Der Sinn vom Ganzen - Die Gesellschafter
Der Sinn vom Ganzen - Die Gesellschafter
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Dezember 2008 / Nummer 14<br />
JUGENDPRESSE<br />
DIE CARITAS HILFT<br />
Rückzugsraum für<br />
junge Türkinnen<br />
REPoRTaGE<br />
SEITE 3<br />
CLOWNS-ARMEE<br />
Bunter, frecher und<br />
friedlicher Protest<br />
SEITEN 4 uND 5<br />
SchwERPUNkT<br />
DEMOKRATIE<br />
Zwischen Lethargie<br />
und Neubeginn<br />
ENGaGEMENT<br />
SEITEN 6–18<br />
uMWELT<br />
Im Test fallen die<br />
Verbraucher durch<br />
INTERVIEw<br />
SEITE 21<br />
CHRISTINE NEuBAuER<br />
als Prominente auch<br />
ohne Presse helfen<br />
SEITE 28<br />
In was für einer Gesellschaft wollen wir leben?<br />
<strong>Der</strong> <strong>Sinn</strong> <strong>vom</strong> <strong>Ganzen</strong><br />
Erster „Engagementatlas“ zeigt, wo sich die Deutschen engagieren – und warum<br />
Nun wissen wir es genau:<br />
Engagierte Bürger in<br />
Deutschland tragen durch<br />
Freiwilligenarbeit und Ehrenamt<br />
„jährlich eine Arbeitsleistung<br />
im Wert von<br />
nahezu 35 Milliarden Euro<br />
zum Gemeinwesen bei“.<br />
<strong>Die</strong>s rechnet der Versicherungskonzern<br />
AMB Generali<br />
vor, der den ersten „Engagementatlas“Deutschlands<br />
in Auftrag gegeben<br />
hat. Gemessen am Volkseinkommen<br />
sei dies ein<br />
Anteil von 2 Prozent.<br />
Für die Studie hat die Prognos<br />
AG mehr als 44.000<br />
Menschen in 439 Städten<br />
und Landkreisen befragt und<br />
dabei erstaunliche regionale<br />
Unterschiede herausgearbeitet:<br />
In einigen Landkreisen<br />
liegt die Engagementquote<br />
bei rund 50 % (z.B.: Osthessen<br />
51 %, Lüneburg 51 %, Franken<br />
50 %, Allgäu 48 %), in anderen<br />
um die 20% oder darunter<br />
(Uckermark-Barnim: 14 %,<br />
Berlin 19 %, Duisburg/Essen<br />
22 %). Den ersten Platz nach<br />
Ländern teilen sich Baden-<br />
Württemberg und Hessen (je<br />
40 %), Schlusslichter sind Bre-<br />
men (23 %) und Berlin (19 %).<br />
Besonders interessant ist<br />
die Studie, wo sie den regionalen<br />
Unterschieden nachspürt:<br />
So führt beispielsweise<br />
eine schwierige soziale Lage<br />
mit hoher Arbeitslosigkeit und<br />
eine hohe Sozialhilfequote<br />
zu einem niedrigeren Engagement.<br />
<strong>Die</strong> Auffassung,<br />
der Rückgang der sozialen<br />
EHRuNg FüR DIE gESELLSCHAFTER<br />
Für seine Reportage „Ohne<br />
Mitleidsschiene“ in die<strong>Gesellschafter</strong>.de<br />
(Ausgabe<br />
April 2008) erhält der<br />
Journalist Herbert Mackert<br />
den diesjährigen <strong>Die</strong>trich<br />
Oppenberg-Medienpreis.<br />
<strong>Die</strong> Stiftung Lesen prämiert<br />
mit dem Oppenberg-Medienpreis<br />
herausragende<br />
Sicherung führe zu mehr dem<br />
Gemeinwohl verpflichteter<br />
Arbeit, muss damit relativiert<br />
werden: <strong>Der</strong> ausgrenzende<br />
Charakter von Armut erstreckt<br />
sich auch auf Freiwilligenarbeit<br />
und Ehrenamt.<br />
<strong>Die</strong> Studie zeigt auch: nicht<br />
nur die individuelle, sondern<br />
auch die wirtschaftliche Leistungskraft<br />
einer Region hat<br />
Auswirkungen auf die ehrenamtlichen<br />
Aktivitäten.<br />
Unterschiede finden sich<br />
auch in den Altersgruppen:<br />
Durchschnittlich sind 34 %<br />
journalistische Arbeiten<br />
zum Thema Lesekultur und<br />
zur Entwicklung von Medienkompetenz.<br />
Mackerts<br />
Beitrag handelt von den<br />
Machern der Nürnberger<br />
Obdachlosenzeitung „Straßenkreuzer“.<br />
Das Preisgeld<br />
will Mackert mit dem Straßenkreuzer-Team<br />
teilen.<br />
aller Personen über 16 Jahren<br />
bürgerschaftlich engagiert. Da-<br />
bei ist die Gruppe der 30 bis<br />
55jährigen überdurchschnittlich<br />
vertreten. Im Alter nimmt<br />
das Engagement allerdings ab:<br />
Mit einer Quote von 26 % ist<br />
die Generation der über 65jährigen<br />
nur unterdurchschnittlich<br />
vertreten, obwohl sie nicht<br />
mehr im Berufsleben steht.<br />
Freiwilliges Engagement<br />
findet sich häufig in Bereichen<br />
wie Sport, Freizeit und Vereinen,<br />
Kinder- und Jugendarbeit<br />
sowie Kirche und Religion.<br />
In Politik, Engagement für<br />
ältere Bürger sowie Umwelt-<br />
und Tierschutz sind dagegen<br />
jeweils weniger als 5 Prozent<br />
der Bevölkerung engagiert.<br />
<strong>Die</strong> meisten Engagierten<br />
möchten „die Gesellschaft im<br />
Kleinen mitgestalten“ (29,6 %)<br />
und „mit anderen zusammenkommen“<br />
(25,9 %). Sie sehen<br />
„Engagement als wichtige<br />
gesellschaftliche Aufgabe“<br />
(23,7 %) und möchten ihre<br />
„Interessen vertreten und Probleme<br />
lösen“ (17,8 %).<br />
– kostenlos –<br />
ENgAgEMENT<br />
Damit die Umsetzung guter<br />
Ideen für unsere Gesellschaft<br />
nicht am Geld scheitert,<br />
unterstützt die Aktion<br />
Mensch im Rahmen der<br />
<strong>Gesellschafter</strong>-Initiative<br />
neue Projekte, die im Wesentlichen<br />
von Freiwilligen<br />
und Ehrenamtlichen getragen<br />
werden, mit bis zu<br />
4000 Euro. Alle, die sich in<br />
bestehenden Projekten engagieren<br />
wollen, finden in<br />
der Freiwilligendatenbank<br />
die Adressen der nächstgelegenen<br />
Einsatzorte. Oder<br />
Sie bringen sich ein in die<br />
Diskussion der Frage „In<br />
was für einer Gesellschaft<br />
wollen wir leben?“ und<br />
diskutieren aktiv mit – denn<br />
die Zukunft entsteht zuerst<br />
im Gespräch.<br />
die<strong>Gesellschafter</strong>.de<br />
Und was ist mit jenen 66<br />
Prozent der Bevölkerung, die<br />
sich bisher nicht engagieren?<br />
Nur drei Prozent sind überzeugte<br />
Nichtstuer: „Ich finde,<br />
dafür sind andere zuständig,<br />
zum Beispiel der Staat“,<br />
lautet ihr Credo. Fast vierzig<br />
Prozent der bisher nicht<br />
Engagierten könnten sich<br />
durchaus vorstellen, in der<br />
Zukunft aktiv zu werden. Das<br />
mit Abstand wichtigste Argument<br />
für gesellschaftliche<br />
Passivität lautet: „Ich habe<br />
keine Zeit“ (67,5 %). Erwerbstätigkeit<br />
und Familienarbeit<br />
belasten viele Menschen so<br />
sehr, dass ihre Situation ein<br />
uneigennütziges Engagement<br />
nicht zulässt. Gesundheitliche<br />
Gründe führen 15,8 %<br />
der befragten Nichtengagierten<br />
an.<br />
Rund 5,6 Prozent würden<br />
sich gerne engagieren, wissen<br />
aber nicht „wie und wo“. Und<br />
jeder hundertste (1,3 %) gibt<br />
an, kein Geld zu haben, um<br />
seine gesellschaftlichen Ideen<br />
umsetzen zu können. hz
2 Dezember 2008<br />
AuS DEM gESELLSCHAFTER-TAgEBuCH<br />
Nach dem Bildungsgipfel<br />
Von Elias Bierdel<br />
Groß war der Andrang auf<br />
dem „Qualifizierungsgipfel“<br />
von Bund und Ländern<br />
Ende Oktober in Dresden.<br />
Herausgekommen ist aber<br />
kaum etwas Konkretes.<br />
Warum tut sich die Politik<br />
so schwer mit dem zentralen<br />
Zukunftsthema „Bildung“?<br />
Wo wären Veränderungen<br />
dringend nötig? Im<br />
<strong>Gesellschafter</strong>-Tagebuch<br />
finden sich Antworten.<br />
<strong>Die</strong> Ausgaben für Bildung sollen<br />
steigen. Das haben die 16<br />
Ministerpräsidenten gemeinsam<br />
mit der Bundesregierung<br />
im Grundsatz beschlossen.<br />
Aber wer die Kosten am Ende<br />
tragen soll, bleibt weiterhin<br />
offen. So werden dringend<br />
nötige Reformen weiter auf<br />
die lange Bank geschoben,<br />
meint der Dirigent Peter<br />
S t a n -<br />
gel in<br />
seinem<br />
Eintrag.<br />
„ G a n z<br />
einfach:<br />
Alle wollenBild<br />
u n g ,<br />
aber keiner<br />
will sie<br />
bezahlen, so sieht<br />
die Realität leider allzu häufig<br />
aus.“<br />
Und beim Dauer-Streit<br />
ums liebe Geld fallen die<br />
wahren Probleme weiterhin<br />
unter den Tisch: „Wie sollen<br />
junge Menschen denn<br />
motiviert werden“, fragt der<br />
Bildungsexperte <strong>Die</strong>ter Dohmen,<br />
„wenn sie so oder so<br />
kaum einen Ausbildungsplatz<br />
finden?“ Chancen haben<br />
aber viele nur, wenn<br />
sie in der Schule individuell<br />
gefördert werden – anstatt<br />
sie strikt nach Leistungskriterien<br />
auszusieben. So<br />
dreht sich die Frust-Spirale<br />
weiter. Ein Systemfehler,<br />
glaubt Familienberater Mathias<br />
Voelchert: „<strong>Die</strong> Schule<br />
sucht nach den Schwächen<br />
der Schüler und produziert<br />
auf diese Weise mehr<br />
Bildungsverlierer, als wir<br />
uns leisten können.“ <strong>Die</strong>ser<br />
alte Typus der „Abrichtungsschule“<br />
sei am Ende, findet<br />
Voelchert – und fordert<br />
einen Paradigmenwechsel:<br />
„<strong>Die</strong> Alternative zu Gehorsam<br />
ist nicht Ungehorsam,<br />
sondern Verantwortung. Es<br />
ist die Aufgabe der Eltern<br />
und Lehrer, den Kindern und<br />
Jugendlichen diese innere<br />
Haltung vorzuleben.“<br />
Statt des Leistungsdrucks<br />
könnte so in der Schule der<br />
Zukunft ein neuer Umgang<br />
miteinander gelehrt und gelernt<br />
werden. <strong>Die</strong>ser Wandel<br />
müsse mit der Lehrerausbildung<br />
beginnen, findet der Sozialpädagoge<br />
Pat Flatau: „Ich<br />
wünsche mir Lehrerinnen<br />
und Lehrer, die selektiv offen<br />
sind und sich mit ihren<br />
Fähigkeiten und Mängeln<br />
zeigen können. <strong>Die</strong> ihren<br />
eigenen Lebensplan als eine<br />
der vielen Möglichkeiten des<br />
Lebbaren begreifen.“<br />
In Schulen, die von einem<br />
solchen Geist erfüllt sind,<br />
wäre auch die Forderung von<br />
A n k e<br />
K o c h<br />
R ö t -<br />
t e r i n g<br />
leichter zu<br />
erfüllen. <strong>Die</strong><br />
Malerin ist<br />
M u t t e r<br />
eines 14jä<br />
h r igen<br />
Sohnes mit<br />
Down Syndrom:<br />
„Es ist höchste Zeit<br />
für die Inklusive Schule, in<br />
der Kinder und Jugendliche<br />
mit und ohne Behinderung<br />
entsprechend ihren individuellen<br />
Fähigkeiten gemeinsam<br />
lernen.“ Dass dies ohne weiteres<br />
möglich wäre, zeigt ein<br />
Blick in Richtung Norden: In<br />
Deutschland werden nur 12<br />
Prozent der behinderten Kinder<br />
in allgemeinen Schulen<br />
unterrichtet, in den skandinavischen<br />
Ländern dagegen bis<br />
zu 80 Prozent. Und am Ende<br />
ließen sich so auch noch Kosten<br />
sparen. Tagebuch-Autor<br />
Keyvan Dahesch, selbst von<br />
Geburt an blind, erinnert an<br />
einen Ausspruch von Richard<br />
von Weizsäcker: „Was im<br />
Vorhinein nicht ausgegrenzt<br />
wird, muss hinterher nicht<br />
eingegliedert werden.“<br />
<strong>Die</strong> Beiträge komplett zum<br />
Nachlesen stehen im Internet<br />
unter: die<strong>Gesellschafter</strong>.de/<br />
tagebuch<br />
Meinung<br />
Stasi 2.0 – <strong>Die</strong> „Visa-Warndatei“<br />
arzt und Globalisierungskritiker Niklas Schurig kommentiert<br />
<strong>Der</strong> Datenschützer und Globalisierungskritiker<br />
Niklas<br />
Schurig kommentiert die<br />
von der Großen Koalition<br />
geplante Einführung einer<br />
„Visa-Warndatei“. In dieser<br />
sollen alle Menschen<br />
erfasst werden, die visumspflichtige<br />
Ausländer zu sich<br />
nach Hause einladen.<br />
Auch Gastfreundschaft wird<br />
ab jetzt mit deutscher Gründlichkeit<br />
überwacht. Dass der<br />
Staat damit wieder 99 Prozent<br />
seiner Bürger zu Unrecht<br />
misstraut, sollte uns ebenfalls<br />
misstrauisch werden lassen.<br />
<strong>Die</strong> realen Auswirkungen<br />
dieser neuen rassistischen<br />
Schnüffeldatei werden vor<br />
allem jene Menschen spüren,<br />
die Globalisierung leben: Kir-<br />
DIE INITIATIVE<br />
a„In<br />
was für einer Gesellschaft<br />
wollen wir leben?“<br />
Auf der Internetseite<br />
die<strong>Gesellschafter</strong>.de<br />
werden Antworten auf diese<br />
Frage gesammelt, diskutiert<br />
und kommentiert.<br />
aWer<br />
sich freiwillig engagieren<br />
möchte, kann in einer Datenbank nach<br />
wohnortnahen Adressen von Verbänden<br />
und Initiativen suchen.<br />
aNeue<br />
Ideen für Projekte und Aktionen<br />
können mit bis zu 4000 Euro gefördert<br />
werden.<br />
aIn<br />
speziellen Themenforen können Themen<br />
wie Armut, Bildung, Familienpolitik,<br />
Teilhabe, Konsum und Glück, Umwelt,<br />
chen, Sportclubs, Festivalveranstalter<br />
und insbesondere<br />
internationale Familien. Sie<br />
alle werden bereits jetzt an<br />
den Grenzen wie Verbrecher<br />
erkennungsdienstlich erfasst,<br />
pauschal auf Vorrat gespeichert<br />
und mit anderen geheimen<br />
Listen verknüpft. Und<br />
ausländische Geheimdienste<br />
und befreundete Diktaturen<br />
wie Russland oder China<br />
freuen sich über diese neuen<br />
Datenquellen – es ist immer<br />
gut zu wissen, welche Dissidenten<br />
und Menschenrechtsaktivisten<br />
sich gerade in welchem<br />
Land befinden.<br />
Ziel dieser Datei ist, die<br />
bereits jetzt fast unüberwindbaren<br />
Außengrenzen der EU –<br />
geschützt durch Kriegsschiffe<br />
und Drohnen –, tödlich für tau-<br />
Datenschützer<br />
Niklas Schurig<br />
engagiert sich<br />
seit 2001 für das<br />
Netzwerk attac.<br />
sende Flüchtlinge jedes Jahr,<br />
noch effektiver zu machen.<br />
Statt nur die Außengrenzen<br />
gegen die zunehmenden Klimaflüchtlinge<br />
abzuschotten,<br />
wird diese Liste einen weiteren<br />
Überwachungsschleier<br />
über unbescholtene Bürger,<br />
deren Freunde und Verwandte<br />
legen. Mehr Überwachung<br />
bringt jedoch nicht mehr<br />
Sicherheit. Und kein Bürger<br />
ist in diesen geheimen Datenbanken<br />
mehr unverdächtig,<br />
sondern nur noch nicht verdächtig<br />
– Stasi 2.0.<br />
Wirtschaft und Arbeit aktiv<br />
und kontrovers diskutiert<br />
werden.<br />
aZu<br />
den Diskussionen tragen<br />
auch Persönlichkeiten<br />
des öffentlichen Lebens<br />
(Wissenschaftler, Künstler,<br />
Unternehmer etc.) bei. Sie<br />
erläutern ihre Konzepte und Modelle für<br />
die Fortentwicklung unserer Gesellschaft<br />
und stellen sie zur Diskussion.<br />
aIn<br />
einem Tagebuch stellt täglich ein anderer<br />
Gastkommentator eine Zeitungsmeldung<br />
des Tages vor und kommentiert sie.<br />
a<strong>Die</strong><br />
<strong>Gesellschafter</strong>-Zeitung kann online<br />
heruntergeladen und kostenfrei bestellt<br />
werden.
