mehr politische Partizipation?<br />

Viele sagen, die Jugend sei<br />

unpolitisch und passiv, aber<br />

das stimmt nicht. Viele junge<br />

Menschen sind aktiv, nicht<br />

in den alten Parteien, aber<br />

in neuen Bewegungen. Auch<br />

die Freien Wählergruppen<br />

können ein wichtiges Alarmzeichen<br />

an die Adresse der<br />

etablierten Parteien senden.<br />

Gefährlich wird es, wenn<br />

das rechtsradikalen und rassistischen<br />

Parteien Auftrieb<br />

gibt. Zunächst einmal ist es<br />

aber ein gutes Zeichen, dass<br />

etwas in Bewegung gerät.<br />

Interview: Jutta <strong>vom</strong> Hofe


Mehr als jede andere Gesellschaftsform<br />

ist ein demokratisches<br />

Gemeinwesen auf<br />

die Beteiligung möglichst<br />

vieler Bürger angewiesen.<br />

Dazu gehören auch politische<br />

Bewegungen und Parteien.<br />

Bleibt der Nachwuchs aus,<br />

fehlen dem Land irgendwann<br />

diejenigen, die Politik verantwortungsbewusst<br />

gestalten.<br />

Schwerpunk t > Demokr atie Dezember 2008 7<br />

„Dann kann ich selbst etwas verändern“<br />

Von Karen Haak<br />

Wer Politik verstehen will,<br />

muss sie erleben. Doch die<br />

meisten jungen Leute schauen<br />

sich Politik höchstens in<br />

der Tagesschau an. So verpassen<br />

sie die Geschichten,<br />

die zwischen Rednerlisten,<br />

Abstimmungen und Tagesordnungen<br />

stecken. Karen<br />

Haak, 22, hat sie sich angesehen.<br />

Eine große, schwarze Limousine<br />

fährt im Nieselregen am<br />

Eingang der Kongresshalle<br />

vor. Als Andrea Ypsilanti<br />

aussteigt, ist sie sofort von<br />

Mikrofonen umringt. Männer<br />

mit breiten Schultern und<br />

dunklen Anzügen bahnen<br />

der Landesvorsitzenden der<br />

hessischen SPD den Weg<br />

durch die Journalistenmeute.<br />

Im Foyer sagt Andrea Ypsilanti<br />

ein paar Sätze in die<br />

Kameras. Sie hat heute viel<br />

vor beim Sonderparteitag der<br />

Hessen-SPD in Rotenburg an<br />

der Fulda.<br />

Mit so viel Trubel kann die<br />

Mitgliederversammlung des<br />

CDU-Ortsverbands Holweide<br />

nicht mithalten. Es ist erstaunlich<br />

warm für einen Herbst-<br />

Foto: carofoto<br />

Demokratie im parteipolitischen alltag: Delegiertentreffen, Machtinteressen, Nachwuchssorgen<br />

abend. Aber das ist nicht der<br />

Grund für die schläfrigen<br />

Gesichter im Café Klatschmohn.<br />

<strong>Der</strong> Vorsitzende trägt<br />

seinen Rechenschaftsbericht<br />

vor. Satz für Satz liest er <strong>vom</strong><br />

Blatt ab. Gelegentlich blickt<br />

er <strong>vom</strong> Papier auf. Offenbar<br />

um zu kontrollieren, ob noch<br />

alle da sind. Zuvor hatten die<br />

Holweider Christdemokraten<br />

die form- und fristgerechte<br />

Einladung festgestellt, die<br />

Tagesordnung genehmigt und<br />

den Schriftführer gewählt.<br />

Es gehört viel Überzeugung<br />

dazu, um damit seinen Feierabend<br />

zu verbringen.<br />

Aber auch den Delegierten<br />

auf dem Sonderparteitag<br />

in Hessen bleiben die obligatorischen<br />

Formalien nicht<br />

erspart. Nach der Eröffnung<br />

wählen sie das Präsidium, genehmigen<br />

die Tages- und Geschäftsordnung<br />

und bestätigen<br />

die Antragsprüfungskommission.<br />

Und die Zahlkommission<br />

sowie die Mandatsprüfungskommission<br />

werden<br />

auch noch gewählt. Auch hier<br />

gehört viel Engagement dazu,<br />

um damit seinen freien Samstag<br />

zu verbringen.<br />

Je größer die Parteiveranstaltung,<br />

desto mehr Abstim-<br />

mungen gibt es. Das scheint<br />

in Rotenburg bekannt zu sein.<br />

Aber auch die Christdemokraten<br />

in Holweide ertragen<br />

die Formalien stoisch. <strong>Der</strong> Vorsitzende<br />

gibt sich Mühe und<br />

rast durch die Abstimmungen.<br />

Da wird auch suggestiv gefragt:<br />

„Ist jemand dagegen?“.<br />

Aber das ist in Ordnung, weil<br />

das Ergebnis der Abstimmung<br />

sowieso vorher klar ist.<br />

Stehende Ovationen,<br />

minutenlanger Applaus<br />

Andrea Ypsilanti hält eine<br />

flammende Rede in Rotenburg.<br />

Sechzig Minuten lang<br />

Kampfgeist, Witz und Eigenlob.<br />

<strong>Die</strong> Delegierten feiern<br />

sie mit stehenden Ovationen<br />

und minutenlangem Applaus.<br />

Danach sinkt die gefühlte<br />

Spannungskurve im Saal allerdings<br />

dramatisch. Es ist Zeit<br />

für das Mittagessen, aber auf<br />

dem Speiseplan stehen Redebeiträge<br />

der Delegierten aus<br />

den hessischen Wahlkreisen.<br />

Wer sich vorher angemeldet<br />

hat, bekommt drei Minuten,<br />

die Bühne und das Mikro. <strong>Die</strong><br />

Redner greifen von Bildungs-<br />

bis Kulturpolitik verschiedenste<br />

Themen auf. Obwohl<br />

die Redezeit begrenzt ist,<br />

dehnen sich die Minuten zu<br />

kleinen Unendlichkeiten. <strong>Die</strong><br />

Rednerliste scheint endlos.<br />

<strong>Die</strong> Journalisten, die noch vor<br />

einer Stunde fiebrig auf ihre<br />

Laptops eingehackt haben,<br />

fläzen sich gelangweilt in<br />

ihren Stühlen. Das Plenum ist<br />

nicht besser – ab Reihe zehn<br />

übertönt das Gemurmel der<br />

Zuhörer die Lautsprecher.<br />

Für Patrick Stamm wird<br />

der Abend in Holweide spannender,<br />

nachdem die Formalien<br />

überstanden sind: Er<br />

wird für die Bezirksvertretung<br />

nominiert. Mit seiner Aufstellung<br />

reißt der 22-Jährige den<br />

Altersdurchschnitt auf der Liste<br />

dramatisch nach unten.<br />

Obwohl er noch ziemlich<br />

jung ist, stehen die Chancen<br />

für Patrick nicht schlecht,<br />

2009 in die Bezirksvertretung<br />

einzuziehen. „Dann kann ich<br />

selbst etwas verändern und<br />

gestalten“, sagt er. Aber Patrick<br />

weiß, dass die Möglichkeiten<br />

beschränkt sind.<br />

Und dass sich manche Dinge<br />

nicht ändern lassen. Am Ende<br />

der Versammlung stellt der<br />

Vorsitzende fest, dass gegen<br />

„die Wahlergebnisse, die Abstimmungsdurchführung<br />

und<br />

die ermittelten Abstimmungsergebnisse<br />

keine Einwände<br />

erhoben werden.“<br />

Fast alle Parteien<br />

verlieren Mitglieder<br />

<strong>Der</strong> deutschen Politik geht<br />

langsam aber sicher das Personal<br />

aus. 1990 hatten noch<br />

knapp 800 000 Menschen<br />

ein Parteibuch der CDU,<br />

die SPD hatte etwa 950 000<br />

Mitglieder. Heute sind beide<br />

Volksparteien etwa 530 000<br />

Personen stark. Besonders der<br />

Nachwuchs fehlt. Nur rund<br />

fünf Prozent der Mitglieder<br />

sind 29 Jahre oder jünger – sowohl<br />

in der CDU als auch in<br />

der SPD. Bei den drei kleineren<br />

Parteien sieht es nicht viel besser<br />

aus. <strong>Die</strong> Linke hatte nach<br />

der Wende noch viermal mehr<br />

Mitglieder als heute. Auch die<br />

Liberalen haben seitdem stark<br />

verloren. 64 000 Menschen<br />

sind in der FDP, 1990 waren<br />

es noch dreimal so viele.<br />

Nur die CSU und die Grünen<br />

konnten ihre Mitgliederzahlen<br />

etwa konstant halten. <strong>Die</strong><br />

CSU liegt durchschnittlich bei<br />

176 000 Mitgliedern, die Grünen<br />

hatten stets etwa 44 000<br />

Mitglieder.


8 Dezember 2008<br />

„Fortnetzung“ folgt<br />

Demokratie gestalten von unten – seit zehn Jahren gibt es aktionen rund um den 5. Mai<br />

Von Ulrich Steilen<br />

8 bis 10 Millionen schwerbehinderte<br />

Menschen leben<br />

in Deutschland. Das ist eine<br />

große Zahl, das politische<br />

Mitspracherecht der Menschen<br />

mit Behinderung in<br />

unserer Gesellschaft ist aber<br />

eher gering. Würde es ihnen<br />

gelingen, ihre Interessen zu<br />

bündeln, sich in höherem<br />

Maße als bisher zu vernetzen<br />

und mit einer Stimme zu<br />

sprechen – keine demokratisch<br />

gewählte Regierung<br />

könnte es sich leisten, diese<br />

Stimme zu überhören.<br />

Doch obwohl es in Deutschland<br />

keine gemeinsame politische<br />

Partei der Menschen<br />

mit Behinderung gibt, hat<br />

die Behindertenhilfe und<br />

-selbsthilfe in den letzten zehn<br />

Jahren für Bewegung in der Republik<br />

gesorgt. In Niedersachsen<br />

etwa. Dort wurde 2006<br />

das einkommens- und vermögensunabhängige<br />

Blindengeld<br />

wieder eingeführt, nachdem<br />

es im Jahr zuvor abgeschafft<br />

worden war. <strong>Die</strong> Aktiven in<br />

der Blindenarbeit waren hervorragend<br />

vernetzt, sodass<br />

eine Bewegung für ein Volksbegehren<br />

entstand. 200.000<br />

Unterschriften sammelte der<br />

Landesblindenverband für<br />

das Volksbegehren. Mit einem<br />

derart breit angelegten Protest<br />

hatte die Landesregierung<br />

nicht gerechnet. <strong>Die</strong> Rotstiftpolitik<br />

zu Lasten der Menschen<br />

mit Behinderung wurde<br />

rückgängig gemacht.<br />

Gemeinsames Engagement<br />

für die rechtliche Gleichstel-<br />

Jubiläumskongress „10 Jahre 5. Mai“ in der heilig-kreuz-kirche in Berlin.<br />

lung und gesellschaftliche<br />

Teilhabe zeichnete auch die<br />

„Aktion Grundgesetz“ (AGG)<br />

aus, die 1997 von über 100<br />

Organisationen und der Aktion<br />

Mensch ins Leben gerufen<br />

wurde und die seit 2006 im<br />

Rahmen der <strong>Gesellschafter</strong>-<br />

Initiative fortgesetzt wird.<br />

An jedem 5. Mai, dem Europaweiten<br />

Protesttag für die<br />

Gleichstellung von Menschen<br />

mit Behinderungen, tragen<br />

die Mitstreiter der Behindertenhilfe<br />

und -selbsthilfe<br />

„NO STEp FuRTHER“ gEWINNT ART.AWARD 08<br />

Was zeichnet den Menschen<br />

von heute aus, fragten sich<br />

Philipp Edler und Felix Hielscher,<br />

die Gewinner des<br />

ART.AWARD 08. Ihr Foto<br />

„No step further – und keinen<br />

Schritt weiter!“ will<br />

Antwort geben: Er lebt in<br />

Großstädten, hetzt von Termin<br />

zu Termin, 24 Stunden<br />

lang, 7 Tage in der Woche.<br />

<strong>Der</strong> Mensch wird zum „Arbeitstier“,<br />

zum Sklaven der<br />

Arbeits- und Geschäftswelt.<br />

Mit Handy und Kaffeebecher<br />

Foto: hartmut Reiche<br />

Schwerpunk t > Demokr atie<br />

ihre Forderungen direkt an<br />

die Öffentlichkeit, ziehen demonstrierend<br />

durch die Straßen<br />

und errichten Infostände<br />

vor Rathäusern. Vielerorts<br />

gibt es ganze Aktionswochen,<br />

wie in diesem Jahr in<br />

Heidelberg. Zwei Wochen<br />

lang wurde mit Führungen,<br />

Theater, Lesungen, Kino und<br />

einem Aktionstag auf dem<br />

Universitätsplatz auf die Lebenssituation<br />

behinderter<br />

Menschen aufmerksam gemacht.<br />

marschiert er durch die<br />

Straßen, immer erreichbar,<br />

immer 120 Prozent leistungsfähig.<br />

An jeder Straßenecke<br />

gibt es die schwarze<br />

Droge. Den strapazierten<br />

Nerven bietet sie allerdings<br />

keine Erholung, sondern<br />

lediglich einen Aufschub<br />

des Unvermeidlichen, dem<br />

„Burnout to go“.<br />

Weitere Infos unter:<br />

die<strong>Gesellschafter</strong>.de/projekt/<br />

events/art.award<br />

Durch die Plattform 5. Mai<br />

entstehen ganz neue Formen<br />

der Zusammenarbeit unterschiedlicher<br />

Gruppen und<br />

Verbände. Gemeinsame Aktionen<br />

haben in den vergangenen<br />

zehn Jahren dazu<br />

geführt, dass Behinderung<br />

als politisches Thema intensiver<br />

wahrgenommen wird<br />

als früher.<br />

Erfolg hat viele<br />

Mütter und Väter<br />

<strong>Die</strong>se Veränderung hat sich bereits<br />

rechtlich ausgewirkt. Das<br />

Behindertengleichstellungsgesetz<br />

trat am 1. Mai 2002 in<br />

Kraft. Sein Kernstück ist „die<br />

Herstellung einer umfassend<br />

verstandenen Barrierefreiheit“.<br />

Ohne die Aktion Grundgesetz<br />

hätte es das Gesetz wohl nicht<br />

gegeben. Das verdeutlicht, wie<br />

wichtig es ist, sich in der Behindertenarbeit<br />

zu vernetzen und<br />

an einem Strang zu ziehen.<br />

„Erfolg hat viele Mütter und<br />

Väter“, sagt Ottmar Miles-Paul,<br />

Behindertenbeauftragter in<br />

Rheinland-Pfalz und seit Jahren<br />

engagierter Mitstreiter des<br />

5. Mai. „Deshalb brauchen wir<br />

die Paragraphenreiter, brau-<br />

chen die Demonstranten auf der<br />

Straße und vieles mehr. Kreativität<br />

und Vielfalt der Aktionen<br />

sind wichtig und diese müssen<br />

konzertiert werden, um als breite<br />

Bewegung wahrgenommen<br />

zu werden.“<br />

<strong>Die</strong> beschleunigende Wirkung<br />

von konzertierten Aktionen<br />

und gelungener Vernetzung<br />

hat auch Oswald Utz,<br />

der Behindertenbeauftragte für<br />

die Stadt München, erfahren:<br />

„Ich habe mich immer für Niederflurbusse<br />

im öffentlichen<br />

Nahverkehr eingesetzt, hier<br />

erfolgreich zu sein, war anfangs<br />

schwierig. Aber dann gelang es<br />

uns, das Thema auch unter dem<br />

Gesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit<br />

zu transportieren.<br />

Wenige Stufen beim Einstieg<br />

heißt auch, dass die Menschen<br />

schneller zu- und aussteigen<br />

können und die Busse schneller<br />

abfahren. Das wiederum bedeutet,<br />

dass es auf einer Linie<br />

weniger Busse braucht – da ergaben<br />

sich plötzlich Allianzen,<br />

die unser Anliegen unterstützt<br />

haben.“<br />

Um in der Erfolgsspur zu<br />

bleiben, versammelten sich im<br />

September rund 150 Vertreter<br />

der Behindertenhilfe und


-selbsthilfe in Berlin zur Jubiläumstagung<br />

„10 Jahre 5. Mai“.<br />

Vernetzung war eines der zentralen<br />

Themen. Dabei wurde<br />

deutlich, dass sich ohne Absprache<br />

und gemeinsame Aktionen<br />

kein politischer Druck aufbauen<br />

lässt. Will man über die lokale<br />

Wahrnehmung hinaus bundesweite<br />

Aufmerksamkeit wecken,<br />

genügt es nicht, sein eigenes<br />

Süppchen zu kochen. Netze<br />

müssen geknüpft werden. <strong>Die</strong><br />

Aktiven in der Behindertenhilfe<br />

und -selbsthilfe verstehen dies<br />

allerdings nicht als Weckruf<br />

zur Schaffung neuer „Amigo“-<br />

Seilschaften, vielmehr wollen<br />

sie ein demokratieförderndes<br />

Geflecht von Beziehungen entstehen<br />

lassen. Denn Ute Böhnki,<br />

die Behindertenbeauftragte der<br />

Stadt Weimar, gibt zu bedenken:<br />

„Ich bin Heilerziehungspflegerin<br />

und kenne<br />

eine Menge Menschen<br />

mit Behinderungen, die<br />

ein wundervolles, selbstbestimmtes<br />

Leben haben.<br />

Traurig ist nur, dass viele<br />

Menschen von Anfang an<br />

unterfordert oder nicht als<br />

vollwertige Mitglieder dieser<br />

Gesellschaft angesehen<br />

werden. Ich bin der Meinung,<br />

dass Menschen mit<br />

Behinderung eine Bereicherung<br />

für jeden sein können.“<br />

Nicola heyn<br />

Schwerpunk t > Demokr atie Dezember 2008 9<br />

„Beim Aufbau von Netzwerken<br />

muss man darauf achten, nicht<br />

zu schnell in Abhängigkeiten<br />

– seien sie politisch, religiös<br />

oder wirtschaftlich – zu geraten.“<br />

Dennoch sei es ratsam,<br />

als Grenzgänger aufzutreten,<br />

dass heißt, verschiedene Gesellschafts-<br />

und Interessengruppen<br />

anzusprechen.<br />

Zukünftig wollen die Haupt-<br />

und Ehrenamtlichen der<br />

5. Mai-Bewegung verstärkt lokale<br />

Bündnisse mit Organisationen<br />

schließen, die aus anderer<br />

Perspektive an den selben<br />

Zielen arbeiten – zum Beispiel<br />

Seniorengruppen und Familienverbände.Überschneidungspunkte<br />

gibt es viele. <strong>Die</strong> Stufen<br />

vor dem Rathaus oder dem Kino<br />

stören eben nicht nur Menschen<br />

mit Behinderung, sondern auch<br />

„Es gibt bestimmte Schnittmengen,<br />

in denen sich alle<br />

Menschen ähneln, außerhalb<br />

dieser Schnittmengen<br />

gibt es eine ungeheure<br />

Vielfalt, in der sich die<br />

Menschen unterscheiden.<br />

<strong>Die</strong>se Unterscheidungen als<br />

inspirierend, reizvoll und<br />

gewinnbringend zu betrachten,<br />

ist die maßgebliche Herausforderung<br />

einer<br />

jeden Gesellschaft.“<br />

Peter Pichel<br />

3 die<strong>Gesellschafter</strong>.de<br />

„<strong>Die</strong> Leute sollen sich wehren“<br />

oswald Utz über mehr Rechte bei gleichzeitig schlechterer Versorgung mit hilfsmitteln<br />

<strong>Die</strong> gesetzlichen Rahmenbedingungen<br />

haben sich für<br />

Menschen mit Behinderung<br />

in den letzten Jahren verbessert.<br />

Andererseits beklagen<br />

Betroffene, dass die<br />

Bewilligung von Leistungen<br />

für Heil- und Hilfsmittel restriktiver<br />

geworden ist.<br />

herr Utz, stimmt es, dass<br />

es Schwierigkeiten bei der<br />

heil- und hilfsmittelversorgung<br />

gibt?<br />

Ja, das kann ich bestätigen.<br />

Ein großes Problem ist häufig<br />

die Prozedur, bis man den<br />

Bedarf nachgewiesen hat. Vor<br />

ein paar Jahren noch hat das<br />

niemanden interessiert. Warum<br />

jetzt? Mir drängt sich der<br />

Eindruck auf, dass von den<br />

Krankenkassen mehr Barri-<br />

Foto: Redaktion BB-M<br />

eren eingebaut werden, bis<br />

die Bedürftigen ans Ziel kommen.<br />

Manche Leute resignieren<br />

dann und sagen „kann ich<br />

nicht mehr, schaffe ich nicht<br />

mehr“. Ein anderes Problem<br />

stellt die mangelnde Wahlfreiheit<br />

bei den Hilfsmitteln dar.<br />

<strong>Die</strong> Krankenkassen schließen<br />

Verträge mit großen Herstel-<br />

oswald Utz, Behindertenbeauftragter<br />

der Stadt München<br />

ältere Bürger oder Eltern mit<br />

Kinderwagen.<br />

Wenngleich die gesetzlichen<br />

Rahmenbedingungen in den<br />

vergangenen Jahren durch<br />

die intensive Zusammenarbeit<br />

deutlich verbessert wurden,<br />

sind im Detail Verschlechterungen<br />

zu spüren. Anlass zur<br />

Sorge geben seit einiger Zeit beispielsweise<br />

die Bedingungen im<br />

Gesundheitswesen, vor allem<br />

im Bereich der Heil- und Hilfsmittelversorgung.<br />

Zwar sind<br />

die gesetzlichen Krankenkassen<br />

verpflichtet, zum Ausgleich<br />

einer Behinderung, entsprechende<br />

Hilfsmittel zu gewähren.<br />

In der Realität klagen<br />

Betroffene aber immer häufiger<br />

über Schwierigkeiten bei der<br />

Antragstellung und der Genehmigung<br />

von Hilfsmitteln.<br />

Foto: Peter hirth<br />

5. Mai 2008: In Leipzig demonstrierten 500 Menschen mit Behinderungen für ihre Rechte.<br />

lern von Hilfsmitteln wie zum<br />

Beispiel Elektro-Rollstühlen<br />

ab. <strong>Die</strong> Firmen sitzen aber oft<br />

ganz woanders als der Benutzer.<br />

Ist dann der Rolli defekt,<br />

warten die Menschen ewig, bis<br />

der Hersteller kommt, um eine<br />

Reparatur auszuführen, die<br />

noch unter die Garantie fällt.<br />

was raten Sie den Menschen,<br />

die auf solche<br />

Schwierigkeiten stoßen?<br />

Ich sage den Leuten, dass sie<br />

sich wehren sollen und gegenüber<br />

den Krankenkassen<br />

darauf bestehen sollen, das<br />

für sie geeignete Hilfsmittel zu<br />

bekommen. Notfalls müssen<br />

rechtliche Wege gegangen<br />

werden. Mein großer Wunsch<br />

an die Krankenkassen wäre,<br />

dass sie ganzheitlicher denken,<br />

5. MAI: gEMEINSAM ERFOLgREICH<br />

a „Niemand darf wegen sei- „In was für einer Gesellschaft<br />

ner Behinderung benach- wollen wir leben?“.<br />

teiligt werden“, heißt es a<strong>Der</strong><br />

5. Mai ist der Europäische<br />

in Artikel 3, Absatz 3, des Protesttag zur Gleichstellung<br />

Grundgesetzes. Stritten zu- von Menschen mit Behinvor<br />

verschiedene Initiativen derungen. <strong>Die</strong>ses Jahr ver-<br />

einzeln für die Umsetzung sammelten sich in Deutsch-<br />

im Alltag, sind es seit 1997 land mehr als 150.000<br />

über 100 Organisationen Menschen zu 354 Aktionen<br />

der Behindertenhilfe und für gleichberechtigte Teilha-<br />

-selbsthilfe in der von der be, Arbeit, Bildung und den<br />

Aktion Mensch ins Leben Abbau von Barrieren auf allen<br />

gerufenen „Aktion Grund- Ebenen. <strong>Die</strong> Aktion Mensch<br />

gesetz“ (AGG). <strong>Die</strong>se ging unterstützt die Veranstal-<br />

in der <strong>Gesellschafter</strong>-Initiatungen finanziell und durch<br />

tive auf. Seit 2006 steht das<br />

Engagement rund um den<br />

Materialien.<br />

5. Mai unter der Leitfrage Infos unter: dieGesellvon<br />

die<strong>Gesellschafter</strong>.de schafter.de/aktion/5mai/<br />

dass sie sagen, o.k. der Rollstuhl<br />

kostet jetzt zwar 100 €<br />

mehr, aber dafür ist dieser<br />

Mensch auch gut versorgt.<br />

Denn wenn er in einigen Jahren<br />

Wirbelsäulenprobleme bekommt,<br />

verursacht das viel höhere<br />

Kosten. <strong>Die</strong> Versorgung<br />

durch exklusive Vertragspartner<br />

der Krankenkassen, sprich<br />

Hilfsmittel nach Schema F, ist<br />

auf Dauer nicht unbedingt der<br />

kostengünstigste Weg.<br />

Sehen Sie Möglichkeiten,<br />

den widerspruch zwischen<br />

der verbesserten Gesetzeslage<br />

und der Problematik<br />

bei der Versorgung mit<br />

heil- und hilfsmitteln aufzulösen?<br />

Letztendlich ist es, wie so<br />

oft, eine Frage des Geldes.<br />

<strong>Die</strong> Menschen werden nun<br />

mal immer älter, immer mehr<br />

Menschen brauchen Hilfsmittel.<br />

<strong>Die</strong> Krankenkassen stehen<br />

jedes Jahr im Kreuzfeuer<br />

der Kritik. Beitragserhöhung<br />

wird verurteilt und gleichzeitig<br />

Leistungsausdehnung<br />

gefordert. Das ist der schwierige<br />

Spagat. <strong>Die</strong> Crux liegt<br />

bei den Menschen mit Behinderung<br />

und bei chronisch<br />

Kranken. Bei ihnen kommt<br />

die Problematik zuerst an.<br />

Für Leute, die in die Nähe<br />

der Sozialhilfe kommen oder<br />

sonstwie auf öffentliche Mittel<br />

angewiesen sind, ist es<br />

schwieriger geworden. Auch<br />

Menschen mit Behinderung<br />

sind inzwischen von Armut<br />

betroffen. Dagegen müssen<br />

wir etwas tun.


10 Dezember 2008<br />

Da hilft nur der 7. <strong>Sinn</strong>...<br />

Von Christian Schmitz<br />

Rund 80 Millionen Bundesbürger<br />

werden sie bekommen.<br />

Aber kaum jemand<br />

kennt ihre Risiken<br />

und Nebenwirkungen. Und<br />

obwohl die Einführung bereits<br />

mehrfach verschoben<br />

werden musste, findet eine<br />

öffentliche Debatte nur<br />

sporadisch statt. Trotzdem<br />

steht fest: <strong>Die</strong> elektronische<br />

Gesundheitskarte (eGK), die<br />

– so Bundesgesundheitsministerin<br />

Ulla Schmidt<br />

– „kleine schlaue Karte ...<br />

für mehr Qualität, mehr<br />

Sicherheit und mehr Effizienz<br />

im Gesundheitswesen“<br />

kommt. Nach neuesten Prognosen<br />

2009. Warum? <strong>Die</strong><br />

eGK gilt nicht nur als eines<br />

der größten IT-Projekte aller<br />

Zeiten, sie ist der Schlüssel<br />

zu einer neuen Welt.<br />

Wie diese Welt aussieht, darum<br />

wird zur Zeit heftig gerungen.<br />

Meist in Fachzirkeln. Es geht<br />

um Macht, Geld und sogar ein<br />

bisschen um die Patienten.<br />

Mitgestalten sollen letztere die<br />

neue Welt der elektronischen<br />

Gesundheitsversorgung aber<br />

offensichtlich nicht. Das ist<br />

Sache von Politikern, Beamten<br />

sowie Gesundheits- und Wirtschaftslobbyisten.<br />

Congress Center Essen im<br />

September 2008, Fachkongress<br />

„IT-Trends Medizin/<br />

Health Telematics“: 30 Aussteller<br />

drängen sich im Vor-<br />

Schwerpunk t > Demokr atie<br />

abseits öffentlicher Debatten führen Politik und Lobbyisten die elektronische Gesundheitskarte ein<br />

Grundsätzlich gehe<br />

ich als misstrauischer<br />

Mensch davon aus, dass<br />

der Staat über alle meine<br />

gehabten Wehwehchen<br />

bestens im Bilde ist, nur<br />

momentan nichts damit<br />

anzufangen weiß. Womöglich<br />

klappt der Abgleich<br />

zwischen den einzelnen<br />

Ämtern noch nicht so gut,<br />

denn die Ämter wollen sich<br />

natürlich gegeneinander abschotten.<br />

<strong>Die</strong> Ämterkonkurrenz<br />

ist der einzige Schutz<br />

des Bürgers beim Datensammeltrieb<br />

des Staates.<br />

P.P.<br />

3 die<strong>Gesellschafter</strong>.de<br />

raum des Vortragsaals „Ruhr“.<br />

Darunter bekannte Namen<br />

wie Siemens und T-Systems,<br />

die meisten aber nur Insidern<br />

bekannt und schwer zu buchstabieren.<br />

<strong>Die</strong> Branche liebt<br />

das Spiel mit Abkürzungen,<br />

Bindestrichen und einzelnen<br />

Buchstaben, die zusammengezogen<br />

Firmennamen wie<br />

vita-X, ComMed oder iSoft<br />

ergeben. <strong>Die</strong> Herren tragen<br />

einheitlich dunkles Tuch, die<br />

wenigen Damen bestenfalls<br />

einen bunten Tupfer dazu.<br />

Neben Visionen verkaufen sie<br />

Hard- und Software. Jeder<br />

sein eigenes Produkt. Nicht<br />

kompatibel mit dem einen<br />

Stand weiter. <strong>Der</strong> Kampf um<br />

die Lufthoheit bei der technischen<br />

Ausgestaltung der<br />

elektronischen Gesundheitsversorgung<br />

in Deutschland<br />

kennt keine für alle zugänglichen<br />

Schnittstellen.<br />

Mehr Zeit für Beratung<br />

und Behandlung<br />

<strong>Die</strong> Vorträge ein paar Meter<br />

weiter im Saal sollen verdeutlichen,<br />

dass die Patienten Nutznießer<br />

der eGK sind. Genau wie<br />

die vielen bunten Broschüren,<br />

mit denen die Lobbyisten seit<br />

Jahren für die Einführung<br />

trommeln. Über die eGK seien<br />

bald alle gesetzlich und privat<br />

versicherten Deutschen mit<br />

allen Arztpraxen, Apotheken<br />

und Krankenhäusern vernetzt.<br />

<strong>Die</strong> Karte selbst sei sicherer als<br />

die jetzige, erschwere Missbrauch<br />

zum Beispiel durch das<br />

Foto, vermeide „unnötige, patientenbelastendeDoppeluntersuchungen“<br />

und erleichtere<br />

die Abrechung. Mit einer PIN-<br />

Nummer erlaube der Betroffene<br />

dem Arzt den Zugriff auf<br />

seine elektronische Patientenakte<br />

(ePA), in der zum Beispiel<br />

Befunde, Arzt- und Entlassbriefe,<br />

Verlegungs- und OP-<br />

Berichte sowie Bilddokumente<br />

lagern. <strong>Der</strong> Arzt könne dann<br />

schneller auf alle wichtigen<br />

Untersuchungsergebnisse zugreifen,<br />

so dass anschließend<br />

mehr Zeit für Beratung und<br />

Behandlung bleibe.<br />

Quasi als Sahnehäubchen<br />

werden auf der eGK mit<br />

Zustimmung des Patienten<br />

Notfalldaten wie Allergien<br />

oder Medikamentenunverträglichkeiten<br />

gespeichert.<br />

Foto: Techniker krankenkasse<br />

ohne kartenleser geht in 120.000 arzt- und 55.000 Zahnarztpraxen bald fast gar nichts mehr.<br />

<strong>Die</strong>se Notfalldaten „können<br />

Leben retten“, versprechen<br />

die Verantwortlichen. „Umfragen<br />

belegen“, ließ sich<br />

Ulla Schmidts Staatssekretär<br />

Dr. Klaus Theo Schröder im<br />

Fachblatt PR Report zitieren,<br />

„dass die Mehrheit der Versicherten<br />

die Einführung der<br />

eGK befürworten. Auch die<br />

Bereitschaft, freiwillige Angaben<br />

wie Notfalldaten ... zu<br />

nutzen, ist groß.“<br />

Das hört sich im Saal „Ruhr“<br />

differenzierter an. In vielen Um-<br />

fragen wird der Öffentlichkeit<br />

offensichtlich eine eGK vorgegaukelt,<br />

die es so nicht gibt.<br />

Stichwort Notfalldaten:<br />

Auf Nachfrage räumt Ulf<br />

Göres <strong>vom</strong> Bundesverband<br />

der Betriebskrankenkassen<br />

(BKK) ein, dass die Befragten<br />

wahrscheinlich im Glauben<br />

geantwortet hätten, dass ihre<br />

Notfalldaten im Notfall auch<br />

wirklich zum Einsatz kämen.<br />

Doch herrscht Konsens, dass<br />

die Daten in absehbarer Zeit<br />

zum Beispiel <strong>vom</strong> Notarztwagen<br />

aus gar nicht eingesehen<br />

werden können. Dazu bleibt<br />

das Problem, wie ein wirklich<br />

schwer verletzter oder tod-<br />

kranker Mensch seine Zustimmung<br />

per PIN eingeben soll.<br />

Stichwort zentrale Datenspeicherung:<br />

Göres räumt<br />

weiter ein, dass die meisten<br />

Menschen in Deutschland<br />

wahrscheinlich davon ausgingen,<br />

dass ihre Daten auf<br />

dem Chip und nicht auf einem<br />

zentralen Server gespeichert<br />

seien. Ein Teilnehmer berichtet<br />

von einer anderen Umfra-<br />

ge, nach der erst 5,3 Prozent<br />

der Befragten davon gehört<br />

hätten, dass die künftigen<br />

Patientenakten zentral und<br />

webbasiert seien.<br />

An der zentralen Speicherung<br />

setzt die Kritik der<br />

meisten Gegner der eGK an.<br />

Aktionsbündnisse wie „Stoppt<br />

die e-Card“ oder der Freie<br />

Verband Deutscher Zahnärzte<br />

warnen, die Gesundheitsdaten<br />

von über 80 Millionen Bürgern<br />

seien ein interessanter Datenpool<br />

für kriminelle Hacker,<br />

die die Daten dann illegal verkaufen<br />

würden. Vereinfacht<br />

zu Ende gedacht: Müssen 80<br />

Millionen Versicherte demnächst<br />

nach einem Besuch<br />

beim Augenarzt permanenten<br />

Werbeterror zum Beispiel von<br />

Brillenherstellern fürchten?