Zutritt verboten für Eltern und Jungs<br />
Von Hannah Schepers<br />
Laute Technomusik schallt<br />
aus dem Erdgeschoss, orientalischer<br />
Gesang aus den<br />
Dachfenstern. Beim Betreten<br />
des gelb gestrichenen<br />
Hauses am Marienplatz in<br />
Dinslaken/Lohberg werden<br />
die Technoklänge leiser,<br />
stattdessen ist nun<br />
gleichmäßiges Getrappel<br />
aus dem Obergeschoss<br />
zu hören. Hier, in einer<br />
Dreizimmerwohnung, üben<br />
Reyhan (17), Betül (14) und<br />
Funda (15) Tanzschritte ein.<br />
„Tanzen ist super“, sagt<br />
Betül und dreht die Musik<br />
ab. Pause!<br />
„Mädchentreff“ steht an der<br />
Klingel der Wohnung, doch<br />
inzwischen ist sie weit mehr<br />
als ein „Treff“. „Für die Mädchen<br />
ist die Wohnung zu<br />
einem zweiten Zuhause geworden“,<br />
erzählt Thomas Ochtrop,<br />
Leiter der katholischen<br />
Offenen Tagesstätte Lohberg<br />
der Caritas. Gemeinsam mit<br />
Kollegen initiierte er 2006<br />
das Projekt „Raum schaffen“.<br />
Im doppelten Wortsinne: <strong>Die</strong><br />
Idee war, dass die Mädchen<br />
im Stadtteil hier ihre Freizeit<br />
verbringen können. Und: <strong>Die</strong><br />
Mädchen mussten selbst anpacken<br />
– sie waren in Planung,<br />
Gestaltung und Einrichtung<br />
der Wohnung einbezogen.<br />
In der Küche stehen Kaffeemaschine<br />
und Wasserkocher,<br />
auf den Sofas liegen bunte<br />
Kissen. Ein hartes Stück Arbeit<br />
sei es gewesen, für eine<br />
gemütliche Atmosphäre zu<br />
sorgen, erzählt Funda: „Wir<br />
haben alles selber gestrichen<br />
und gestaltet. Es hat Spaß gemacht,<br />
aber es war manchmal<br />
anstrengend.“ Doch die Mädchen<br />
hätten dabei gelernt, so<br />
Ochtrop, eigenverantwortlich<br />
und im Team zu arbeiten.<br />
Junge Journalisten<br />
In Lohberg ist Multikulturalität<br />
eine Selbstverständlichkeit:<br />
Knapp die Hälfte der<br />
Bewohner des Dinslakener<br />
Stadtteils hat einen Migrationshintergrund.<br />
Und genau<br />
deshalb ist Mädchenarbeit in<br />
Lohberg so wichtig: Türkische<br />
Eltern zum Beispiel lassen ihren<br />
Töchtern nicht immer die<br />
Freiräume, die für deutsche<br />
Jugendliche selbstverständlich<br />
sind. Vor Projektbeginn<br />
gab es für Mädchen in Lohberg<br />
keine Rückzugsmöglichkeit:<br />
„<strong>Die</strong> Mädchen treffen<br />
hier im Stadtteil ständig<br />
Verwandte und Bekannte, sie<br />
sind nie unter sich“, sagt Julia<br />
Tatai, die das Projekt betreut<br />
und bei allen Treffen dabei<br />
ist. Männer – einschließlich<br />
Thomas Ochtrop – haben in<br />
der Wohnung nämlich nichts<br />
zu suchen.<br />
Während es für die Mädchen<br />
zum Problem werden<br />
kann, dass Lohberg ein<br />
„Dorf“ ist, in dem jeder<br />
jeden kennt, sieht Ochtrop<br />
auch die Potenziale der fa-<br />
Dezember 2008<br />
Junge Deutschtürkinnen renovieren Dinslakener wohnung – ein Rückzugsraum nur für Mädchen<br />
Geschafft! Junge Dinslakenerinnen in der neuen wohnung.<br />
Foto: Picture alliance<br />
Gerade junge Türkinnen verstehen es, kulturen und Mentalitäten zu verbinden.<br />
Foto: hannah Schepers<br />
miliären Atmosphäre: „<strong>Die</strong><br />
Menschen kennen sich und<br />
helfen einander.“ Es gebe<br />
viel Offenheit und Toleranz.<br />
Allen Problemen – wie unzureichender<br />
Integration oder<br />
Arbeitslosigkeit – zum Trotz.<br />
Auch der Caritas kamen die-<br />
se Vorteile der „Dorfgemeinschaft“<br />
zugute: „Wir mussten<br />
nur einen Hinweis aushängen,<br />
dann haben sich unsere<br />
Pläne schnell herumgesprochen.“<br />
Zudem genieße die<br />
Caritas einen guten Ruf: „<strong>Die</strong><br />
Eltern haben keine Sorge, ihre<br />
Kinder zu uns zu schicken“,<br />
erzählt Ochtrop. Sie wissen:<br />
In dem „Mädchentreff“<br />
sind ihre Töchter unter sich,<br />
in einem geschützten Raum<br />
ohne Jungs. Und Julia Tatai<br />
ist gleichermaßen Ansprechpartnerin<br />
für die Mädchen wie<br />
auch für die Eltern. Manchmal<br />
sei es nicht einfach, sich in<br />
die Besonderheiten der muslimischen<br />
Kultur einzufinden,<br />
sagt sie. Aber sie lerne auch<br />
viel über die andere Kultur<br />
– zum Beispiel beim Tanzen.<br />
Vertrauensvorschuss<br />
für die Caritas<br />
Bei diesem Stichwort bekommen<br />
die drei Mädchen leuchtende<br />
Augen, Tanzen ist ihre<br />
große Leidenschaft und neben<br />
dem Reden auch der größte<br />
Reiz, in die „eigene“ Wohnung<br />
zu kommen. Dass die Musik<br />
schon mal auf lautester Stärke<br />
läuft, stört hier niemanden:<br />
„Es ist o.k., die Mädchen können<br />
hier ganz sie selber sein,<br />
müssen sich nicht beobachtet<br />
fühlen“, so Tatai. Denn<br />
manchmal seien Jungs nervig<br />
und störend, sagt Funda.<br />
Ganz ohne Jungs geht es<br />
natürlich nicht: Reyhan, Betül<br />
und Funda kennen durchaus<br />
den Wunsch nach Spaß und<br />
Party mit Jungs. Dank der<br />
Angebote der Offenen Tagesstätte<br />
lässt sich ein Mittelweg<br />
finden. „Wir unterstützen die<br />
Mädchen darin, mit den<br />
Jungs zusammen Ausflüge zu<br />
machen“, so Ochtrop. Denn:<br />
„Ausflüge in der Gruppe erlauben<br />
die Eltern. Sie wissen:<br />
In der Gemeinschaft passiert<br />
nichts.“<br />
JugENDpRESSE STELLT pROJEKTE VOR<br />
aNachwuchsjournalisten<br />
der Jugendpresse Deutschland<br />
im Alter von 16 bis<br />
27 Jahren haben bundesweit<br />
Projekte besucht, die<br />
im Rahmen der <strong>Gesellschafter</strong>-Initiativegefördert<br />
werden. Sie sammelten<br />
Eindrücke, sprachen<br />
mit den Beteiligten und<br />
portraitierten verschiedene<br />
Einrichtungen.<br />
aIdeen<br />
für eine lebenswertere<br />
Gesellschaft gibt es viele.<br />
Nicht immer gelingt es, diese<br />
Realität werden zu lassen.<br />
die<strong>Gesellschafter</strong>.de unterstützt<br />
engagierte Menschen<br />
bei der Umsetzung ihrer<br />
Ideen in konkrete Projekte<br />
mit bis zu 4000 Euro.<br />
aAnträge<br />
können gestellt<br />
werden unter: foerderung.<br />
aktion-mensch.de
4 Dezember 2008<br />
„Wir sind Clowns und wir sind frei!“<br />
Raus aus dem Zirkus – und auf die Straße: widerstand, gewalt-, aber nicht spaßfrei<br />
Von Elias Bierdel<br />
<strong>Die</strong> Protestkultur in Deutschland<br />
ist in den letzten<br />
Jahren sichtbar bunter geworden:<br />
Bei Demonstrationen<br />
treten immer häufiger<br />
junge Frauen und Männer in<br />
Clowns-Kostümen auf, die<br />
für erhebliche Verwirrung<br />
sorgen. Es sind Mitglieder<br />
der „Clowns-Armee“, die<br />
sich lustvoll und bestens<br />
organisiert ins Getümmel<br />
stürzen. Wer steckt dahinter?<br />
Was wollen die<br />
rotnasigen Truppen? Unser<br />
Reporter Elias Bierdel<br />
hat versucht, der Sache<br />
im Selbstversuch auf den<br />
Grund zu gehen – als Rekrut<br />
in einem Trainingscamp der<br />
„Clowns-Armee“.<br />
<strong>Die</strong> letzten Anweisungen von<br />
„Rädelsführer Carraldo“ sowie<br />
Informationen zum genauen<br />
Treffpunkt hatte es kurzfristig<br />
per E-Mail gegeben:<br />
„... bequeme Klamotten mitbringen<br />
sowie Utensilien zur<br />
Gestaltung einer Multiform<br />
(der speziellen Clowns-Variante<br />
der Uniform). Rote Nasen<br />
und Schminksachen werden<br />
gestellt.“ Natürlich muss es<br />
in einer heimlichen Armee<br />
hoch konspirativ zugehen.<br />
Kein Schild weist deshalb den<br />
Weg durch das Labyrinth des<br />
alternativen Kulturzentrums<br />
„Alte Feuerwache“ im Kölner<br />
Agnes-Viertel. <strong>Die</strong> neuen RekrutInnen<br />
müssen sich schon<br />
selbst durchfragen. Immerhin<br />
45 angehende Clownsrebellen<br />
haben diese erste Prüfung be-<br />
standen und sitzen schließlich<br />
an einem Freitagabend zur<br />
Begrüßungsrunde auf dem<br />
schon recht ramponierten <strong>Die</strong>lenboden.<br />
Gerade mal 17 Jahre zählt<br />
der jüngste Teilnehmer, ein<br />
eher zartgliedriger Schüler<br />
aus Aachen. Das Gros in der<br />
Runde befindet sich in den<br />
20ern, etwa gleich viele<br />
Frauen und Männer: Es dominieren<br />
kunstvoll-verfilzte<br />
„Dreadlock“-Frisuren, weit<br />
geschnittene Pullis und Hosen<br />
in Naturfarben. Gelegent-<br />
IN DER TRADITION DER NARREN<br />
<strong>Die</strong> „Clandestine Insurgant<br />
Rebel Clown Army“ (Heimliche<br />
aufständische Rebellen-<br />
Clown-Armee) trat erstmals<br />
im Jahr 2000 in Großbritannien<br />
öffentlich in Erscheinung.<br />
<strong>Die</strong> Initiatoren<br />
wollten „die Clowns aus<br />
dem Zirkus befreien, wo<br />
sie zu belanglosen Spaßmachern<br />
zur Volksbelustigung<br />
degeneriert“ seien. Vielmehr<br />
solle die anarchische gesellschaftliche<br />
Kraft der Clowns<br />
in der Tradition der Narren<br />
des Mittelalters wieder er-<br />
Fotos: Michael Bause<br />
Reportage<br />
Echte Militärs würden sich wohl die haare raufen, denn uniform sind bei diesen „Soldaten“ nur die roten Nasen.<br />
weckt werden. Dabei gilt<br />
Gewaltfreiheit als oberstes<br />
Prinzip. Bei Großdemonstrationen<br />
in ganz Europa (und<br />
in Israel) sind mittlerweile<br />
Clowns anzutreffen, die<br />
durch militärisch-präzise<br />
Manöver sowohl Ordnungshüter<br />
als auch gewaltbereite<br />
Demonstranten irritieren. In<br />
Deutschland machten sie<br />
erstmals 2007 beim G8-Gipfel<br />
in Heiligendamm auf sich<br />
aufmerksam. Bundesweit<br />
wird die Zahl der Aktivisten<br />
auf rund 400 geschätzt.<br />
lich blitzt ein winziger Brillant<br />
aus einem Nasenstecker,<br />
glänzt ein Stahlstift aus einer<br />
Augenbraue. <strong>Der</strong> Eine oder<br />
die Andere hat sein Strickzeug<br />
mitgebracht. <strong>Die</strong> meisten<br />
hier sind an irgendeiner Uni<br />
eingeschrieben. Mehr muss<br />
niemand wissen – schließlich<br />
geht es ja hier auch um wichtigere<br />
Dinge: die Befreiung<br />
des „inneren Clowns“.<br />
Gleich am nächsten Morgen<br />
steht „Theorie“ auf dem Ausbildungsplan.<br />
„Rädelsführer<br />
Carraldo“, Armee-Clown der<br />
ersten Stunde, kann sich bei<br />
den noch leidlich verschlafenen<br />
Rekruten zunächst<br />
nicht recht verständlich machen:<br />
„Dein Clown ist keine<br />
Rolle, die du spielst, um<br />
Leute zum Lachen zu bringen.<br />
Dein Clown ist eine<br />
Figur, die du aus dir selbst<br />
erschaffst. Wie genau sich<br />
diese Figur nachher verhält,<br />
kann niemand wissen. Nicht<br />
einmal du selbst!“ Gelangweilte<br />
Gesichter, bestenfalls<br />
halbherziges Grübeln im Sitzkreis.<br />
Ja, wie denn nun?<br />
Weitere Kernbegriffe fallen<br />
– „Authentizität“, „Spontaneität“,<br />
„Expressivität“ ...<br />
„Täterää-tätät!“, ruft ein<br />
vorlauter Nachwuchsclown<br />
dazwischen. So endet die<br />
Theoriestunde wenigstens in<br />
allgemeinem Gelächter.<br />
Zwischen Hüftschwung<br />
und Rolle vorwärts<br />
Als es an die praktischen<br />
Übungen geht, sind sofort alle<br />
hellwach. „Jules“, der sanftmütige<br />
Ausbildungsoffizier,<br />
gibt die Aufgabe bekannt:<br />
einzeln sollen die künftigen<br />
Rebellenclowns hinter einem<br />
Vorhang herausspringen und<br />
„Jippieeh!“ rufen. Klingt einfach,<br />
entpuppt sich aber<br />
als große Herausforderung.<br />
Kaum zu glauben, aber es<br />
gibt tatsächlich 45 komplett<br />
unterschiedliche, individuelle<br />
Darbietungen zu sehen,<br />
<strong>vom</strong> schüchtern-fragenden bis<br />
hin zum triumphal-herausgeschmetterten<br />
„Jippieh“-Ruf,<br />
nebst Hüftschwung und Rolle<br />
vorwärts! Das macht sichtlich<br />
allen Spaß. „Es ist schön, dass<br />
wir alle so verschieden sind“,<br />
findet Anja schließlich, „aber<br />
müssen wir denn unbedingt<br />
eine Armee bilden? Ist das<br />
nicht ein Widerspruch?“ <strong>Die</strong><br />
Anwort kann nur ein gewiefter<br />
Altclown wie „Lefou“<br />
geben: „<strong>Der</strong> Clown kümmert<br />
sich nicht um Logik. Deshalb<br />
kann er widersprüchlich sein,<br />
ohne darunter zu leiden!“<br />
Schließlich hätten die<br />
Clowns ja einen Kampf zu<br />
führen, so lernen wir. Und:<br />
„Keine Nase kämpft für sich<br />
allein“, fügt unser Ausbilder<br />
mahnend hinzu. „Deshalb<br />
schließen wir uns ja zur<br />
heimlichen Rebellen-Armee<br />
zusammen!“ Doch so einfach<br />
lässt sich Anja nicht abspeisen,<br />
sie ist hartnäckiger, als<br />
ihre sanfte Stimme vermuten<br />
lässt : „Worum geht es denn<br />
in diesem Kampf?“ Allgemeine<br />
Zustimmung, das wollten<br />
offenbar alle schon lange mal<br />
gefragt haben. „Unser Kampf“,<br />
hier macht „Jules“ eine feierliche<br />
Pause, „richtet sich gegen<br />
jede Art der Unterdrückung!“<br />
„Schließt dieser Kampf auch<br />
die Anwendung von Gewalt<br />
ein?“, will ein Teilnehmer<br />
wissen, der nach eigenem Bekunden<br />
„damals beim Castor“<br />
von etlichen Gummiknüppeln<br />
getroffen wurde. Schlagartig<br />
wird es still im Raum.<br />
„Gewalt muss auf jeden Fall<br />
ausgeschlossen sein!“, gibt der<br />
„Rädelsführer“ die Devise aus.<br />
„Wir Clowns greifen repressive<br />
Normen an, wir brechen Muster<br />
auf und wollen so ein neues<br />
Denken, einen neuen Umgang
miteinander ermöglichen. Und<br />
das kann selbstverständlich<br />
nur heißen: absoluter Gewaltverzicht!“<br />
„Und wenn die<br />
Bullen auf uns einprügeln?“,<br />
wird der „Castor“-Veteran nun<br />
deutlicher. „Unsere Methode<br />
ist die Parodie“, legt sich „Carraldo“<br />
fest, „wir verspotten die<br />
Autoritäten zum Zeichen, dass<br />
wir uns nicht unterwerfen.<br />
Aber niemals beantworten wir<br />
Gewalt mit Gegengewalt: Ein<br />
einziger Clown, der einen Stein<br />
wirft, gefährdet die ganze<br />
Bewegung!“ Und „Jules“ berichtet,<br />
wie man sowohl allzu<br />
sportliche Polizisten als auch<br />
gewaltbereite Demonstranten<br />
durch „Spiegelung“ entlarven<br />
kann: „Da stelle ich mich als<br />
Clown daneben und mache<br />
dieses ganze aufgeblasene Gehabe<br />
nach, übersteigere es ins<br />
Lächerliche ... das wirkt!“ Er<br />
führt zur Veranschaulichung<br />
einige filmreife Posen vor.<br />
Am Sonntag wird es endlich<br />
ernst, wir ziehen zum „Drill“<br />
ins Freie. <strong>Der</strong> heruntergekommene<br />
Spielplatz in einem<br />
Kölner Park ist das Trainingsgelände.<br />
In unseren selbstgebastelten<br />
Multiformen, je nach<br />
Geschmack aus militärischen-<br />
und clownesken Elementen<br />
zusammengestellt, stehen tatsächlich<br />
39 frischgebackene<br />
Clowns-Rekruten (sechs sind<br />
mittlerweile abgesprungen) in<br />
Reih und Glied. <strong>Die</strong> meisten<br />
Spaziergänger können ein Lächeln<br />
nicht unterdrücken, als<br />
sie unvermutet auf die schrille<br />
Versuch des Interviews mit<br />
einer Clownin. „Vila“ ist<br />
nach eigenen Angaben „so<br />
alt wie eine Schildkröte,<br />
aber eine kleine!“ Ohne die<br />
obligatorische rote Nase<br />
sieht sie allerdings auf den<br />
ersten Blick eher aus wie<br />
eine ganz normale Pädagogik-Studentin<br />
aus Norddeutschland.<br />
(„Vila“ nestelt an den Knöpfen<br />
ihrer Jacke herum): „Er liebt<br />
sich, er liebt sich nicht ...“<br />
Eine schöne Jacke<br />
hast du an.<br />
Das weiß ich selber.<br />
Darf ich dir ein paar<br />
Fragen stellen?<br />
Foto: Michael Bause<br />
Truppe stoßen. Nur eine ältere<br />
Dame, die einen ziemlich<br />
runden Dackel hinter sich<br />
herzieht, scheint das Ansehen<br />
der Wehrmacht ernsthaft in<br />
Gefahr zu sehen: „Eine Unverschämtheit!<br />
Sowas hätte<br />
es damals nicht gegeben!“<br />
Dem können die Clowns nur<br />
zustimmen. „Danke für den<br />
Hinweis!“, ruft einer. Frauchen<br />
sowie Dackel ziehen Leine.<br />
Eine bunte Schar ohne<br />
Ernst und Hierarchie<br />
Tatsächlich hätte es das, was<br />
nun folgt, „früher“ ganz gewiss<br />
nicht gegeben: die bunte Schar<br />
marschiert, tippelt, hüpft oder<br />
kriecht nach jedem neuen<br />
Kommando. „Socke“, „Bauch“<br />
oder „Ärscheln“ heißen die<br />
Befehle. Gegeben werden sie<br />
– das gibt es in keiner anderen<br />
Armee der Welt! – von jedem,<br />
der gerade Lust hat. Zwar gibt<br />
es ältere, erfahrene Clowns,<br />
von denen die jüngeren Ratschläge<br />
entgegennehmen.<br />
Aber eine Hierarchie kennen<br />
die Clowns nicht.<br />
Jeder kann per Internet<br />
einen Aufruf verschicken –<br />
und muss warten, ob andere<br />
Clowns sein Anliegen unterstützen.<br />
Auch im Einsatz ist einer<br />
genau so lange Anführer,<br />
wie die anderen ihm folgen.<br />
Notfalls wird ein Plenum einberufen,<br />
auf dem die Rotnasen<br />
– untergehakt wie Eishockey-<br />
Spieler – entscheiden, wie es<br />
weitergeht.<br />
<strong>Die</strong> clowns-armee in aktion.<br />
Reportage Dezember 2008 5<br />
Dass unter diesen Umständen<br />
überhaupt noch irgendeine koordinierte<br />
Bewegung zustande<br />
kommt, grenzt an ein Wunder.<br />
Aber die Sache funktioniert:<br />
wenn die bunt verkleideten<br />
„Gaggles“ (jede Einheit umfasst<br />
jeweils bis zu 10 Clowns)<br />
ausrücken, geben sie sich zuvor<br />
einen eigenen Einsatzbefehl,<br />
der möglichst entlarvend<br />
wirken soll. Da werden zum<br />
Beispiel Passanten lauthals vor<br />
„drohenden touristischen Angriffen“<br />
gewarnt oder vor dem<br />
Anstieg des Rheinpegels, „weil<br />
ja die Tarnkappen abschmelzen!“.<br />
Kaum jemand, der sich<br />
angesichts solcher Gefahrenlagen<br />
nicht gerne mittels<br />
was machen clowns<br />
denn lieber?<br />
Unordnung schaffen, Chaos<br />
stiften, äußerst verzwickte<br />
Verwirrungen anzetteln,<br />
knuddeln bis die Feuerwehr<br />
anrückt. Was so anliegt eben.<br />
aber ihr seid eine<br />
richtige armee?<br />
Na klar, und wie! Au ja, endlich<br />
mal eine richtige Armee!<br />
Eine superbunte, voll zackige,<br />
klasse durchgeknallte Spitzen-Armee!<br />
Wir helfen überall<br />
da, wo die Staatsmacht nicht<br />
mehr weiter weiß.<br />
Ihr helft der Polizei?<br />
Naja, die kommen doch oft<br />
gar nicht mehr klar. Dann begleiten<br />
wir die armen Staats-<br />
Wasserfarben-Malkasten bereitwillig<br />
die Fingerabdrücke<br />
nehmen ließe. Wenn sich so<br />
irgendjemand zum Nachdenken<br />
anregen ließe, wäre schon<br />
das erste Freiluft-Training ein<br />
voller Erfolg. „Ein einzelner<br />
Clown kann von außen als<br />
Spinner abgetan werden. Aber<br />
wenn viele Clowns in gleicher<br />
Weise spinnen, dann lässt sich<br />
das nicht mehr ignorieren.<br />
Denn die Menschen sind es<br />
gewohnt, sich an der Mehrheit<br />
zu orientieren“, gibt uns<br />
Ausbilder „Jules“ noch mit auf<br />
den Weg.<br />
Nun, bis die Clowns die<br />
Mehrheit stellen werden, ist<br />
es sicherlich noch eine Weile<br />
diener, damit sie sich zum<br />
Beispiel auf einer Demo nicht<br />
so verloren fühlen. Mit einem<br />
Clown an deiner Seite sieht<br />
das Leben doch gleich wieder<br />
besser aus und die Arbeit geht<br />
viel besser von der Hand in<br />
den Mund! Und andersherum<br />
auch.<br />
warum bist du zur clownsarmee<br />
gegangen?<br />
Oder ist die Clownsarmee zu<br />
mir gekommen? Ich weiß es<br />
nicht mehr. Ich glaube, das<br />
war eine Idee meines Steuerverdrahters.<br />
Ich sollte endlich<br />
mal was Vernünftiges tun!<br />
(kichert)<br />
ach, die clowns sind also<br />
doch vernünftig?<br />
hin. Aber dass es stetig mehr<br />
werden, lässt sich wohl nicht<br />
mehr aufhalten. Denn auf der<br />
Suche nach neuen Formen<br />
des Protests ist die rotnasige<br />
Rebellenarmee bei jungen<br />
Widerständlern ziemlich angesagt.<br />
Und ihre Marschlieder<br />
treffen wohl den Ton<br />
der Zeit: „Wir sind Clowns<br />
und wir sind frei“, heißt es in<br />
einem. Ein anderer verweist<br />
auch auf die Hippiebewegung<br />
als Vorläufer des heutigen<br />
Rebellennachwuchses: „Left,<br />
right, left – love and respect.“<br />
Tatsächlich sieht man die ein<br />
oder andere Blume im Haar.<br />
Manches ist eben doch wie<br />
„früher“. Nur später.<br />
Wenn die Staatsmacht nicht mehr weiter weiß<br />
Bei clowns ist es wie bei Politikern: Nimmt man sie beim wort, bleiben Überraschungen nicht aus<br />
Nö. Ich glaube, meine Clownin<br />
will das nicht.<br />
warum?<br />
Vielleicht ist sie ein bisschen<br />
schüchtern, vielleicht hat sie<br />
einfach keine Lust. Keine Ahnung.<br />
Clowns machen meistens<br />
nicht das, was man gerade<br />
von ihnen erwartet.<br />
<strong>Der</strong> närrische Protest ist einfach umwerfend komisch, entkrampft und löst so viele Spannungen.<br />
Hast du Radieschen in der Nase?<br />
Ich sagte doch ausdrücklich:<br />
Unvernünftig!<br />
Nein, du hast „vernünftig“<br />
gesagt. Ich habe es ja eben<br />
auf dem Bandgerät aufgenommen<br />
...<br />
Das habe ich überhaupt und<br />
ganz und gar nicht! Aha, du<br />
glaubst also deinem blöden<br />
Band mehr als meinen eigenen<br />
frisch geduschten Ohren!?<br />
wir könnten es ja<br />
zusammen abhören?<br />
Das können wir eben nicht!<br />
Denn jetzt hast du mich beleidigt<br />
und ich sage gar nichts<br />
mehr. Ätsch!<br />
Interview: Elias Bierdel
6 Dezember 2008<br />
„Nur noch inszenierte Konflikte“<br />
colin crouch über die chancen, der Demokratie wieder mehr Leben einzuhauchen<br />
Immer mehr politische Entscheidungen<br />
werden in Hinterzimmern<br />
getroffen, die<br />
Wirtschaftseliten gewinnen<br />
an Macht, die Parteien reagieren<br />
hilflos. <strong>Der</strong> britische<br />
Politikwissenschaftler Colin<br />
Crouch beschreibt in seinem<br />
gleichnamigen Buch<br />
die Gefahren der „Postdemokratie“.<br />
Sie schreiben, weltgeschichtlich<br />
betrachtet sei<br />
die Demokratie an einem<br />
höhepunkt angelangt.<br />
heißt das: Von nun an<br />
geht’s bergab?<br />
Ich sage nicht, dass wir uns<br />
bereits in einem Zustand<br />
der Postdemokratie befinden,<br />
aber wir bewegen uns in diese<br />
Richtung. In diesem Zustand<br />
sind noch alle demokratischen<br />
Institutionen – wie Parteien<br />
oder Wahlen – vorhanden. Das<br />
Problem ist, dass die politische<br />
Energie aus diesen Institutionen<br />
entweicht, weil kleine<br />
politisch und wirtschaftlich<br />
motivierte Zirkel immer mehr<br />
Macht gewinnen.<br />
Inwiefern?<br />
<strong>Die</strong> Probleme, vor denen wir<br />
heute stehen – der Klimawandel,<br />
die Verknappung der<br />
Ressourcen, die Kontrolle der<br />
globalen Wirtschaft – kann<br />
keine nationale Regierung<br />
allein bewältigen. Sie müssten<br />
ZuR pERSON<br />
C o l i n<br />
C r o u c h ,<br />
64, lehrt<br />
am Institut<br />
für Regierungsf<br />
ü h r u ng<br />
und Öffentliches Management<br />
an der Universität<br />
Warwick in Großbritannien.<br />
Mit seinem Buch<br />
„Postdemokratie“ hat er<br />
eine der meist beachteten<br />
politischen Schriften der<br />
letzten Jahre vorgelegt.<br />
Mittlerweile wurde das<br />
Buch in sieben Sprachen<br />
übersetzt und liegt nun<br />
auch auf Deutsch vor.<br />
„Postdemokratie“, von Colin<br />
Crouch, Suhrkamp-Verlag,<br />
Frankfurt 2008, 10 €.<br />
Schwerpunk t > Demokr atie<br />
auf europäischer oder internationaler<br />
Ebene gelöst werden.<br />
Doch das klappt nicht oder<br />
kaum – wie man am<br />
Beispiel der Europäischen<br />
Union sieht.<br />
Statt dessen treten<br />
alle möglichenInteressenverbände<br />
und Lobbyisten<br />
in diese<br />
Lücke<br />
– die aber<br />
nie gewählt<br />
wurden. <strong>Die</strong><br />
eigentlichen<br />
politischen<br />
Auseinandersetzungenwerden<br />
hinter verschlossenen<br />
Türen<br />
ausgetragen.<br />
wer hat versagt?<br />
<strong>Die</strong> Parteien?<br />
Es ist für die Parteien<br />
sehr schwierig geworden<br />
zu agieren. Sie<br />
haben Angst. In einer<br />
globalen Ökonomie<br />
können die Parteien<br />
zum Beispiel kaum<br />
noch wirtschaftskritische<br />
Positionen vertreten.<br />
Sie stehen unter enormem<br />
Druck: entweder sie lassen<br />
die Unternehmen gewähren<br />
und legen ihnen möglichst<br />
wenig Regeln auf – oder sie<br />
wandern ab.<br />
Mangelnde Steuerung des<br />
Finanzsektors war eine<br />
wichtige Ursache für die<br />
krise...<br />
Genau. Wir erleben zur Zeit<br />
zwei Dinge: Zum einen sehen<br />
wir ein enges Bündnis<br />
zwischen den Regierungen<br />
und den großen Banken und<br />
Konzernen; sie ziehen in dieser<br />
Krise an einem Strang.<br />
Zum anderen können die<br />
Parteien in der Frage der<br />
Rettung des Finanzsektors<br />
keine Konflikte riskieren. Es<br />
bleibt kaum Zeit zu steuern.<br />
Das sieht man an McCain<br />
und Obama, auch bei Merkel<br />
und Steinbrück. <strong>Die</strong> Parteien<br />
profilieren sich nur noch über<br />
inszenierte Konflikte – wie die<br />
Pendlerpauschale – ,erfunden<br />
von professionellen PR-Teams.<br />
Aber bei substanziellen Fragen<br />
müssen die Parteien zusammenstehen.<br />
Foto: Picture alliance<br />
Zeichen der Ermutigung: Viele setzen sich für mehr Mitsprache ein,<br />
wie die 250.000 Unterschriftsbögen für ein Volksbegehren zeigen.<br />
Viele Menschen haben jetzt<br />
in der Bankenkrise den Eindruck,<br />
dass Geld plötzlich<br />
keine Rolle mehr spielt.<br />
<strong>Die</strong> Leute registrieren das<br />
alles sehr genau. Sie analysieren<br />
das vielleicht nicht im<br />
Detail, aber sie spüren die<br />
Konsequenzen. Wir haben<br />
eine neue Lebhaftigkeit in der<br />
politischen Diskussion. Und<br />
das ist gut so.<br />
wird es jetzt ein stärkeres<br />
Primat der Politik geben,<br />
mit mehr kontrollen, um<br />
auswüchse wie bei der<br />
jetzigen Bankenkrise nicht<br />
noch einmal zu erleben?<br />
Davon kann man zunächst<br />
einmal ausgehen. Aber nach<br />
ein paar Monaten oder Jahren<br />
werden die Banken sagen:<br />
<strong>Die</strong>se neuen Regeln sind zu<br />
streng. So können wir keine<br />
Gewinne erwirtschaften. Wir<br />
brauchen mehr Spielraum.<br />
So war es auch nach den großen<br />
Bilanz-Skandalen in den<br />
USA, zum Beispiel um den<br />
Energieriesen Enron oder den<br />
Telekom-Konzern WorldCom.<br />
Danach hat die Politik sehr<br />
strikte Regeln geschaffen. <strong>Die</strong><br />
Unternehmen haben daraufhin<br />
gesagt: O.k., dann gehen<br />
wir nach London, dort ist es<br />
einfacher für uns. Was wir<br />
brauchen, sind globale Regeln<br />
für die großen Unternehmen,<br />
aber die nationalen Demokratien<br />
sind zu schwach, um das<br />
durchzusetzen.<br />
In Deutschland zeigen Umfragen,<br />
dass nur noch 50<br />
Prozent der Menschen mit<br />
der Demokratie zufrieden<br />
sind, die Poltikverdrossenheit<br />
nimmt zu, die wahlbeteiligung<br />
ab.<br />
Ich bin überzeugt, dass das in<br />
Deutschland nur ein temporäres<br />
Problem ist. Verglichen<br />
mit der Wahlbeteiligung in<br />
Großbritannien zum Beispiel,<br />
stehen sie noch gut da. Und<br />
erst recht im Vergleich zu den<br />
USA, wo diesmal zwar mehr<br />
Menschen zur Wahl gegangen<br />
sind, aber insgesamt doch immer<br />
noch wenige.<br />
welche chancen<br />
sehen Sie, der Demokratie<br />
neues<br />
Leben einzuhauchen?<br />
Es gibt immer<br />
mehr neue<br />
soziale Bewegungen,Nichtregierungsorganisationen,<br />
und die könnten<br />
eine Hoffnung<br />
für eine Erneuerung<br />
der Parteien<br />
und ihrer Politik<br />
sein. Teilweise geschieht<br />
das auch<br />
als kritische<br />
Reaktion auf<br />
die neue politische<br />
Rolle der<br />
Konzerne. Heute<br />
gibt es für jedes große<br />
Unternehmen eine<br />
Internetseite mit<br />
Kritik an deren<br />
Politik, sei es von<br />
Bürgerinitiativen<br />
oder anderen sozialen<br />
Bewegungen, wie<br />
Attac. So entsteht ein neuer<br />
politischer Raum. <strong>Die</strong> sind<br />
zwar auch nicht demokratisch<br />
legitimiert, aber sie setzen<br />
an den Interessen und Bedürfnissen<br />
der Menschen an.<br />
Momentan ist die Beziehung<br />
dieser neuen Bewegungen zu<br />
den politischen Parteien allerdings<br />
noch sehr schwach, aber<br />
das kann sich in der Zukunft<br />
entwickeln.<br />
also ein ansatzpunkt für<br />
mehr politische Partizipation?<br />
Viele sagen, die Jugend sei<br />
unpolitisch und passiv, aber<br />
das stimmt nicht. Viele junge<br />
Menschen sind aktiv, nicht<br />
in den alten Parteien, aber<br />
in neuen Bewegungen. Auch<br />
die Freien Wählergruppen<br />
können ein wichtiges Alarmzeichen<br />
an die Adresse der<br />
etablierten Parteien senden.<br />
Gefährlich wird es, wenn<br />
das rechtsradikalen und rassistischen<br />
Parteien Auftrieb<br />
gibt. Zunächst einmal ist es<br />
aber ein gutes Zeichen, dass<br />
etwas in Bewegung gerät.<br />
Interview: Jutta <strong>vom</strong> Hofe
Mehr als jede andere Gesellschaftsform<br />
ist ein demokratisches<br />
Gemeinwesen auf<br />
die Beteiligung möglichst<br />
vieler Bürger angewiesen.<br />
Dazu gehören auch politische<br />
Bewegungen und Parteien.<br />
Bleibt der Nachwuchs aus,<br />
fehlen dem Land irgendwann<br />
diejenigen, die Politik verantwortungsbewusst<br />
gestalten.<br />
Schwerpunk t > Demokr atie Dezember 2008 7<br />
„Dann kann ich selbst etwas verändern“<br />
Von Karen Haak<br />
Wer Politik verstehen will,<br />
muss sie erleben. Doch die<br />
meisten jungen Leute schauen<br />
sich Politik höchstens in<br />
der Tagesschau an. So verpassen<br />
sie die Geschichten,<br />
die zwischen Rednerlisten,<br />
Abstimmungen und Tagesordnungen<br />
stecken. Karen<br />
Haak, 22, hat sie sich angesehen.<br />
Eine große, schwarze Limousine<br />
fährt im Nieselregen am<br />
Eingang der Kongresshalle<br />
vor. Als Andrea Ypsilanti<br />
aussteigt, ist sie sofort von<br />
Mikrofonen umringt. Männer<br />
mit breiten Schultern und<br />
dunklen Anzügen bahnen<br />
der Landesvorsitzenden der<br />
hessischen SPD den Weg<br />
durch die Journalistenmeute.<br />
Im Foyer sagt Andrea Ypsilanti<br />
ein paar Sätze in die<br />
Kameras. Sie hat heute viel<br />
vor beim Sonderparteitag der<br />
Hessen-SPD in Rotenburg an<br />
der Fulda.<br />
Mit so viel Trubel kann die<br />
Mitgliederversammlung des<br />
CDU-Ortsverbands Holweide<br />
nicht mithalten. Es ist erstaunlich<br />
warm für einen Herbst-<br />
Foto: carofoto<br />
Demokratie im parteipolitischen alltag: Delegiertentreffen, Machtinteressen, Nachwuchssorgen<br />
abend. Aber das ist nicht der<br />
Grund für die schläfrigen<br />
Gesichter im Café Klatschmohn.<br />
<strong>Der</strong> Vorsitzende trägt<br />
seinen Rechenschaftsbericht<br />
vor. Satz für Satz liest er <strong>vom</strong><br />
Blatt ab. Gelegentlich blickt<br />
er <strong>vom</strong> Papier auf. Offenbar<br />
um zu kontrollieren, ob noch<br />
alle da sind. Zuvor hatten die<br />
Holweider Christdemokraten<br />
die form- und fristgerechte<br />
Einladung festgestellt, die<br />
Tagesordnung genehmigt und<br />
den Schriftführer gewählt.<br />
Es gehört viel Überzeugung<br />
dazu, um damit seinen Feierabend<br />
zu verbringen.<br />
Aber auch den Delegierten<br />
auf dem Sonderparteitag<br />
in Hessen bleiben die obligatorischen<br />
Formalien nicht<br />
erspart. Nach der Eröffnung<br />
wählen sie das Präsidium, genehmigen<br />
die Tages- und Geschäftsordnung<br />
und bestätigen<br />
die Antragsprüfungskommission.<br />
Und die Zahlkommission<br />
sowie die Mandatsprüfungskommission<br />
werden<br />
auch noch gewählt. Auch hier<br />
gehört viel Engagement dazu,<br />
um damit seinen freien Samstag<br />
zu verbringen.<br />
Je größer die Parteiveranstaltung,<br />
desto mehr Abstim-<br />
mungen gibt es. Das scheint<br />
in Rotenburg bekannt zu sein.<br />
Aber auch die Christdemokraten<br />
in Holweide ertragen<br />
die Formalien stoisch. <strong>Der</strong> Vorsitzende<br />
gibt sich Mühe und<br />
rast durch die Abstimmungen.<br />
Da wird auch suggestiv gefragt:<br />
„Ist jemand dagegen?“.<br />
Aber das ist in Ordnung, weil<br />
das Ergebnis der Abstimmung<br />
sowieso vorher klar ist.<br />
Stehende Ovationen,<br />
minutenlanger Applaus<br />
Andrea Ypsilanti hält eine<br />
flammende Rede in Rotenburg.<br />
Sechzig Minuten lang<br />
Kampfgeist, Witz und Eigenlob.<br />
<strong>Die</strong> Delegierten feiern<br />
sie mit stehenden Ovationen<br />
und minutenlangem Applaus.<br />
Danach sinkt die gefühlte<br />
Spannungskurve im Saal allerdings<br />
dramatisch. Es ist Zeit<br />
für das Mittagessen, aber auf<br />
dem Speiseplan stehen Redebeiträge<br />
der Delegierten aus<br />
den hessischen Wahlkreisen.<br />
Wer sich vorher angemeldet<br />
hat, bekommt drei Minuten,<br />
die Bühne und das Mikro. <strong>Die</strong><br />
Redner greifen von Bildungs-<br />
bis Kulturpolitik verschiedenste<br />
Themen auf. Obwohl<br />
die Redezeit begrenzt ist,<br />
dehnen sich die Minuten zu<br />
kleinen Unendlichkeiten. <strong>Die</strong><br />
Rednerliste scheint endlos.<br />
<strong>Die</strong> Journalisten, die noch vor<br />
einer Stunde fiebrig auf ihre<br />
Laptops eingehackt haben,<br />
fläzen sich gelangweilt in<br />
ihren Stühlen. Das Plenum ist<br />
nicht besser – ab Reihe zehn<br />
übertönt das Gemurmel der<br />
Zuhörer die Lautsprecher.<br />
Für Patrick Stamm wird<br />
der Abend in Holweide spannender,<br />
nachdem die Formalien<br />
überstanden sind: Er<br />
wird für die Bezirksvertretung<br />
nominiert. Mit seiner Aufstellung<br />
reißt der 22-Jährige den<br />
Altersdurchschnitt auf der Liste<br />
dramatisch nach unten.<br />
Obwohl er noch ziemlich<br />
jung ist, stehen die Chancen<br />
für Patrick nicht schlecht,<br />
2009 in die Bezirksvertretung<br />
einzuziehen. „Dann kann ich<br />
selbst etwas verändern und<br />
gestalten“, sagt er. Aber Patrick<br />
weiß, dass die Möglichkeiten<br />
beschränkt sind.<br />
Und dass sich manche Dinge<br />
nicht ändern lassen. Am Ende<br />
der Versammlung stellt der<br />
Vorsitzende fest, dass gegen<br />
„die Wahlergebnisse, die Abstimmungsdurchführung<br />
und<br />
die ermittelten Abstimmungsergebnisse<br />
keine Einwände<br />
erhoben werden.“<br />
Fast alle Parteien<br />
verlieren Mitglieder<br />
<strong>Der</strong> deutschen Politik geht<br />
langsam aber sicher das Personal<br />
aus. 1990 hatten noch<br />
knapp 800 000 Menschen<br />
ein Parteibuch der CDU,<br />
die SPD hatte etwa 950 000<br />
Mitglieder. Heute sind beide<br />
Volksparteien etwa 530 000<br />
Personen stark. Besonders der<br />
Nachwuchs fehlt. Nur rund<br />
fünf Prozent der Mitglieder<br />
sind 29 Jahre oder jünger – sowohl<br />
in der CDU als auch in<br />
der SPD. Bei den drei kleineren<br />
Parteien sieht es nicht viel besser<br />
aus. <strong>Die</strong> Linke hatte nach<br />
der Wende noch viermal mehr<br />
Mitglieder als heute. Auch die<br />
Liberalen haben seitdem stark<br />
verloren. 64 000 Menschen<br />
sind in der FDP, 1990 waren<br />
es noch dreimal so viele.<br />
Nur die CSU und die Grünen<br />
konnten ihre Mitgliederzahlen<br />
etwa konstant halten. <strong>Die</strong><br />
CSU liegt durchschnittlich bei<br />
176 000 Mitgliedern, die Grünen<br />
hatten stets etwa 44 000<br />
Mitglieder.
8 Dezember 2008<br />
„Fortnetzung“ folgt<br />
Demokratie gestalten von unten – seit zehn Jahren gibt es aktionen rund um den 5. Mai<br />
Von Ulrich Steilen<br />
8 bis 10 Millionen schwerbehinderte<br />
Menschen leben<br />
in Deutschland. Das ist eine<br />
große Zahl, das politische<br />
Mitspracherecht der Menschen<br />
mit Behinderung in<br />
unserer Gesellschaft ist aber<br />
eher gering. Würde es ihnen<br />
gelingen, ihre Interessen zu<br />
bündeln, sich in höherem<br />
Maße als bisher zu vernetzen<br />
und mit einer Stimme zu<br />
sprechen – keine demokratisch<br />
gewählte Regierung<br />
könnte es sich leisten, diese<br />
Stimme zu überhören.<br />
Doch obwohl es in Deutschland<br />
keine gemeinsame politische<br />
Partei der Menschen<br />
mit Behinderung gibt, hat<br />
die Behindertenhilfe und<br />
-selbsthilfe in den letzten zehn<br />
Jahren für Bewegung in der Republik<br />
gesorgt. In Niedersachsen<br />
etwa. Dort wurde 2006<br />
das einkommens- und vermögensunabhängige<br />
Blindengeld<br />
wieder eingeführt, nachdem<br />
es im Jahr zuvor abgeschafft<br />
worden war. <strong>Die</strong> Aktiven in<br />
der Blindenarbeit waren hervorragend<br />
vernetzt, sodass<br />
eine Bewegung für ein Volksbegehren<br />
entstand. 200.000<br />
Unterschriften sammelte der<br />
Landesblindenverband für<br />
das Volksbegehren. Mit einem<br />
derart breit angelegten Protest<br />
hatte die Landesregierung<br />
nicht gerechnet. <strong>Die</strong> Rotstiftpolitik<br />
zu Lasten der Menschen<br />
mit Behinderung wurde<br />
rückgängig gemacht.<br />
Gemeinsames Engagement<br />
für die rechtliche Gleichstel-<br />
Jubiläumskongress „10 Jahre 5. Mai“ in der heilig-kreuz-kirche in Berlin.<br />
lung und gesellschaftliche<br />
Teilhabe zeichnete auch die<br />
„Aktion Grundgesetz“ (AGG)<br />
aus, die 1997 von über 100<br />
Organisationen und der Aktion<br />
Mensch ins Leben gerufen<br />
wurde und die seit 2006 im<br />
Rahmen der <strong>Gesellschafter</strong>-<br />
Initiative fortgesetzt wird.<br />
An jedem 5. Mai, dem Europaweiten<br />
Protesttag für die<br />
Gleichstellung von Menschen<br />
mit Behinderungen, tragen<br />
die Mitstreiter der Behindertenhilfe<br />
und -selbsthilfe<br />
„NO STEp FuRTHER“ gEWINNT ART.AWARD 08<br />
Was zeichnet den Menschen<br />
von heute aus, fragten sich<br />
Philipp Edler und Felix Hielscher,<br />
die Gewinner des<br />
ART.AWARD 08. Ihr Foto<br />