Dass diese Frage keine<br />

Science Fiction ist, zeigen<br />

nicht nur Berichte über gestohlene<br />

bzw. missbrauchte<br />

Kundendaten von Banken<br />

und Kommunikationsunternehmen.<br />

<strong>Die</strong> Deutsche Angestellten<br />

Krankenkasse (DAK)<br />

beispielsweise wurde mit dem<br />

Big-Brother-Award 2008 ausgezeichnet,<br />

weil sie 200.000<br />

Datensätze chronisch Kranker<br />

an eine US-Firma weitergab,<br />

die die Versicherten dann per<br />

Telefon für jeweils auf die<br />

Erkrankung zugeschnittene<br />

Betreuungsprogramme gewinnen<br />

wollte.<br />

<strong>Die</strong> Entwicklung<br />

„bahnt den Weg für<br />

neue, heute zu denken<br />

infame Geschäftsmodelle und<br />

Geschäftspraktiken, in deren<br />

Kontext die Debatte um gläserne<br />

Patienten und Menschen<br />

als schiere Risiken nachgerade<br />

lächerlich erscheint“,<br />

blickt der PR-Report<br />

in die Zukunft.<br />

Und der Präsident der<br />

Freien Ärzteschaft, Martin<br />

Grauduszus, fragte in einer<br />

Rede: „Wie lange werden<br />

die Daten auf Servern<br />

sicher sein? Wann<br />

werden die patientenbezogenen<br />

Informationen<br />

durch das Internet kursieren?<br />

Kleine Gesetzesänderungen<br />

reichen und der Staatsapparat<br />

hat Zugriff. Begehrlichkeiten<br />

auf diese Informationen gibt<br />

es viele – zum Beispiel von<br />

Versicherungen und Arbeitgebern!“<br />

Allen Gegnern ist das Beispiel<br />

Lkw-Maut noch gut im<br />

Gedächtnis: Durch Änderung<br />

des Rechtsrahmens werden<br />

nicht nur Lkw-, sondern auch<br />

Schwerpunk t > Demokr atie<br />

Pkw-Bewegungen erfasst.<br />

Und niemand bestreitet mehr<br />

ernsthaft, dass die Polizei diese<br />

Daten auch zu Fahndungszwecken<br />

nutzt.<br />

Entsprechend fuhr Ex-<br />

Bundesjustizministerin Sa-<br />

bine Leutheusser-Schnarren-<br />

berger in der Leipziger Volkszeitung<br />

schweres<br />

Geschütz auf: „<strong>Die</strong><br />

elektronische<br />

Gesund-<br />

heitskarte wird den größten<br />

Datenberg aller Zeiten bringen<br />

mit personenbezogenen Daten,<br />

wie sie persönlicher nicht sein<br />

können.“ Es sei ein „Projekt, bei<br />

dem die Missbrauchsgefahr gigantisch“<br />

sei. Das Volk ermutig-<br />

te sie zu zivilem Ungehorsam<br />

– zum Beispiel das Passfoto zu<br />

verweigern.<br />

INVESTITIONEN IN MILLIARDENHöHE<br />

aDass es bei der Einfüh- tenpunkt rund 1800 Euro<br />

rung der elektronischen pro Stück. Macht allein<br />

Gesundheitskarte um ein Investitionsvolumen<br />

Investitionen in Milliar- von über 380 Millionen<br />

denhöhe geht, macht der Euro. Dazu kommen Ko-<br />

Fachkongress „IT-Trends sten für die Plastikkarte<br />

Medizin / Health Telema- mit Passfoto und Mikrotics“<br />

deutlich. Rund 650 prozessorchip, Computer,<br />

Entscheider sind anwesend Scanner, Datenlesegeräte,<br />

und sprechen offen. Wenn Netzwerke, Mitarbeiter<br />

die eGK eingeführt ist, und <strong>Die</strong>nstleister, Ausbraucht<br />

zum Beispiel jede und Fortbildungen...<br />

der rund 123.000 Arzt- und aGingen<br />

die Planer 2004<br />

65.000 Zahnarztpraxen, noch von einem Volumen<br />

21.000 Apotheken und von 1,4 Mrd. Euro aus,<br />

2200 Krankenhäuser in sprachen die Unterneh-<br />

Deutschland einen sogemensberater von Booz,<br />

nannten Konnektor, der die Allen Hamilton 2006 be-<br />

Daten verschlüsselt. Kosreits von 7 Mrd. Euro.<br />

Auch der 111. Deutsche<br />

Ärztetag im Mai lehnte die<br />

eGK zum wiederholten Male<br />

ab. Das bestehende Konzept<br />

sei eine Gefahr für die ärztliche<br />

Schweigepflicht und die<br />

vertrauensvolle Beziehung<br />

zwischen Arzt und Patienten.<br />

Es müssten Alternativen zur<br />

zentralen Speicherung der<br />

Daten erprobt werden.<br />

<strong>Die</strong>se Alternativen<br />

gibt es.<br />

Eine beschreibt im Saal „Ruhr“<br />

Dr. Harald Sondhof von der Firma<br />

careon: die elektronische<br />

Gesundheitsakte (eGA), ein<br />

Speichermedium, auf dem der<br />

Patient bislang zum Beispiel<br />

im Rahmen des persönlichen<br />

Gesundheitsmanagement<br />

ausschließlich selbsterhobene<br />

Daten wie Blutzucker- oder<br />

Gerinnungswerte verwaltet.<br />

Elektronische Gesundheitsakten<br />

gibt es sowohl im Internet<br />

als auch zum Beispiel als<br />

USB-Stick, der im Bedarfsfall<br />

an den Computer angeschlossen<br />

wird.<br />

Viele Ärzte drangen daher<br />

seit langem auf Tests mit<br />

einer Kombination aus eGA<br />

und ePA, die der Patient mit<br />

sich führt. <strong>Die</strong>s könne die<br />

meisten Sicherheitsbedenken<br />

auf einen Schlag entkräften.<br />

Ende Oktober nahm die <strong>Gesellschafter</strong>versammlung<br />

der<br />

gematik – der Organisation<br />

der Spitzen des deutschen Gesundheitswesens<br />

zur Einführung<br />

der eGK – die Anregung<br />

der Ärzte an, Speichermedien<br />

in der Hand des Versicherten<br />

– wie USB-Sticks – in nächster<br />

Zeit wenigstens zu erproben.<br />

Doch ist die Frage, ob die<br />

eGK der Schlüssel zur elektronischen<br />

Gesundheitsakte<br />

oder zur elektronischen Patientenakte<br />

wird, nicht nur<br />

eine des Patientenwohls und<br />

der Datensicherheit, sondern<br />

auch eine Frage der Macht und<br />

des Geldes. Geschäftsmodelle<br />

à la DAK funktionieren nur<br />

bei zentraler Verfügbarkeit<br />

aller Daten. <strong>Der</strong> Chaos Computer<br />

Club fragte als erster öffentlich,<br />

ob solche<br />

Geschäftsmodelle<br />

nicht von Beginn an zur Refinanzierung<br />

der Investitionen<br />

geplant gewesen seien.<br />

Auch im Saal „Ruhr“ empfiehlt<br />

BKK-Mann Göres mögliche<br />

„Mehrwertdienste“ rund<br />

um die eGK. Sein einziger konkreter<br />

Vorschlag bleibt bescheiden.<br />

Ein „eKiosk“, wie es ihn<br />

bereits in Japan gebe. Eine Art<br />

öffentliches Lesegerät, an dem<br />

der Versicherte seine Daten<br />

einsehen und – eingeschränkt<br />

– auch verwalten könne.<br />

Entsprechend fühlen sich<br />

Ärzte wie Martin Grauduszus<br />

hintergangen: „Seit Jahren<br />

haben der Staat und die<br />

Krankenkassen die Bevölkerung<br />

falsch informiert.“ Es<br />

sei nie beabsichtigt gewesen,<br />

sämtliche Patientendaten auf<br />

der eGK zu speichern. „Hier<br />

wurden und werden Bürger<br />

und Ärzte systematisch getäuscht.“<br />

<strong>Der</strong> Staat betreibe<br />

vielmehr Akzeptanzmarketing<br />

für ein neues industrielles<br />

Geschäftsfeld. „Patientendaten<br />

sollen kontrolliert<br />

und Patientenströme sollen<br />

geleitet werden. <strong>Die</strong> Industrie<br />

– sowohl die IT-Industrie<br />

als auch die Gesundheitsindustrie<br />

– steht in den Startlöchern,<br />

um die bewährte<br />

Dezember 2008 11<br />

Gesundheitsversorgung in<br />

eine Gesundheitswirtschaft<br />

zu überführen.“<br />

Das hehre Ziel, die Patienten<br />

zu überzeugen, noch vor Augen<br />

wunderte sich der PR Report,<br />

warum das Bundesgesundheitsministerium<br />

den Dialog mit<br />

der Öffentlichkeit weitgehend<br />

eingestellt und den PR-Etat<br />

umverteilt habe. <strong>Die</strong> Verantwortlichen<br />

seien letztlich selbst<br />

schuld, wenn nur die Kritiker<br />

des Projektes mit Datenschutzbedenken<br />

und<br />

technischen Problemen in<br />

den Medien präsent seien. Das<br />

Blatt macht mangelndes Feingefühl<br />

verantwortlich: Es sei oft<br />

zu beobachten, „dass in technisch<br />

getriebenen Projekten<br />

die kommunikativen Herausforderungen<br />

unterschätzt oder<br />

als sekundär gegenüber den<br />

technischen Fragen erachtet<br />

würden.“<br />

Ein anderer Denkansatz<br />

wird im Saal<br />

„Ruhr“ deutlich. Mit den<br />

Patienten zu sprechen, ist den<br />

Verantwortlichen viel zu umständlich<br />

und unsicher. „<strong>Die</strong><br />

Ärzte spielen die Schlüsselrolle<br />

für die Akzeptanz beim Patienten“,<br />

erläutert Ministerialdirigent<br />

a.D. Dr. Manfred Zipperer,<br />

zugleich Aufsichtsratsvorsitzender<br />

des<br />

gastgebenden Zentrums<br />

für Telematik im Gesundheitswesen.<br />

Da beim erwähnten<br />

Ärztetag zunächst eine „Sportpalastatmosphäre<br />

gegen die<br />

Karte“ geherrscht habe, führt<br />

Dr. Franz-Joseph Bartmann<br />

von der Bundesärztekammer<br />

aus, müsse den Ärzten nun<br />

der indirekte Nutzen erkennbar<br />

gemacht und die eGK als<br />

Qualitätsmerkmal einer auf<br />

der Höhe der Zeit befindlichen<br />

Gesundheitsversorgung vermarktet<br />

werden. Für die Öffentlichkeit<br />

bräuchte man dann<br />

„eine Fernsehsendung wie der<br />

7. <strong>Sinn</strong>“, schließt Zipperer.<br />

Ob die Mittel, die den Autofahrern<br />

vor Jahrzehnten den<br />

Sicherheitsgurt nahe brachten,<br />

auch heute geeignet sind, den<br />

Menschen die eGK schmackhaft<br />

zu machen, bleibt undiskutiert.<br />

Breiten Raum dagegen<br />

nimmt im Saal „Ruhr“ die<br />

Suche nach der Antwort auf<br />

die Frage ein, warum erste<br />

Testläufe der eGK gescheitert<br />

sind. In einer Testregion zum<br />

Beispiel wurde der Einsatz<br />

abgebrochen, weil sich die<br />

Patienten die sechsstellige PIN-<br />

Nummer nicht merken konnten.<br />

Oder wollten? Schließlich<br />

hat sie ja auch keiner gefragt...


12 Dezember 2008<br />

hildegard hamm-Brücher hat die Bundesrepublik politisch maßgeblich mitgestaltet<br />

Von Norbert Schreiber<br />

Beharrlich hatte ich ein<br />

Jahr lang die „Lady der<br />

Liberalen“ mit meinem Interviewwunsch<br />

genervt: Gerade<br />

hatte Hildegard Hamm-<br />

Brücher Bonn verlassen,<br />

um in München 1970 den<br />

Fraktionsvorsitz der FDP im<br />

Bayerischen Landtag als ers-<br />

te Frau in einer solchen Position<br />

anzunehmen. Gerade<br />

war sie auch aus China von<br />

einer Bildungsreise zurückgekehrt.<br />

Genug Gründe also<br />

für eine Sendung im damaligen<br />

Popsender SWF 3. Eine<br />

„Mittwochsparty“ sollte ich<br />

mit ihr moderieren.<br />

Hildegard Hamm-Brücher<br />

war schon damals ein prominenter,<br />

gern gesehener Studiogast.<br />

Als die dreistündige<br />

Sendung zu Ende war, hatte<br />

ich einen neuen Job. Ich wurde<br />

ihr persönlicher Assistent<br />

und Wahlkampfleiter. Vom<br />

Fleck weg engagiert. Meine<br />

Beharrlichkeit hatte sie offenbar<br />

überzeugt. So ist sie eben:<br />

spontan, auf Menschen zugehend,<br />

ohne irgendwelche Vorurteile,<br />

immer charmant und<br />

sehr experimentierfreudig.<br />

Politische Freunde und enge<br />

Mitarbeiter wählen den<br />

Kürzel-Namen „HB“, wenn<br />

sie von Dr. Hildegard Hamm-<br />

Brücher reden.<br />

<strong>Die</strong> Schlüsselgeschichte<br />

ihres Lebens erzählt sie gerne<br />

selbst: Als achtjähriges Mädchen<br />

steht „HB“ im Berliner<br />

Familienschwimmbad „Krumme<br />

Lanke“ auf dem Zehnmeter-Brett<br />

vor den kritischen<br />

Schwerpunk t > Demokr atie<br />

Deutschlands „Grande Dame“<br />

Fotos: Picture alliance<br />

MORAL IN DER pOLITIK<br />

<strong>Die</strong> „Grande Dame der Politik“, hildegard hamm-Brücher 2007 bei einem Fernsehauftritt in Berlin.<br />

Augen ihres Vaters und zögert.<br />

Soll sie sich wirklich beherzt<br />

in die Tiefe des Schwimmbeckens<br />

stürzen? Nach einigen<br />

Zweifeln und der Angst, sich<br />

zu blamieren, wagt sie den<br />

mutigen Sprung: „Ich hielt mir<br />

nicht einmal die Nase zu.“<br />

Ehrgeiz, Zivilcourage und<br />

Mut, gepaart mit Bescheidenheit,<br />

Liebe zum politischen<br />

und gesellschaftlichen Engagement<br />

und einer gehörigen Portion<br />

an preußischen Tugenden,<br />

das ist der Eigenschaftskatalog,<br />

um die populäre Charak-<br />

aAls Helmut Kohl 1982 das finde, dass beide dies<br />

Misstrauensvotum gegen nicht verdient haben:<br />

die sozial-liberale Regie- Helmut Schmidt ohne<br />

rung Helmut Schmidt Wählervotum gestürzt zu<br />

wagt, stimmt Hildegard werden, und Sie, Helmut<br />

Hamm-Brücher aus<br />

Kohl, ohne Wählervo-<br />

grundsätzlich demokratum zur Kanzlerschaft<br />

tischen Motiven nicht zu. zu gelangen. Zweifellos<br />

Sie hält damals im Bun- sind die beiden sich bedestag,<br />

dem sie von 1976 dingenden Vorgänge ver-<br />

bis 1990 angehörte, eine fassungskonform. Aber<br />

aufsehenerregende Rede sie haben nach meinem<br />

über die Gewissensfrei- Empfinden doch das Odiheit<br />

der Abgeordneten. um des verletzten demo-<br />

Ihr Kernsatz lautete: „Ich kratischen Anstands.“<br />

terfigur der deutschen Politik<br />

näher zu beschreiben. Und vor<br />

allem anderen hat sie eben immer<br />

diese Unerschrockenheit<br />

zum Sprung ins Ungewisse<br />

bewiesen.<br />

Aus den Irrtümern<br />

der Nazizeit gelernt<br />

Spartanisch in der Zeit nach<br />

dem 1. Weltkrieg aufgewachsen<br />

(zur Abhärtung gab‘s<br />

feuchtkalte Tücher und Zitronensaft<br />

im Eierbecher),<br />

erlebt sie die Nazizeit („<strong>Der</strong><br />

Führerkult gefiel mir nicht“)<br />

und die Wirren nach dem<br />

2. Weltkrieg und den politischen<br />

Neubeginn nach den<br />

Traumata der Nazi-Diktatur.<br />

Im weiteren Kreis um die<br />

Geschwister Scholl hatte Dr.<br />

Hildegard Hamm-Brücher erleben<br />

müssen, wie der Kampf<br />

für die Freiheit im Widerstand<br />

gegen Hitler eben auf<br />

dem Schafott endete. Noch<br />

heute ist ihre feste Überzeugung:<br />

„Wir haben aus unseren<br />

Irrtümern gelernt. Aber<br />

noch nicht ausgelernt.“ <strong>Der</strong><br />

Opfertod der Widerständler<br />

prägte sie sehr stark für ihr<br />

künftiges politisches Leben.<br />

Er wurde geradezu zu einer<br />

Selbstverpflichtung für sie,<br />

zum Auftrag an eine junge<br />

Demokratin.<br />

Zu ihrer Konfirmation<br />

wünscht sich das hübsche, etwas<br />

scheue Mädchen ein Faltboot<br />

statt Schmuck, sie tauft es<br />

auf den Namen „Carpe diem“.<br />

Und sie bekommt als Geschenk<br />

eine neue Gefährtin mit dem<br />

Namen „Erika“. Auf ihr tippt<br />

sie künftig alles eigenhändig,<br />

was von „HB“ als Rede oder<br />

Buch erscheinen wird. Das<br />

Wasser und die Worte, das sind<br />

ihre Lebens-Elixiere und als<br />

passendes Motto dazu: Nutze<br />

den Tag.<br />

<strong>Die</strong> Brücher-Kinder verlieren<br />

beide Elternteile. Vater Paul<br />

starb an einer unentdeckten<br />

Blinddarmentzündung. Mutter<br />

Lilly elf Monate später an einem<br />

inoperablen Gehirntumor. Und<br />

so wachsen sie zunächst bei der<br />

Großmutter in Dresden auf. Ihren<br />

Lebensmut und Ratschläge<br />

bezieht sie von „Ömchen“, der<br />

Großmutter: „Du musst ein<br />

Ziel haben. Es nicht verstecken.<br />

Wenn nötig auch alleine<br />

dafür einstehen.“ Angesichts<br />

der drohenden KZ-Deportation<br />

nach Theresienstadt wählt<br />

sie den Freitod. <strong>Die</strong> Brücher-<br />

Geschwister kommen ins In-<br />

ternat nach Salem. Mit elf<br />

Jahren war Hildegard Hamm-<br />

Brücher also Vollwaise.<br />

Erich Kästner, der erfolgreiche<br />

Kinderbuchautor und<br />

Feuilletonchef der Neuen<br />

Zeitung in München, lehrt<br />

sie in der Nachkriegszeit<br />

zeitungsgerecht zu schreiben<br />

und erfindet als Freund<br />

liebevolle Spitznamen für die<br />

Kollegin Dr. Hildegard Hamm-<br />

Brücher: Hilde-„Gardinchen“<br />

oder Hilde-„Vorgärtchen“. Er<br />

lockt sie zur freien Mitarbeit<br />

in die „Neue Zeitung“. Sie<br />

wird Wissenschaftsreportagen<br />

schreiben und schließt<br />

dennoch ihr Chemiestudium<br />

als Heisenberg-Schülerin bei<br />

Prof. Heinrich Wieland ab.<br />

Nach einem Interview mit<br />

Theodor Heuss folgt sie seiner<br />

Aufforderung: “Mädle, Sie<br />

müsset in die Politik.“<br />

<strong>Die</strong> „Grande Dame“ der<br />

deutschen Demokratie tummelt<br />

sich zuerst im Münchner<br />

Stadtparlament als junge aufrechte<br />

Demokratin und engagierte<br />

Frauenrechtlerin. Sie<br />

Mit ihrem<br />

Parteifreund<br />

hans- <strong>Die</strong>trich<br />

Genscher, mit<br />

dem sie 1982<br />

wegen der wende zeitweise<br />

überkreuz lag, ist sie nach<br />

einer aussprache wieder im<br />

Reinen: „<strong>Der</strong> ist so geistesgegenwärtig,<br />

dass er an zehn<br />

Schachbrettern gleichzeitig<br />

spielen kann.“<br />

kämpft sich im Bayerischen<br />

Landtag und Bundestag mit<br />

Reden, Interviews, Initiativen<br />

und ihren zahllosen Publikationen<br />

in die erste Reihe<br />

deutscher Parlamentarier.<br />

„HB“ bringt Streitschriften<br />

und Reformen auf den Weg.<br />

Als Politikerin, Protestantin,<br />

Preußin ist das höchste Gut<br />

für sie: Moral in der Politik.<br />

Und sie liest den gegnerischen<br />

Parteien und den eigenen<br />

Liberalen heftig und gerne<br />

die Leviten, wenn Heuchelei,<br />

Parteigeklüngel oder Männer-Schau-Machtkämpfe<br />

die<br />

guten Polit-Sitten verderben.<br />

Sie ist eine fleißige Kirchgängerin<br />

mit großem Gottvertrauen,<br />

eine protestantische<br />

Rebellin im schicken Kostüm,


immer perfekt frisiert, nie aus<br />

der Rolle fallend, das derbe<br />

„Aufeinanderherumhacken“<br />

im politischen Alltagsgeschäft<br />

liegt ihr ganz und gar nicht.<br />

Sie kämpft mit Florett, nicht<br />

mit Säbel.<br />

Sie streitet in einem von ihr<br />

mitgetragenen Volksbegehren<br />

„Rundfunkfreiheit in Bayern“<br />

für das „partei- und staatsfreie“<br />

Radio, setzt durch,<br />

dass Buben und Mädchen in<br />

gemeinsamen Schulklassen<br />

erzogen werden, stürzt sich<br />

in Wahlkämpfe gegen Franz<br />

Josef Strauß. Er schimpft<br />

sie „Krampfhenne“. Sie führt<br />

Wahl- und Polit-Kampagnen<br />

schon in den sechziger Jahren<br />

„bürgernah“ auf dem Fahrrad,<br />

im Stadtviertel, mit Hausparties<br />

und Infoständen.<br />

Für mehr Bildung und<br />

lebenslanges Lernen<br />

Sie bereist die pädagogischen<br />

Provinzen im In- und Ausland<br />

und wird zur Prophetin<br />

der „Bildungskatastrophe“ in<br />

Deutschland. Sie fördert die<br />

Entrümpelung der veralteten<br />

Schulbücher, kämpft gegen<br />

konservative Lehrmeinungen<br />

an den Hochschulen und<br />

bringt die Gesamtschulversuche<br />

auf den Weg. Ihr bildungspolitisches<br />

lebenslanges<br />

Credo: „<strong>Die</strong> Schule der Demokratie<br />

ist die Schule“.<br />

Dr. Hildegard Hamm-Brücher<br />

startet als eine der ersten<br />

Bildungspolitiker Informationsreisen<br />

durch die damals<br />

noch existierende Sowjet-<br />

union und durchs kommunistische<br />

China, denn auch für<br />

sich selbst formuliert sie den<br />

Anspruch auf „lebenslanges<br />

Lernen“.<br />

<strong>Die</strong> drohende Bildungskatas-<br />

trophe hat sie früh erkannt,<br />

aber die politischen Mittel<br />

1967<br />

Schwerpunk t > Demokr atie<br />

und Partner fehlten ihr, um<br />

tiefgreifende Veränderungen<br />

auf den Weg zu bringen, merkt<br />

sie selbstkritisch an.<br />

Auf unzähligen Reisen als<br />

stellvertretende Außenministerin<br />

prägt sie die auswärtige<br />

Kulturpolitik, erhöht Kulturtats,<br />

fördert das Goetheinstitut<br />

und konferiert mit den<br />

Großen dieser Welt: Jimmy<br />

Carter, Ronald Reagan, Indira<br />

Ghandi, Golda Meir,<br />

Michail Gorbatschow, Václav<br />

Havel und Papst Johannes<br />

Paul II.<br />

Nur mit ihr konnte es mir<br />

1978 gelingen, zum ersten und<br />

einzigen Male die Verfassungsorgane<br />

der Bundesrepublik, damals<br />

Bundespräsident Walter<br />

Scheel, Bundestagspräsident<br />

Karl Carstens, Bundeskanzler<br />

Helmut Schmidt und Bundesverfassungsgerichtspräsident<br />

Ernst Benda<br />

an einen Tisch<br />

zu holen, um<br />

sie mit dem<br />

S o u v e r ä n ,<br />

dem Volk,<br />

drei Tage über<br />

die Zukunft<br />

der Demokratiediskutieren<br />

zu lassen.<br />

Erstmalig und<br />

einmalig in<br />

der Geschichte<br />

der Bundesrepublik.<br />

Von ARD und<br />

ZDF in Sondersendungen<br />

über t ragen.<br />

Das Neue, das<br />

Überraschende, das Unvorhergesehene,<br />

das reizt sie.<br />

In der Zeit, als ich ihr<br />

persönlicher Assistent war,<br />

sollten wir sie zur Außenministerkonferenz<br />

auf den<br />

Bonner Petersberg begleiten.<br />

Es stand kein anderes Fahr-<br />

Bei einer Münchner Demonstration für bessere Bildungspolitik.<br />

zeug zur Verfügung als eine<br />

kleine rote Citröen-„Ente“. Sie<br />

stieg, ohne eine Sekunde zu<br />

zögern, in den Blechkasten<br />

ein und wir fuhren zwischen<br />

schwarzen, chromblitzenden<br />

Luxus-Staatskarossen im<br />

„Studenten-Mercedes“ ohne<br />

Stander vor.<br />

Als ein Arzt sie vor einiger<br />

Zeit rücksichtslos mit dem<br />

Mountainbike an der Ampel<br />

über den Haufen fährt, verzichtet<br />

sie auf eine Anzeige<br />

und beweist für den Raser Verständnis.<br />

Als werdender Vater<br />

unterwegs in die Geburtsklinik<br />

hatte der den <strong>Sinn</strong> für Tempolimits<br />

völlig verloren. Verständnis<br />

für andere, Bescheidenheit<br />

und ihre sprichwörtliche<br />

Sparsamkeit zeichnen sie aus:<br />

Luxus oder Effekthascherei<br />

oder gar Imponiergehabe sind<br />

nicht ihre Welt.<br />

1982<br />

Bei ihrer Rede zum Bonner Regierungswechsel im Bundestag.<br />

<strong>Die</strong> Politikerin, die stets Farbe<br />

bekennt, mag am liebsten<br />

die schlichten weißen Töne<br />

in ihrer Eigentumswohnung,<br />

in der sie gastfreundlich im<br />

ruhigen Prominentenviertel<br />

Harlaching in München lebt.<br />

Dort serviert sie Gästen gerne<br />

höchstpersönlich Weißwurstfrühstück<br />

oder lädt sie in<br />

den benachbarten Münchner<br />

Biergarten zum „Haxn-Essen“<br />

ein. Dabei ist ihr der urigbayerische<br />

Lebensstil immer<br />

fremd geblieben, der Preußin<br />

mit Haltung. „Das Hinterfotzige<br />

fehlt mir“, das Lederhosen-Bayern<br />

war nie ihr Ding,<br />

eher schon der Laptop. Im<br />

hohen Alter buchte sie Computerkurse<br />

und ließ sich das<br />

Surfen im Internet und das<br />

Mailen beibringen. War nicht<br />

sie es, die schon immer das<br />

lebenslange Lernen forderte?<br />

Sie ist identisch mit dem,<br />

was sie fordert, und löst es<br />

selbst ein.<br />

1994<br />

Ihre Beziehung zur FDP ist<br />

„keine Liebesgeschichte“, sondern<br />

eine „starke Beziehung“.<br />

Als der FDP unter Möllemann<br />

ein Rechtsruck droht und<br />

die „Spaßgesellschaft“<br />

um<br />

sich greift, tritt<br />

sie aus Protest<br />

aus der liberalen<br />

Partei<br />

aus: „Ich lebe<br />

angstfrei und<br />

in politischer<br />

und geistiger<br />

Freiheit. Das<br />

erlebe ich immer<br />

wieder als<br />

ein kostbares<br />

Geschenk.“<br />

Als politischer„Querkopf“<br />

stößt sie<br />

auch andere<br />

vor den Kopf,<br />

aber nie aus<br />

persönlichen Gründen, es geht<br />

ihr immer um den Inhalt und<br />

die Sache an sich, für die sie<br />

kämpft: zum Beispiel für die<br />

Demokratie, die Gewissensfreiheit<br />

des Abgeordneten und<br />

gegen den Rechtsradikalismus.<br />

Mancher Politkollege nennt sie<br />

Dezember 2008 1<br />

Mit Richard von weizsäcker und helmut Schmidt in Stuttgart.<br />

eine „Nervensäge“; weil sie eben<br />

sehr beharrlich sein kann.<br />

Ihre Kraft für Politik bezieht<br />

sie aus der ihr eigenen Robustheit,<br />

wirklicher Lebensfreude<br />

und praktizierter Menschenliebe.<br />

Eine ehrliche und glaubwürdige<br />

Politkerin, die sich<br />

nicht durch den politischen<br />

Betrieb hat verbiegen lassen.<br />

Über ihren<br />

politischen<br />

Freund und<br />

kollegen<br />

helmut<br />

Schmidt sagt sie bewundernd:<br />

„Er konnte sehr gut<br />

zuhören, und ausgesessen<br />

hat er Probleme nie.“<br />

Und immer noch sucht sie nach<br />

den kleinen Utopien: „Willst<br />

du ein glückliches Leben, verbinde<br />

es mit einem Ziel.“<br />

Zwei Ziele hat sie nicht<br />

erreicht, als Kind wäre sie<br />

gerne Karussellbesitzerin<br />

oder Schwimmweltmeisterin<br />

geworden.<br />

Man erreicht eben nicht<br />

alle Ziele im Leben und in der<br />

Politik genausowenig.<br />

gEgEN DIE „SpASSgESELLSCHAFT“<br />

a1948 wird die 1921 in terium und als Staatsmi-<br />

Essen geborene Hildegard nisterin im Auswärtigen<br />

Hamm-Brücher jüngste Amt. 1994 kandidiert sie<br />

Abgeordnete im Münch- als erste Frau für das Amt<br />

ner Stadtrat. 22 Jahre des Bundespräsidenten.<br />

ist die FDP-Politikerin 2002 tritt sie als Stellver-<br />

Mitglied des Bayerischen tretendeBundesvorsitzen- Landtages – davon sechs de der Liberalen wegen<br />

Jahre als erste weibliche Möllemanns und Wester-<br />

Fraktionsvorsitzende. 14 welles„Spaßgesellschafts- Jahre ist sie Mitglied im politik“ aus der FDP aus.<br />

Deutschen Bundestag. Sie <strong>Die</strong> streitbare Liberale<br />

arbeitet unter anderem kämpfte beharrlich für die<br />

als Staatssekretärin im Parlamentsreform und die<br />

hessischen Kultusminis- Rechte der Abgeordneten.