„No step further – und keinen<br />
Schritt weiter!“ will<br />
Antwort geben: Er lebt in<br />
Großstädten, hetzt von Termin<br />
zu Termin, 24 Stunden<br />
lang, 7 Tage in der Woche.<br />
<strong>Der</strong> Mensch wird zum „Arbeitstier“,<br />
zum Sklaven der<br />
Arbeits- und Geschäftswelt.<br />
Mit Handy und Kaffeebecher<br />
Foto: hartmut Reiche<br />
Schwerpunk t > Demokr atie<br />
ihre Forderungen direkt an<br />
die Öffentlichkeit, ziehen demonstrierend<br />
durch die Straßen<br />
und errichten Infostände<br />
vor Rathäusern. Vielerorts<br />
gibt es ganze Aktionswochen,<br />
wie in diesem Jahr in<br />
Heidelberg. Zwei Wochen<br />
lang wurde mit Führungen,<br />
Theater, Lesungen, Kino und<br />
einem Aktionstag auf dem<br />
Universitätsplatz auf die Lebenssituation<br />
behinderter<br />
Menschen aufmerksam gemacht.<br />
marschiert er durch die<br />
Straßen, immer erreichbar,<br />
immer 120 Prozent leistungsfähig.<br />
An jeder Straßenecke<br />
gibt es die schwarze<br />
Droge. Den strapazierten<br />
Nerven bietet sie allerdings<br />
keine Erholung, sondern<br />
lediglich einen Aufschub<br />
des Unvermeidlichen, dem<br />
„Burnout to go“.<br />
Weitere Infos unter:<br />
die<strong>Gesellschafter</strong>.de/projekt/<br />
events/art.award<br />
Durch die Plattform 5. Mai<br />
entstehen ganz neue Formen<br />
der Zusammenarbeit unterschiedlicher<br />
Gruppen und<br />
Verbände. Gemeinsame Aktionen<br />
haben in den vergangenen<br />
zehn Jahren dazu<br />
geführt, dass Behinderung<br />
als politisches Thema intensiver<br />
wahrgenommen wird<br />
als früher.<br />
Erfolg hat viele<br />
Mütter und Väter<br />
<strong>Die</strong>se Veränderung hat sich bereits<br />
rechtlich ausgewirkt. Das<br />
Behindertengleichstellungsgesetz<br />
trat am 1. Mai 2002 in<br />
Kraft. Sein Kernstück ist „die<br />
Herstellung einer umfassend<br />
verstandenen Barrierefreiheit“.<br />
Ohne die Aktion Grundgesetz<br />
hätte es das Gesetz wohl nicht<br />
gegeben. Das verdeutlicht, wie<br />
wichtig es ist, sich in der Behindertenarbeit<br />
zu vernetzen und<br />
an einem Strang zu ziehen.<br />
„Erfolg hat viele Mütter und<br />
Väter“, sagt Ottmar Miles-Paul,<br />
Behindertenbeauftragter in<br />
Rheinland-Pfalz und seit Jahren<br />
engagierter Mitstreiter des<br />
5. Mai. „Deshalb brauchen wir<br />
die Paragraphenreiter, brau-<br />
chen die Demonstranten auf der<br />
Straße und vieles mehr. Kreativität<br />
und Vielfalt der Aktionen<br />
sind wichtig und diese müssen<br />
konzertiert werden, um als breite<br />
Bewegung wahrgenommen<br />
zu werden.“<br />
<strong>Die</strong> beschleunigende Wirkung<br />
von konzertierten Aktionen<br />
und gelungener Vernetzung<br />
hat auch Oswald Utz,<br />
der Behindertenbeauftragte für<br />
die Stadt München, erfahren:<br />
„Ich habe mich immer für Niederflurbusse<br />
im öffentlichen<br />
Nahverkehr eingesetzt, hier<br />
erfolgreich zu sein, war anfangs<br />
schwierig. Aber dann gelang es<br />
uns, das Thema auch unter dem<br />
Gesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit<br />
zu transportieren.<br />
Wenige Stufen beim Einstieg<br />
heißt auch, dass die Menschen<br />
schneller zu- und aussteigen<br />
können und die Busse schneller<br />
abfahren. Das wiederum bedeutet,<br />
dass es auf einer Linie<br />
weniger Busse braucht – da ergaben<br />
sich plötzlich Allianzen,<br />
die unser Anliegen unterstützt<br />
haben.“<br />
Um in der Erfolgsspur zu<br />
bleiben, versammelten sich im<br />
September rund 150 Vertreter<br />
der Behindertenhilfe und
-selbsthilfe in Berlin zur Jubiläumstagung<br />
„10 Jahre 5. Mai“.<br />
Vernetzung war eines der zentralen<br />
Themen. Dabei wurde<br />
deutlich, dass sich ohne Absprache<br />
und gemeinsame Aktionen<br />
kein politischer Druck aufbauen<br />
lässt. Will man über die lokale<br />
Wahrnehmung hinaus bundesweite<br />
Aufmerksamkeit wecken,<br />
genügt es nicht, sein eigenes<br />
Süppchen zu kochen. Netze<br />
müssen geknüpft werden. <strong>Die</strong><br />
Aktiven in der Behindertenhilfe<br />
und -selbsthilfe verstehen dies<br />
allerdings nicht als Weckruf<br />
zur Schaffung neuer „Amigo“-<br />
Seilschaften, vielmehr wollen<br />
sie ein demokratieförderndes<br />
Geflecht von Beziehungen entstehen<br />
lassen. Denn Ute Böhnki,<br />
die Behindertenbeauftragte der<br />
Stadt Weimar, gibt zu bedenken:<br />
„Ich bin Heilerziehungspflegerin<br />
und kenne<br />
eine Menge Menschen<br />
mit Behinderungen, die<br />
ein wundervolles, selbstbestimmtes<br />
Leben haben.<br />
Traurig ist nur, dass viele<br />
Menschen von Anfang an<br />
unterfordert oder nicht als<br />
vollwertige Mitglieder dieser<br />
Gesellschaft angesehen<br />
werden. Ich bin der Meinung,<br />
dass Menschen mit<br />
Behinderung eine Bereicherung<br />
für jeden sein können.“<br />
Nicola heyn<br />
Schwerpunk t > Demokr atie Dezember 2008 9<br />
„Beim Aufbau von Netzwerken<br />
muss man darauf achten, nicht<br />
zu schnell in Abhängigkeiten<br />
– seien sie politisch, religiös<br />
oder wirtschaftlich – zu geraten.“<br />
Dennoch sei es ratsam,<br />
als Grenzgänger aufzutreten,<br />
dass heißt, verschiedene Gesellschafts-<br />
und Interessengruppen<br />
anzusprechen.<br />
Zukünftig wollen die Haupt-<br />
und Ehrenamtlichen der<br />
5. Mai-Bewegung verstärkt lokale<br />
Bündnisse mit Organisationen<br />
schließen, die aus anderer<br />
Perspektive an den selben<br />
Zielen arbeiten – zum Beispiel<br />
Seniorengruppen und Familienverbände.Überschneidungspunkte<br />
gibt es viele. <strong>Die</strong> Stufen<br />
vor dem Rathaus oder dem Kino<br />
stören eben nicht nur Menschen<br />
mit Behinderung, sondern auch<br />
„Es gibt bestimmte Schnittmengen,<br />
in denen sich alle<br />
Menschen ähneln, außerhalb<br />
dieser Schnittmengen<br />
gibt es eine ungeheure<br />
Vielfalt, in der sich die<br />
Menschen unterscheiden.<br />
<strong>Die</strong>se Unterscheidungen als<br />
inspirierend, reizvoll und<br />
gewinnbringend zu betrachten,<br />
ist die maßgebliche Herausforderung<br />
einer<br />
jeden Gesellschaft.“<br />
Peter Pichel<br />
3 die<strong>Gesellschafter</strong>.de<br />
„<strong>Die</strong> Leute sollen sich wehren“<br />
oswald Utz über mehr Rechte bei gleichzeitig schlechterer Versorgung mit hilfsmitteln<br />
<strong>Die</strong> gesetzlichen Rahmenbedingungen<br />
haben sich für<br />
Menschen mit Behinderung<br />
in den letzten Jahren verbessert.<br />
Andererseits beklagen<br />
Betroffene, dass die<br />
Bewilligung von Leistungen<br />
für Heil- und Hilfsmittel restriktiver<br />
geworden ist.<br />
herr Utz, stimmt es, dass<br />
es Schwierigkeiten bei der<br />
heil- und hilfsmittelversorgung<br />
gibt?<br />
Ja, das kann ich bestätigen.<br />
Ein großes Problem ist häufig<br />
die Prozedur, bis man den<br />
Bedarf nachgewiesen hat. Vor<br />
ein paar Jahren noch hat das<br />
niemanden interessiert. Warum<br />
jetzt? Mir drängt sich der<br />
Eindruck auf, dass von den<br />
Krankenkassen mehr Barri-<br />
Foto: Redaktion BB-M<br />
eren eingebaut werden, bis<br />
die Bedürftigen ans Ziel kommen.<br />
Manche Leute resignieren<br />
dann und sagen „kann ich<br />
nicht mehr, schaffe ich nicht<br />
mehr“. Ein anderes Problem<br />
stellt die mangelnde Wahlfreiheit<br />
bei den Hilfsmitteln dar.<br />
<strong>Die</strong> Krankenkassen schließen<br />
Verträge mit großen Herstel-<br />
oswald Utz, Behindertenbeauftragter<br />
der Stadt München<br />
ältere Bürger oder Eltern mit<br />
Kinderwagen.<br />
Wenngleich die gesetzlichen<br />
Rahmenbedingungen in den<br />
vergangenen Jahren durch<br />
die intensive Zusammenarbeit<br />
deutlich verbessert wurden,<br />
sind im Detail Verschlechterungen<br />
zu spüren. Anlass zur<br />
Sorge geben seit einiger Zeit beispielsweise<br />
die Bedingungen im<br />
Gesundheitswesen, vor allem<br />
im Bereich der Heil- und Hilfsmittelversorgung.<br />
Zwar sind<br />
die gesetzlichen Krankenkassen<br />
verpflichtet, zum Ausgleich<br />
einer Behinderung, entsprechende<br />
Hilfsmittel zu gewähren.<br />
In der Realität klagen<br />
Betroffene aber immer häufiger<br />
über Schwierigkeiten bei der<br />
Antragstellung und der Genehmigung<br />
von Hilfsmitteln.<br />
Foto: Peter hirth<br />
5. Mai 2008: In Leipzig demonstrierten 500 Menschen mit Behinderungen für ihre Rechte.<br />
lern von Hilfsmitteln wie zum<br />
Beispiel Elektro-Rollstühlen<br />
ab. <strong>Die</strong> Firmen sitzen aber oft<br />
ganz woanders als der Benutzer.<br />
Ist dann der Rolli defekt,<br />
warten die Menschen ewig, bis<br />
der Hersteller kommt, um eine<br />
Reparatur auszuführen, die<br />
noch unter die Garantie fällt.<br />
was raten Sie den Menschen,<br />
die auf solche<br />
Schwierigkeiten stoßen?<br />
Ich sage den Leuten, dass sie<br />
sich wehren sollen und gegenüber<br />
den Krankenkassen<br />
darauf bestehen sollen, das<br />
für sie geeignete Hilfsmittel zu<br />
bekommen. Notfalls müssen<br />
rechtliche Wege gegangen<br />
werden. Mein großer Wunsch<br />
an die Krankenkassen wäre,<br />
dass sie ganzheitlicher denken,<br />
5. MAI: gEMEINSAM ERFOLgREICH<br />
a „Niemand darf wegen sei- „In was für einer Gesellschaft<br />
ner Behinderung benach- wollen wir leben?“.<br />
teiligt werden“, heißt es a<strong>Der</strong><br />
5. Mai ist der Europäische<br />
in Artikel 3, Absatz 3, des Protesttag zur Gleichstellung<br />
Grundgesetzes. Stritten zu- von Menschen mit Behinvor<br />
verschiedene Initiativen derungen. <strong>Die</strong>ses Jahr ver-<br />
einzeln für die Umsetzung sammelten sich in Deutsch-<br />
im Alltag, sind es seit 1997 land mehr als 150.000<br />
über 100 Organisationen Menschen zu 354 Aktionen<br />
der Behindertenhilfe und für gleichberechtigte Teilha-<br />
-selbsthilfe in der von der be, Arbeit, Bildung und den<br />
Aktion Mensch ins Leben Abbau von Barrieren auf allen<br />
gerufenen „Aktion Grund- Ebenen. <strong>Die</strong> Aktion Mensch<br />
gesetz“ (AGG). <strong>Die</strong>se ging unterstützt die Veranstal-<br />
in der <strong>Gesellschafter</strong>-Initiatungen finanziell und durch<br />
tive auf. Seit 2006 steht das<br />
Engagement rund um den<br />
Materialien.<br />
5. Mai unter der Leitfrage Infos unter: dieGesellvon<br />
die<strong>Gesellschafter</strong>.de schafter.de/aktion/5mai/<br />
dass sie sagen, o.k. der Rollstuhl<br />
kostet jetzt zwar 100 €<br />
mehr, aber dafür ist dieser<br />
Mensch auch gut versorgt.<br />
Denn wenn er in einigen Jahren<br />
Wirbelsäulenprobleme bekommt,<br />
verursacht das viel höhere<br />
Kosten. <strong>Die</strong> Versorgung<br />
durch exklusive Vertragspartner<br />
der Krankenkassen, sprich<br />
Hilfsmittel nach Schema F, ist<br />
auf Dauer nicht unbedingt der<br />
kostengünstigste Weg.<br />
Sehen Sie Möglichkeiten,<br />
den widerspruch zwischen<br />
der verbesserten Gesetzeslage<br />
und der Problematik<br />
bei der Versorgung mit<br />
heil- und hilfsmitteln aufzulösen?<br />
Letztendlich ist es, wie so<br />
oft, eine Frage des Geldes.<br />
<strong>Die</strong> Menschen werden nun<br />
mal immer älter, immer mehr<br />
Menschen brauchen Hilfsmittel.<br />
<strong>Die</strong> Krankenkassen stehen<br />
jedes Jahr im Kreuzfeuer<br />
der Kritik. Beitragserhöhung<br />
wird verurteilt und gleichzeitig<br />
Leistungsausdehnung<br />
gefordert. Das ist der schwierige<br />
Spagat. <strong>Die</strong> Crux liegt<br />
bei den Menschen mit Behinderung<br />
und bei chronisch<br />
Kranken. Bei ihnen kommt<br />
die Problematik zuerst an.<br />
Für Leute, die in die Nähe<br />
der Sozialhilfe kommen oder<br />
sonstwie auf öffentliche Mittel<br />
angewiesen sind, ist es<br />
schwieriger geworden. Auch<br />
Menschen mit Behinderung<br />
sind inzwischen von Armut<br />
betroffen. Dagegen müssen<br />
wir etwas tun.
10 Dezember 2008<br />
Da hilft nur der 7. <strong>Sinn</strong>...<br />
Von Christian Schmitz<br />
Rund 80 Millionen Bundesbürger<br />
werden sie bekommen.<br />
Aber kaum jemand<br />
kennt ihre Risiken<br />
und Nebenwirkungen. Und<br />
obwohl die Einführung bereits<br />
mehrfach verschoben<br />
werden musste, findet eine<br />
öffentliche Debatte nur<br />
sporadisch statt. Trotzdem<br />
steht fest: <strong>Die</strong> elektronische<br />
Gesundheitskarte (eGK), die<br />
– so Bundesgesundheitsministerin<br />
Ulla Schmidt<br />
– „kleine schlaue Karte ...<br />
für mehr Qualität, mehr<br />
Sicherheit und mehr Effizienz<br />
im Gesundheitswesen“<br />
kommt. Nach neuesten Prognosen<br />
2009. Warum? <strong>Die</strong><br />
eGK gilt nicht nur als eines<br />
der größten IT-Projekte aller<br />
Zeiten, sie ist der Schlüssel<br />
zu einer neuen Welt.<br />
Wie diese Welt aussieht, darum<br />
wird zur Zeit heftig gerungen.<br />
Meist in Fachzirkeln. Es geht<br />
um Macht, Geld und sogar ein<br />
bisschen um die Patienten.<br />
Mitgestalten sollen letztere die<br />
neue Welt der elektronischen<br />
Gesundheitsversorgung aber<br />
offensichtlich nicht. Das ist<br />
Sache von Politikern, Beamten<br />
sowie Gesundheits- und Wirtschaftslobbyisten.<br />
Congress Center Essen im<br />
September 2008, Fachkongress<br />
„IT-Trends Medizin/<br />
Health Telematics“: 30 Aussteller<br />
drängen sich im Vor-<br />
Schwerpunk t > Demokr atie<br />
abseits öffentlicher Debatten führen Politik und Lobbyisten die elektronische Gesundheitskarte ein<br />
Grundsätzlich gehe<br />
ich als misstrauischer<br />
Mensch davon aus, dass<br />
der Staat über alle meine<br />
gehabten Wehwehchen<br />
bestens im Bilde ist, nur<br />
momentan nichts damit<br />
anzufangen weiß. Womöglich<br />
klappt der Abgleich<br />
zwischen den einzelnen<br />
Ämtern noch nicht so gut,<br />
denn die Ämter wollen sich<br />
natürlich gegeneinander abschotten.<br />
<strong>Die</strong> Ämterkonkurrenz<br />
ist der einzige Schutz<br />
des Bürgers beim Datensammeltrieb<br />
des Staates.<br />
P.P.<br />
3 die<strong>Gesellschafter</strong>.de<br />
raum des Vortragsaals „Ruhr“.<br />
Darunter bekannte Namen<br />
wie Siemens und T-Systems,<br />
die meisten aber nur Insidern<br />
bekannt und schwer zu buchstabieren.<br />
<strong>Die</strong> Branche liebt<br />
das Spiel mit Abkürzungen,<br />
Bindestrichen und einzelnen<br />
Buchstaben, die zusammengezogen<br />
Firmennamen wie<br />
vita-X, ComMed oder iSoft<br />
ergeben. <strong>Die</strong> Herren tragen<br />
einheitlich dunkles Tuch, die<br />
wenigen Damen bestenfalls<br />
einen bunten Tupfer dazu.<br />
Neben Visionen verkaufen sie<br />
Hard- und Software. Jeder<br />
sein eigenes Produkt. Nicht<br />
kompatibel mit dem einen<br />
Stand weiter. <strong>Der</strong> Kampf um<br />
die Lufthoheit bei der technischen<br />
Ausgestaltung der<br />
elektronischen Gesundheitsversorgung<br />
in Deutschland<br />
kennt keine für alle zugänglichen<br />
Schnittstellen.<br />
Mehr Zeit für Beratung<br />
und Behandlung<br />
<strong>Die</strong> Vorträge ein paar Meter<br />
weiter im Saal sollen verdeutlichen,<br />
dass die Patienten Nutznießer<br />
der eGK sind. Genau wie<br />
die vielen bunten Broschüren,<br />
mit denen die Lobbyisten seit<br />
Jahren für die Einführung<br />
trommeln. Über die eGK seien<br />
bald alle gesetzlich und privat<br />
versicherten Deutschen mit<br />
allen Arztpraxen, Apotheken<br />
und Krankenhäusern vernetzt.<br />
<strong>Die</strong> Karte selbst sei sicherer als<br />
die jetzige, erschwere Missbrauch<br />
zum Beispiel durch das<br />
Foto, vermeide „unnötige, patientenbelastendeDoppeluntersuchungen“<br />
und erleichtere<br />
die Abrechung. Mit einer PIN-<br />
Nummer erlaube der Betroffene<br />
dem Arzt den Zugriff auf<br />
seine elektronische Patientenakte<br />
(ePA), in der zum Beispiel<br />
Befunde, Arzt- und Entlassbriefe,<br />
Verlegungs- und OP-<br />
Berichte sowie Bilddokumente<br />
lagern. <strong>Der</strong> Arzt könne dann<br />
schneller auf alle wichtigen<br />
Untersuchungsergebnisse zugreifen,<br />
so dass anschließend<br />
mehr Zeit für Beratung und<br />
Behandlung bleibe.<br />
Quasi als Sahnehäubchen<br />
werden auf der eGK mit<br />
Zustimmung des Patienten<br />
Notfalldaten wie Allergien<br />
oder Medikamentenunverträglichkeiten<br />
gespeichert.<br />
Foto: Techniker krankenkasse<br />
ohne kartenleser geht in 120.000 arzt- und 55.000 Zahnarztpraxen bald fast gar nichts mehr.<br />
<strong>Die</strong>se Notfalldaten „können<br />
Leben retten“, versprechen<br />
die Verantwortlichen. „Umfragen<br />
belegen“, ließ sich<br />
Ulla Schmidts Staatssekretär<br />
Dr. Klaus Theo Schröder im<br />
Fachblatt PR Report zitieren,<br />
„dass die Mehrheit der Versicherten<br />
die Einführung der<br />
eGK befürworten. Auch die<br />
Bereitschaft, freiwillige Angaben<br />
wie Notfalldaten ... zu<br />
nutzen, ist groß.“<br />
Das hört sich im Saal „Ruhr“<br />
differenzierter an. In vielen Um-<br />
fragen wird der Öffentlichkeit<br />
offensichtlich eine eGK vorgegaukelt,<br />
die es so nicht gibt.<br />
Stichwort Notfalldaten:<br />
Auf Nachfrage räumt Ulf<br />
Göres <strong>vom</strong> Bundesverband<br />
der Betriebskrankenkassen<br />
(BKK) ein, dass die Befragten<br />
wahrscheinlich im Glauben<br />
geantwortet hätten, dass ihre<br />
Notfalldaten im Notfall auch<br />
wirklich zum Einsatz kämen.<br />
Doch herrscht Konsens, dass<br />
die Daten in absehbarer Zeit<br />
zum Beispiel <strong>vom</strong> Notarztwagen<br />
aus gar nicht eingesehen<br />
werden können. Dazu bleibt<br />
das Problem, wie ein wirklich<br />
schwer verletzter oder tod-<br />
kranker Mensch seine Zustimmung<br />
per PIN eingeben soll.<br />
Stichwort zentrale Datenspeicherung:<br />
Göres räumt<br />
weiter ein, dass die meisten<br />
Menschen in Deutschland<br />
wahrscheinlich davon ausgingen,<br />
dass ihre Daten auf<br />
dem Chip und nicht auf einem<br />
zentralen Server gespeichert<br />
seien. Ein Teilnehmer berichtet<br />
von einer anderen Umfra-<br />
ge, nach der erst 5,3 Prozent<br />
der Befragten davon gehört<br />
hätten, dass die künftigen<br />
Patientenakten zentral und<br />
webbasiert seien.<br />
An der zentralen Speicherung<br />
setzt die Kritik der<br />
meisten Gegner der eGK an.<br />
Aktionsbündnisse wie „Stoppt<br />
die e-Card“ oder der Freie<br />
Verband Deutscher Zahnärzte<br />
warnen, die Gesundheitsdaten<br />
von über 80 Millionen Bürgern<br />
seien ein interessanter Datenpool<br />
für kriminelle Hacker,<br />
die die Daten dann illegal verkaufen<br />
würden. Vereinfacht<br />
zu Ende gedacht: Müssen 80<br />
Millionen Versicherte demnächst<br />
nach einem Besuch<br />
beim Augenarzt permanenten<br />
Werbeterror zum Beispiel von<br />
Brillenherstellern fürchten?