16 Dezember 2008<br />

Vertrauen in die Weisheit der Massen<br />

wider die Politikverdrossenheit – mit Instrumenten direkter Demokratie politisch aktiv werden<br />

Von Ursula Mense<br />

Immer weniger Menschen<br />

gehen zur Wahl. Den Parteien<br />

fehlt der Nachwuchs.<br />

Viele Menschen haben<br />

den Eindruck, dass „die<br />

da oben“ sowieso machen,<br />

was sie wollen. Dabei gibt<br />

es viele Möglichkeiten, politisch<br />

aktiv zu werden – und<br />

Einfluss zu nehmen. Auch<br />

jenseits der etablierten Parteien.<br />

Im bayerischen Sinzing hat<br />

man das Jahr 1994 bis heute<br />

nicht vergessen. Ganz besonders<br />

nicht „Am Reißbrunnen“.<br />

Denn was dort als Interessengemeinschaft<br />

begann und<br />

schließlich in ein erfolgreiches<br />

Bürgerbegehren mündete, ist<br />

ein Lehrstück in Sachen „direkte<br />

Demokratie“ und markiert<br />

gleichzeitig die Geburtsstunde<br />

einer neuen Ära.<br />

Angefangen hatte alles damit,<br />

dass die Gemeinde Sinzing<br />

zwei kleine Straßen<br />

ausbauen lassen wollte. Und<br />

weil sie die veranschlagten 1,2<br />

Millionen Mark nicht allein<br />

aufbringen wollte, sollte mal<br />

eben jeder Anwohner 40.000<br />

Mark beisteuern. Wer dazu<br />

nicht in der Lage war, dem<br />

riet einfühlsam ein Gemeinderatsmitglied<br />

seine „Hütt´n“<br />

zu „verkaffa“.<br />

Nach der ersten Bürgerversammlung<br />

der aufgebrachten<br />

Anwohner entstand schnell<br />

Schwerpunk t > Demokr atie<br />

Vor dem Berliner Reichstag, seit 1999 Sitz des Bundestages, stehen zwar viele Bürger Schlange, doch die wahllokale werden leerer.<br />

eine Bürgerinitiative mit dem<br />

Ziel, der Verwaltung teure und<br />

unnötige Veränderungen auszureden.<br />

Schließlich machten<br />

die Anwohner einen ungewöhnlichen<br />

Vorschlag: Sie<br />

wollten den Ausbau der Straße<br />

in Eigenregie organisieren,<br />

damit Geld sparen und der<br />

Gemeinde Kosten und Arbeit<br />

abnehmen. Normalerweise ist<br />

so etwas für Bürgermeister<br />

und Gemeinderat wie sechs<br />

Richtige im Lotto. Nicht so<br />

CDu ERSCHWERT VOLKSBEgEHREN IN THüRINgEN pER gESETZ<br />

aIn<br />

manchen Bundesländern<br />

sind die Hürden für<br />

ein Volksbegehren nach<br />

wie vor hoch. Rheinland-<br />

Pfalz gehört dazu, das<br />

Saarland und auch Thüringen,<br />

wo bis jetzt für ein<br />

Bürgerbegehren 13 bis 17<br />

Prozent Unterschriften<br />

gesammelt werden mussten.<br />

aUm<br />

die Hürden auf kommunaler<br />

Ebene zu ändern,<br />

hat das „Bündnis für mehr<br />

Demokratie in Thüringen“<br />

erfolgreich Unterschriften<br />

für ein Volksbegehren auf<br />

Landesebene gesammelt.<br />

Denn um die Kommunal-<br />

Ordnung zu ändern,<br />

Foto: carofoto<br />

braucht man ein Landesgesetz.<br />

aDas<br />

Ziel: Nur sieben Prozent<br />

oder maximal 7000<br />

Unterschriften sollen in<br />

Zukunft für ein Bürgerbegehren<br />

nötig sein.<br />

aMit<br />

250.000 Unterschriften<br />

in Thüringen<br />

war das Volksbegehren<br />

erfolgreich. Nun hat aber<br />

gleichzeitig die CDU im<br />

Landtag ein ähnliches<br />

Gesetz verabschiedet.<br />

So etwas während eines<br />

Volksbegehrens zu tun,<br />

ist nach Ansicht der Opposition<br />

ein Affront, der<br />

demokratischen Anstand<br />

vermissen lässt.<br />

aDas<br />

Manöver einer Partei,<br />

die nach wie vor der<br />

direkten Demokratie ablehnend<br />

gegenübersteht,<br />

sagen Kritiker. Denn die<br />

CDU hat in ihrem Gesetz<br />

zwar auch die Quoren für<br />

Bürgerbegehren und -entscheide<br />

gesenkt, gleichzeitig<br />

aber den Bürgern auferlegt,<br />

für die Unterschrift<br />

ins Rathaus zu gehen.<br />

Ein weltweit unübliches<br />

Verfahren in Kommunen.<br />

„Und der Versuch, Bürgerbegehren<br />

durch mangelnde<br />

Zustimmung zu Fall<br />

zu bringen“, sagt Roman<br />

Huber von „Mehr Demokratie“.<br />

in Sinzing. Obwohl die Anwohner<br />

dem Bürgermeister<br />

die für ihr Bürgerbegehren<br />

notwendigen Unterschriften<br />

überreicht hatten, ließ dieser<br />

die Bagger anrollen.<br />

Das war dann allerdings<br />

auch nicht persönlich betroffenen<br />

Bürgern zu viel. 70<br />

Prozent stimmten beim Bürgerentscheid<br />

dafür, dass Anwohner<br />

in Sinzing zwischen<br />

einem Eigenausbau und dem<br />

durch die Gemeinde wählen<br />

dürfen. Ein politischer und<br />

wirtschaftlicher Erfolg. Denn<br />

beim anschließenden Ausbau<br />

sparte jeder Anwohner bis zu<br />

20.000 Mark.<br />

Das Beispiel Sinzing machte<br />

Schule. Immer wieder entschieden<br />

sich unzufriedene<br />

Bürger dafür, sich direkt<br />

einzumischen. Dabei sind<br />

Bürgerbegehren und Bürgerentscheide<br />

die Instrumente<br />

der direkten Demokratie auf<br />

kommunaler Ebene; auf Landesebene<br />

sind es die Volksbegehren<br />

und Volksentscheide.<br />

<strong>Die</strong> Verfahren ähneln sich<br />

in allen Bundesländern. Auf<br />

Landesebene müssen die Initiatoren<br />

zunächst einen Antrag<br />

auf ein Volksbegehren stellen,<br />

die sogenannte Volksinitiative.<br />

Erst wenn diese geprüft ist,<br />

kommt es zum Volksbegehren.<br />

Ein erfolgreiches Volksbegehren<br />

mündet dann in den<br />

Volksentscheid.<br />

Auf lokaler Ebene mehr<br />

Demokratie wagen<br />

Beim Bürgerentscheid geht es<br />

um eine Sachfrage, über die<br />

mit Ja oder Nein abgestimmt<br />

wird. Das kann jedes kommunale<br />

Thema sein, zum Beispiel<br />

der Bau eines Kindergartens,<br />

einer Schule, Verkehrsprojekte,<br />

kulturelle Vorhaben<br />

oder die Abwassergebühren.<br />

Wer Mitstreiter sucht bei<br />

einem kommunalen Thema,<br />

sollte in der Nachbarschaft<br />

anfangen, bei Freunden oder<br />

über einen Leserbrief in der<br />

örtlichen Zeitung, rät Roman<br />

Huber, Geschäftsführer des<br />

Vereins „Mehr Demokratie<br />

e.V.“. Dann trifft man sich,<br />

gründet eine Bürgerinitiative


und macht einen konkreten<br />

Vorschlag. „Mit dem man aber<br />

klugerweise zunächst an den<br />

Bürgermeister herantritt“, so<br />

Huber. Denn erst, wenn er<br />

oder der Gemeinderat abgelehnt<br />

haben, kann man ein<br />

Bürgerbegehren starten. In<br />

vielen Fällen erübrigt sich das<br />

aber nach dem Besuch, wenn<br />

der Bürgermeister merkt, dass<br />

es ein Thema gibt, das seine<br />

Wähler umtreibt.<br />

Auf Bundesebene<br />

keine Volksbegehren<br />

<strong>Der</strong> Volksentscheid hat die<br />

gleiche Bedeutung wie eine<br />

Parlamentsabstimmung und<br />

ist deshalb immer mit einem<br />

Gesetzentwurf gekoppelt. Ist<br />

der Volksentscheid erfolgreich,<br />

ist das betreffende<br />

Gesetz gültig und muss nicht<br />

mehr <strong>vom</strong> Parlament verabschiedet<br />

werden.<br />

Auf Bundesebene gibt es<br />

in Deutschland keine Volksbegehren.<br />

Seit der Verabschiedung<br />

des Grundgesetzes<br />

wurde zwar immer wieder<br />

versucht, Volksentscheide<br />

auch auf Bundesebene durchzusetzen.<br />

Bisher jedoch ohne<br />

Erfolg. <strong>Der</strong> letzte Versuch, das<br />

Grundgesetz entsprechend zu<br />

ändern, scheiterte 2002 unter<br />

der rot-grünen Bundesregierung.<br />

Obwohl es eine Mehrheit<br />

im Bundestag für die direkte<br />

Demokratie gab, verfehlte der<br />

Gesetzentwurf wegen der Ablehnung<br />

der CDU die notwendige<br />

Zwei-Drittel-Mehrheit.<br />

<strong>Die</strong> Gegner von Volksentscheiden<br />

auf Bundesebene<br />

argumentieren gern mit der<br />

Manipulierbarkeit der Wähler<br />

Schwerpunk t > Demokr atie<br />

und damit, dass den meisten<br />

Bürgern angesichts der immer<br />

komplexer werdenden<br />

Themen das Verständnis für<br />

politische Zusammenhänge<br />

fehle. In diese Richtung geht<br />

auch die Annahme, dass es<br />

die Wiederbewaffnung, den<br />

Nato-Doppelbeschluss oder<br />

die Wiedervereinigung mit<br />

einem Volksentscheid darüber<br />

nicht gegeben hätte. Dem hält<br />

Roman Huber unverdrossen<br />

entgegen: „Ich vertraue auf<br />

die Weisheit der Massen.“<br />

Zum Beispiel bei der Wiedervereinigung.<br />

<strong>Die</strong> sei schließlich<br />

<strong>vom</strong> Volk angeschoben<br />

worden.<br />

<strong>Der</strong> Verein „Mehr Demokratie“<br />

streitet seit Jahrzehnten<br />

für eine Reform und die Einführung<br />

des bundesweiten<br />

Volksentscheids. Außerdem<br />

setzt er sich dafür ein, dass die<br />

Spielregeln für Volksbegehren<br />

auf Landesebene und Bürgerbegehren<br />

in den Gemeinden<br />

demokratischer werden.<br />

Mit zunehmendem Erfolg.<br />

Seit der Wiedervereinigung<br />

ist Bewegung in die Entwicklung<br />

der direkten Demokratie<br />

gekommen. Vor 1990 gab es<br />

nur sieben Bundesländer mit<br />

einer landesweiten Gesetzgebung<br />

zu Volksbegehren; Bürgerbegehren<br />

und -entscheide<br />

gab es nur in Baden-Württemberg.<br />

Seit 1998 sind diese<br />

wichtigen Instrumente der<br />

direkten Demokratie in allen<br />

16 Bundesländern verankert.<br />

Auf Landes- wie auf kommunaler<br />

Ebene. Und dort, wo die<br />

Hürden für ein erfolgreiches<br />

Volksbegehren nicht so hoch<br />

sind, machen die Bürger auch<br />

beherzt Gebrauch davon.<br />

In Berlin zum Beispiel, wo<br />

Bürger zurzeit mit Hilfe eines<br />

Volksbegehrens versuchen,<br />

Religions- und Ethikunterricht<br />

gleichzustellen. Oder Brandenburg.<br />

Dort soll ein kürzlich<br />

begonnenes Volksbegehren<br />

verhindern, dass der Braunkohle-Tagebau<br />

in der Lausitz<br />

ausgebaut wird. Bundesweit<br />

gab es im vergangenen Jahr 27<br />

neue und 34 laufende Volksbegehren.<br />

Ein Rekordjahr. Berlin<br />

war mit sieben neuen Verfahren<br />

Spitzenreiter, vor Hamburg,<br />

wo drei neue Volksbegehren<br />

gestartet wurden.<br />

„Politik lebt <strong>vom</strong> Engagement<br />

und der Beteiligung der<br />

Bürger“, sagt Roman Huber<br />

und ist überzeugt: Dort, wo<br />

sich Bürger wirklich einmischen<br />

und nicht nur ohnmächtig<br />

zuschauen dürfen, lebt die<br />

Demokratie.<br />

Bis zu 20 Prozent aller<br />

Wahlberechtigten<br />

Eine Erkenntnis, die sich allerdings<br />

laut Huber in den meisten<br />

Bundesländern noch nicht<br />

herumgesprochen hat. Huber<br />

kritisiert vor allem die Länder,<br />

wo die vorgeschriebene Zahl<br />

von Unterschriften Volksbegehren<br />

erschwert. So sind<br />

dafür auf Landesebene meist<br />

zwischen zehn und zwanzig<br />

Prozent der Unterschriften<br />

aller Wahlberechtigten nötig.<br />

<strong>Die</strong>se Hürde schaffen nur etwa<br />

40 Prozent aller Anträge. Zum<br />

Vergleich: In der Schweiz oder<br />

den USA, den Stammländern<br />

der direkten Demokratie, reichen<br />

zwei bis fünf Prozent der<br />

Stimmberechtigten für ein<br />

Volksbegehren aus. Eine solch<br />

aktivisten sammeln in hamburg Unterschriften für ein Volksbegehren zur direkten Demokratie.<br />

Foto: Picture alliance<br />

BITTE EINMISCHEN!<br />

aWer<br />

auf Entscheidungen<br />

in seiner Gemeinde oder<br />

seinem Land Einfluss nehmen<br />

möchte, kann...<br />

a...<br />

einen Bürgerverein<br />

gründen und ins Vereinsregister<br />

eintragen lassen.<br />

<strong>Die</strong>s ist ein Zusammenschluss<br />

von Anwohnern<br />

eines Stadtteils oder eines<br />

Dorfes, die Ziele des Gemeinwesens<br />

verfolgen<br />

und fördern wollen<br />

(zum Beispiel Brauchtums-<br />

und Denkmalpflege,<br />

Dorffeste, Konzerte, Adventssingen).<br />

a...<br />

eine Bürgerinitiative<br />

mit Gleichgesinnten,<br />

Nachbarn, Freunden gründen,<br />

um ein bestimmtes<br />

Vorhaben voranzutreiben<br />

(idealer Ausgangspunkt<br />

für den Start eines Bürgerbegehrens.<br />

Tipps gibt es<br />

bei: www.mehr-demokratie.de<br />

bürgerfreundliche Regelung<br />

gibt es bei uns nur in Brandenburg,<br />

Hamburg und Schleswig-<br />

Holstein. Das Schlusslicht aller<br />

Bundesländer ist das Saarland.<br />

Dort benötigt ein Volksbegehren<br />

20 Prozent Unterschriften<br />

innerhalb von 14 Tagen.<br />

Dass die Bürgerinnen und<br />

Bürger im Land sich einmischen<br />

wollen, zeigen auch die<br />

Bitten und Beschwerden, die<br />

den Petitionsausschuss des<br />

Bundestages erreichen. Jeder<br />

Bürger kann eine solche Petition<br />

einreichen, einzeln oder<br />

als Interessensgruppe, als<br />

Bürgerinitiative oder -verein.<br />

Seit drei Jahren ist dies auch<br />

online möglich. Zwischen Oktober<br />

2005 und Oktober 2008<br />

wurden fast 700 öffentliche<br />

Petitionen online eingereicht,<br />

diskutiert und von 1,2 Millionen<br />

Usern mit unterzeichnet.<br />

Inzwischen melden sich täglich<br />

etwa 130 Nutzer an.<br />

Erst kürzlich konnten sich<br />

Parlamentarier ein Bild davon<br />

machen, was den Leuten<br />

auf den Nägeln brennt. Über<br />

120.000 Menschen schlossen<br />

sich innerhalb von sechs<br />

Wochen per Mausklick einer<br />

öffentlichen Online-Petition<br />

an, mit der ein Bürger die Politiker<br />

aufgefordert hatte, die<br />

Spritsteuer zu halbieren.<br />

Wessen Anliegen es schafft,<br />

innerhalb von drei Wochen<br />

mehr als 50.000 Unterstützer zu<br />

finden, darf persönlich vor dem<br />

Dezember 2008 17<br />

a...<br />

einer Partei beitreten.<br />

Man wendet sich an den<br />

Ortsverein der Partei seiner<br />

Wahl, wird zahlendes<br />

Mitglied und kann von da<br />

an bei allen Aktivitäten<br />

des Ortsvereins mitwirken<br />

und Verantwortung<br />

für bestimmte Aufgaben<br />

übernehmen.<br />

a...<br />

sich als aktives Mitglied<br />

der lokalen Gruppe<br />

einer überregionalen Organisation<br />

für bestimmte<br />

gesellschaftspolitische<br />

Ziele einsetzen (zum Beispiel<br />

Naturschutzbund,<br />

Amnesty International<br />

oder Greenpeace).<br />

a...<br />

eine Petition an den<br />

Deutschen Bundestag<br />

schreiben – schriftlich<br />

per Post oder E-Mail.<br />

Informationen gibt es<br />

auf der Homepage des<br />

Deutschen Bundestages:<br />

www.bundestag.de<br />

Petitionsausschuss erscheinen.<br />

<strong>Die</strong> Abgeordneten können das<br />

Anliegen dann der Regierung<br />

vorlegen. Auf der Internetseite<br />

des Bundestages klickt man<br />

den Button „Petitionen“ an, und<br />

schon hat man die Möglichkeit,<br />

eine bereits eingereichte Online-Petition<br />

mit zu unterzeichnen<br />

oder auch eine neue zu<br />

verfassen. <strong>Die</strong> Bandbreite der<br />

Themen ist auch hier groß. Petitionen<br />

gibt es zum Gaststättenrecht<br />

oder Führerscheinwesen,<br />

ebenso wie zum Schächten von<br />

Tieren oder zur Verschrottung<br />

von Altfahrzeugen.<br />

<strong>Die</strong> Menschen der heutigen<br />

Welt, zumindest in den<br />

so genannten zivilisierten<br />

Teilen, grenzen sich immer<br />

weiter ab. Was zählt, ist man<br />

selbst, die Verwandten und<br />

vielleicht noch gute Freunde.<br />

<strong>Der</strong> Rest ist einem egal. Ich<br />

will eine Gesellschaft, in der<br />

der Mensch sich gegenseitig<br />

so behandelt, wie wir es<br />

überhaupt so weit gebracht<br />

haben in der Leiter der Evolution:<br />

durch Gemeinschaft.<br />

Ich will in einer Gesellschaft<br />

leben, die auf persönlichem,<br />

aber zwanglosem Engagement<br />

basiert.<br />

T.P.<br />

3 die<strong>Gesellschafter</strong>.de


18 Dezember 2008<br />

Schwerpunk t > Demokr atie<br />

„Ein Parlament, das nur Gutes tut“<br />

In hamburg ist ein einzigartiges Projekt entstanden: <strong>Die</strong> Bürger entscheiden, wohin das Geld geht<br />

Von Elias Bierdel<br />

Hochbetrieb zu abendlicher<br />

Stunde an der Hamburger<br />

Uni. In kleinen Gruppen<br />

strebt alles dem hellerleuchteten<br />

Hörsaal A zu.<br />

Doch diesmal sind es keine<br />

angehenden Jungakademiker,<br />

die im altehrwürdigen<br />

Rund zur Vorlesung Platz<br />

nehmen, sondern durchaus<br />

gesetztere Damen und<br />

Herren. Denn hier geht es<br />

statt ums Büffeln um handfeste<br />

Hilfe für Arme, Kranke,<br />

Obdachlose.<br />

Es tagt das „Hamburger Spendenparlament“<br />

– mit fast 3.500<br />

Mitgliedern ein bundesweit<br />

einmaliges Projekt bürgerschaftlichen<br />

Engagements.<br />

Natürlich sind – wie es ja<br />

auch in anderen Parlamenten<br />

vorkommen soll – längst nicht<br />

alle Mitglieder zur Sitzung<br />

erschienen. Rund 400 mögen<br />

es diesmal sein, die sich<br />

zwischen den steil aufstei-<br />

genden Stuhlreihen begrüßen,<br />

bis eine Glocke die fröhliche<br />

Geschwätzigkeit im Plenum<br />

beendet. Nun wird es ernst:<br />

Mehr als 20 Punkte umfasst<br />

die Tagesordnung – und hinter<br />

jedem einzelnen steht eine Initiative,<br />

die in der Hansestadt<br />

Gutes tun möchte und dabei<br />

auf Unterstützung durch das<br />

„Spendenparlament“ hofft.<br />

Da gibt es einen Verein, der<br />

spezielle Kurse für Migranten-<br />

Töchter anbieten will, oder<br />

eine Kirchengemeinde, die<br />

nach dem unerwarteten Ableben<br />

ihres Kleinbusses nun<br />

dringend Ersatz braucht. In<br />

einem Stadtteil-Kulturzen-<br />

gEgEN ARMuT<br />

aZiel<br />

des „Spendenparlaments“<br />

ist die Bekämpfung<br />

von Armut in<br />

Hamburg. <strong>Die</strong> Mitglieder<br />

treffen sich dreimal jährlich,<br />

um „transparent<br />

und demokratisch“ über<br />

Anträge abzustimmen.<br />

Maximal 25.000 Euro<br />

werden einmalig für ein<br />

Projekt bewilligt. Seit<br />

der Gründung 1996 wurden<br />

rund 5 Mio. Euro<br />

vergeben.<br />

Foto: krusekamp, hamburger Spendenparlament e.V.<br />

Das Spendenparlament tagt: <strong>Die</strong> Mehrheit entscheidet, welche Projekte gefördert werden sollen.<br />

trum soll die Küche erneuert<br />

werden, anderswo benötigen<br />

Asylbewerber einige Computer,<br />

damit sie – im Falle<br />

ihrer Anerkennung – auf dem<br />

Arbeitsmarkt ihrer neuen Heimat<br />

eine Chance haben. Kinder<br />

suchen Platz zum Spielen,<br />

Kranke warten auf neue Rollstühle<br />

und demente Senioren<br />

auf einen Gruppenraum mit<br />

Musikanlage. So vieles bleibt<br />

ungetan in Zeiten knapper<br />

öffentlicher Kassen. Da ist<br />

Bürgersinn gefragt, können<br />

unbürokratische Entscheidungen<br />

und ein paar hundert<br />

Euro schon einiges bewirken.<br />

„Wir nehmen dem Staat aber<br />

nicht die Arbeit ab“, sagt Dirk<br />

Bleese, der Vorsitzende des<br />

Fördervereins, mit einem hanseatisch-vornehmen<br />

Lächeln.<br />

„Wir zeigen ihm allenfalls,<br />

wie er es gelegentlich besser<br />

machen könnte.“<br />

Doch hier wird auch nicht<br />

einfach nur Geld verteilt, erst<br />

einmal ist Überzeugungsarbeit<br />

gefragt, gilt es, für ein Anliegen<br />

die Parlamentsmehrheit<br />

zu gewinnen. Dazu muss<br />

jeder Antragsteller seine eigene<br />

Sache im Plenum vertreten.<br />

Keine Kleinigkeit, wenn man<br />

es nicht gewohnt ist, vor vielen<br />

Menschen zu sprechen. Zehn<br />

Minuten Redezeit um alles<br />

oder nichts – erst danach wird<br />

abgestimmt. Allerdings darf<br />

jeder Redner auf Wohlwollen<br />

hoffen: Alle Anträge sind<br />

<strong>vom</strong> „Finanzausschuss“ des<br />

„Spendenparlaments“ vorsortiert<br />

und gutgeheißen. Eine<br />

komplette Ablehnung kommt<br />

praktisch nicht vor.<br />

Alle Redner wollen<br />

das Plenum gewinnen<br />

Dennoch schluckt Christian<br />

Lietz ein paarmal, als er ans<br />

Rednerpult tritt. Gemeinsam<br />

mit Freunden will er im<br />

Stadtteil St. Pauli ein Beratungszentrum<br />

für Arbeitslose<br />

und Sozialhilfe-Empfänger<br />

aufbauen. <strong>Der</strong> Bedarf ist ohne<br />

Zweifel groß, geeignete Räumlichkeiten<br />

sind auch gefunden<br />

– und schon der Name verheißt<br />

Positives: „JaWohl e.V.“.<br />

<strong>Der</strong> gelernte Elektriker Lietz<br />

macht seine Sache gut. Jedes<br />

Kilo seiner imposanten Gestalt<br />

wirft der Vereinsvorsitzende<br />

in die Waagschale, erklärt,<br />

verspricht, mahnt, bittet, appelliert<br />

– und schwitzt. Neben<br />

dem Konzept überzeugt wohl<br />

auch sein voller Körpereinsatz<br />

die Versammlung. Es gibt<br />

kaum Nachfragen, der Beschluss<br />

fällt einstimmig: 5000<br />

Euro gibt es als Anschubfinanzierung,<br />

damit „JaWohl“ seinen<br />

künftigen Klienten helfen<br />

Foto: hamburger Spendenparlament e.V. – elbfeuer<br />

kann. Bei Ärger mit der ARGE<br />

zum Beispiel, der oft wenig<br />

kulanten Zentralbehörde für<br />

die Hartz-IV-Empfänger.<br />

Als Christian Lietz mit hochrotem<br />

Kopf auf seinen Platz<br />

zurückkehrt, erschöpft, aber<br />

glücklich, brandet im Plenum<br />

werbung für hamburgs Spendenparlament.<br />

Applaus auf. „Das ist doch immer<br />

wieder ein schöner Augenblick“,<br />

meint Rita Neuhaus,<br />

mit 72 Jahren Spendenparlamentarierin<br />

der ersten Stunde.<br />

„Wenn man merkt, dass man<br />

hier gute Leute bei einer guten<br />

Sache unterstützt. Da freue<br />

ich mich mindestens genauso<br />

wie die Antragsteller!“ Ihr<br />

Banknachbar Rudi Gerhardt,<br />

Reederei-Kaufmann im Ruhestand,<br />

nickt bekräftigend:<br />

„Das ist schon was Besonderes.<br />

Vor allem, weil wir eben selbst<br />

darüber bestimmen können,<br />

wer wie viel kriegt und wofür<br />

genau! Und nicht einfach nur<br />

Geld irgendwohin spenden, wo<br />

man dann nicht weiß, was davon<br />

auch wirklich ankommt.“<br />

Und noch etwas ist den Parlamentariern<br />

wichtig: „<strong>Die</strong><br />

Projekte werden anschließend<br />

besucht – und wir erfahren,<br />

was aus der Sache geworden<br />

ist!“ Dazu genügt allerdings<br />

oft auch ein Spaziergang<br />

durch die Stadt. Mittlerweile<br />

hat das „Spendenparlament“<br />

überall bleibende Spuren hinterlassen:<br />

in der „Rathaus-<br />

Passage“ zum Beispiel. <strong>Die</strong><br />

Fußgänger-Unterführung war<br />

einst ein dunkles Loch, heute<br />

betreiben hier 12 ehemalige<br />

Langzeitarbeitslose ein Bistro<br />

samt Bücherstube.<br />

Doch zurück in den Hörsaal<br />

A, wo sich die Sitzung langsam<br />

dem Ende zuneigt. Mehr als<br />

250.000 Euro werden an diesem<br />

Abend verteilt, satzungsgemäß<br />

an „nachhaltig<br />

wirkende<br />

soziale Programme<br />

gegen<br />

O b d a c h l o s i g -<br />

keit, Armut und<br />

Einsamkeit“. <strong>Die</strong><br />

Mittel stammen<br />

zum einen aus<br />

den Mitgliedsbeiträgen<br />

(jeder<br />

Parlamentarier<br />

zahlt 60 Euro<br />

Jahresbeitrag),<br />

zum anderen<br />

aus Spenden<br />

von Firmen,<br />

Stiftungen und<br />

Einzelpersonen.<br />

Das reichte, um<br />

in den ersten<br />

12 Jahren des<br />

Bestehens fast<br />

700 Projekte zu<br />

u n t e r s t ü t z e n<br />

– und sich so das höchste Lob<br />

zu erwerben. Es stammt von<br />

Hamburgs früherem Bürgermeister<br />

Klaus von Dohnanyi:<br />

„Endlich mal ein Parlament,<br />

das nur Gutes tut!“


acht und abgeholt werden<br />

– zweimal pro Woche, nach der<br />

Schule, die um 16 Uhr endet.<br />

Heute also Ergotherapie. Nora<br />

bringt ihn hin und ich hole ihn<br />

ab. Gott sei Dank ist die Praxis<br />

behindertengerecht und<br />

zu Fuß erreichbar. Auf dem<br />

Rückweg wegen Regen in die<br />

Straßenbahn. Da geht leider<br />

nur eine Linie, die andere hat<br />

den hohen Einstieg: ein bleibendes<br />

Ärgernis mit Rollstuhl,<br />

aber auch Kinderwagen!<br />

DONNERSTAG, 13.03.2008<br />

Noras Eintrag:<br />

Für mich ist es manchmal<br />

schwierig, Bruder, Freunde,<br />

AGs und Schule unter einen<br />

Hut zu bekommen. Wenn<br />

ich Marius zu einer Therapie<br />

bringe, fahren wir meistens<br />

zwei Stationen mit der<br />

Straßenbahn. Seit ein paar<br />

Monaten trauen wir uns<br />

auch, andere Fahrgäste von<br />

den Behinderten-Klappsitzen<br />

wegzuscheuchen, damit wir<br />

den Rollstuhl dort hinstellen<br />

können.<br />

Marius’ Eintrag:<br />

Marius hat heute keine Lust<br />

zu schreiben, da ihm das sehr<br />

schwer fällt. Aber ich soll<br />

schreiben, dass er Sprachtherapie<br />

hatte und sich davor im<br />

Schreibwarengeschäft Pokémon-Karten<br />

gekauft hat. <strong>Die</strong><br />

sammelt er.<br />

FREITAG, 14.03.2008<br />

Mamas Eintrag:<br />

Heute haben Marius und ich<br />

eine Frau mit ihrem Behinderten-Begleithund<br />

kennen<br />

we t tbe werb<br />

„<strong>Der</strong> ganz normale Wahnsinn“<br />

Routinen, krisen und Sternstunden – Familien schreiben Tagebuch<br />

<strong>Der</strong> Wettbewerb „Glück<br />

kann man teilen. Sorgen<br />

auch – Unser Familientagebuch“<br />

hat Kinder, Mütter<br />

und Väter motiviert, Alltägliches<br />

aus Schule und<br />

Freizeit, Familie und Beruf<br />

mit ganz eigenen Worten<br />

festzuhalten. Nachfolgend<br />

einige Auszüge aus den<br />

Tagebüchern der Erst- und<br />

Zweitplazierten.<br />

Helfende Hände erwünscht!<br />

Aus dem Tagebuch von Edith<br />

Welling und ihren Kindern<br />

Nora und Marius<br />

MITTWOCH, 12.03.2008<br />

Noras Eintrag:<br />

Heute haben wir die Mathearbeit<br />

in der Schule zurückbekommen.<br />

Sie war okay. Nach<br />

der Schule habe ich bei einer<br />

Freundin gegessen, musste<br />

aber um 16 Uhr wieder zuhause<br />

sein, um Marius zu<br />

helfen, weil er von der Schule<br />

gekommen ist. Um 17 Uhr kam<br />

Mama von der Arbeit und ich<br />

konnte zum Babysitten. Jetzt<br />

mache ich gleich Hausaufgaben.<br />

Mama ist jetzt hier und<br />

kümmert sich um Marius.<br />

Er badet gerade und braucht<br />

beim Einsteigen, Aussteigen<br />

und Anziehen Hilfe. Danach<br />

essen wir zu Abend.<br />

Marius’ Eintrag:<br />

Marius hatte heute Schwimmen<br />

in der Schule und nachmittags<br />

Ergotherapie.<br />

Mamas Eintrag:<br />

Marius hat eine Tetra-Spastik<br />

und sitzt im Rollstuhl. Zur<br />

Therapie muss er immer ge-<br />

TAgEBuCH-KALENDER 2009<br />

a<strong>Der</strong><br />

Bundesverband für<br />

Körper- und Mehrfachbehinderte<br />

e.V. und die Aktion<br />

Mensch haben durch<br />

ihren Wettbewerb Familien<br />

in den Mittelpunkt gestellt,<br />

in denen Menschen<br />

mit Behinderungen leben.<br />

Ausgewählte Beiträge werden<br />

in einem einem Kalender<br />

veröffentlicht, der über<br />

die Aktion Mensch bestellt<br />

werden kann.<br />

info@aktion-mensch.de<br />

Familien führen durchs Jahr.<br />

Fotos: Michael Bause<br />

<strong>Die</strong> Journalistin Edith welling mit Nora (14) und Marius (11).<br />

gelernt. War sehr beeindruckend<br />

wie hilfreich der Hund<br />

war. Leider leben wir ja in<br />

einer Mietwohnung, in der<br />

Hunde nicht erlaubt sind.<br />

Aber für Marius, der ja wenige<br />

Freunde in seinem Alter hat,<br />

wäre der Hund schon ein toller<br />

Kamerad. Für die Ferien habe<br />

ich Marius einen Tag zu einer<br />

Ferienaktion im Jugendheim<br />

angemeldet. Das Ganze findet<br />

in einem Bau aus den 70er<br />

Jahren statt, der überhaupt<br />

nicht behindertengerecht ist.<br />

Ich muss also mal wieder<br />

viele „helfende Hände“ suchen<br />

und ansprechen, was Marius<br />

oft peinlich ist. Ich will aber<br />

nicht, dass er nur zuhause vor<br />

dem Fernseher seine Freizeit<br />

verbringen muss.<br />

Noras und Marius’ Eintrag:<br />

Heute waren Marius und ich<br />

in einer Kinderoper mit Marius’<br />

Malkurs. Weil er einen<br />

Begleiter brauchte, musste<br />

ich mitgehen. Marius hatte<br />

eigentlich einen Extra-Platz<br />

reserviert bekommen, aber<br />

da sollte er ganz alleine unten<br />

beim Orchester sitzen. Das<br />

wollte er nicht, also mussten<br />

wir ihn die Treppen hoch tragen.<br />

<strong>Die</strong> meisten anderen im<br />

Publikum sind davon immer<br />

genervt, aber das sehen wir<br />

gar nicht mehr.<br />

<strong>Der</strong> ganz normale Wahnsinn.<br />

Aus dem Tagebuch von Silke<br />

und Jochen Stapenhorst und<br />

ihren Kindern Fiona, Luisa<br />

und Lukas.<br />

MITTWOCH, 19.12.2007<br />

Kaum zu glauben und doch<br />

wahr, Fiona ist heut’ schon<br />

ein Jahr. Und wie auch an<br />

den Geburtstagen der beiden<br />

„Großen“ denke ich als Mutter<br />

an den Tag der Geburt: In der<br />

29ten Schwangerschaftswoche<br />

wurde bei unserem Kind, durch<br />

Zufall während einer Routine-<br />

Ultraschalluntersuchung, ein<br />

Herzfehler festgestellt. „Nein,<br />

dieser Fehler wächst sich nicht<br />

aus. Da müssen Sie sich auf<br />

Dezember 2008 19<br />

mehrere Operationen<br />

mit langen Krankenhausaufenthalten<br />

einstellen. Aber später<br />

hat Ihr Kind dann<br />

eine Chance auf ein<br />

halbwegs normales<br />

Leben.“ Dringend<br />

wurde mir zu einer<br />

Fruchtwasseruntersuchung<br />

geraten –<br />

man denke an eine<br />

Trisomie. Meine Bedenken<br />

hinsichtlich<br />

der Gefahr eines Bla-<br />

sensprungs wurden<br />

abgetan und der Termin<br />

vereinbart. Weder<br />

hätte, aus rechtlicher<br />

Sicht, ein Schwangerschaftsabbruch<br />

zur Wahl gestanden,<br />

noch hätte man, aus<br />

medizinischer Sicht,<br />

irgendeine andere<br />

Maßnahme ergriffen<br />

als bei einem Kind ohne<br />

Trisomie 21. „Aber<br />

Sie müssen doch wissen,<br />

was auf Sie zukommt!“ Aus<br />

Neugier das Leben unseres Kindes<br />

riskieren? Blasensprung in<br />

der 29ten Woche? Herzfehler?<br />

Nebenbei erfuhren wir, dass<br />

es ein Mädchen ist. Nein, die<br />

verbleibenden Wochen konnten<br />

wir auch mit dieser Ungewissheit<br />

leben und uns für „alle Fälle“<br />

vorbereiten. Ich stand wieder<br />

zwischen den Regalen der<br />

Fachhochschulbibliothek, diesmal<br />

auf der Suche nach Elternratgebern.<br />

Jochen recherchierte<br />

im Internet. Als Fiona zur Welt<br />

kam, beantwortete sie mit dem<br />

ersten Blick von Angesicht zu<br />

Angesicht unsere Frage, deren<br />

Antwort ich tief in meinem<br />

Inneren bereits kannte.<br />

Silke und Jochen Stapenhorst mit den kindern Fiona (1),<br />

Luisa ( ) und Lukas (6).