Dass diese Frage keine<br />
Science Fiction ist, zeigen<br />
nicht nur Berichte über gestohlene<br />
bzw. missbrauchte<br />
Kundendaten von Banken<br />
und Kommunikationsunternehmen.<br />
<strong>Die</strong> Deutsche Angestellten<br />
Krankenkasse (DAK)<br />
beispielsweise wurde mit dem<br />
Big-Brother-Award 2008 ausgezeichnet,<br />
weil sie 200.000<br />
Datensätze chronisch Kranker<br />
an eine US-Firma weitergab,<br />
die die Versicherten dann per<br />
Telefon für jeweils auf die<br />
Erkrankung zugeschnittene<br />
Betreuungsprogramme gewinnen<br />
wollte.<br />
<strong>Die</strong> Entwicklung<br />
„bahnt den Weg für<br />
neue, heute zu denken<br />
infame Geschäftsmodelle und<br />
Geschäftspraktiken, in deren<br />
Kontext die Debatte um gläserne<br />
Patienten und Menschen<br />
als schiere Risiken nachgerade<br />
lächerlich erscheint“,<br />
blickt der PR-Report<br />
in die Zukunft.<br />
Und der Präsident der<br />
Freien Ärzteschaft, Martin<br />
Grauduszus, fragte in einer<br />
Rede: „Wie lange werden<br />
die Daten auf Servern<br />
sicher sein? Wann<br />
werden die patientenbezogenen<br />
Informationen<br />
durch das Internet kursieren?<br />
Kleine Gesetzesänderungen<br />
reichen und der Staatsapparat<br />
hat Zugriff. Begehrlichkeiten<br />
auf diese Informationen gibt<br />
es viele – zum Beispiel von<br />
Versicherungen und Arbeitgebern!“<br />
Allen Gegnern ist das Beispiel<br />
Lkw-Maut noch gut im<br />
Gedächtnis: Durch Änderung<br />
des Rechtsrahmens werden<br />
nicht nur Lkw-, sondern auch<br />
Schwerpunk t > Demokr atie<br />
Pkw-Bewegungen erfasst.<br />
Und niemand bestreitet mehr<br />
ernsthaft, dass die Polizei diese<br />
Daten auch zu Fahndungszwecken<br />
nutzt.<br />
Entsprechend fuhr Ex-<br />
Bundesjustizministerin Sa-<br />
bine Leutheusser-Schnarren-<br />
berger in der Leipziger Volkszeitung<br />
schweres<br />
Geschütz auf: „<strong>Die</strong><br />
elektronische<br />
Gesund-<br />
heitskarte wird den größten<br />
Datenberg aller Zeiten bringen<br />
mit personenbezogenen Daten,<br />
wie sie persönlicher nicht sein<br />
können.“ Es sei ein „Projekt, bei<br />
dem die Missbrauchsgefahr gigantisch“<br />
sei. Das Volk ermutig-<br />
te sie zu zivilem Ungehorsam<br />
– zum Beispiel das Passfoto zu<br />
verweigern.<br />
INVESTITIONEN IN MILLIARDENHöHE<br />
aDass es bei der Einfüh- tenpunkt rund 1800 Euro<br />
rung der elektronischen pro Stück. Macht allein<br />
Gesundheitskarte um ein Investitionsvolumen<br />
Investitionen in Milliar- von über 380 Millionen<br />
denhöhe geht, macht der Euro. Dazu kommen Ko-<br />
Fachkongress „IT-Trends sten für die Plastikkarte<br />
Medizin / Health Telema- mit Passfoto und Mikrotics“<br />
deutlich. Rund 650 prozessorchip, Computer,<br />
Entscheider sind anwesend Scanner, Datenlesegeräte,<br />
und sprechen offen. Wenn Netzwerke, Mitarbeiter<br />
die eGK eingeführt ist, und <strong>Die</strong>nstleister, Ausbraucht<br />
zum Beispiel jede und Fortbildungen...<br />
der rund 123.000 Arzt- und aGingen<br />
die Planer 2004<br />
65.000 Zahnarztpraxen, noch von einem Volumen<br />
21.000 Apotheken und von 1,4 Mrd. Euro aus,<br />
2200 Krankenhäuser in sprachen die Unterneh-<br />
Deutschland einen sogemensberater von Booz,<br />
nannten Konnektor, der die Allen Hamilton 2006 be-<br />
Daten verschlüsselt. Kosreits von 7 Mrd. Euro.<br />
Auch der 111. Deutsche<br />
Ärztetag im Mai lehnte die<br />
eGK zum wiederholten Male<br />
ab. Das bestehende Konzept<br />
sei eine Gefahr für die ärztliche<br />
Schweigepflicht und die<br />
vertrauensvolle Beziehung<br />
zwischen Arzt und Patienten.<br />
Es müssten Alternativen zur<br />
zentralen Speicherung der<br />
Daten erprobt werden.<br />
<strong>Die</strong>se Alternativen<br />
gibt es.<br />
Eine beschreibt im Saal „Ruhr“<br />
Dr. Harald Sondhof von der Firma<br />
careon: die elektronische<br />
Gesundheitsakte (eGA), ein<br />
Speichermedium, auf dem der<br />
Patient bislang zum Beispiel<br />
im Rahmen des persönlichen<br />
Gesundheitsmanagement<br />
ausschließlich selbsterhobene<br />
Daten wie Blutzucker- oder<br />
Gerinnungswerte verwaltet.<br />
Elektronische Gesundheitsakten<br />
gibt es sowohl im Internet<br />
als auch zum Beispiel als<br />
USB-Stick, der im Bedarfsfall<br />
an den Computer angeschlossen<br />
wird.<br />
Viele Ärzte drangen daher<br />
seit langem auf Tests mit<br />
einer Kombination aus eGA<br />
und ePA, die der Patient mit<br />
sich führt. <strong>Die</strong>s könne die<br />
meisten Sicherheitsbedenken<br />
auf einen Schlag entkräften.<br />
Ende Oktober nahm die <strong>Gesellschafter</strong>versammlung<br />
der<br />
gematik – der Organisation<br />
der Spitzen des deutschen Gesundheitswesens<br />
zur Einführung<br />
der eGK – die Anregung<br />
der Ärzte an, Speichermedien<br />
in der Hand des Versicherten<br />
– wie USB-Sticks – in nächster<br />
Zeit wenigstens zu erproben.<br />
Doch ist die Frage, ob die<br />
eGK der Schlüssel zur elektronischen<br />
Gesundheitsakte<br />
oder zur elektronischen Patientenakte<br />
wird, nicht nur<br />
eine des Patientenwohls und<br />
der Datensicherheit, sondern<br />
auch eine Frage der Macht und<br />
des Geldes. Geschäftsmodelle<br />
à la DAK funktionieren nur<br />
bei zentraler Verfügbarkeit<br />
aller Daten. <strong>Der</strong> Chaos Computer<br />
Club fragte als erster öffentlich,<br />
ob solche<br />
Geschäftsmodelle<br />
nicht von Beginn an zur Refinanzierung<br />
der Investitionen<br />
geplant gewesen seien.<br />
Auch im Saal „Ruhr“ empfiehlt<br />
BKK-Mann Göres mögliche<br />
„Mehrwertdienste“ rund<br />
um die eGK. Sein einziger konkreter<br />
Vorschlag bleibt bescheiden.<br />
Ein „eKiosk“, wie es ihn<br />
bereits in Japan gebe. Eine Art<br />
öffentliches Lesegerät, an dem<br />
der Versicherte seine Daten<br />
einsehen und – eingeschränkt<br />
– auch verwalten könne.<br />
Entsprechend fühlen sich<br />
Ärzte wie Martin Grauduszus<br />
hintergangen: „Seit Jahren<br />
haben der Staat und die<br />
Krankenkassen die Bevölkerung<br />
falsch informiert.“ Es<br />
sei nie beabsichtigt gewesen,<br />
sämtliche Patientendaten auf<br />
der eGK zu speichern. „Hier<br />
wurden und werden Bürger<br />
und Ärzte systematisch getäuscht.“<br />
<strong>Der</strong> Staat betreibe<br />
vielmehr Akzeptanzmarketing<br />
für ein neues industrielles<br />
Geschäftsfeld. „Patientendaten<br />
sollen kontrolliert<br />
und Patientenströme sollen<br />
geleitet werden. <strong>Die</strong> Industrie<br />
– sowohl die IT-Industrie<br />
als auch die Gesundheitsindustrie<br />
– steht in den Startlöchern,<br />
um die bewährte<br />
Dezember 2008 11<br />
Gesundheitsversorgung in<br />
eine Gesundheitswirtschaft<br />
zu überführen.“<br />
Das hehre Ziel, die Patienten<br />
zu überzeugen, noch vor Augen<br />
wunderte sich der PR Report,<br />
warum das Bundesgesundheitsministerium<br />
den Dialog mit<br />
der Öffentlichkeit weitgehend<br />
eingestellt und den PR-Etat<br />
umverteilt habe. <strong>Die</strong> Verantwortlichen<br />
seien letztlich selbst<br />
schuld, wenn nur die Kritiker<br />
des Projektes mit Datenschutzbedenken<br />
und<br />
technischen Problemen in<br />
den Medien präsent seien. Das<br />
Blatt macht mangelndes Feingefühl<br />
verantwortlich: Es sei oft<br />
zu beobachten, „dass in technisch<br />
getriebenen Projekten<br />
die kommunikativen Herausforderungen<br />
unterschätzt oder<br />
als sekundär gegenüber den<br />
technischen Fragen erachtet<br />
würden.“<br />
Ein anderer Denkansatz<br />
wird im Saal<br />
„Ruhr“ deutlich. Mit den<br />
Patienten zu sprechen, ist den<br />
Verantwortlichen viel zu umständlich<br />
und unsicher. „<strong>Die</strong><br />
Ärzte spielen die Schlüsselrolle<br />
für die Akzeptanz beim Patienten“,<br />
erläutert Ministerialdirigent<br />
a.D. Dr. Manfred Zipperer,<br />
zugleich Aufsichtsratsvorsitzender<br />
des<br />
gastgebenden Zentrums<br />
für Telematik im Gesundheitswesen.<br />
Da beim erwähnten<br />
Ärztetag zunächst eine „Sportpalastatmosphäre<br />
gegen die<br />
Karte“ geherrscht habe, führt<br />
Dr. Franz-Joseph Bartmann<br />
von der Bundesärztekammer<br />
aus, müsse den Ärzten nun<br />
der indirekte Nutzen erkennbar<br />
gemacht und die eGK als<br />
Qualitätsmerkmal einer auf<br />
der Höhe der Zeit befindlichen<br />
Gesundheitsversorgung vermarktet<br />
werden. Für die Öffentlichkeit<br />
bräuchte man dann<br />
„eine Fernsehsendung wie der<br />
7. <strong>Sinn</strong>“, schließt Zipperer.<br />
Ob die Mittel, die den Autofahrern<br />
vor Jahrzehnten den<br />
Sicherheitsgurt nahe brachten,<br />
auch heute geeignet sind, den<br />
Menschen die eGK schmackhaft<br />
zu machen, bleibt undiskutiert.<br />
Breiten Raum dagegen<br />
nimmt im Saal „Ruhr“ die<br />
Suche nach der Antwort auf<br />
die Frage ein, warum erste<br />
Testläufe der eGK gescheitert<br />
sind. In einer Testregion zum<br />
Beispiel wurde der Einsatz<br />
abgebrochen, weil sich die<br />
Patienten die sechsstellige PIN-<br />
Nummer nicht merken konnten.<br />
Oder wollten? Schließlich<br />
hat sie ja auch keiner gefragt...
12 Dezember 2008<br />
hildegard hamm-Brücher hat die Bundesrepublik politisch maßgeblich mitgestaltet<br />
Von Norbert Schreiber<br />
Beharrlich hatte ich ein<br />
Jahr lang die „Lady der<br />
Liberalen“ mit meinem Interviewwunsch<br />
genervt: Gerade<br />
hatte Hildegard Hamm-<br />
Brücher Bonn verlassen,<br />
um in München 1970 den<br />
Fraktionsvorsitz der FDP im<br />
Bayerischen Landtag als ers-<br />
te Frau in einer solchen Position<br />
anzunehmen. Gerade<br />
war sie auch aus China von<br />
einer Bildungsreise zurückgekehrt.<br />
Genug Gründe also<br />
für eine Sendung im damaligen<br />
Popsender SWF 3. Eine<br />
„Mittwochsparty“ sollte ich<br />
mit ihr moderieren.<br />
Hildegard Hamm-Brücher<br />
war schon damals ein prominenter,<br />
gern gesehener Studiogast.<br />
Als die dreistündige<br />
Sendung zu Ende war, hatte<br />
ich einen neuen Job. Ich wurde<br />
ihr persönlicher Assistent<br />
und Wahlkampfleiter. Vom<br />
Fleck weg engagiert. Meine<br />
Beharrlichkeit hatte sie offenbar<br />
überzeugt. So ist sie eben:<br />
spontan, auf Menschen zugehend,<br />
ohne irgendwelche Vorurteile,<br />
immer charmant und<br />
sehr experimentierfreudig.<br />
Politische Freunde und enge<br />
Mitarbeiter wählen den<br />
Kürzel-Namen „HB“, wenn<br />
sie von Dr. Hildegard Hamm-<br />
Brücher reden.<br />
<strong>Die</strong> Schlüsselgeschichte<br />
ihres Lebens erzählt sie gerne<br />
selbst: Als achtjähriges Mädchen<br />
steht „HB“ im Berliner<br />
Familienschwimmbad „Krumme<br />
Lanke“ auf dem Zehnmeter-Brett<br />
vor den kritischen<br />
Schwerpunk t > Demokr atie<br />
Deutschlands „Grande Dame“<br />
Fotos: Picture alliance<br />
MORAL IN DER pOLITIK<br />
<strong>Die</strong> „Grande Dame der Politik“, hildegard hamm-Brücher 2007 bei einem Fernsehauftritt in Berlin.<br />
Augen ihres Vaters und zögert.<br />
Soll sie sich wirklich beherzt<br />
in die Tiefe des Schwimmbeckens<br />
stürzen? Nach einigen<br />
Zweifeln und der Angst, sich<br />
zu blamieren, wagt sie den<br />
mutigen Sprung: „Ich hielt mir<br />
nicht einmal die Nase zu.“<br />
Ehrgeiz, Zivilcourage und<br />
Mut, gepaart mit Bescheidenheit,<br />
Liebe zum politischen<br />
und gesellschaftlichen Engagement<br />
und einer gehörigen Portion<br />
an preußischen Tugenden,<br />
das ist der Eigenschaftskatalog,<br />
um die populäre Charak-<br />
aAls Helmut Kohl 1982 das finde, dass beide dies<br />
Misstrauensvotum gegen nicht verdient haben:<br />
die sozial-liberale Regie- Helmut Schmidt ohne<br />
rung Helmut Schmidt Wählervotum gestürzt zu<br />
wagt, stimmt Hildegard werden, und Sie, Helmut<br />
Hamm-Brücher aus<br />
Kohl, ohne Wählervo-<br />
grundsätzlich demokratum zur Kanzlerschaft<br />
tischen Motiven nicht zu. zu gelangen. Zweifellos<br />
Sie hält damals im Bun- sind die beiden sich bedestag,<br />
dem sie von 1976 dingenden Vorgänge ver-<br />
bis 1990 angehörte, eine fassungskonform. Aber<br />
aufsehenerregende Rede sie haben nach meinem<br />
über die Gewissensfrei- Empfinden doch das Odiheit<br />
der Abgeordneten. um des verletzten demo-<br />
Ihr Kernsatz lautete: „Ich kratischen Anstands.“<br />
terfigur der deutschen Politik<br />
näher zu beschreiben. Und vor<br />
allem anderen hat sie eben immer<br />
diese Unerschrockenheit<br />
zum Sprung ins Ungewisse<br />
bewiesen.<br />
Aus den Irrtümern<br />
der Nazizeit gelernt<br />
Spartanisch in der Zeit nach<br />
dem 1. Weltkrieg aufgewachsen<br />
(zur Abhärtung gab‘s<br />
feuchtkalte Tücher und Zitronensaft<br />
im Eierbecher),<br />
erlebt sie die Nazizeit („<strong>Der</strong><br />
Führerkult gefiel mir nicht“)<br />
und die Wirren nach dem<br />
2. Weltkrieg und den politischen<br />
Neubeginn nach den<br />
Traumata der Nazi-Diktatur.<br />
Im weiteren Kreis um die<br />
Geschwister Scholl hatte Dr.<br />
Hildegard Hamm-Brücher erleben<br />
müssen, wie der Kampf<br />
für die Freiheit im Widerstand<br />
gegen Hitler eben auf<br />
dem Schafott endete. Noch<br />
heute ist ihre feste Überzeugung:<br />
„Wir haben aus unseren<br />
Irrtümern gelernt. Aber<br />
noch nicht ausgelernt.“ <strong>Der</strong><br />
Opfertod der Widerständler<br />
prägte sie sehr stark für ihr<br />
künftiges politisches Leben.<br />
Er wurde geradezu zu einer<br />
Selbstverpflichtung für sie,<br />
zum Auftrag an eine junge<br />
Demokratin.<br />
Zu ihrer Konfirmation<br />
wünscht sich das hübsche, etwas<br />
scheue Mädchen ein Faltboot<br />
statt Schmuck, sie tauft es<br />
auf den Namen „Carpe diem“.<br />
Und sie bekommt als Geschenk<br />
eine neue Gefährtin mit dem<br />
Namen „Erika“. Auf ihr tippt<br />
sie künftig alles eigenhändig,<br />
was von „HB“ als Rede oder<br />
Buch erscheinen wird. Das<br />
Wasser und die Worte, das sind<br />
ihre Lebens-Elixiere und als<br />
passendes Motto dazu: Nutze<br />
den Tag.<br />
<strong>Die</strong> Brücher-Kinder verlieren<br />
beide Elternteile. Vater Paul<br />
starb an einer unentdeckten<br />
Blinddarmentzündung. Mutter<br />
Lilly elf Monate später an einem<br />
inoperablen Gehirntumor. Und<br />
so wachsen sie zunächst bei der<br />
Großmutter in Dresden auf. Ihren<br />
Lebensmut und Ratschläge<br />
bezieht sie von „Ömchen“, der<br />
Großmutter: „Du musst ein<br />
Ziel haben. Es nicht verstecken.<br />
Wenn nötig auch alleine<br />
dafür einstehen.“ Angesichts<br />
der drohenden KZ-Deportation<br />
nach Theresienstadt wählt<br />
sie den Freitod. <strong>Die</strong> Brücher-<br />
Geschwister kommen ins In-<br />
ternat nach Salem. Mit elf<br />
Jahren war Hildegard Hamm-<br />
Brücher also Vollwaise.<br />
Erich Kästner, der erfolgreiche<br />
Kinderbuchautor und<br />
Feuilletonchef der Neuen<br />
Zeitung in München, lehrt<br />
sie in der Nachkriegszeit<br />
zeitungsgerecht zu schreiben<br />
und erfindet als Freund<br />
liebevolle Spitznamen für die<br />
Kollegin Dr. Hildegard Hamm-<br />
Brücher: Hilde-„Gardinchen“<br />
oder Hilde-„Vorgärtchen“. Er<br />
lockt sie zur freien Mitarbeit<br />
in die „Neue Zeitung“. Sie<br />
wird Wissenschaftsreportagen<br />
schreiben und schließt<br />
dennoch ihr Chemiestudium<br />
als Heisenberg-Schülerin bei<br />
Prof. Heinrich Wieland ab.<br />
Nach einem Interview mit<br />
Theodor Heuss folgt sie seiner<br />
Aufforderung: “Mädle, Sie<br />
müsset in die Politik.“<br />
<strong>Die</strong> „Grande Dame“ der<br />
deutschen Demokratie tummelt<br />
sich zuerst im Münchner<br />
Stadtparlament als junge aufrechte<br />
Demokratin und engagierte<br />
Frauenrechtlerin. Sie<br />
Mit ihrem<br />
Parteifreund<br />
hans- <strong>Die</strong>trich<br />
Genscher, mit<br />
dem sie 1982<br />
wegen der wende zeitweise<br />
überkreuz lag, ist sie nach<br />
einer aussprache wieder im<br />
Reinen: „<strong>Der</strong> ist so geistesgegenwärtig,<br />
dass er an zehn<br />
Schachbrettern gleichzeitig<br />
spielen kann.“<br />
kämpft sich im Bayerischen<br />
Landtag und Bundestag mit<br />
Reden, Interviews, Initiativen<br />
und ihren zahllosen Publikationen<br />
in die erste Reihe<br />
deutscher Parlamentarier.<br />
„HB“ bringt Streitschriften<br />
und Reformen auf den Weg.<br />
Als Politikerin, Protestantin,<br />
Preußin ist das höchste Gut<br />
für sie: Moral in der Politik.<br />
Und sie liest den gegnerischen<br />
Parteien und den eigenen<br />
Liberalen heftig und gerne<br />
die Leviten, wenn Heuchelei,<br />
Parteigeklüngel oder Männer-Schau-Machtkämpfe<br />
die<br />
guten Polit-Sitten verderben.<br />
Sie ist eine fleißige Kirchgängerin<br />
mit großem Gottvertrauen,<br />
eine protestantische<br />
Rebellin im schicken Kostüm,
immer perfekt frisiert, nie aus<br />
der Rolle fallend, das derbe<br />
„Aufeinanderherumhacken“<br />
im politischen Alltagsgeschäft<br />
liegt ihr ganz und gar nicht.<br />
Sie kämpft mit Florett, nicht<br />
mit Säbel.<br />
Sie streitet in einem von ihr<br />
mitgetragenen Volksbegehren<br />
„Rundfunkfreiheit in Bayern“<br />
für das „partei- und staatsfreie“<br />
Radio, setzt durch,<br />
dass Buben und Mädchen in<br />
gemeinsamen Schulklassen<br />
erzogen werden, stürzt sich<br />
in Wahlkämpfe gegen Franz<br />
Josef Strauß. Er schimpft<br />
sie „Krampfhenne“. Sie führt<br />
Wahl- und Polit-Kampagnen<br />
schon in den sechziger Jahren<br />
„bürgernah“ auf dem Fahrrad,<br />
im Stadtviertel, mit Hausparties<br />
und Infoständen.<br />
Für mehr Bildung und<br />
lebenslanges Lernen<br />
Sie bereist die pädagogischen<br />
Provinzen im In- und Ausland<br />
und wird zur Prophetin<br />
der „Bildungskatastrophe“ in<br />
Deutschland. Sie fördert die<br />
Entrümpelung der veralteten<br />
Schulbücher, kämpft gegen<br />
konservative Lehrmeinungen<br />
an den Hochschulen und<br />
bringt die Gesamtschulversuche<br />
auf den Weg. Ihr bildungspolitisches<br />
lebenslanges<br />
Credo: „<strong>Die</strong> Schule der Demokratie<br />
ist die Schule“.<br />
Dr. Hildegard Hamm-Brücher<br />
startet als eine der ersten<br />
Bildungspolitiker Informationsreisen<br />
durch die damals<br />
noch existierende Sowjet-<br />
union und durchs kommunistische<br />
China, denn auch für<br />
sich selbst formuliert sie den<br />
Anspruch auf „lebenslanges<br />
Lernen“.<br />
<strong>Die</strong> drohende Bildungskatas-<br />
trophe hat sie früh erkannt,<br />
aber die politischen Mittel<br />
1967<br />
Schwerpunk t > Demokr atie<br />
und Partner fehlten ihr, um<br />
tiefgreifende Veränderungen<br />
auf den Weg zu bringen, merkt<br />
sie selbstkritisch an.<br />
Auf unzähligen Reisen als<br />
stellvertretende Außenministerin<br />
prägt sie die auswärtige<br />
Kulturpolitik, erhöht Kulturtats,<br />
fördert das Goetheinstitut<br />
und konferiert mit den<br />
Großen dieser Welt: Jimmy<br />
Carter, Ronald Reagan, Indira<br />
Ghandi, Golda Meir,<br />
Michail Gorbatschow, Václav<br />
Havel und Papst Johannes<br />
Paul II.<br />
Nur mit ihr konnte es mir<br />
1978 gelingen, zum ersten und<br />
einzigen Male die Verfassungsorgane<br />
der Bundesrepublik, damals<br />
Bundespräsident Walter<br />
Scheel, Bundestagspräsident<br />
Karl Carstens, Bundeskanzler<br />
Helmut Schmidt und Bundesverfassungsgerichtspräsident<br />
Ernst Benda<br />
an einen Tisch<br />
zu holen, um<br />
sie mit dem<br />
S o u v e r ä n ,<br />
dem Volk,<br />
drei Tage über<br />
die Zukunft<br />
der Demokratiediskutieren<br />
zu lassen.<br />
Erstmalig und<br />
einmalig in<br />
der Geschichte<br />
der Bundesrepublik.<br />
Von ARD und<br />
ZDF in Sondersendungen<br />
über t ragen.<br />
Das Neue, das<br />
Überraschende, das Unvorhergesehene,<br />
das reizt sie.<br />
In der Zeit, als ich ihr<br />
persönlicher Assistent war,<br />
sollten wir sie zur Außenministerkonferenz<br />
auf den<br />
Bonner Petersberg begleiten.<br />
Es stand kein anderes Fahr-<br />
Bei einer Münchner Demonstration für bessere Bildungspolitik.<br />
zeug zur Verfügung als eine<br />
kleine rote Citröen-„Ente“. Sie<br />
stieg, ohne eine Sekunde zu<br />
zögern, in den Blechkasten<br />
ein und wir fuhren zwischen<br />
schwarzen, chromblitzenden<br />
Luxus-Staatskarossen im<br />
„Studenten-Mercedes“ ohne<br />
Stander vor.<br />
Als ein Arzt sie vor einiger<br />
Zeit rücksichtslos mit dem<br />
Mountainbike an der Ampel<br />
über den Haufen fährt, verzichtet<br />
sie auf eine Anzeige<br />
und beweist für den Raser Verständnis.<br />
Als werdender Vater<br />
unterwegs in die Geburtsklinik<br />
hatte der den <strong>Sinn</strong> für Tempolimits<br />
völlig verloren. Verständnis<br />
für andere, Bescheidenheit<br />
und ihre sprichwörtliche<br />
Sparsamkeit zeichnen sie aus:<br />
Luxus oder Effekthascherei<br />
oder gar Imponiergehabe sind<br />
nicht ihre Welt.<br />
1982<br />
Bei ihrer Rede zum Bonner Regierungswechsel im Bundestag.<br />
<strong>Die</strong> Politikerin, die stets Farbe<br />
bekennt, mag am liebsten<br />
die schlichten weißen Töne<br />
in ihrer Eigentumswohnung,<br />
in der sie gastfreundlich im<br />
ruhigen Prominentenviertel<br />
Harlaching in München lebt.<br />
Dort serviert sie Gästen gerne<br />
höchstpersönlich Weißwurstfrühstück<br />
oder lädt sie in<br />
den benachbarten Münchner<br />
Biergarten zum „Haxn-Essen“<br />
ein. Dabei ist ihr der urigbayerische<br />
Lebensstil immer<br />
fremd geblieben, der Preußin<br />
mit Haltung. „Das Hinterfotzige<br />
fehlt mir“, das Lederhosen-Bayern<br />
war nie ihr Ding,<br />
eher schon der Laptop. Im<br />
hohen Alter buchte sie Computerkurse<br />
und ließ sich das<br />
Surfen im Internet und das<br />
Mailen beibringen. War nicht<br />
sie es, die schon immer das<br />
lebenslange Lernen forderte?<br />
Sie ist identisch mit dem,<br />
was sie fordert, und löst es<br />
selbst ein.<br />
1994<br />
Ihre Beziehung zur FDP ist<br />
„keine Liebesgeschichte“, sondern<br />
eine „starke Beziehung“.<br />
Als der FDP unter Möllemann<br />
ein Rechtsruck droht und<br />
die „Spaßgesellschaft“<br />
um<br />
sich greift, tritt<br />
sie aus Protest<br />
aus der liberalen<br />
Partei<br />
aus: „Ich lebe<br />
angstfrei und<br />
in politischer<br />
und geistiger<br />
Freiheit. Das<br />
erlebe ich immer<br />
wieder als<br />
ein kostbares<br />
Geschenk.“<br />
Als politischer„Querkopf“<br />
stößt sie<br />
auch andere<br />
vor den Kopf,<br />
aber nie aus<br />
persönlichen Gründen, es geht<br />
ihr immer um den Inhalt und<br />
die Sache an sich, für die sie<br />
kämpft: zum Beispiel für die<br />
Demokratie, die Gewissensfreiheit<br />
des Abgeordneten und<br />
gegen den Rechtsradikalismus.<br />
Mancher Politkollege nennt sie<br />
Dezember 2008 1<br />
Mit Richard von weizsäcker und helmut Schmidt in Stuttgart.<br />
eine „Nervensäge“; weil sie eben<br />
sehr beharrlich sein kann.<br />
Ihre Kraft für Politik bezieht<br />
sie aus der ihr eigenen Robustheit,<br />
wirklicher Lebensfreude<br />
und praktizierter Menschenliebe.<br />
Eine ehrliche und glaubwürdige<br />
Politkerin, die sich<br />
nicht durch den politischen<br />
Betrieb hat verbiegen lassen.<br />
Über ihren<br />
politischen<br />
Freund und<br />
kollegen<br />
helmut<br />
Schmidt sagt sie bewundernd:<br />
„Er konnte sehr gut<br />
zuhören, und ausgesessen<br />
hat er Probleme nie.“<br />
Und immer noch sucht sie nach<br />
den kleinen Utopien: „Willst<br />
du ein glückliches Leben, verbinde<br />
es mit einem Ziel.“<br />
Zwei Ziele hat sie nicht<br />
erreicht, als Kind wäre sie<br />
gerne Karussellbesitzerin<br />
oder Schwimmweltmeisterin<br />
geworden.<br />
Man erreicht eben nicht<br />
alle Ziele im Leben und in der<br />
Politik genausowenig.<br />
gEgEN DIE „SpASSgESELLSCHAFT“<br />
a1948 wird die 1921 in terium und als Staatsmi-<br />
Essen geborene Hildegard nisterin im Auswärtigen<br />
Hamm-Brücher jüngste Amt. 1994 kandidiert sie<br />
Abgeordnete im Münch- als erste Frau für das Amt<br />
ner Stadtrat. 22 Jahre des Bundespräsidenten.<br />
ist die FDP-Politikerin 2002 tritt sie als Stellver-<br />
Mitglied des Bayerischen tretendeBundesvorsitzen- Landtages – davon sechs de der Liberalen wegen<br />
Jahre als erste weibliche Möllemanns und Wester-<br />
Fraktionsvorsitzende. 14 welles„Spaßgesellschafts- Jahre ist sie Mitglied im politik“ aus der FDP aus.<br />
Deutschen Bundestag. Sie <strong>Die</strong> streitbare Liberale<br />
arbeitet unter anderem kämpfte beharrlich für die<br />
als Staatssekretärin im Parlamentsreform und die<br />
hessischen Kultusminis- Rechte der Abgeordneten.
16 Dezember 2008<br />
Vertrauen in die Weisheit der Massen<br />
wider die Politikverdrossenheit – mit Instrumenten direkter Demokratie politisch aktiv werden<br />
Von Ursula Mense<br />
Immer weniger Menschen<br />
gehen zur Wahl. Den Parteien<br />
fehlt der Nachwuchs.<br />
Viele Menschen haben<br />
den Eindruck, dass „die<br />
da oben“ sowieso machen,<br />
was sie wollen. Dabei gibt<br />
es viele Möglichkeiten, politisch<br />
aktiv zu werden – und<br />
Einfluss zu nehmen. Auch<br />
jenseits der etablierten Parteien.<br />
Im bayerischen Sinzing hat<br />
man das Jahr 1994 bis heute<br />
nicht vergessen. Ganz besonders<br />
nicht „Am Reißbrunnen“.<br />
Denn was dort als Interessengemeinschaft<br />
begann und<br />
schließlich in ein erfolgreiches<br />
Bürgerbegehren mündete, ist<br />
ein Lehrstück in Sachen „direkte<br />
Demokratie“ und markiert<br />
gleichzeitig die Geburtsstunde<br />
einer neuen Ära.<br />
Angefangen hatte alles damit,<br />
dass die Gemeinde Sinzing<br />
zwei kleine Straßen<br />
ausbauen lassen wollte. Und<br />
weil sie die veranschlagten 1,2<br />
Millionen Mark nicht allein<br />
aufbringen wollte, sollte mal<br />
eben jeder Anwohner 40.000<br />
Mark beisteuern. Wer dazu<br />
nicht in der Lage war, dem<br />
riet einfühlsam ein Gemeinderatsmitglied<br />
seine „Hütt´n“<br />
zu „verkaffa“.<br />
Nach der ersten Bürgerversammlung<br />
der aufgebrachten<br />
Anwohner entstand schnell<br />
Schwerpunk t > Demokr atie<br />
Vor dem Berliner Reichstag, seit 1999 Sitz des Bundestages, stehen zwar viele Bürger Schlange, doch die wahllokale werden leerer.<br />
eine Bürgerinitiative mit dem<br />
Ziel, der Verwaltung teure und<br />
unnötige Veränderungen auszureden.<br />
Schließlich machten<br />
die Anwohner einen ungewöhnlichen<br />
Vorschlag: Sie<br />
wollten den Ausbau der Straße<br />
in Eigenregie organisieren,<br />
damit Geld sparen und der<br />
Gemeinde Kosten und Arbeit<br />
abnehmen. Normalerweise ist<br />
so etwas für Bürgermeister<br />
und Gemeinderat wie sechs<br />
Richtige im Lotto. Nicht so<br />
CDu ERSCHWERT VOLKSBEgEHREN IN THüRINgEN pER gESETZ<br />
aIn<br />
manchen Bundesländern<br />
sind die Hürden für<br />
ein Volksbegehren nach<br />
wie vor hoch. Rheinland-<br />
Pfalz gehört dazu, das<br />
Saarland und auch Thüringen,<br />
wo bis jetzt für ein<br />
Bürgerbegehren 13 bis 17<br />
Prozent Unterschriften<br />
gesammelt werden mussten.<br />
aUm<br />
die Hürden auf kommunaler<br />
Ebene zu ändern,<br />
hat das „Bündnis für mehr<br />
Demokratie in Thüringen“<br />
erfolgreich Unterschriften<br />
für ein Volksbegehren auf<br />
Landesebene gesammelt.<br />
Denn um die Kommunal-<br />
Ordnung zu ändern,<br />
Foto: carofoto<br />
braucht man ein Landesgesetz.<br />
aDas<br />
Ziel: Nur sieben Prozent<br />
oder maximal 7000<br />
Unterschriften sollen in<br />
Zukunft für ein Bürgerbegehren<br />
nötig sein.<br />
aMit<br />
250.000 Unterschriften<br />
in Thüringen<br />
war das Volksbegehren<br />
erfolgreich. Nun hat aber<br />
gleichzeitig die CDU im<br />
Landtag ein ähnliches<br />
Gesetz verabschiedet.<br />
So etwas während eines<br />
Volksbegehrens zu tun,<br />
ist nach Ansicht der Opposition<br />
ein Affront, der<br />
demokratischen Anstand<br />
vermissen lässt.<br />
aDas<br />
Manöver einer Partei,<br />
die nach wie vor der<br />
direkten Demokratie ablehnend<br />
gegenübersteht,<br />
sagen Kritiker. Denn die<br />
CDU hat in ihrem Gesetz<br />
zwar auch die Quoren für<br />
Bürgerbegehren und -entscheide<br />
gesenkt, gleichzeitig<br />
aber den Bürgern auferlegt,<br />
für die Unterschrift<br />
ins Rathaus zu gehen.<br />
Ein weltweit unübliches<br />
Verfahren in Kommunen.<br />
„Und der Versuch, Bürgerbegehren<br />
durch mangelnde<br />
Zustimmung zu Fall<br />
zu bringen“, sagt Roman<br />
Huber von „Mehr Demokratie“.<br />
in Sinzing. Obwohl die Anwohner<br />
dem Bürgermeister<br />
die für ihr Bürgerbegehren<br />
notwendigen Unterschriften<br />
überreicht hatten, ließ dieser<br />
die Bagger anrollen.<br />
Das war dann allerdings<br />
auch nicht persönlich betroffenen<br />
Bürgern zu viel. 70<br />
Prozent stimmten beim Bürgerentscheid<br />
dafür, dass Anwohner<br />
in Sinzing zwischen<br />
einem Eigenausbau und dem<br />
durch die Gemeinde wählen<br />
dürfen. Ein politischer und<br />
wirtschaftlicher Erfolg. Denn<br />
beim anschließenden Ausbau<br />
sparte jeder Anwohner bis zu<br />
20.000 Mark.<br />
Das Beispiel Sinzing machte<br />
Schule. Immer wieder entschieden<br />
sich unzufriedene<br />
Bürger dafür, sich direkt<br />
einzumischen. Dabei sind<br />
Bürgerbegehren und Bürgerentscheide<br />
die Instrumente<br />
der direkten Demokratie auf<br />
kommunaler Ebene; auf Landesebene<br />
sind es die Volksbegehren<br />
und Volksentscheide.<br />
<strong>Die</strong> Verfahren ähneln sich<br />
in allen Bundesländern. Auf<br />
Landesebene müssen die Initiatoren<br />
zunächst einen Antrag<br />
auf ein Volksbegehren stellen,<br />
die sogenannte Volksinitiative.<br />
Erst wenn diese geprüft ist,<br />
kommt es zum Volksbegehren.<br />
Ein erfolgreiches Volksbegehren<br />
mündet dann in den<br />
Volksentscheid.<br />
Auf lokaler Ebene mehr<br />
Demokratie wagen<br />
Beim Bürgerentscheid geht es<br />
um eine Sachfrage, über die<br />
mit Ja oder Nein abgestimmt<br />
wird. Das kann jedes kommunale<br />
Thema sein, zum Beispiel<br />
der Bau eines Kindergartens,<br />
einer Schule, Verkehrsprojekte,<br />
kulturelle Vorhaben<br />
oder die Abwassergebühren.<br />
Wer Mitstreiter sucht bei<br />
einem kommunalen Thema,<br />
sollte in der Nachbarschaft<br />
anfangen, bei Freunden oder<br />
über einen Leserbrief in der<br />
örtlichen Zeitung, rät Roman<br />
Huber, Geschäftsführer des<br />
Vereins „Mehr Demokratie<br />
e.V.“. Dann trifft man sich,<br />
gründet eine Bürgerinitiative
und macht einen konkreten<br />
Vorschlag. „Mit dem man aber<br />
klugerweise zunächst an den<br />
Bürgermeister herantritt“, so<br />
Huber. Denn erst, wenn er<br />
oder der Gemeinderat abgelehnt<br />
haben, kann man ein<br />
Bürgerbegehren starten. In<br />
vielen Fällen erübrigt sich das<br />
aber nach dem Besuch, wenn<br />
der Bürgermeister merkt, dass<br />
es ein Thema gibt, das seine<br />
Wähler umtreibt.<br />
Auf Bundesebene<br />
keine Volksbegehren<br />
<strong>Der</strong> Volksentscheid hat die<br />
gleiche Bedeutung wie eine<br />
Parlamentsabstimmung und<br />
ist deshalb immer mit einem<br />
Gesetzentwurf gekoppelt. Ist<br />
der Volksentscheid erfolgreich,<br />
ist das betreffende<br />
Gesetz gültig und muss nicht<br />
mehr <strong>vom</strong> Parlament verabschiedet<br />
werden.<br />
Auf Bundesebene gibt es<br />
in Deutschland keine Volksbegehren.<br />
Seit der Verabschiedung<br />
des Grundgesetzes<br />
wurde zwar immer wieder<br />
versucht, Volksentscheide<br />
auch auf Bundesebene durchzusetzen.<br />
Bisher jedoch ohne<br />
Erfolg. <strong>Der</strong> letzte Versuch, das<br />
Grundgesetz entsprechend zu<br />
ändern, scheiterte 2002 unter<br />
der rot-grünen Bundesregierung.<br />
Obwohl es eine Mehrheit<br />
im Bundestag für die direkte<br />
Demokratie gab, verfehlte der<br />
Gesetzentwurf wegen der Ablehnung<br />
der CDU die notwendige<br />
Zwei-Drittel-Mehrheit.<br />
<strong>Die</strong> Gegner von Volksentscheiden<br />
auf Bundesebene<br />
argumentieren gern mit der<br />
Manipulierbarkeit der Wähler<br />
Schwerpunk t > Demokr atie<br />
und damit, dass den meisten<br />
Bürgern angesichts der immer<br />
komplexer werdenden<br />
Themen das Verständnis für<br />
politische Zusammenhänge<br />
fehle. In diese Richtung geht<br />
auch die Annahme, dass es<br />
die Wiederbewaffnung, den<br />
Nato-Doppelbeschluss oder<br />
die Wiedervereinigung mit<br />
einem Volksentscheid darüber<br />
nicht gegeben hätte. Dem hält<br />
Roman Huber unverdrossen<br />
entgegen: „Ich vertraue auf<br />
die Weisheit der Massen.“<br />
Zum Beispiel bei der Wiedervereinigung.<br />
<strong>Die</strong> sei schließlich<br />
<strong>vom</strong> Volk angeschoben<br />
worden.<br />
<strong>Der</strong> Verein „Mehr Demokratie“<br />
streitet seit Jahrzehnten<br />
für eine Reform und die Einführung<br />
des bundesweiten<br />
Volksentscheids. Außerdem<br />
setzt er sich dafür ein, dass die<br />
Spielregeln für Volksbegehren<br />
auf Landesebene und Bürgerbegehren<br />
in den Gemeinden<br />
demokratischer werden.<br />
Mit zunehmendem Erfolg.<br />
Seit der Wiedervereinigung<br />
ist Bewegung in die Entwicklung<br />
der direkten Demokratie<br />
gekommen. Vor 1990 gab es<br />
nur sieben Bundesländer mit<br />
einer landesweiten Gesetzgebung<br />
zu Volksbegehren; Bürgerbegehren<br />
und -entscheide<br />
gab es nur in Baden-Württemberg.<br />
Seit 1998 sind diese<br />
wichtigen Instrumente der<br />
direkten Demokratie in allen<br />
16 Bundesländern verankert.<br />
Auf Landes- wie auf kommunaler<br />
Ebene. Und dort, wo die<br />
Hürden für ein erfolgreiches<br />
Volksbegehren nicht so hoch<br />
sind, machen die Bürger auch<br />
beherzt Gebrauch davon.<br />
In Berlin zum Beispiel, wo<br />
Bürger zurzeit mit Hilfe eines<br />
Volksbegehrens versuchen,<br />
Religions- und Ethikunterricht<br />
gleichzustellen. Oder Brandenburg.<br />
Dort soll ein kürzlich<br />
begonnenes Volksbegehren<br />
verhindern, dass der Braunkohle-Tagebau<br />
in der Lausitz<br />
ausgebaut wird. Bundesweit<br />
gab es im vergangenen Jahr 27<br />
neue und 34 laufende Volksbegehren.<br />
Ein Rekordjahr. Berlin<br />
war mit sieben neuen Verfahren<br />
Spitzenreiter, vor Hamburg,<br />
wo drei neue Volksbegehren<br />
gestartet wurden.<br />
„Politik lebt <strong>vom</strong> Engagement<br />
und der Beteiligung der<br />
Bürger“, sagt Roman Huber<br />
und ist überzeugt: Dort, wo<br />
sich Bürger wirklich einmischen<br />
und nicht nur ohnmächtig<br />
zuschauen dürfen, lebt die<br />
Demokratie.<br />
Bis zu 20 Prozent aller<br />
Wahlberechtigten<br />
Eine Erkenntnis, die sich allerdings<br />
laut Huber in den meisten<br />
Bundesländern noch nicht<br />
herumgesprochen hat. Huber<br />
kritisiert vor allem die Länder,<br />
wo die vorgeschriebene Zahl<br />
von Unterschriften Volksbegehren<br />
erschwert. So sind<br />
dafür auf Landesebene meist<br />
zwischen zehn und zwanzig<br />
Prozent der Unterschriften<br />
aller Wahlberechtigten nötig.<br />
<strong>Die</strong>se Hürde schaffen nur etwa<br />
40 Prozent aller Anträge. Zum<br />
Vergleich: In der Schweiz oder<br />
den USA, den Stammländern<br />
der direkten Demokratie, reichen<br />
zwei bis fünf Prozent der<br />
Stimmberechtigten für ein<br />
Volksbegehren aus. Eine solch<br />
aktivisten sammeln in hamburg Unterschriften für ein Volksbegehren zur direkten Demokratie.<br />
Foto: Picture alliance<br />
BITTE EINMISCHEN!<br />
aWer<br />
auf Entscheidungen<br />
in seiner Gemeinde oder<br />
seinem Land Einfluss nehmen<br />
möchte, kann...<br />
a...<br />
einen Bürgerverein<br />
gründen und ins Vereinsregister<br />
eintragen lassen.<br />
<strong>Die</strong>s ist ein Zusammenschluss<br />
von Anwohnern<br />
eines Stadtteils oder eines<br />
Dorfes, die Ziele des Gemeinwesens<br />
verfolgen<br />
und fördern wollen<br />
(zum Beispiel Brauchtums-<br />
und Denkmalpflege,<br />
Dorffeste, Konzerte, Adventssingen).<br />
a...<br />
eine Bürgerinitiative<br />
mit Gleichgesinnten,<br />
Nachbarn, Freunden gründen,<br />
um ein bestimmtes<br />
Vorhaben voranzutreiben<br />
(idealer Ausgangspunkt<br />
für den Start eines Bürgerbegehrens.<br />
Tipps gibt es<br />
bei: www.mehr-demokratie.de<br />
bürgerfreundliche Regelung<br />
gibt es bei uns nur in Brandenburg,<br />
Hamburg und Schleswig-<br />
Holstein. Das Schlusslicht aller<br />
Bundesländer ist das Saarland.<br />
Dort benötigt ein Volksbegehren<br />
20 Prozent Unterschriften<br />
innerhalb von 14 Tagen.<br />
Dass die Bürgerinnen und<br />
Bürger im Land sich einmischen<br />
wollen, zeigen auch die<br />
Bitten und Beschwerden, die<br />
den Petitionsausschuss des<br />
Bundestages erreichen. Jeder<br />
Bürger kann eine solche Petition<br />
einreichen, einzeln oder<br />
als Interessensgruppe, als<br />
Bürgerinitiative oder -verein.<br />
Seit drei Jahren ist dies auch<br />
online möglich. Zwischen Oktober<br />
2005 und Oktober 2008<br />
wurden fast 700 öffentliche<br />
Petitionen online eingereicht,<br />
diskutiert und von 1,2 Millionen<br />
Usern mit unterzeichnet.<br />
Inzwischen melden sich täglich<br />
etwa 130 Nutzer an.<br />
Erst kürzlich konnten sich<br />
Parlamentarier ein Bild davon<br />
machen, was den Leuten<br />
auf den Nägeln brennt. Über<br />
120.000 Menschen schlossen<br />
sich innerhalb von sechs<br />
Wochen per Mausklick einer<br />
öffentlichen Online-Petition<br />
an, mit der ein Bürger die Politiker<br />
aufgefordert hatte, die<br />
Spritsteuer zu halbieren.<br />
Wessen Anliegen es schafft,<br />
innerhalb von drei Wochen<br />
mehr als 50.000 Unterstützer zu<br />
finden, darf persönlich vor dem<br />
Dezember 2008 17<br />
a...<br />
einer Partei beitreten.<br />
Man wendet sich an den<br />
Ortsverein der Partei seiner<br />
Wahl, wird zahlendes<br />
Mitglied und kann von da<br />
an bei allen Aktivitäten<br />
des Ortsvereins mitwirken<br />
und Verantwortung<br />
für bestimmte Aufgaben<br />
übernehmen.<br />
a...<br />
sich als aktives Mitglied<br />
der lokalen Gruppe<br />
einer überregionalen Organisation<br />
für bestimmte<br />
gesellschaftspolitische<br />
Ziele einsetzen (zum Beispiel<br />
Naturschutzbund,<br />
Amnesty International<br />
oder Greenpeace).<br />
a...<br />
eine Petition an den<br />
Deutschen Bundestag<br />
schreiben – schriftlich<br />
per Post oder E-Mail.<br />
Informationen gibt es<br />
auf der Homepage des<br />
Deutschen Bundestages:<br />
www.bundestag.de<br />
Petitionsausschuss erscheinen.<br />
<strong>Die</strong> Abgeordneten können das<br />
Anliegen dann der Regierung<br />
vorlegen. Auf der Internetseite<br />
des Bundestages klickt man<br />
den Button „Petitionen“ an, und<br />
schon hat man die Möglichkeit,<br />
eine bereits eingereichte Online-Petition<br />
mit zu unterzeichnen<br />
oder auch eine neue zu<br />
verfassen. <strong>Die</strong> Bandbreite der<br />
Themen ist auch hier groß. Petitionen<br />
gibt es zum Gaststättenrecht<br />
oder Führerscheinwesen,<br />
ebenso wie zum Schächten von<br />
Tieren oder zur Verschrottung<br />
von Altfahrzeugen.<br />
<strong>Die</strong> Menschen der heutigen<br />
Welt, zumindest in den<br />
so genannten zivilisierten<br />
Teilen, grenzen sich immer<br />
weiter ab. Was zählt, ist man<br />
selbst, die Verwandten und<br />
vielleicht noch gute Freunde.<br />
<strong>Der</strong> Rest ist einem egal. Ich<br />
will eine Gesellschaft, in der<br />
der Mensch sich gegenseitig<br />
so behandelt, wie wir es<br />
überhaupt so weit gebracht<br />
haben in der Leiter der Evolution:<br />
durch Gemeinschaft.<br />
Ich will in einer Gesellschaft<br />
leben, die auf persönlichem,<br />
aber zwanglosem Engagement<br />
basiert.<br />
T.P.<br />
3 die<strong>Gesellschafter</strong>.de
18 Dezember 2008<br />
Schwerpunk t > Demokr atie<br />
„Ein Parlament, das nur Gutes tut“<br />
In hamburg ist ein einzigartiges Projekt entstanden: <strong>Die</strong> Bürger entscheiden, wohin das Geld geht<br />
Von Elias Bierdel<br />
Hochbetrieb zu abendlicher<br />
Stunde an der Hamburger<br />
Uni. In kleinen Gruppen<br />
strebt alles dem hellerleuchteten<br />
Hörsaal A zu.<br />
Doch diesmal sind es keine<br />
angehenden Jungakademiker,<br />
die im altehrwürdigen<br />
Rund zur Vorlesung Platz<br />
nehmen, sondern durchaus<br />
gesetztere Damen und<br />
Herren. Denn hier geht es<br />
statt ums Büffeln um handfeste<br />
Hilfe für Arme, Kranke,<br />
Obdachlose.<br />
Es tagt das „Hamburger Spendenparlament“<br />
– mit fast 3.500<br />
Mitgliedern ein bundesweit<br />
einmaliges Projekt bürgerschaftlichen<br />
Engagements.<br />
Natürlich sind – wie es ja<br />
auch in anderen Parlamenten<br />
vorkommen soll – längst nicht<br />
alle Mitglieder zur Sitzung<br />
erschienen. Rund 400 mögen<br />
es diesmal sein, die sich<br />
zwischen den steil aufstei-<br />
genden Stuhlreihen begrüßen,<br />
bis eine Glocke die fröhliche<br />
Geschwätzigkeit im Plenum<br />
beendet. Nun wird es ernst:<br />
Mehr als 20 Punkte umfasst<br />
die Tagesordnung – und hinter<br />
jedem einzelnen steht eine Initiative,<br />
die in der Hansestadt<br />
Gutes tun möchte und dabei<br />
auf Unterstützung durch das<br />
„Spendenparlament“ hofft.<br />
Da gibt es einen Verein, der<br />
spezielle Kurse für Migranten-<br />
Töchter anbieten will, oder<br />
eine Kirchengemeinde, die<br />
nach dem unerwarteten Ableben<br />
ihres Kleinbusses nun<br />
dringend Ersatz braucht. In<br />
einem Stadtteil-Kulturzen-<br />
gEgEN ARMuT<br />
aZiel<br />
des „Spendenparlaments“<br />
ist die Bekämpfung<br />
von Armut in<br />
Hamburg. <strong>Die</strong> Mitglieder<br />
treffen sich dreimal jährlich,<br />
um „transparent<br />
und demokratisch“ über<br />
Anträge abzustimmen.<br />
Maximal 25.000 Euro<br />
werden einmalig für ein<br />
Projekt bewilligt. Seit<br />
der Gründung 1996 wurden<br />
rund 5 Mio. Euro<br />
vergeben.<br />
Foto: krusekamp, hamburger Spendenparlament e.V.<br />
Das Spendenparlament tagt: <strong>Die</strong> Mehrheit entscheidet, welche Projekte gefördert werden sollen.<br />
trum soll die Küche erneuert<br />
werden, anderswo benötigen<br />
Asylbewerber einige Computer,<br />
damit sie – im Falle<br />
ihrer Anerkennung – auf dem<br />
Arbeitsmarkt ihrer neuen Heimat<br />
eine Chance haben. Kinder<br />
suchen Platz zum Spielen,<br />
Kranke warten auf neue Rollstühle<br />
und demente Senioren<br />
auf einen Gruppenraum mit<br />
Musikanlage. So vieles bleibt<br />
ungetan in Zeiten knapper<br />
öffentlicher Kassen. Da ist<br />
Bürgersinn gefragt, können<br />
unbürokratische Entscheidungen<br />
und ein paar hundert<br />
Euro schon einiges bewirken.<br />
„Wir nehmen dem Staat aber<br />
nicht die Arbeit ab“, sagt Dirk<br />
Bleese, der Vorsitzende des<br />
Fördervereins, mit einem hanseatisch-vornehmen<br />
Lächeln.<br />
„Wir zeigen ihm allenfalls,<br />
wie er es gelegentlich besser<br />
machen könnte.“<br />
Doch hier wird auch nicht<br />
einfach nur Geld verteilt, erst<br />
einmal ist Überzeugungsarbeit<br />