20 Dezember 2008<br />

Engagement<br />

„ ...erstmal muss hier Ordnung rein“<br />

Ehrenamtliche Sozialpaten unterstützen Menschen in Not – hoher Bedarf seit hartz IV-Einführung<br />

Von Sabine Jacobs<br />

Ohne Terminkalender<br />

geht gar nichts. Im kleinen<br />

Besprechungszimmer<br />

des Mindener Rathauses<br />

hat Bärbel Mauritz ein<br />

schwarzes Büchlein vor<br />

sich aufgeschlagen. <strong>Der</strong><br />

heutige Montag sieht ziemlich<br />

zugepflastert aus. 9.00<br />

Uhr Treffen mit Rudolf G.,<br />

11.00 Uhr Schuldnerberatung,<br />

14.00 Uhr Telefontermin<br />

Wohnbau und dann<br />

noch ein Hausbesuch. Seit<br />

Bärbel Mauritz ihr Amt als<br />

Sozialpatin angetreten hat,<br />

sind drei bis vier Tage pro<br />

Monat für Termine dieser<br />

Art reserviert.<br />

Jetzt sitzt ihr Rudolf Keimer<br />

(Name von der Redaktion<br />

geändert) gegenüber. <strong>Der</strong> 48-<br />

Jährige hat einen ganzen<br />

Schuhkarton voller Dokumente<br />

mitgebracht. Viele<br />

Briefe sind darunter. Ungeöffnet.<br />

Ein Blick auf die Absender<br />

und Frau Mauritz weiß<br />

Bescheid. Gerichte, Ämter,<br />

Inkassounternehmen. <strong>Die</strong> Geschichte<br />

von Rudolf Keimer ist<br />

schnell erzählt. Vor zwei Jahren<br />

hat ihn die Frau verlassen,<br />

und dann war auch noch die<br />

Arbeit weg. Aus Scham scheut<br />

er den Weg zum Sozialamt.<br />

Um die Miete zu bezahlen, verhökert<br />

er das Mobiliar. Jetzt<br />

sind die Möbel weg, dafür<br />

wachsen die Schulden. Über<br />

4000 Euro sind so mittlerweile<br />

zusammengekommen.<br />

<strong>Die</strong> Zwangsräumung steht<br />

unmittelbar bevor. „Ich bin am<br />

Ende“, sagt Herr Keimer.<br />

Von Alltagsproblemen<br />

bis hin zum Sozialfall<br />

Schicksale wie dieses sind<br />

Bärbel Mauritz mittlerweile<br />

vertraut. Seit einem guten<br />

Jahr arbeitet die 62-jährige<br />

Rentnerin nun schon als ehrenamtliche<br />

Sozialpatin für<br />

die Mindener Freiwilligen-<br />

Agentur. Hilft, berät und<br />

unterstützt Menschen, denen<br />

ihr Leben aus der Hand geglitten<br />

ist. Aus welchen Gründen<br />

auch immer. Manchmal steht<br />

ein Jobverlust am Anfang.<br />

Manchmal sind es Beziehungsprobleme<br />

oder Alkohol.<br />

<strong>Der</strong> soziale Abstieg folgt auf<br />

Foto: Jürgen christ<br />

<strong>Die</strong> Sozialpatinnen Bärbel Mauritz und Renate kruse während eines Beratungsgesprächs mit einem klienten.<br />

Raten, und plötzlich gibt es<br />

scheinbar kein Zurück.<br />

Ihre frühere Tätigkeit als<br />

Leiterin einer Großkantine<br />

kommt Frau Mauritz heute<br />

zupass. „Meine Leute konnten<br />

immer auf mich zählen“, sagt<br />

sie. Man glaubt ihr aufs Wort.<br />

Sie ist eine resolute Frau. Auch<br />

jetzt weiß sie, wo es lang geht.<br />

„Erst mal muss hier Ordnung<br />

rein“, sagt sie und sortiert die<br />

Dokumente zu übersichtlichen<br />

Stapeln, „dann müssen die<br />

Schulden weg.“ Das bedeutet:<br />

Kontakt mit den Gläubigern<br />

aufnehmen, Anträge stellen,<br />

Behördengänge, Wohnungssuche.<br />

Schritt für Schritt<br />

erklärt sie Herrn Keimer das<br />

gemeinsame Vorgehen.<br />

Das ist wichtig. Denn Bärbel<br />

Mauritz will ihrem Klienten<br />

die Probleme nicht einfach abnehmen.<br />

Hilfe zur Selbsthilfe<br />

heißt ihr Ziel. Rudolf Keimer<br />

soll lernen, sein Leben wieder<br />

selbst in die Hand zu nehmen.<br />

Insgesamt 36 Sozialpaten<br />

bieten inzwischen in Minden<br />

ihre <strong>Die</strong>nste an. Juristen und<br />

Banker sind darunter, ein<br />

pensionierter Tischler, Hausfrauen,<br />

Studenten. Alle haben<br />

eine Schulung hinter sich.<br />

Insolvenzrecht und Psychologie,<br />

Familien- und Verwal-<br />

tungsrecht standen auf dem<br />

Stundenplan. Für ihre <strong>Die</strong>nste<br />

erhalten sie kein Honorar,<br />

lediglich Fahrtkosten und Telefongeld<br />

werden erstattet.<br />

Doch um Geld geht es auch<br />

gar nicht. „Es tut einfach gut,<br />

etwas <strong>Sinn</strong>volles zu tun“, sagt<br />

Frau Mauritz, „zu sehen, dass<br />

man gebraucht wird.“<br />

Und das werden sie und ihre<br />

Mitstreiter. „<strong>Der</strong> Bedarf ist<br />

groß“, sagt Marco Mehwald,<br />

der den Einsatz der Sozialpaten<br />

bei der Mindener Freiwilligen-Börse<br />

koordiniert. Mit<br />

der Einführung von Hartz IV<br />

im Jahr 2005 war plötzlich die<br />

Zahl der Leistungsempfänger<br />

deutlich gewachsen. Immer<br />

mehr Menschen fielen durch<br />

das soziale Netz. <strong>Die</strong> Zahl der<br />

Obdachlosen wuchs.<br />

Dass es innerhalb von zwei<br />

Jahren gelang, das Projekt<br />

auf den Weg zu bringen, ist<br />

dem Einsatz engagierter Fürstreiter<br />

wie Ute Hildebrand zu<br />

danken. <strong>Die</strong> 41-jährige städtische<br />

Angestellte war bei der<br />

sonntäglichen Zeitungslektüre<br />

zufällig auf ein ähnliches<br />

Projekt gestoßen. „Warum<br />

nicht auch bei uns?“, hatte sie<br />

gedacht. Dass es zu Anfang<br />

auch Skepsis gab, will sie nicht<br />

leugnen. Zum Beispiel, dass<br />

hier Probleme auf den Rücken<br />

überforderter Laien verlagert<br />

werden könnten. Heute ist von<br />

solchen Vorbehalten nichts<br />

mehr zu spüren. „Wir sind<br />

froh, dass es die Sozialpaten<br />

gibt“, sagt Silke Schönwald,<br />

zuständig für die Schuldnerberatung<br />

beim Sozialdienst<br />

Katholischer Frauen. „Denn<br />

die greifen dort ein, wo unsere<br />

Möglichkeiten enden.“ Beispielsweise<br />

bei der wachsenden<br />

Zahl von Menschen mit<br />

Lese- und Schreibschwäche.<br />

Aber nicht nur für diese sind<br />

das Gewirr von Vorschriften<br />

und Formularen, die Schreiben<br />

zu Mietschulden und<br />

überzogenen Krediten oft nur<br />

schwer zu verstehen.<br />

Bärbel Mauritz nimmt sich<br />

Zeit für diese Menschen. Allerdings<br />

nicht unendlich. Ein<br />

halbes Jahr. Länger sollte ein<br />

Fall nicht dauern, damit die<br />

Bindung nicht zu eng wird.<br />

Auch das hat sie schon erlebt,<br />

dass Klienten nicht mehr loslassen<br />

wollen. Dann wird es<br />

schwierig, auch für die Helfer<br />

selbst. Abstand halten ist deshalb<br />

wichtig für den Umgang<br />

mit dem Klienten. Und Erwartungen<br />

stellt sie auch: „Wer<br />

nicht mitmacht oder mehrfach<br />

hintereinander Termine<br />

schlabbert, dem kann ich auch<br />

nicht helfen“, sagt sie.<br />

Doch die meisten machen<br />

mit. In über 30 Fällen sind die<br />

Mindener Sozialpaten mittlerweile<br />

aktiv geworden, viele<br />

davon konnten bereits erfolgreich<br />

abgeschlossen werden.<br />

Wie der Fall von Rudolf Keimer.<br />

Seit kurzem hat er wieder<br />

eine Grundsicherung, seine<br />

Gläubiger haben sich auf Ratenzahlungen<br />

eingelassen, einige<br />

haben die Schulden sogar<br />

ganz erlassen. Nächste Woche<br />

zieht er um. <strong>Die</strong> Möbel aus<br />

dem gemeinnützigen Möbellager<br />

hat er schon ausgesucht.<br />

<strong>Der</strong> Anfang ist gemacht.<br />

SOZIALpATEN<br />

aSozialpaten<br />

gibt es in<br />

immer mehr Städten. In<br />

der Regel sind sie bei den<br />

Freiwilligen-Agenturen<br />

angesiedelt, aber eng vernetzt<br />

mit den Fachberatungen<br />

von Kommunen,<br />

Kirchen und Wohlfahrtsverbänden.<br />

Infos gibt<br />

es unter www.bagfa.de<br />

– Bundesarbeitsgemeinschaft<br />

der Freiwilligenagenturen<br />

e.V.


Engagement<br />

Kein Gold für Deutschland<br />

Umweltbewusstsein und was sich davon durchsetzt<br />

Von Wilfried Bommert<br />

Gäbe es bei der Olympiade<br />

eine Disziplin „Nachhaltigkeit“,<br />

Deutschland wäre<br />

sicher verdächtig, Gold zu<br />

gewinnen. Das jedenfalls<br />

legen die Ergebnisse der<br />

Studie „Umweltbewusstsein<br />

in Deutschland“ nahe,<br />

die <strong>vom</strong> Bundesministerium<br />

für Umwelt, Naturschutz<br />

und Reaktorsicherheit als<br />

repräsentative Bevölkerungsumfragedurchgeführt<br />

wurde. Aber würde<br />

das Ergebnis auch einem<br />

Dopingtest standhalten?<br />

Seit 1996 lassen sich die Deutschen<br />

in Sachen Umweltbewusstsein<br />

auf den Zahn fühlen<br />

und erzielen dabei immer<br />

neue Rekorde. Auch die letzte<br />

Umfrage aus dem Jahr 2006<br />

setzte wieder neue Maßstäbe.<br />

Noch nie waren die deutschen<br />

Verbraucher nachhaltiger gesinnt.<br />

Sie wollen die Schönheit<br />

ihrer Landschaften erhalten,<br />

nicht auf Kosten ihrer Kinder<br />

leben, nur so viel konsumieren,<br />

wie nachwächst, und<br />

einen fairen Handel zwischen<br />

den reichen und den armen<br />

Staaten dieser Welt. Mehr als<br />

82 Prozent der Bundesbürger<br />

stimmten ein in diesen Chor.<br />

„Das ist das beste Ergebnis<br />

seit Beginn dieser Nachhaltigkeitsmessung“,<br />

rühmt<br />

Bundesumweltminister Sigmar<br />

Gabriel.<br />

Hedo-Materialisten und<br />

engagierte Idealisten<br />

Auch die Industrie will da<br />

nicht zurückstehen. Unternehmen,<br />

die auf sich halten,<br />

schieben einen Umweltbericht<br />

nach dem anderen auf den<br />

Markt. Vertrauen gewonnen<br />

haben sie damit allerdings<br />

nicht. <strong>Die</strong> Mehrheit der amerikanischen<br />

Kunden, 78 Prozent<br />

der Befragten, unterstellt den<br />

meisten Unternehmen nichts<br />

anderes als ein Reinwaschen<br />

ihrer öffentlichen Weste durch<br />

‚Greenwashing‘, stellt die Studie<br />

„State of Green Business<br />

2008“ für die USA fest. Das<br />

entspricht auch der deutschen<br />

Wirklichkeit, wie der Rat für<br />

nachhaltige Entwicklung und<br />

dessen Vorsitzender Volker<br />

Hauff beklagen: „<strong>Die</strong> Zahl der<br />

Firmen, die Nachhaltigkeitsberichte<br />

vorlegen, ist gestiegen.“<br />

Dennoch gebe es auch weiterhin<br />

schwarze Schafe. „Ich halte<br />

es für keinen Zufall, dass Lidl<br />

und Aldi dazugehören.“<br />

Und wie ist es bei der Kundschaft<br />

selbst? Sind die Bekenntnisse<br />

der Privaten besser<br />

als die der Unternehmen?<br />

Beim genaueren Hinsehen<br />

schwächeln laut Studie des<br />

Umweltministers gerade die<br />

Jüngsten. So lehnen sich die<br />

unter 29-Jährigen lieber etwas<br />

zurück, wenn es um nachhaltige<br />

Anstrengungen geht.<br />

Sie sind die Schlusslichter der<br />

Bewegung und das schon seit<br />

2004. Wissenschaftler um<br />

den Marburger Professor<br />

Udo Kuckartz <strong>vom</strong> Institut<br />

für Erziehungswissenschaft<br />

an der Philipps-<br />

Universität Marburg<br />

geben diesen<br />

Neinsagern einen<br />

Namen. Es<br />

sind die Hedo-Materialisten.<br />

Sie<br />

m a c h e n<br />

17 Prozent<br />

der<br />

B e v ö l -<br />

ker u ng<br />

aus. Ihre<br />

Ziele<br />

liegen im<br />

Lebensgenuss,Eigennutz<br />

und Erfüllen<br />

der eigenen Bedürfnisse.<br />

Was nicht wundert, denn sie<br />

sind Singles, kinderlos und<br />

ohne Familie. Beziehungs-<br />

krisen rangieren bei ihnen<br />

weit vor jeder Art von Umweltkrisen.<br />

Um die Umwelt<br />

soll sich gefälligst der Staat<br />

kümmern.<br />

Aber offenbar kann eine Gesellschaft<br />

wie die bundesdeutsche<br />

auch solche Nachzügler<br />

verkraften. Was sie nicht leisten,<br />

fangen andere auf. Wie<br />

die Gruppe der „engagierten<br />

Idealisten“, die 18 Prozent<br />

ausmachen. Ihnen ist ihr<br />

Nächster ebenso wichtig wie<br />

ein Leben mit der Natur und<br />

politisches Engagement. Unterstützt<br />

werden sie von den<br />

„Pflichtbewussten“ mit 22<br />

Prozent, die sich auszeichnen<br />

durch Respekt vor Gesetz und<br />

Ordnung, Sicherheit, Fleiß<br />

und Ehrgeiz. Beide Gruppen<br />

Foto: carofoto<br />

sind die Zugpferde der deutschenNachhaltigkeits-Bewegung<br />

– bei allen Unterschieden.<br />

Während die Idealisten<br />

sowohl aus den Kreisen der<br />

jüngeren Singles als auch der<br />

jungen Familien kommen und<br />

eher den Grünen verbunden<br />

sind, zählen die Pflichtbewussten<br />

zu den Vertretern der<br />

älteren Generation, mehr CDU<br />

und SPD zugeneigt.<br />

Was nachhaltig zu tun<br />

wäre, wissen die Deutschen<br />

ohne nachzudenken. Ihre<br />

Empfehlungen lauten: erneuerbare<br />

Energien, sparsamer<br />

Energieverbrauch und weniger<br />

Klimagase. Deutschland<br />

soll im Klimaschutz<br />

vorangehen. <strong>Die</strong>, die mehr<br />

Umwelt verbrauchen, sollen<br />

auch mehr zur Kasse gebeten<br />

werden.<br />

Reicht das für „Gold“ in der<br />

Disziplin „Nachhaltigkeit“?<br />

Nein, denn die Welt will Ta-<br />

ten sehen. Und da fängt das<br />

Glaubwürdigkeits-Dilemma<br />

an:<br />

Beispiel Strom: Was die<br />

deutschen Stromzähler zählen,<br />

wissen offensichtlich nur<br />

die Elektrizitätswerke. Drei<br />

von vier Deutschen haben<br />

keinen Schimmer, wie viel sie<br />

Als ich Kind war,<br />

habe ich mit meinen<br />

Freunden jeden Tag in der<br />

Natur gespielt. Da gab es<br />

aber noch kein Handy,<br />

keinen Computer und keine<br />

Playstation, X-Box etc.<br />

Heute müssen sich schon<br />

die Kinder damit auseinandersetzen,<br />

wenn sie im<br />

Leben bestehen wollen.<br />

Wir können das Rad nicht<br />

zurückdrehen. <strong>Die</strong> Welt<br />

wird immer komplexer.<br />

Dezember 2008 21<br />

verbrauchen, und sind ah-<br />

nungslos, was ihr Strom<br />

pro Einheit kostet. Sie<br />

müssen passen, wenn<br />

es darum geht, wie<br />

man den Umstieg auf<br />

Ökostrom bewältigt<br />

und was sie dabei<br />

sparen könnten.<br />

Nur fünf Prozent<br />

haben sich bislang<br />

die Mühe gemacht,<br />

auf nachhaltig erzeugten<br />

Strom<br />

umzusteigen.<br />

Auch bei Bio-Lebensmittelndümpelt<br />

die Nachfrage<br />

mit drei Prozent<br />

am Gesamtsortiment,<br />

obwohl diese für 38<br />

Prozent der Befragten angeblich<br />

eine „große Rolle“<br />

spielen. Nur eben nicht beim<br />

Einkauf. Und dann das Auto:<br />

Obwohl es mit zu den größten<br />

Umweltverschmutzern gehört,<br />

bleibt es der Deutschen<br />

liebstes Kind. Nur elf Prozent<br />

nutzen Bus und Bahn, auch<br />

wenn die Mehrheit für eine<br />

deutliche Verringerung der<br />

Feinstaubbelastung, die auch<br />

der PKW-Verkehr anrichtet,<br />

plädiert.<br />

Wenn Anspruch auf Wirklichkeit<br />

trifft, dann ist es<br />

vorbei mit Deutschlands Spitzenplatz<br />

in „Nachhaltigkeit“.<br />

Ist das ein Fall von ‚Greenwashing‘<br />

oder ist es am Ende<br />

Doping, Bewusstseins-Doping?<br />

Höchstleistung an Umwelt-<br />

und Nachhaltigkeits-Bekenntnissen<br />

und dabei so gut<br />

wie keinerlei Durchsetzungswillen.<br />

<strong>Die</strong> Dopingprobe in<br />

Nachhaltigkeit fällt eindeutig<br />

aus: Kein „Gold“ für Deutschland.<br />

Daher wird es immer<br />

wichtiger, dass wir unseren<br />

Kindern zeigen, wie<br />

man verantwortungsvoll<br />

mit der Natur umgeht; wir<br />

müssen sie wieder mit der<br />

Natur in Berührung bringen.<br />

Ich denke, es bedarf<br />

einfach nur engagierter<br />

Menschen, die kleine Projekte<br />

planen.<br />

Tamer Özcan<br />

3 die<strong>Gesellschafter</strong>.de


22 Dezember 2008<br />

<strong>Die</strong> Lebensbedingungen zu verbessern, ist ein zutiefst menschliches anliegen<br />

Auf der Internetseite<br />

„die<strong>Gesellschafter</strong>.de“ diskutieren<br />

Tausende von Menschen<br />

die Frage: In was für<br />

einer Gesellschaft wollen<br />

wir leben? <strong>Die</strong> Antworten<br />

reichen von Vorschlägen<br />

zur Bekämpfung von Armut<br />

über neue Gesellschaftskonzepte<br />

bis zum Zusammenleben<br />

verschiedener<br />

Kulturen.<br />

▸ Armut<br />

Ohne Dampfplauderer, wie<br />

den Wirtschaftsprofessor aus<br />

Leipzig, der heute auf der<br />

Titelseite der Tageszeitung<br />

behauptet, 132 Euro Hartz IV<br />

würden zum Leben reichen.<br />

<strong>Die</strong>se Aussage ist schlichtweg<br />

falsch. Bei sämtlichen Sparmaßnahmen<br />

ist das Budget<br />

von 120 Euro, welches bei<br />

dem alten Satz von 345 Euro<br />

für Lebensmittel beträgt, unzureichend,<br />

um sich ausgewogen<br />

zu ernähren, auch wenn<br />

billigst eingekauft wird.<br />

L. w.<br />

Frau Merkel lobte gestern die<br />

gute Arbeit ihrer Partei. 1,5<br />

Millionen Arbeitslose weniger<br />

… 7,5 Millionen arbeiten<br />

in Billigjobs. Ich möchte in<br />

einer Gesellschaft leben, in<br />

der der Staat das Volk nicht<br />

für dumm verkauft!<br />

T. k., Berlin<br />

▸ Gesellschaft und Gesellschaftskonzepte<br />

Ich wünsche mir eine Gesellschaft,<br />

in der die Menschen<br />

wieder auf die Straße gehen,<br />

wenn sie das Gefühl haben,<br />

dass etwas nicht in Ordnung<br />

ist. <strong>Die</strong> Demonstrationen von<br />

heute sind lauwarme Fußmärsche,<br />

die in ihrer Wirkung<br />

einem Flugblatt nahe kommen.<br />

Wo ist die Stimme des Volkes?<br />

P. c.<br />

Warum nur müssen wir<br />

immer noch in unterschiedlichen<br />

Sprachen miteinander<br />

reden? Alles wäre viel einfacher,<br />

wenn alle Menschen<br />

auf diesem Planeten dieselbe<br />

Sprache sprechen würden.<br />

Es würde keine Fremdsprachen<br />

und Fremdenfeindlichkeiten<br />

mehr geben. Eine<br />

Einheitssprache würde zur<br />

erheblichen Vereinfachung<br />

des Umgangs miteinander<br />

führen.<br />

a. R.<br />

Ich will in einer Gesellschaft<br />

leben, in der keine Ironie und<br />

keine Schadenfreude an der<br />

Tagesordung der Gespräche<br />

der Menschen ist.<br />

Ich will in einer Welt leben,<br />

in der jeder jeden respektiert<br />

und Respekt vor anderen<br />

Kulturen und Religionen<br />

herrscht.<br />

G. F.<br />

Alle fordern Kontrolle und<br />

Reglementierung der anderen,<br />

aber niemand möchte<br />

sich kontrollieren lassen. Alle<br />

anderen sollen verzichten,<br />

aber niemand möchte seinen<br />

eigenen Lebensstandard<br />

senken. Alle sollen friedlich<br />

sein, ansonsten tun wir ihnen<br />

Gewalt an. <strong>Die</strong> anderen<br />

sollen die Umwelt schützen,<br />

aber jeder spart fürs größere<br />

Auto. Eine Gesellschaft von<br />

Menschen, die das tun, was<br />

sie von anderen fordern, das<br />

wär mal was Neues.<br />

M. M.<br />

Ich denke, dass in der heutigen<br />

Zeit, in der Globalisierung<br />

und Qualitätsmanagement<br />

DIE Schlagwörter unserer<br />

Regierung sind, ein unabhängiges<br />

Kontrollgremium<br />

geschaffen werden muss, das<br />

die Arbeit von Bund, Ländern<br />

und Kommunen überprüft,<br />

bewertet und sanktioniert.<br />

Ich arbeite als Fachkraft in<br />

der Pflege und muss jeden<br />

Tag meine Arbeit dokumentieren,<br />

Probleme, Ziele und<br />

Maßnahmen formulieren und<br />

Diskussion<br />

Dampfplauderer, Nicht-Wähler und...<br />

anhand dessen den Zweck<br />

meiner Arbeitskraft rechtfertigen.<br />

Liebe Politiker aller<br />

Ebenen, würdet ihr euch dieser<br />

Aufgabe stellen?<br />

P. c.<br />

Ich möchte in einer Gesellschaft<br />

leben, in der es nicht<br />

auf den Kontostand oder<br />

sonstige materielle Dinge<br />

ankommt. <strong>Die</strong> Kluft zwischen<br />

Arm und Reich wird zunehmend<br />

größer, und die Folgen<br />

werden immer dramatischer.<br />

Fast eine Milliarde(!!!) Men-<br />

schen leiden täglich Hunger.<br />

Was passiert, wenn sich diese<br />

erdrückende Ungerechtigkeit<br />

so erst in Verzweiflung und<br />

dann in Wut und Hass gegenüber<br />

den Industriestaaten<br />

mit ihrem scheinbaren Wohlstand<br />

entlädt?<br />

M. k.<br />

„ALT WERDEN MöCHTE EIgENTLICH JEDER...<br />

Im <strong>Gesellschafter</strong>-Forum<br />

„Leben im Alter“ diskutieren<br />

unterschiedliche Generationen<br />

miteinander –<br />

darüber, wann man alt ist,<br />

wer wem gegenüber Verantwortung<br />

trägt und wie<br />

man „erfolgreich altert“.<br />

Wann ist man eigentlich<br />

alt? In unserer Gesellschaft<br />

fühlen viele sich schon mit<br />

Mitte 50 alt – wenn sie die<br />

Erfahrung machen, dass der<br />

Arbeitsmarkt sie nicht mehr<br />

braucht. Andere denken mit<br />

70 noch nicht ans Aufhören,<br />

leiten Unternehmen und<br />

kandidieren für verantwortungsvolle<br />

berufliche Posten.<br />

Bestimmt der Arbeitsmarkt<br />

darüber, wann wir alt sind?<br />

Foto: Picture alliance<br />

Eine der aktivsten Teilnehmerinnen<br />

des Diskussionsforums<br />

ist 60 Jahre alt und<br />

im beruflichen Leben ebenso<br />

rege wie im <strong>Gesellschafter</strong>-<br />

Projekt. Aktivität – und eine<br />

Aufgabe zu haben – macht<br />

offenbar entspannt und zuversichtlich:<br />

„Ich bin mit meinem<br />

Alter sehr zufrieden und lebe<br />

relativ glücklich, außerdem ist<br />

mein Ziel, 100 Jahre oder älter<br />

zu werden.“<br />

Vor allem die Jüngeren finden<br />

die Vorstellung, in unserer<br />

modernen, individualisierten<br />

Gesellschaft 100 Jahre alt zu<br />

werden, jedoch eher bedrohlich.<br />

Mit Schrecken berichten<br />

sie von Erfahrungen in Pflegeheimen.<br />

<strong>Die</strong>se Sorge teilen sie<br />

mit den älteren Diskussions-<br />

Ich möchte in einer Gesellschaft<br />

leben, in der alle Nicht-<br />

Wähler noch einmal genau<br />

nachdenken und sich ihrer<br />

Macht bewusst werden!<br />

Mit diesem Vorschlag will<br />

ich nicht eine allgemeine<br />

Wahlpflicht einführen, sondern<br />

lediglich ausdrücken,<br />

dass es für mich nicht nachvollziehbar<br />

ist, nicht wählen<br />

zu gehen, da uns die Politik<br />

doch letzten Endes alle auch<br />

persönlich betrifft!<br />

J. J.<br />

teilnehmern. Eine 58-Jährige<br />

schreibt: „[<strong>Die</strong> Alten von<br />

heute] werden abgeschoben<br />

– in unwürdige und menschenverachtende<br />

Alten- oder<br />

Pflegeheime.“ <strong>Die</strong> treffendste<br />

Formulierung für dieses Paradox<br />

lautet: „Alt werden möchte<br />

eigentlich jeder, nur alt sein<br />

niemand.“<br />

Mal direkt, mal indirekt<br />

wird das Prinzip der Leistungsgesellschaft<br />

diskutiert,<br />

wonach sich der Wert eines<br />

Menschen an dessen Leistungsfähigkeit<br />

bemisst – ein<br />

Druck, der auf jedem lastet,<br />

aber naturgemäß die alten<br />

Generationen besonders hart<br />

trifft. Unterschwellig wird die<br />

Frage verhandelt: Können wir<br />

uns so viele Alte überhaupt


Diskussion Dezember 2008 2<br />

... der Wunsch nach Veränderung<br />

Voraussetzung: Engagement, Respekt vor der Meinung anderer und kompromissfähigkeit<br />

In der meine demokratischen<br />

Rechte nicht nur<br />

darin bestehen, sie anderen<br />

zu übertragen!<br />

Wenn Wahlen nur das<br />

jährliche Kreuzchensetzen<br />

bedeutet für Leute, die man<br />

nicht wirklich kennt, mit<br />

denen man nicht über Probleme<br />

diskutiert und mit<br />

ihnen Lösungen entwickelt,<br />

dann ist dies für mich keine<br />

Demokratie. Dann ist der<br />

eigentliche Souverän, der<br />

Bürger, entmachtet. Warum<br />

Foto: Picture alliance<br />

leisten? Was die Altersabsicherung<br />

betrifft, verlassen die<br />

Jüngeren sich immer weniger<br />

auf ihre Familien oder auf die<br />

Nachrückenden. Stattdessen<br />

wird auf Eigenverantwortung<br />

und individuelle Anlagekonzepte<br />

gesetzt. Den „Generationenvertrag“<br />

sähen viele am<br />

liebsten „sofort gekündigt“:<br />

„Wenn ich mir anschaue, was<br />

ich monatlich als gesetzlich<br />

Rentenversicherte abgezogen<br />

bekomme und dass mein Arbeitgeber<br />

ja immerhin nochmal<br />

denselben Beitrag dafür<br />

zahlt… Wenn ich das in eine<br />

private Lebensversicherung<br />

einzahlte, dann wäre ich im<br />

Alter so reich, wie ich will.“<br />

Höchst kontrovers wird seit<br />

Juli ein Tagebucheintrag zum<br />

trauen sich so wenige Menschen,<br />

direkte Einflussmöglichkeiten<br />

zu fordern? Ich<br />

sehe große Potenziale in<br />

Volksentscheiden, so wie es<br />

auch bei unseren europäischen<br />

Nachbarn möglich ist<br />

(z. B. Schweiz).<br />

I. T.<br />

... NuR ALT SEIN MöCHTE NIEMAND“<br />

Thema „erfolgreich Altern“<br />

diskutiert. Eigentlich geht es<br />

darum, wie man möglichst<br />

lange gesund bleibt – und<br />

glücklich. Einige vermuten<br />

dahinter jedoch eine ökonomische<br />

Strategie: „Darf<br />

man in dieser Gesellschaft<br />

eigentlich überhaupt noch alt<br />

werden? Ab wann darf man<br />

sich denn zur RUHE begeben?<br />

Ab 90?“<br />

Unterdessen verteidigen andere<br />

die Qualitäten des Alters<br />

und den Beitrag, den die Älteren<br />

für die Gesellschaft leisten:<br />

„Ich finde, wir Alten (ich<br />

bin 70) sind oft gelassener,<br />

weil wir in unserem langen<br />

Leben schon viel erlebt oder<br />

überlebt haben. Wir können<br />

damit in manchen kritischen<br />

▸ Gesundheit<br />

In einer rauchfreien Gesellschaft!!<br />

Ich bewundere unsere<br />

EU-Nachbarländer außer<br />

Österreich, die das schon<br />

teilweise hinbekommen haben!<br />

Ich bin in einem Friseursalon<br />

beschäftigt, in dem Kollegen<br />

sowie Kunden rauchen<br />

können. Ich habe laut Arbeitsstättenverordnung<br />

jedoch nur<br />

bedingt einen Anspruch auf<br />

einen rauchfreien Job!<br />

D. S.<br />

Situationen beruhigend auf<br />

unsere Umwelt einwirken und<br />

damit unerwartete Problemlösungen<br />

aufzeigen.“ Insofern<br />

sind Senioren Leistungsträger.<br />

Nicht zuletzt sind genau<br />

dies die Fähigkeiten, die höher<br />

betagten Managern ihre<br />

beruflichen Posten sichern.<br />

Wobei im Rest der Arbeitswelt<br />

und in den Medien die Jugend<br />

regiert. <strong>Der</strong> Anspruch lautet:<br />

schneller, jünger, flexibler.<br />

Wenn man das Tempo aber<br />

nicht mehr durchhält, was<br />

macht man dann? „Wir sollten<br />

immer daran denken, dass<br />

wir auch mal älter werden.<br />

Aber wer kümmert sich dann<br />

um uns?“, appelliert ein junger<br />

Teilnehmer an die soziale<br />

Verantwortung.<br />

▸ Leben im Alter<br />

In einer Gesellschaft, in der<br />

man von Politikern und Reichen<br />

nicht mehr betrogen wird.<br />

Ich habe 40 Jahre voll in<br />

der Pflege (als Fachkraft)<br />

gearbeitet und bin jetzt krank<br />

und nicht einmal in der<br />

Lage, mich ohne Zuschuss<br />

selbst zu ernähren. Neue<br />

Kleidung oder eine Reparatur<br />

irgendeines Haushaltsgerätes<br />

ist auch nicht drin. Besuche<br />

bei meinem Enkel kann ich<br />

mir auch nicht leisten. Meine<br />

kulturellen Bedürfnisse habe<br />

ich für dieses Leben schon<br />

abgeschrieben. <strong>Die</strong> Bankmanager<br />

und Politiker sollte<br />

man dazu verdonnern, mindestens<br />

1 Jahr zu unseren<br />

Bedingungen zu leben und zu<br />

arbeiten.<br />

M. w.<br />

▸ Anderes<br />

Ich bin 13 Jahre alt und<br />

manchmal kotzt mich die<br />

Welt jetzt schon an. Ich möchte<br />

in einer Gesellschaft leben,<br />

in der Leute sich nicht nur<br />

respektieren, sondern keiner<br />

sollte sich minderwertig fühlen.<br />

Man sollte sich für Leute<br />

mehr einsetzten, die gemobbt<br />

werden.<br />

Ich wurde seit der 5. Klasse<br />

selber gemobbt, was dazu<br />

IMpRESSuM<br />

Herausgeber: Aktion Mensch, Heinemannstraße 36, 53175 Bonn.<br />

Leitung: Christian Schmitz, Heike Zirden (V.i.S.d.P.).<br />

Redaktion: Reinhard Backes (Chef <strong>vom</strong> <strong>Die</strong>nst), Mechthild Buchholz,<br />

Mark Czogalla, Bithja Isabel Gehrke (Layout),<br />

Jutta <strong>vom</strong> Hofe (Textredaktion), Karin Jacek, Christian Scheifl,<br />

Ulrich Steilen.<br />

Kontakt zur Redaktion: Tel. 02 28 - 20 92-364, Fax 02 28 - 20 92-333.<br />

E-Mail: zeitung@die<strong>Gesellschafter</strong>.de, Druck: General-Anzeiger, Bonn.<br />

die<strong>Gesellschafter</strong>.de erscheint regelmäßig kostenlos und liegt bundesweit<br />

an ausgewählten Stellen aus. Interessenten, die die Zeitung<br />

auslegen möchten, können sich unter www.die<strong>Gesellschafter</strong>.de/zeitung<br />

eintragen oder wenden sich an Tel. 02 28 - 20 92-345.<br />

<strong>Die</strong> in den Zitaten und Forumsbeiträgen abgedruckten Meinungen geben nicht<br />

in jedem Fall die Meinung der Redaktion wieder.<br />

führte, dass ich Depressionen<br />

bekam, und mit 13 sollte man<br />

einfach keine Depressionen<br />

haben!!!<br />

S. R.<br />

In einer Gesellschaft, in der<br />

die Bankenkrise nicht durch<br />

Steuergelder beigelegt wird.<br />

Zur Beilegung dieser Krise ist<br />

das Geld der Spekulationsgewinnler<br />

heranzuziehen.<br />

Es wird Zeit, die Maßlosen<br />

und Unfähigen auf Sozialhilfeniveauzurechtzustutzen,<br />

ihr Privatvermögen zu<br />

enteignen, zum Wohle der<br />

Allgemeinheit. Das Geld,<br />

dem sowieso kein realer<br />

Wert gegenübersteht, ist zur<br />

Beilegung der Krise aus dem<br />

Verkehr zu ziehen.<br />

U. R.<br />

3 die<strong>Gesellschafter</strong>.de<br />

KORREKTuR<br />

aDithmarschen<br />

ist eine<br />

historische Landschaft<br />

in Schleswig-Holstein,<br />

zugleich auch ein Landkreis.<br />

So sagt es der<br />

Brockhaus – und so ist<br />

es auch. Dass Dithmarschen<br />

in der letzten Ausgabe<br />

der <strong>Gesellschafter</strong>zeitung<br />

kurzerhand<br />

nach Niedersachsen<br />

verlegt wurde, war also<br />

falsch – hat aber auch<br />

etwas Gutes. Denn nun<br />

wissen wir, wie schön es<br />

dort ist: www.dithmarschen.de


24 Dezember 2008<br />

Augen-Blicke<br />

Fotografien zum alltag von Blinden<br />

Von Reinhard Backes<br />

Ein Blick kann schon genügen,<br />

um sich mit anderen<br />

auszutauschen oder eine<br />

Situation zu erfassen. Was<br />

aber, wenn das Sehvermögen<br />

eingeschränkt oder gar<br />

dauerhaft beschädigt ist?<br />

Blinde wissen mehr als Sehende,<br />

dass sich die Welt<br />

auch durch andere <strong>Sinn</strong>e<br />

erfassen lässt. Und dass sich<br />

daraus nicht nur ganz individuelle<br />

„Ansichten“, sondern<br />

auch Einsichten entwickeln<br />

können. Denn der Hör-, der<br />

Tast- und der Geruchssinn<br />

sind nicht weniger wichtige<br />

Schnittstellen zur Umwelt als<br />

das Sehvermögen.<br />

Für Fotografen ist das eine<br />

ganz besondere Herausforderung.<br />

Studentinnen und Studenten<br />

der Staatlichen Akademie<br />

der Bildenden Künste<br />

in Stuttgart haben sie auf<br />

Einladung des Evangelischen<br />

Blinden- und Sehbehinder-<br />

tendienstes Württemberg e.V.<br />

(EBSW) angenommen. Zwischen<br />

März 2007 und August<br />

2008 entstanden zahlreiche<br />

Fotografien, die den Alltag<br />

blinder und sehbehinderter<br />

Menschen festhalten. Alle<br />

Aufnahmen sind in der EBSW-<br />

Wanderausstellung „Augenblick“<br />

zu sehen.<br />

Nach einer ersten Station<br />

in der Stadtbücherei Stuttgart-Backnang<br />

werden die<br />

Fotografien voraussichtlich ab<br />

Ende März 2009 in Esslingen<br />

gezeigt. <strong>Die</strong> genauen Ausstellungsorte<br />

und Termine teilt<br />

das EBSW auf Anfrage mit:<br />

info@ebsw-online.de oder<br />

Telefon: 0 71 91 / 6 00 00.<br />

Während der Ausstellung in<br />

Stuttgart-Backnang konnten<br />

Schülerinnen und Schüler den<br />

Alltag von Menschen mit Sehbehinderung<br />

auch ganz unmittelbar<br />

kennenlernen, etwa<br />

bei einem Einführungskurs in<br />

Blindenschrift.<br />

www.ebsw-online.de<br />

ansichten<br />

Für Menschen mit Sehbehinderung ist Dunkelheit etwas Gewohntes, alltägliches.<br />

Tasten und Geräusche, aber auch Düfte helfen bei der orientierung. Blinde spielen Fußball – auch in einer Nationalmannschaft.<br />

Foto: Nicole heitz<br />

Fotos: carola Plappert & christoph Binder<br />

Foto: Nicole heitz


Beim „Mensch-ärgere-dich-nicht“ werden die Figuren und ihre Position ertastet.<br />

Eigenständig leben, trotz eingeschränktem Sehvermögen.<br />

ansichten Dezember 2008 25<br />

Foto: anne-katrin koch<br />

Foto: christoph Binder<br />

Ein Farberkennungsgerät hilft, kleidung aufeinander abzustimmen.<br />

Das in Braille gesetzte wort verbindet Menschen.<br />

Foto: anne-katrin koch<br />

Foto: christoph Binder


26 Dezember 2008 Filmfestival<br />

Filme ueber Macht<br />

<strong>Die</strong> dritte Filmtournee der <strong>Gesellschafter</strong>-Initiative startet im Januar 2009<br />