gefragt, gilt es, für ein Anliegen<br />
die Parlamentsmehrheit<br />
zu gewinnen. Dazu muss<br />
jeder Antragsteller seine eigene<br />
Sache im Plenum vertreten.<br />
Keine Kleinigkeit, wenn man<br />
es nicht gewohnt ist, vor vielen<br />
Menschen zu sprechen. Zehn<br />
Minuten Redezeit um alles<br />
oder nichts – erst danach wird<br />
abgestimmt. Allerdings darf<br />
jeder Redner auf Wohlwollen<br />
hoffen: Alle Anträge sind<br />
<strong>vom</strong> „Finanzausschuss“ des<br />
„Spendenparlaments“ vorsortiert<br />
und gutgeheißen. Eine<br />
komplette Ablehnung kommt<br />
praktisch nicht vor.<br />
Alle Redner wollen<br />
das Plenum gewinnen<br />
Dennoch schluckt Christian<br />
Lietz ein paarmal, als er ans<br />
Rednerpult tritt. Gemeinsam<br />
mit Freunden will er im<br />
Stadtteil St. Pauli ein Beratungszentrum<br />
für Arbeitslose<br />
und Sozialhilfe-Empfänger<br />
aufbauen. <strong>Der</strong> Bedarf ist ohne<br />
Zweifel groß, geeignete Räumlichkeiten<br />
sind auch gefunden<br />
– und schon der Name verheißt<br />
Positives: „JaWohl e.V.“.<br />
<strong>Der</strong> gelernte Elektriker Lietz<br />
macht seine Sache gut. Jedes<br />
Kilo seiner imposanten Gestalt<br />
wirft der Vereinsvorsitzende<br />
in die Waagschale, erklärt,<br />
verspricht, mahnt, bittet, appelliert<br />
– und schwitzt. Neben<br />
dem Konzept überzeugt wohl<br />
auch sein voller Körpereinsatz<br />
die Versammlung. Es gibt<br />
kaum Nachfragen, der Beschluss<br />
fällt einstimmig: 5000<br />
Euro gibt es als Anschubfinanzierung,<br />
damit „JaWohl“ seinen<br />
künftigen Klienten helfen<br />
Foto: hamburger Spendenparlament e.V. – elbfeuer<br />
kann. Bei Ärger mit der ARGE<br />
zum Beispiel, der oft wenig<br />
kulanten Zentralbehörde für<br />
die Hartz-IV-Empfänger.<br />
Als Christian Lietz mit hochrotem<br />
Kopf auf seinen Platz<br />
zurückkehrt, erschöpft, aber<br />
glücklich, brandet im Plenum<br />
werbung für hamburgs Spendenparlament.<br />
Applaus auf. „Das ist doch immer<br />
wieder ein schöner Augenblick“,<br />
meint Rita Neuhaus,<br />
mit 72 Jahren Spendenparlamentarierin<br />
der ersten Stunde.<br />
„Wenn man merkt, dass man<br />
hier gute Leute bei einer guten<br />
Sache unterstützt. Da freue<br />
ich mich mindestens genauso<br />
wie die Antragsteller!“ Ihr<br />
Banknachbar Rudi Gerhardt,<br />
Reederei-Kaufmann im Ruhestand,<br />
nickt bekräftigend:<br />
„Das ist schon was Besonderes.<br />
Vor allem, weil wir eben selbst<br />
darüber bestimmen können,<br />
wer wie viel kriegt und wofür<br />
genau! Und nicht einfach nur<br />
Geld irgendwohin spenden, wo<br />
man dann nicht weiß, was davon<br />
auch wirklich ankommt.“<br />
Und noch etwas ist den Parlamentariern<br />
wichtig: „<strong>Die</strong><br />
Projekte werden anschließend<br />
besucht – und wir erfahren,<br />
was aus der Sache geworden<br />
ist!“ Dazu genügt allerdings<br />
oft auch ein Spaziergang<br />
durch die Stadt. Mittlerweile<br />
hat das „Spendenparlament“<br />
überall bleibende Spuren hinterlassen:<br />
in der „Rathaus-<br />
Passage“ zum Beispiel. <strong>Die</strong><br />
Fußgänger-Unterführung war<br />
einst ein dunkles Loch, heute<br />
betreiben hier 12 ehemalige<br />
Langzeitarbeitslose ein Bistro<br />
samt Bücherstube.<br />
Doch zurück in den Hörsaal<br />
A, wo sich die Sitzung langsam<br />
dem Ende zuneigt. Mehr als<br />
250.000 Euro werden an diesem<br />
Abend verteilt, satzungsgemäß<br />
an „nachhaltig<br />
wirkende<br />
soziale Programme<br />
gegen<br />
O b d a c h l o s i g -<br />
keit, Armut und<br />
Einsamkeit“. <strong>Die</strong><br />
Mittel stammen<br />
zum einen aus<br />
den Mitgliedsbeiträgen<br />
(jeder<br />
Parlamentarier<br />
zahlt 60 Euro<br />
Jahresbeitrag),<br />
zum anderen<br />
aus Spenden<br />
von Firmen,<br />
Stiftungen und<br />
Einzelpersonen.<br />
Das reichte, um<br />
in den ersten<br />
12 Jahren des<br />
Bestehens fast<br />
700 Projekte zu<br />
u n t e r s t ü t z e n<br />
– und sich so das höchste Lob<br />
zu erwerben. Es stammt von<br />
Hamburgs früherem Bürgermeister<br />
Klaus von Dohnanyi:<br />
„Endlich mal ein Parlament,<br />
das nur Gutes tut!“
acht und abgeholt werden<br />
– zweimal pro Woche, nach der<br />
Schule, die um 16 Uhr endet.<br />
Heute also Ergotherapie. Nora<br />
bringt ihn hin und ich hole ihn<br />
ab. Gott sei Dank ist die Praxis<br />
behindertengerecht und<br />
zu Fuß erreichbar. Auf dem<br />
Rückweg wegen Regen in die<br />
Straßenbahn. Da geht leider<br />
nur eine Linie, die andere hat<br />
den hohen Einstieg: ein bleibendes<br />
Ärgernis mit Rollstuhl,<br />
aber auch Kinderwagen!<br />
DONNERSTAG, 13.03.2008<br />
Noras Eintrag:<br />
Für mich ist es manchmal<br />
schwierig, Bruder, Freunde,<br />
AGs und Schule unter einen<br />
Hut zu bekommen. Wenn<br />
ich Marius zu einer Therapie<br />
bringe, fahren wir meistens<br />
zwei Stationen mit der<br />
Straßenbahn. Seit ein paar<br />
Monaten trauen wir uns<br />
auch, andere Fahrgäste von<br />
den Behinderten-Klappsitzen<br />
wegzuscheuchen, damit wir<br />
den Rollstuhl dort hinstellen<br />
können.<br />
Marius’ Eintrag:<br />
Marius hat heute keine Lust<br />
zu schreiben, da ihm das sehr<br />
schwer fällt. Aber ich soll<br />
schreiben, dass er Sprachtherapie<br />
hatte und sich davor im<br />
Schreibwarengeschäft Pokémon-Karten<br />
gekauft hat. <strong>Die</strong><br />
sammelt er.<br />
FREITAG, 14.03.2008<br />
Mamas Eintrag:<br />
Heute haben Marius und ich<br />
eine Frau mit ihrem Behinderten-Begleithund<br />
kennen<br />
we t tbe werb<br />
„<strong>Der</strong> ganz normale Wahnsinn“<br />
Routinen, krisen und Sternstunden – Familien schreiben Tagebuch<br />
<strong>Der</strong> Wettbewerb „Glück<br />
kann man teilen. Sorgen<br />
auch – Unser Familientagebuch“<br />
hat Kinder, Mütter<br />
und Väter motiviert, Alltägliches<br />
aus Schule und<br />
Freizeit, Familie und Beruf<br />
mit ganz eigenen Worten<br />
festzuhalten. Nachfolgend<br />
einige Auszüge aus den<br />
Tagebüchern der Erst- und<br />
Zweitplazierten.<br />
Helfende Hände erwünscht!<br />
Aus dem Tagebuch von Edith<br />
Welling und ihren Kindern<br />
Nora und Marius<br />
MITTWOCH, 12.03.2008<br />
Noras Eintrag:<br />
Heute haben wir die Mathearbeit<br />
in der Schule zurückbekommen.<br />
Sie war okay. Nach<br />
der Schule habe ich bei einer<br />
Freundin gegessen, musste<br />
aber um 16 Uhr wieder zuhause<br />
sein, um Marius zu<br />
helfen, weil er von der Schule<br />
gekommen ist. Um 17 Uhr kam<br />
Mama von der Arbeit und ich<br />
konnte zum Babysitten. Jetzt<br />
mache ich gleich Hausaufgaben.<br />
Mama ist jetzt hier und<br />
kümmert sich um Marius.<br />
Er badet gerade und braucht<br />
beim Einsteigen, Aussteigen<br />
und Anziehen Hilfe. Danach<br />
essen wir zu Abend.<br />
Marius’ Eintrag:<br />
Marius hatte heute Schwimmen<br />
in der Schule und nachmittags<br />
Ergotherapie.<br />
Mamas Eintrag:<br />
Marius hat eine Tetra-Spastik<br />
und sitzt im Rollstuhl. Zur<br />
Therapie muss er immer ge-<br />
TAgEBuCH-KALENDER 2009<br />
a<strong>Der</strong><br />
Bundesverband für<br />
Körper- und Mehrfachbehinderte<br />
e.V. und die Aktion<br />
Mensch haben durch<br />
ihren Wettbewerb Familien<br />
in den Mittelpunkt gestellt,<br />
in denen Menschen<br />
mit Behinderungen leben.<br />
Ausgewählte Beiträge werden<br />
in einem einem Kalender<br />
veröffentlicht, der über<br />
die Aktion Mensch bestellt<br />
werden kann.<br />
info@aktion-mensch.de<br />
Familien führen durchs Jahr.<br />
Fotos: Michael Bause<br />
<strong>Die</strong> Journalistin Edith welling mit Nora (14) und Marius (11).<br />
gelernt. War sehr beeindruckend<br />
wie hilfreich der Hund<br />
war. Leider leben wir ja in<br />
einer Mietwohnung, in der<br />
Hunde nicht erlaubt sind.<br />
Aber für Marius, der ja wenige<br />
Freunde in seinem Alter hat,<br />
wäre der Hund schon ein toller<br />
Kamerad. Für die Ferien habe<br />
ich Marius einen Tag zu einer<br />
Ferienaktion im Jugendheim<br />
angemeldet. Das Ganze findet<br />
in einem Bau aus den 70er<br />
Jahren statt, der überhaupt<br />
nicht behindertengerecht ist.<br />
Ich muss also mal wieder<br />
viele „helfende Hände“ suchen<br />
und ansprechen, was Marius<br />
oft peinlich ist. Ich will aber<br />
nicht, dass er nur zuhause vor<br />
dem Fernseher seine Freizeit<br />
verbringen muss.<br />
Noras und Marius’ Eintrag:<br />
Heute waren Marius und ich<br />
in einer Kinderoper mit Marius’<br />
Malkurs. Weil er einen<br />
Begleiter brauchte, musste<br />
ich mitgehen. Marius hatte<br />
eigentlich einen Extra-Platz<br />
reserviert bekommen, aber<br />
da sollte er ganz alleine unten<br />
beim Orchester sitzen. Das<br />
wollte er nicht, also mussten<br />
wir ihn die Treppen hoch tragen.<br />
<strong>Die</strong> meisten anderen im<br />
Publikum sind davon immer<br />
genervt, aber das sehen wir<br />
gar nicht mehr.<br />
<strong>Der</strong> ganz normale Wahnsinn.<br />
Aus dem Tagebuch von Silke<br />
und Jochen Stapenhorst und<br />
ihren Kindern Fiona, Luisa<br />
und Lukas.<br />
MITTWOCH, 19.12.2007<br />
Kaum zu glauben und doch<br />
wahr, Fiona ist heut’ schon<br />
ein Jahr. Und wie auch an<br />
den Geburtstagen der beiden<br />
„Großen“ denke ich als Mutter<br />
an den Tag der Geburt: In der<br />
29ten Schwangerschaftswoche<br />
wurde bei unserem Kind, durch<br />
Zufall während einer Routine-<br />
Ultraschalluntersuchung, ein<br />
Herzfehler festgestellt. „Nein,<br />
dieser Fehler wächst sich nicht<br />
aus. Da müssen Sie sich auf<br />
Dezember 2008 19<br />
mehrere Operationen<br />
mit langen Krankenhausaufenthalten<br />
einstellen. Aber später<br />
hat Ihr Kind dann<br />
eine Chance auf ein<br />
halbwegs normales<br />
Leben.“ Dringend<br />
wurde mir zu einer<br />
Fruchtwasseruntersuchung<br />
geraten –<br />
man denke an eine<br />
Trisomie. Meine Bedenken<br />
hinsichtlich<br />
der Gefahr eines Bla-<br />
sensprungs wurden<br />
abgetan und der Termin<br />
vereinbart. Weder<br />
hätte, aus rechtlicher<br />
Sicht, ein Schwangerschaftsabbruch<br />
zur Wahl gestanden,<br />
noch hätte man, aus<br />
medizinischer Sicht,<br />
irgendeine andere<br />
Maßnahme ergriffen<br />
als bei einem Kind ohne<br />
Trisomie 21. „Aber<br />
Sie müssen doch wissen,<br />
was auf Sie zukommt!“ Aus<br />
Neugier das Leben unseres Kindes<br />
riskieren? Blasensprung in<br />
der 29ten Woche? Herzfehler?<br />
Nebenbei erfuhren wir, dass<br />
es ein Mädchen ist. Nein, die<br />
verbleibenden Wochen konnten<br />
wir auch mit dieser Ungewissheit<br />
leben und uns für „alle Fälle“<br />
vorbereiten. Ich stand wieder<br />
zwischen den Regalen der<br />
Fachhochschulbibliothek, diesmal<br />
auf der Suche nach Elternratgebern.<br />
Jochen recherchierte<br />
im Internet. Als Fiona zur Welt<br />
kam, beantwortete sie mit dem<br />
ersten Blick von Angesicht zu<br />
Angesicht unsere Frage, deren<br />
Antwort ich tief in meinem<br />
Inneren bereits kannte.<br />
Silke und Jochen Stapenhorst mit den kindern Fiona (1),<br />
Luisa ( ) und Lukas (6).
20 Dezember 2008<br />
Engagement<br />
„ ...erstmal muss hier Ordnung rein“<br />
Ehrenamtliche Sozialpaten unterstützen Menschen in Not – hoher Bedarf seit hartz IV-Einführung<br />
Von Sabine Jacobs<br />
Ohne Terminkalender<br />
geht gar nichts. Im kleinen<br />
Besprechungszimmer<br />
des Mindener Rathauses<br />
hat Bärbel Mauritz ein<br />
schwarzes Büchlein vor<br />
sich aufgeschlagen. <strong>Der</strong><br />
heutige Montag sieht ziemlich<br />
zugepflastert aus. 9.00<br />
Uhr Treffen mit Rudolf G.,<br />
11.00 Uhr Schuldnerberatung,<br />
14.00 Uhr Telefontermin<br />
Wohnbau und dann<br />
noch ein Hausbesuch. Seit<br />
Bärbel Mauritz ihr Amt als<br />
Sozialpatin angetreten hat,<br />
sind drei bis vier Tage pro<br />
Monat für Termine dieser<br />
Art reserviert.<br />
Jetzt sitzt ihr Rudolf Keimer<br />
(Name von der Redaktion<br />
geändert) gegenüber. <strong>Der</strong> 48-<br />
Jährige hat einen ganzen<br />
Schuhkarton voller Dokumente<br />
mitgebracht. Viele<br />
Briefe sind darunter. Ungeöffnet.<br />
Ein Blick auf die Absender<br />
und Frau Mauritz weiß<br />
Bescheid. Gerichte, Ämter,<br />
Inkassounternehmen. <strong>Die</strong> Geschichte<br />
von Rudolf Keimer ist<br />
schnell erzählt. Vor zwei Jahren<br />
hat ihn die Frau verlassen,<br />
und dann war auch noch die<br />
Arbeit weg. Aus Scham scheut<br />
er den Weg zum Sozialamt.<br />
Um die Miete zu bezahlen, verhökert<br />
er das Mobiliar. Jetzt<br />
sind die Möbel weg, dafür<br />
wachsen die Schulden. Über<br />
4000 Euro sind so mittlerweile<br />
zusammengekommen.<br />
<strong>Die</strong> Zwangsräumung steht<br />
unmittelbar bevor. „Ich bin am<br />
Ende“, sagt Herr Keimer.<br />
Von Alltagsproblemen<br />
bis hin zum Sozialfall<br />
Schicksale wie dieses sind<br />
Bärbel Mauritz mittlerweile<br />
vertraut. Seit einem guten<br />
Jahr arbeitet die 62-jährige<br />
Rentnerin nun schon als ehrenamtliche<br />
Sozialpatin für<br />
die Mindener Freiwilligen-<br />
Agentur. Hilft, berät und<br />
unterstützt Menschen, denen<br />
ihr Leben aus der Hand geglitten<br />
ist. Aus welchen Gründen<br />
auch immer. Manchmal steht<br />
ein Jobverlust am Anfang.<br />
Manchmal sind es Beziehungsprobleme<br />
oder Alkohol.<br />
<strong>Der</strong> soziale Abstieg folgt auf<br />
Foto: Jürgen christ<br />
<strong>Die</strong> Sozialpatinnen Bärbel Mauritz und Renate kruse während eines Beratungsgesprächs mit einem klienten.<br />
Raten, und plötzlich gibt es<br />
scheinbar kein Zurück.<br />
Ihre frühere Tätigkeit als<br />
Leiterin einer Großkantine<br />
kommt Frau Mauritz heute<br />
zupass. „Meine Leute konnten<br />
immer auf mich zählen“, sagt<br />
sie. Man glaubt ihr aufs Wort.<br />
Sie ist eine resolute Frau. Auch<br />
jetzt weiß sie, wo es lang geht.<br />
„Erst mal muss hier Ordnung<br />
rein“, sagt sie und sortiert die<br />
Dokumente zu übersichtlichen<br />
Stapeln, „dann müssen die<br />
Schulden weg.“ Das bedeutet:<br />
Kontakt mit den Gläubigern<br />
aufnehmen, Anträge stellen,<br />
Behördengänge, Wohnungssuche.<br />
Schritt für Schritt<br />
erklärt sie Herrn Keimer das<br />
gemeinsame Vorgehen.<br />
Das ist wichtig. Denn Bärbel<br />
Mauritz will ihrem Klienten<br />
die Probleme nicht einfach abnehmen.<br />
Hilfe zur Selbsthilfe<br />
heißt ihr Ziel. Rudolf Keimer<br />
soll lernen, sein Leben wieder<br />
selbst in die Hand zu nehmen.<br />
Insgesamt 36 Sozialpaten<br />
bieten inzwischen in Minden<br />
ihre <strong>Die</strong>nste an. Juristen und<br />
Banker sind darunter, ein<br />
pensionierter Tischler, Hausfrauen,<br />
Studenten. Alle haben<br />
eine Schulung hinter sich.<br />
Insolvenzrecht und Psychologie,<br />
Familien- und Verwal-<br />
tungsrecht standen auf dem<br />
Stundenplan. Für ihre <strong>Die</strong>nste<br />
erhalten sie kein Honorar,<br />
lediglich Fahrtkosten und Telefongeld<br />
werden erstattet.<br />
Doch um Geld geht es auch<br />
gar nicht. „Es tut einfach gut,<br />
etwas <strong>Sinn</strong>volles zu tun“, sagt<br />
Frau Mauritz, „zu sehen, dass<br />
man gebraucht wird.“<br />
Und das werden sie und ihre<br />
Mitstreiter. „<strong>Der</strong> Bedarf ist<br />
groß“, sagt Marco Mehwald,<br />
der den Einsatz der Sozialpaten<br />
bei der Mindener Freiwilligen-Börse<br />
koordiniert. Mit<br />
der Einführung von Hartz IV<br />
im Jahr 2005 war plötzlich die<br />
Zahl der Leistungsempfänger<br />
deutlich gewachsen. Immer<br />
mehr Menschen fielen durch<br />
das soziale Netz. <strong>Die</strong> Zahl der<br />
Obdachlosen wuchs.<br />
Dass es innerhalb von zwei<br />
Jahren gelang, das Projekt<br />
auf den Weg zu bringen, ist<br />
dem Einsatz engagierter Fürstreiter<br />
wie Ute Hildebrand zu<br />
danken. <strong>Die</strong> 41-jährige städtische<br />
Angestellte war bei der<br />
sonntäglichen Zeitungslektüre<br />
zufällig auf ein ähnliches<br />
Projekt gestoßen. „Warum<br />
nicht auch bei uns?“, hatte sie<br />
gedacht. Dass es zu Anfang<br />
auch Skepsis gab, will sie nicht<br />
leugnen. Zum Beispiel, dass<br />
hier Probleme auf den Rücken<br />
überforderter Laien verlagert<br />
werden könnten. Heute ist von<br />
solchen Vorbehalten nichts<br />
mehr zu spüren. „Wir sind<br />
froh, dass es die Sozialpaten<br />
gibt“, sagt Silke Schönwald,<br />
zuständig für die Schuldnerberatung<br />
beim Sozialdienst<br />
Katholischer Frauen. „Denn<br />
die greifen dort ein, wo unsere<br />
Möglichkeiten enden.“ Beispielsweise<br />
bei der wachsenden<br />
Zahl von Menschen mit<br />
Lese- und Schreibschwäche.<br />
Aber nicht nur für diese sind<br />
das Gewirr von Vorschriften<br />
und Formularen, die Schreiben<br />
zu Mietschulden und<br />
überzogenen Krediten oft nur<br />
schwer zu verstehen.<br />
Bärbel Mauritz nimmt sich<br />
Zeit für diese Menschen. Allerdings<br />
nicht unendlich. Ein<br />
halbes Jahr. Länger sollte ein<br />
Fall nicht dauern, damit die<br />
Bindung nicht zu eng wird.<br />
Auch das hat sie schon erlebt,<br />
dass Klienten nicht mehr loslassen<br />
wollen. Dann wird es<br />
schwierig, auch für die Helfer<br />
selbst. Abstand halten ist deshalb<br />
wichtig für den Umgang<br />
mit dem Klienten. Und Erwartungen<br />
stellt sie auch: „Wer<br />
nicht mitmacht oder mehrfach<br />
hintereinander Termine<br />
schlabbert, dem kann ich auch<br />
nicht helfen“, sagt sie.<br />
Doch die meisten machen<br />
mit. In über 30 Fällen sind die<br />
Mindener Sozialpaten mittlerweile<br />
aktiv geworden, viele<br />
davon konnten bereits erfolgreich<br />
abgeschlossen werden.<br />
Wie der Fall von Rudolf Keimer.<br />
Seit kurzem hat er wieder<br />
eine Grundsicherung, seine<br />
Gläubiger haben sich auf Ratenzahlungen<br />
eingelassen, einige<br />
haben die Schulden sogar<br />
ganz erlassen. Nächste Woche<br />
zieht er um. <strong>Die</strong> Möbel aus<br />
dem gemeinnützigen Möbellager<br />
hat er schon ausgesucht.<br />
<strong>Der</strong> Anfang ist gemacht.<br />
SOZIALpATEN<br />
aSozialpaten<br />
gibt es in<br />
immer mehr Städten. In<br />
der Regel sind sie bei den<br />
Freiwilligen-Agenturen<br />
angesiedelt, aber eng vernetzt<br />
mit den Fachberatungen<br />
von Kommunen,<br />
Kirchen und Wohlfahrtsverbänden.<br />
Infos gibt<br />
es unter www.bagfa.de<br />
– Bundesarbeitsgemeinschaft<br />
der Freiwilligenagenturen<br />
e.V.