Seit drei Jahren stellt die<br />

<strong>Gesellschafter</strong>-Initiative<br />

der Aktion Mensch die Frage:<br />

„In was für einer Gesellschaft<br />

wollen wir leben?“<br />

Sie verweist damit darauf,<br />

dass in einer Demokratie<br />

zumindest theoretisch<br />

„alle Macht <strong>vom</strong> Volke“<br />

ausgeht. Zugleich aber dokumentiert<br />

sie in den weitverzweigten<br />

Diskussionen<br />

dieses „Volkes“ auf die<strong>Gesellschafter</strong>.de,<br />

wie komplex<br />

Machtverhältnisse in<br />

Wirklichkeit sind.<br />

„Keine Macht für Niemand“ ist<br />

eine schöne, aber unmögliche<br />

Utopie, denn politisch wie privat<br />

leben wir in einem komplizierten<br />

Gefüge aus Macht- und<br />

Herrschaftsbeziehungen, ohne<br />

die Gesellschaft gar nicht<br />

denkbar ist. Wo Menschen<br />

sind, ist Macht am Werk – und<br />

wir unterwerfen uns bewusst<br />

oder unbewusst Spielregeln.<br />

Als Mittel gesellschaftlicher<br />

Regulierung setzt Macht die<br />

Anerkennung der Verhältnisse<br />

durch die jeweils Mächtigen<br />

ebenso wie durch die Unterworfenen<br />

voraus. Doch nicht<br />

jede Macht, die allgemein anerkannt<br />

wird, ist deshalb auch<br />

legitim. Ungerechte Machtverhältnisse<br />

offenzulegen, sie zu<br />

TOuRDATEN<br />

uEBER MACHT<br />

Berlin:<br />

09.01.2009<br />

Passau:<br />

16.01 – 27.03.2009<br />

Hamburg:<br />

22.01. – 12.02.2009<br />

Bamberg:<br />

27.01. – 08.02.2009<br />

Plauen:<br />

06.02. – 14.02.09<br />

Biesenthal:<br />

07.02. – 22.02.2009<br />

Eisenach:<br />

03.02. – 08.03.2009<br />

Saarbrücken:<br />

26.02. – 25.03.2009<br />

Boizenburg:<br />

01.03.2009<br />

Finsterwalde:<br />

03.03.2009 – 31.03.2009<br />

Zwickau :<br />

06.03. – 13.03.2009<br />

Das zentrale Motiv zum Filmfestival „ueber Macht“.<br />

kritisieren und zu verändern,<br />

ist nicht nur ein politischer,<br />

sondern auch ein kultureller<br />

Prozess. Veränderung ist allerdings<br />

nur als kollektive Anstrengung<br />

denkbar: „Gegen<br />

organisierte Macht gibt es nur<br />

organisierte Macht; ich sehe<br />

kein anderes Mittel, so sehr<br />

ich es auch bedaure“, schrieb<br />

Albert Einstein 1941.<br />

Mit „ueber Macht“ gehen<br />

die Filmfestivals der <strong>Gesellschafter</strong>-Initiative<br />

in die dritte<br />

Runde. 2006 hatte sich „ueber<br />

arbeiten“ dem Thema Wirt-<br />

schaft und Globalisierung gewidmet,<br />

2007 „ueber morgen“<br />

Utopien und Entwürfe für die<br />

Gesellschaft von morgen zur<br />

Diskussion gestellt.<br />

„ueber Macht“ erforscht die<br />

Ambivalenz der Macht: Sie ist<br />

oft ein Tabu und selten unverhüllt<br />

zu sehen, aber sie verschwindet<br />

nicht, nur weil niemand<br />

hinschaut. Sie kann zum<br />

Missbrauch verführen und ist<br />

doch unverzichtbar für jeden,<br />

der Veränderungen in Gang<br />

setzen will. Worauf es in einer<br />

demokratischen Gesellschaft<br />

ankommt, ist, wie diese Macht<br />

verteilt, kontrolliert, genutzt<br />

und auch wieder entzogen werden<br />

kann. Worauf es in einer sozialen<br />

Gesellschaft ankommt,<br />

ist, dass die Chancen zur<br />

Teilhabe an ihr gerecht verteilt<br />

sind und nicht von Herkunft,<br />

Beziehungen, Finanzkraft oder<br />

wirtschaftlichem Gewicht determiniert<br />

werden.<br />

Das Filmfestival „ueber<br />

Macht“ verdeutlicht explizite<br />

und implizite Machtstrukturen,<br />

legitime und illegitime<br />

Herrschaftsverhältnisse. Es<br />

möchte dazu ermutigen, im<br />

Alltag, in der Öffentlichkeit<br />

und in der Politik die Machtfrage<br />

zu stellen.<br />

<strong>Die</strong> ausgewählten Filme<br />

zeigen die Macht und ihre<br />

Tatort Erde<br />

kurzfilm-wettbewerb zum Thema Natur und Umwelt<br />

Yes, we can – ja, wir schaffen<br />

es! Nicht den Kopf in den<br />

Sand stecken, sondern aktiv<br />

die Zukunft mitgestalten. Genau<br />

das ist das Anliegen der<br />

<strong>Gesellschafter</strong>-Initiative.<br />

Im Internet-Forum „Umwelt“<br />

von die<strong>Gesellschafter</strong>.de wer-<br />

den neue Strategien zu Themen<br />

wie Klimawandel, Artenschutz<br />

oder Rohstoffverknappung<br />

heiß diskutiert. Um<br />

die spannende Thematik ein<br />

wenig <strong>vom</strong> Ballast der Theorie<br />

zu befreien und die Fantasie<br />

durch bewegte Bilder zu beflügeln,<br />

rufen die Aktion Mensch<br />

und der Bund für Umwelt<br />

und Naturschutz Deutschland<br />

(BUND) gemeinsam mit „Brot<br />

für die Welt“ und dem Evangelischen<br />

Entwicklungsdienst<br />

(EED) zur Teilnahme am<br />

Kurzfilm-Wettbewerb „Tatort<br />

Erde“ auf. Teilnehmen kann<br />

jeder, der filmisch etwas beizutragen<br />

hat zur Zukunftsfähigkeit<br />

unserer Gesellschaft<br />

und unseres Planeten. <strong>Die</strong><br />

Filmgattung, ob Animations-,<br />

Dokumentar- oder Kurzspielfilm,<br />

darf frei gewählt werden.<br />

<strong>Die</strong> Filmtechnik spielt<br />

ebenfalls keine Rolle – auch<br />

mit dem Handy kann gedreht<br />

werden.<br />

Kontrolle an naheliegenden<br />

wie unerwarteten Orten: als<br />

Staatsapparat, in politischen<br />

Ämtern und in Institutionen<br />

aller Art, als Diktatur oder Diskussion,<br />

in demokratisch legitimierten<br />

und ritualisierten<br />

Strukturen und als spontaner<br />

Zusammenschluss, aber auch<br />

im Privaten.<br />

Das Festival schaut hinter<br />

die Kulissen eines Nobel-<br />

Internats für die Kinder der<br />

Reichen und Mächtigen und<br />

untersucht, welche Wertvorstellungen<br />

dort vermittelt werden.<br />

Es wirft einen Blick auf<br />

die dubiosen Verflechtungen<br />

des Gentechnik-Konzerns<br />

Monsanto mit der Politik und<br />

den Versuch, seine gewaltige,<br />

aber kaum sichtbare Macht zu<br />

kontrollieren. Es beobachtet<br />

deutsche Firmen dabei, wie<br />

sie sich bei einer der übelsten<br />

Diktaturen der Erde anbiedern,<br />

und amerikanische Abgeordnete<br />

bei der praktischen<br />

Ausübung der Demokratie.<br />

Das Filmfestival „ueber<br />

Macht“ ist in 120 Städten in<br />

ganz Deutschland zu Gast. <strong>Die</strong><br />

<strong>Gesellschafter</strong>-Initiative lädt<br />

ein, mitzudiskutieren über die<br />

Macht, ihre Kontrolle, über<br />

nötige und unnötige Regeln<br />

und die besten Wege zu mehr<br />

Selbstbestimmung.<br />

<strong>Die</strong> Kurzfilme sollten die<br />

Länge von 15 Minuten nicht<br />

überschreiten. Alle Beiträge<br />

können bis zum 30. April 2009<br />

auf dem Internet-Videoportal<br />

von die<strong>Gesellschafter</strong>.de<br />

hochgeladen werden.<br />

Einen überaus durchdachten<br />

Wegweiser, wie das Gestalten<br />

der Zukunft denn aussehen<br />

könnte, liefert übrigens die<br />

BUND-Studie „Zukunftsfähiges<br />

Deutschland in einer<br />

globalisierten Welt“. <strong>Die</strong> gerade<br />

komplett neu überarbeitete<br />

„grüne Bibel“ beschäftigt sich<br />

mit Fragen zur Umwelt- und<br />

Energiepolitik sowie einer<br />

gerechten Entwicklungs- und<br />

Menschenrechtspolitik.<br />

Näheres unter: die<strong>Gesellschafter</strong>.de/tatorterde


Filmfestival<br />

Was Macht mit uns macht<br />

Das Programm im Überblick – 1 Filme aus 9 Ländern in 120 deutschen Städten<br />

Macht – ein Begriff mit<br />

vielen Facetten. <strong>Die</strong> 13<br />

Filme des Festivals „ueber<br />

Macht“ geben 13 verschiedene<br />

Einblicke in das<br />

vielschichtige Thema. Was<br />

bedeutet Macht im privaten<br />

und im öffentlichen<br />

Leben? Wie verhalten sich<br />

Menschen, wenn sie Macht<br />

besitzen? Wie reagieren<br />

Menschen, wenn sie mit<br />

Macht konfrontiert werden?<br />

Jeder Film stellt auf<br />

seine, ganz eigene, Weise<br />

die Machtfrage.<br />

citizen havel<br />

Regie: Miroslav Janek und<br />

Pavel Koutecký<br />

<strong>Der</strong> Dissident wird Präsident.<br />

Von den Kommunisten wurde<br />

er verfolgt. Nach dem Fall des<br />

Regimes wurde er zum ersten<br />

Staatspräsidenten der Tschechischen<br />

Republik. Vaclav Havel.<br />

Zehn Jahre hatte er das<br />

höchste Staatsamt der jungen<br />

Demokratie inne. Während<br />

dieser Zeit begleiteten die Filmemacher<br />

den Präsidenten mit<br />

der Kamera. „Citizen Havel“<br />

erlaubt außergewöhnliche Einblicke<br />

hinter die Kulissen der<br />

Macht und in das Räderwerk<br />

der Politik.<br />

<strong>Die</strong> dünnen Mädchen<br />

Regie: Maria Teresa Camoglio<br />

Diagnose: Magersucht. Sie haben<br />

gehungert bis zur Selbstauflösung<br />

und können nicht<br />

einfach damit aufhören. <strong>Die</strong><br />

Krankheit frisst sich in das<br />

Leben von acht jungen Frauen<br />

zwischen 18 und 29 Jahren<br />

– bis zur vollständigen Machtübernahme.<br />

Maria Theresa<br />

Camoglios Film dokumentiert,<br />

wie die jungen Frauen wieder<br />

eine Beziehung zu ihrem Körper<br />

aufbauen, um damit auch<br />

die Kontrolle über ihr Leben<br />

zurückzugewinnen.<br />

Fotos: EYZmedia<br />

Faustrecht<br />

Regie: Robi Müller und Bernard<br />

Weber<br />

Jugendliche Gewalttäter. In<br />

den Medien werden sie oft zu<br />

„Monstern“ reduziert, und zur<br />

Zuspitzung von Wahlkämpfen<br />

eignen sie sich auch prima.<br />

„Faustrecht“ schaut genauer<br />

hin. Um die beiden 16-jährigen<br />

Hauptpersonen zeichnet der<br />

Film ein differenziertes Bild<br />

von engagierten Helfern, überforderten<br />

Therapeuten und Eltern,<br />

die zwischen Ratlosigkeit<br />

und Desinteresse schwanken.<br />

Für Gott, Zar und Vaterland<br />

Regie: Nino Kirtadze<br />

Mikhail Morozov hat beste<br />

Beziehungen zum russischen<br />

Geheimdienst, dem Militär,<br />

der orthodoxen Kirche und der<br />

Partei Wladimir Putins. Und er<br />

besitzt in der Nähe von Moskau<br />

das Dorf Durakovo, wo er nach<br />

feudalen Gepflogenheiten<br />

herrscht. Demokratie bedeutet<br />

hier Chaos und ist ein Schimpfwort.<br />

Eine Reise in ein Land,<br />

das zuweilen den Eindruck<br />

erweckt, auf dem Weg zurück<br />

ins 19. Jahrhundert zu sein.<br />

Gesetzgeber<br />

Regie: Frederick Wiseman<br />

Drei Monate im Jahr treffen<br />

die Abgeordneten des<br />

Landesparlaments von Idaho<br />

(USA) zusammen, um über<br />

neue Gesetze zu beraten. Den<br />

Rest des Jahres gehen sie ihrem<br />

Beruf nach, wie jeder andere<br />

auch. Demokratie funktioniert<br />

hier anders: direkter,<br />

weniger hierarchisch, offener<br />

– offen für Mitwirkung.<br />

Ihr Name ist Sabine<br />

Regie: Sandrine Bonnaire<br />

Sabine und Sandrine Bonnaire<br />

sind Schwestern. Sabine<br />

ist Autistin. Sandrine dagegen<br />

gehört zu den großen Stars am<br />

Kinohimmel. Ihre erste Arbeit<br />

als Regisseurin hat sie ganz<br />

ihrer Schwester gewidmet.<br />

Manda Bala – Send a Bullet<br />

Regie: Jason Kohn<br />

Eine brasilianische Froschfarm,<br />

ein korrupter Politiker,<br />

ein reicher amerikanischer<br />

Geschäftsmann, ein Entführer<br />

aus den Slums von São Paulo.<br />

Jason Kohn porträtiert in seinem<br />

Film eine Gesellschaft im<br />

Kriegszustand. Jeder versucht,<br />

an die Spitze der Nahrungskette<br />

zu gelangen. Alle wollen<br />

sie Geld, ohne Rücksicht auf<br />

Verluste. Ein visueller Essay,<br />

dessen expressive Bilder und<br />

poppige Klänge mit der Härte<br />

der sozialen Realität kontrastieren.<br />

Monsanto, mit Gift<br />

und Genen<br />

Regie: Marie-Monique Robin<br />

Genetisch veränderte Lebensmittel<br />

sind sicher. Das sagen<br />

die Hersteller-Firmen. Marie-Monique<br />

Robins brillante<br />

Recherche über den Biotechnologie-Konzern<br />

Monsanto<br />

untersucht, wie die „wissenschaftlichen<br />

Beweise“ für<br />

diese Behauptung zustande<br />

kommen. Sie enthüllt die<br />

Einflussnahme des Konzerns<br />

auf Politik und Kontrollbehörden<br />

bei seinem weltumspannenden<br />

Griff nach der Macht<br />

über unser Essen.<br />

Ruhnama – Im Schatten<br />

des heiligen Buches<br />

Regie: Arto Halonen<br />

In der Hauptstadt steht eine<br />

gigantische Statue des Buches<br />

– ein Geburtstagsgeschenk<br />

westlicher Unternehmen. Titel<br />

des Buches: Ruhnama. Sein<br />

Autor: Saparmurat Nijasow,<br />

Diktator von Turkmenistan.<br />

Seine Herrschaft stützt sich<br />

auf einen Personenkult stalinistischer<br />

Monstrosität, erbarmungslose<br />

Unterdrückung<br />

– und lukrative Geschäfte<br />

mit dem Westen. Das Buch<br />

ist immer dabei. <strong>Die</strong> deutsche<br />

Übersetzung übernahm<br />

DaimlerChrysler.<br />

<strong>Die</strong> Schuld, eine Frau<br />

zu sein<br />

Regie: Mohammed Naqvi<br />

<strong>Die</strong> Geschichte einer Selbstbefreiung,<br />

die um die Welt ging.<br />

<strong>Die</strong> Pakistanerin Mukhtar Mai<br />

wird von den Männern eines<br />

Nachbarclans vergewaltigt<br />

– die Strafe eines archaischen<br />

Machtsystems. Doch die junge<br />

Frau weigert sich, die ihr zugedachte<br />

Rolle zu akzeptieren<br />

und sich aus Scham selbst zu<br />

töten, wie es üblich ist. Mit<br />

Hartnäckigkeit und gegen<br />

viele Widerstände bringt sie<br />

die Täter vor Gericht. Mit der<br />

Entschädigungszahlung baut<br />

sie in ihrem Heimatdorf die<br />

erste Schule für Mädchen und<br />

junge Frauen auf.<br />

Schule der Elite<br />

Regie: Daniella Marxer<br />

Wissen ist Macht. In das „Lyceum<br />

Alpinum Zuoz“, einem<br />

imposanten Internat in den<br />

Dezember 2008 27<br />

Schweizer Bergen, schickt<br />

die Führungselite Europas<br />

ihre Kinder. Hier lässt sie<br />

ihre Wertmaßstäbe und Verhaltensregeln<br />

reproduzieren.<br />

Demokratische Ideale wie Individualität<br />

und eigenständiges<br />

Denken scheinen nicht<br />

dazuzugehören.<br />

Strange Culture/<br />

Fremdkulturen<br />

Regie: Lynn Hershman Leeson<br />

Steve Kurtz ist Performance-<br />

Künstler, seine Arbeit dreht<br />

sich um das Thema Biotechnologie.<br />

Seine Arbeitsmittel<br />

– harmlose Bakterienkulturen<br />

– erregen in der Terrorfurcht<br />

nach dem 11. September<br />

die Aufmerksamkeit<br />

des FBI. Agenten in Schutzanzügen<br />

durchsuchen seine<br />

Wohnung. <strong>Der</strong> Vorwurf: Bio-<br />

Terrorismus. Unvermittelt<br />

sieht Kurtz sich von einem<br />

übermächtigen Staat bedroht.<br />

<strong>Die</strong>ser Film ist Teil<br />

einer internationalen Aktion,<br />

mit der sich bekannte<br />

Künstler wie Tilda Swinton<br />

und die Residents mit Kurtz<br />

solidarisieren.<br />

Streik(t)raum<br />

Regie: Matthieu Chatellier<br />

und Daniela de Felice<br />

Als die französische Regierung<br />

Anfang 2006 ein<br />

Gesetz durchsetzen will, mit<br />

dem Berufseinsteiger zwei<br />

Jahre lang fristlos entlassen<br />

werden können, proben die<br />

Studenten den Aufstand und<br />

besetzen die Universitäten.<br />

<strong>Die</strong> streikenden Studenten<br />

lernen etwas, das im universitären<br />

Leben selten vorkommt:<br />

trotz widerstreitender<br />

Ansichten gemeinsame<br />

Entscheidungen zu finden,<br />

mit Macht umzugehen und<br />

Macht auszuüben.


28 Dezember 2008<br />

Aktion Mensch · 53175 Bonn<br />

PVST, DPAG „Entgelt bezahlt“ „Ich möchte in einer Gesellschaft leben, in der Ermöglicher wieder<br />

in der Überzahl sind statt der Verwalter und Verhinderer.<br />

Ich möchte in einer Gesellschaft leben, die sich mit Konflikten<br />

auseinandersetzt, statt davor ängstlich davonzulaufen und<br />

sich von banaler Unterhaltung ablenken und zuballern zu las-<br />

Dr. <strong>Die</strong>ter wedel,<br />

autor und Schauspieler<br />

sen. Ich möchte in einer Gesellschaft leben, die es ablehnt, sich<br />

durchnummerieren zu lassen.“<br />

3 die<strong>Gesellschafter</strong>.de<br />

„Nicht alles an die große Glocke hängen“<br />

christine Neubauer über soziales Engagement und die Verantwortung Prominenter<br />

Christine Neubauer spielt<br />

nicht nur im Fernsehen<br />

eine Ärztin, die in einem<br />

Krankenhaus in der afrikanischen<br />

Provinz Menschen<br />

hilft. Auch im echten Leben<br />

engagiert sich die Münchner<br />

Schauspielerin für Menschen<br />

in Not. Seit 2007 ist<br />

sie Botschafterin des Deutschen<br />

Roten Kreuzes.<br />

Frau Neubauer, was<br />

macht eigentlich eine<br />

DRk-Botschafterin?<br />

Ich repräsentiere das Deutsche<br />

Rote Kreuz in der Öffentlichkeit<br />

und lenke mit meinem<br />

Namen die Aufmerksamkeit<br />

auf Projekte, die es unterstützt.<br />

So habe ich bei Dreharbeiten<br />

in Namibia ein Projekt<br />

besucht, in dem das DRK hilft,<br />

die Lebenssituation von Aids-<br />

Waisen und HIV-positiven<br />

Kindern zu verbessern.<br />

wie kam es zu dieser<br />

Zusammenarbeit?<br />

Das begann, als ich 2007 den<br />

Film „Suchkind 312“ gedreht<br />

habe. Da ging es darum, dass<br />

ich in den Kriegsendwirren<br />

mein Kind verloren habe und<br />

es mit Hilfe des Roten Kreuzes<br />

gesucht und gefunden habe.<br />

AN DER ECKE<br />

Jeder vierte Deutsche war in<br />

Folge des Zweiten Weltkrieges<br />

auf der Suche nach Angehörigen<br />

oder wurde selbst gesucht.<br />

Das war auch in meiner Familie<br />

so. Und auch heute noch<br />

werden Menschen über den<br />

Suchdienst des Deutschen<br />

Roten Kreuzes gesucht.<br />

Sie engagieren sich auch<br />

für andere organisationen.<br />

Ja, zum Beispiel für „Save the<br />

Children“ und für „Plan International“.<br />

Für diese Organisation<br />

habe ich ein Patenkind in<br />

Indien begleitet, bis es seine<br />

Schulbildung abgeschlossen<br />

hatte. Ich habe es auch besucht.<br />

wie wählen Sie Projekte<br />

aus?<br />

Für mich ist der persönliche<br />

Bezug sehr wichtig. Deshalb<br />

sind es meist Dinge, die ich<br />

über meine Arbeit kennengelernt<br />

habe oder die mir sehr<br />

am Herzen liegen. Immer<br />

geht es darum, benachteilig-<br />

ten Kindern Möglichkeiten zu<br />

eröffnen, ihre Zukunft selbst<br />

zu gestalten. Da ich mich<br />

aber immer sehr persönlich<br />

einsetze, muss ich mein Engagement<br />

auf eine Handvoll<br />

Foto: Picture alliance<br />

Le tzte<br />

Für christine Neubauer ist persönliche hilfe wichtiger als Publicity.<br />

Projekte begrenzen. Deshalb<br />

kann ich leider nicht alle Bitten<br />

annehmen, die an mich<br />

herangetragen werden.<br />

Sie unterstützen vor<br />

allem international tätige<br />

organisationen. warum?<br />

Ich denke, es hat damit zu tun,<br />

dass ich durch meine Dreharbeiten<br />

viel in der Welt herumkomme.<br />

Aber darüber vergesse<br />

ich die Situation im eigenen<br />

Land nicht. Auch hier engagiere<br />

ich mich, aber das hänge ich<br />

nicht an die große Glocke.<br />

können Sie uns dennoch<br />

ein Beispiel nennen?<br />

Ich habe mit meinem Mann eine<br />

Familie mit zwei schwerstbehinderten<br />

Mädchen unterstützt<br />

und eine Delfin-Therapie<br />

in Florida organisiert.<br />

Das war ein sehr persönlicher<br />

Kontakt. Ich habe die beiden<br />

Mädchen auch kennen-<br />

gelernt, das haben wir ganz<br />

privat gemacht, da war keine<br />

Presse dabei.<br />

warum?<br />

Ich sehe zwar, dass Publicity<br />

nutzt, um die Aufmerksamkeit<br />

auf Missstände und<br />

Hilfsprojekte zu lenken. Das<br />

setze ich ja auch ein. Aber<br />

es hat schon mal den Beigeschmack:<br />

Da produziert sich<br />

einer und nutzt sein Engagement,<br />

um sich selbst in der<br />

Öffentlichkeit darzustellen.<br />

Das möchte ich vermeiden,<br />

indem ich auch Dinge tue, die<br />

mit der Öffentlichkeit überhaupt<br />

nichts zu tun haben.<br />

Letztendlich aber ist es nicht<br />

so wichtig, was sich einer<br />

dabei denkt, wenn er hilft.<br />

Hauptsache, er tut es.<br />

Das Interview führte<br />

Anja Martin

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