Engagement<br />
Kein Gold für Deutschland<br />
Umweltbewusstsein und was sich davon durchsetzt<br />
Von Wilfried Bommert<br />
Gäbe es bei der Olympiade<br />
eine Disziplin „Nachhaltigkeit“,<br />
Deutschland wäre<br />
sicher verdächtig, Gold zu<br />
gewinnen. Das jedenfalls<br />
legen die Ergebnisse der<br />
Studie „Umweltbewusstsein<br />
in Deutschland“ nahe,<br />
die <strong>vom</strong> Bundesministerium<br />
für Umwelt, Naturschutz<br />
und Reaktorsicherheit als<br />
repräsentative Bevölkerungsumfragedurchgeführt<br />
wurde. Aber würde<br />
das Ergebnis auch einem<br />
Dopingtest standhalten?<br />
Seit 1996 lassen sich die Deutschen<br />
in Sachen Umweltbewusstsein<br />
auf den Zahn fühlen<br />
und erzielen dabei immer<br />
neue Rekorde. Auch die letzte<br />
Umfrage aus dem Jahr 2006<br />
setzte wieder neue Maßstäbe.<br />
Noch nie waren die deutschen<br />
Verbraucher nachhaltiger gesinnt.<br />
Sie wollen die Schönheit<br />
ihrer Landschaften erhalten,<br />
nicht auf Kosten ihrer Kinder<br />
leben, nur so viel konsumieren,<br />
wie nachwächst, und<br />
einen fairen Handel zwischen<br />
den reichen und den armen<br />
Staaten dieser Welt. Mehr als<br />
82 Prozent der Bundesbürger<br />
stimmten ein in diesen Chor.<br />
„Das ist das beste Ergebnis<br />
seit Beginn dieser Nachhaltigkeitsmessung“,<br />
rühmt<br />
Bundesumweltminister Sigmar<br />
Gabriel.<br />
Hedo-Materialisten und<br />
engagierte Idealisten<br />
Auch die Industrie will da<br />
nicht zurückstehen. Unternehmen,<br />
die auf sich halten,<br />
schieben einen Umweltbericht<br />
nach dem anderen auf den<br />
Markt. Vertrauen gewonnen<br />
haben sie damit allerdings<br />
nicht. <strong>Die</strong> Mehrheit der amerikanischen<br />
Kunden, 78 Prozent<br />
der Befragten, unterstellt den<br />
meisten Unternehmen nichts<br />
anderes als ein Reinwaschen<br />
ihrer öffentlichen Weste durch<br />
‚Greenwashing‘, stellt die Studie<br />
„State of Green Business<br />
2008“ für die USA fest. Das<br />
entspricht auch der deutschen<br />
Wirklichkeit, wie der Rat für<br />
nachhaltige Entwicklung und<br />
dessen Vorsitzender Volker<br />
Hauff beklagen: „<strong>Die</strong> Zahl der<br />
Firmen, die Nachhaltigkeitsberichte<br />
vorlegen, ist gestiegen.“<br />
Dennoch gebe es auch weiterhin<br />
schwarze Schafe. „Ich halte<br />
es für keinen Zufall, dass Lidl<br />
und Aldi dazugehören.“<br />
Und wie ist es bei der Kundschaft<br />
selbst? Sind die Bekenntnisse<br />
der Privaten besser<br />
als die der Unternehmen?<br />
Beim genaueren Hinsehen<br />
schwächeln laut Studie des<br />
Umweltministers gerade die<br />
Jüngsten. So lehnen sich die<br />
unter 29-Jährigen lieber etwas<br />
zurück, wenn es um nachhaltige<br />
Anstrengungen geht.<br />
Sie sind die Schlusslichter der<br />
Bewegung und das schon seit<br />
2004. Wissenschaftler um<br />
den Marburger Professor<br />
Udo Kuckartz <strong>vom</strong> Institut<br />
für Erziehungswissenschaft<br />
an der Philipps-<br />
Universität Marburg<br />
geben diesen<br />
Neinsagern einen<br />
Namen. Es<br />
sind die Hedo-Materialisten.<br />
Sie<br />
m a c h e n<br />
17 Prozent<br />
der<br />
B e v ö l -<br />
ker u ng<br />
aus. Ihre<br />
Ziele<br />
liegen im<br />
Lebensgenuss,Eigennutz<br />
und Erfüllen<br />
der eigenen Bedürfnisse.<br />
Was nicht wundert, denn sie<br />
sind Singles, kinderlos und<br />
ohne Familie. Beziehungs-<br />
krisen rangieren bei ihnen<br />
weit vor jeder Art von Umweltkrisen.<br />
Um die Umwelt<br />
soll sich gefälligst der Staat<br />
kümmern.<br />
Aber offenbar kann eine Gesellschaft<br />
wie die bundesdeutsche<br />
auch solche Nachzügler<br />
verkraften. Was sie nicht leisten,<br />
fangen andere auf. Wie<br />
die Gruppe der „engagierten<br />
Idealisten“, die 18 Prozent<br />
ausmachen. Ihnen ist ihr<br />
Nächster ebenso wichtig wie<br />
ein Leben mit der Natur und<br />
politisches Engagement. Unterstützt<br />
werden sie von den<br />
„Pflichtbewussten“ mit 22<br />
Prozent, die sich auszeichnen<br />
durch Respekt vor Gesetz und<br />
Ordnung, Sicherheit, Fleiß<br />
und Ehrgeiz. Beide Gruppen<br />
Foto: carofoto<br />
sind die Zugpferde der deutschenNachhaltigkeits-Bewegung<br />
– bei allen Unterschieden.<br />
Während die Idealisten<br />
sowohl aus den Kreisen der<br />
jüngeren Singles als auch der<br />
jungen Familien kommen und<br />
eher den Grünen verbunden<br />
sind, zählen die Pflichtbewussten<br />
zu den Vertretern der<br />
älteren Generation, mehr CDU<br />
und SPD zugeneigt.<br />
Was nachhaltig zu tun<br />
wäre, wissen die Deutschen<br />
ohne nachzudenken. Ihre<br />
Empfehlungen lauten: erneuerbare<br />
Energien, sparsamer<br />
Energieverbrauch und weniger<br />
Klimagase. Deutschland<br />
soll im Klimaschutz<br />
vorangehen. <strong>Die</strong>, die mehr<br />
Umwelt verbrauchen, sollen<br />
auch mehr zur Kasse gebeten<br />
werden.<br />
Reicht das für „Gold“ in der<br />
Disziplin „Nachhaltigkeit“?<br />
Nein, denn die Welt will Ta-<br />
ten sehen. Und da fängt das<br />
Glaubwürdigkeits-Dilemma<br />
an:<br />
Beispiel Strom: Was die<br />
deutschen Stromzähler zählen,<br />
wissen offensichtlich nur<br />
die Elektrizitätswerke. Drei<br />
von vier Deutschen haben<br />
keinen Schimmer, wie viel sie<br />
Als ich Kind war,<br />
habe ich mit meinen<br />
Freunden jeden Tag in der<br />
Natur gespielt. Da gab es<br />
aber noch kein Handy,<br />
keinen Computer und keine<br />
Playstation, X-Box etc.<br />
Heute müssen sich schon<br />
die Kinder damit auseinandersetzen,<br />
wenn sie im<br />
Leben bestehen wollen.<br />
Wir können das Rad nicht<br />
zurückdrehen. <strong>Die</strong> Welt<br />
wird immer komplexer.<br />
Dezember 2008 21<br />
verbrauchen, und sind ah-<br />
nungslos, was ihr Strom<br />
pro Einheit kostet. Sie<br />
müssen passen, wenn<br />
es darum geht, wie<br />
man den Umstieg auf<br />
Ökostrom bewältigt<br />
und was sie dabei<br />
sparen könnten.<br />
Nur fünf Prozent<br />
haben sich bislang<br />
die Mühe gemacht,<br />
auf nachhaltig erzeugten<br />
Strom<br />
umzusteigen.<br />
Auch bei Bio-Lebensmittelndümpelt<br />
die Nachfrage<br />
mit drei Prozent<br />
am Gesamtsortiment,<br />
obwohl diese für 38<br />
Prozent der Befragten angeblich<br />
eine „große Rolle“<br />
spielen. Nur eben nicht beim<br />
Einkauf. Und dann das Auto:<br />
Obwohl es mit zu den größten<br />
Umweltverschmutzern gehört,<br />
bleibt es der Deutschen<br />
liebstes Kind. Nur elf Prozent<br />
nutzen Bus und Bahn, auch<br />
wenn die Mehrheit für eine<br />
deutliche Verringerung der<br />
Feinstaubbelastung, die auch<br />
der PKW-Verkehr anrichtet,<br />
plädiert.<br />
Wenn Anspruch auf Wirklichkeit<br />
trifft, dann ist es<br />
vorbei mit Deutschlands Spitzenplatz<br />
in „Nachhaltigkeit“.<br />
Ist das ein Fall von ‚Greenwashing‘<br />
oder ist es am Ende<br />
Doping, Bewusstseins-Doping?<br />
Höchstleistung an Umwelt-<br />
und Nachhaltigkeits-Bekenntnissen<br />
und dabei so gut<br />
wie keinerlei Durchsetzungswillen.<br />
<strong>Die</strong> Dopingprobe in<br />
Nachhaltigkeit fällt eindeutig<br />
aus: Kein „Gold“ für Deutschland.<br />
Daher wird es immer<br />
wichtiger, dass wir unseren<br />
Kindern zeigen, wie<br />
man verantwortungsvoll<br />
mit der Natur umgeht; wir<br />
müssen sie wieder mit der<br />
Natur in Berührung bringen.<br />
Ich denke, es bedarf<br />
einfach nur engagierter<br />
Menschen, die kleine Projekte<br />
planen.<br />
Tamer Özcan<br />
3 die<strong>Gesellschafter</strong>.de
22 Dezember 2008<br />
<strong>Die</strong> Lebensbedingungen zu verbessern, ist ein zutiefst menschliches anliegen<br />
Auf der Internetseite<br />
„die<strong>Gesellschafter</strong>.de“ diskutieren<br />
Tausende von Menschen<br />
die Frage: In was für<br />
einer Gesellschaft wollen<br />
wir leben? <strong>Die</strong> Antworten<br />
reichen von Vorschlägen<br />
zur Bekämpfung von Armut<br />
über neue Gesellschaftskonzepte<br />
bis zum Zusammenleben<br />
verschiedener<br />
Kulturen.<br />
▸ Armut<br />
Ohne Dampfplauderer, wie<br />
den Wirtschaftsprofessor aus<br />
Leipzig, der heute auf der<br />
Titelseite der Tageszeitung<br />
behauptet, 132 Euro Hartz IV<br />
würden zum Leben reichen.<br />
<strong>Die</strong>se Aussage ist schlichtweg<br />
falsch. Bei sämtlichen Sparmaßnahmen<br />
ist das Budget<br />
von 120 Euro, welches bei<br />
dem alten Satz von 345 Euro<br />
für Lebensmittel beträgt, unzureichend,<br />
um sich ausgewogen<br />
zu ernähren, auch wenn<br />
billigst eingekauft wird.<br />
L. w.<br />
Frau Merkel lobte gestern die<br />
gute Arbeit ihrer Partei. 1,5<br />
Millionen Arbeitslose weniger<br />
… 7,5 Millionen arbeiten<br />
in Billigjobs. Ich möchte in<br />
einer Gesellschaft leben, in<br />
der der Staat das Volk nicht<br />
für dumm verkauft!<br />
T. k., Berlin<br />
▸ Gesellschaft und Gesellschaftskonzepte<br />
Ich wünsche mir eine Gesellschaft,<br />
in der die Menschen<br />
wieder auf die Straße gehen,<br />
wenn sie das Gefühl haben,<br />
dass etwas nicht in Ordnung<br />
ist. <strong>Die</strong> Demonstrationen von<br />
heute sind lauwarme Fußmärsche,<br />
die in ihrer Wirkung<br />
einem Flugblatt nahe kommen.<br />
Wo ist die Stimme des Volkes?<br />
P. c.<br />
Warum nur müssen wir<br />
immer noch in unterschiedlichen<br />
Sprachen miteinander<br />
reden? Alles wäre viel einfacher,<br />
wenn alle Menschen<br />
auf diesem Planeten dieselbe<br />
Sprache sprechen würden.<br />
Es würde keine Fremdsprachen<br />
und Fremdenfeindlichkeiten<br />
mehr geben. Eine<br />
Einheitssprache würde zur<br />
erheblichen Vereinfachung<br />
des Umgangs miteinander<br />
führen.<br />
a. R.<br />
Ich will in einer Gesellschaft<br />
leben, in der keine Ironie und<br />
keine Schadenfreude an der<br />
Tagesordung der Gespräche<br />
der Menschen ist.<br />
Ich will in einer Welt leben,<br />
in der jeder jeden respektiert<br />
und Respekt vor anderen<br />
Kulturen und Religionen<br />
herrscht.<br />
G. F.<br />
Alle fordern Kontrolle und<br />
Reglementierung der anderen,<br />
aber niemand möchte<br />
sich kontrollieren lassen. Alle<br />
anderen sollen verzichten,<br />
aber niemand möchte seinen<br />
eigenen Lebensstandard<br />
senken. Alle sollen friedlich<br />
sein, ansonsten tun wir ihnen<br />
Gewalt an. <strong>Die</strong> anderen<br />
sollen die Umwelt schützen,<br />
aber jeder spart fürs größere<br />
Auto. Eine Gesellschaft von<br />
Menschen, die das tun, was<br />
sie von anderen fordern, das<br />
wär mal was Neues.<br />
M. M.<br />
Ich denke, dass in der heutigen<br />
Zeit, in der Globalisierung<br />
und Qualitätsmanagement<br />
DIE Schlagwörter unserer<br />
Regierung sind, ein unabhängiges<br />
Kontrollgremium<br />
geschaffen werden muss, das<br />
die Arbeit von Bund, Ländern<br />
und Kommunen überprüft,<br />
bewertet und sanktioniert.<br />
Ich arbeite als Fachkraft in<br />
der Pflege und muss jeden<br />
Tag meine Arbeit dokumentieren,<br />
Probleme, Ziele und<br />
Maßnahmen formulieren und<br />
Diskussion<br />
Dampfplauderer, Nicht-Wähler und...<br />
anhand dessen den Zweck<br />
meiner Arbeitskraft rechtfertigen.<br />
Liebe Politiker aller<br />
Ebenen, würdet ihr euch dieser<br />
Aufgabe stellen?<br />
P. c.<br />
Ich möchte in einer Gesellschaft<br />
leben, in der es nicht<br />
auf den Kontostand oder<br />
sonstige materielle Dinge<br />
ankommt. <strong>Die</strong> Kluft zwischen<br />
Arm und Reich wird zunehmend<br />
größer, und die Folgen<br />
werden immer dramatischer.<br />
Fast eine Milliarde(!!!) Men-<br />
schen leiden täglich Hunger.<br />
Was passiert, wenn sich diese<br />
erdrückende Ungerechtigkeit<br />
so erst in Verzweiflung und<br />
dann in Wut und Hass gegenüber<br />
den Industriestaaten<br />
mit ihrem scheinbaren Wohlstand<br />
entlädt?<br />
M. k.<br />
„ALT WERDEN MöCHTE EIgENTLICH JEDER...<br />
Im <strong>Gesellschafter</strong>-Forum<br />
„Leben im Alter“ diskutieren<br />
unterschiedliche Generationen<br />
miteinander –<br />
darüber, wann man alt ist,<br />
wer wem gegenüber Verantwortung<br />
trägt und wie<br />
man „erfolgreich altert“.<br />
Wann ist man eigentlich<br />
alt? In unserer Gesellschaft<br />
fühlen viele sich schon mit<br />
Mitte 50 alt – wenn sie die<br />
Erfahrung machen, dass der<br />
Arbeitsmarkt sie nicht mehr<br />
braucht. Andere denken mit<br />
70 noch nicht ans Aufhören,<br />
leiten Unternehmen und<br />
kandidieren für verantwortungsvolle<br />
berufliche Posten.<br />
Bestimmt der Arbeitsmarkt<br />
darüber, wann wir alt sind?<br />
Foto: Picture alliance<br />
Eine der aktivsten Teilnehmerinnen<br />
des Diskussionsforums<br />
ist 60 Jahre alt und<br />
im beruflichen Leben ebenso<br />
rege wie im <strong>Gesellschafter</strong>-<br />
Projekt. Aktivität – und eine<br />
Aufgabe zu haben – macht<br />
offenbar entspannt und zuversichtlich:<br />
„Ich bin mit meinem<br />
Alter sehr zufrieden und lebe<br />
relativ glücklich, außerdem ist<br />
mein Ziel, 100 Jahre oder älter<br />
zu werden.“<br />
Vor allem die Jüngeren finden<br />
die Vorstellung, in unserer<br />
modernen, individualisierten<br />
Gesellschaft 100 Jahre alt zu<br />
werden, jedoch eher bedrohlich.<br />
Mit Schrecken berichten<br />
sie von Erfahrungen in Pflegeheimen.<br />
<strong>Die</strong>se Sorge teilen sie<br />
mit den älteren Diskussions-<br />
Ich möchte in einer Gesellschaft<br />
leben, in der alle Nicht-<br />
Wähler noch einmal genau<br />
nachdenken und sich ihrer<br />
Macht bewusst werden!<br />
Mit diesem Vorschlag will<br />
ich nicht eine allgemeine<br />
Wahlpflicht einführen, sondern<br />
lediglich ausdrücken,<br />
dass es für mich nicht nachvollziehbar<br />
ist, nicht wählen<br />
zu gehen, da uns die Politik<br />
doch letzten Endes alle auch<br />
persönlich betrifft!<br />
J. J.<br />
teilnehmern. Eine 58-Jährige<br />
schreibt: „[<strong>Die</strong> Alten von<br />
heute] werden abgeschoben<br />
– in unwürdige und menschenverachtende<br />
Alten- oder<br />
Pflegeheime.“ <strong>Die</strong> treffendste<br />
Formulierung für dieses Paradox<br />
lautet: „Alt werden möchte<br />
eigentlich jeder, nur alt sein<br />
niemand.“<br />
Mal direkt, mal indirekt<br />
wird das Prinzip der Leistungsgesellschaft<br />
diskutiert,<br />
wonach sich der Wert eines<br />
Menschen an dessen Leistungsfähigkeit<br />
bemisst – ein<br />
Druck, der auf jedem lastet,<br />
aber naturgemäß die alten<br />
Generationen besonders hart<br />
trifft. Unterschwellig wird die<br />
Frage verhandelt: Können wir<br />
uns so viele Alte überhaupt
Diskussion Dezember 2008 2<br />
... der Wunsch nach Veränderung<br />
Voraussetzung: Engagement, Respekt vor der Meinung anderer und kompromissfähigkeit<br />
In der meine demokratischen<br />
Rechte nicht nur<br />
darin bestehen, sie anderen<br />
zu übertragen!<br />
Wenn Wahlen nur das<br />
jährliche Kreuzchensetzen<br />
bedeutet für Leute, die man<br />
nicht wirklich kennt, mit<br />
denen man nicht über Probleme<br />
diskutiert und mit<br />
ihnen Lösungen entwickelt,<br />
dann ist dies für mich keine<br />
Demokratie. Dann ist der<br />
eigentliche Souverän, der<br />
Bürger, entmachtet. Warum<br />
Foto: Picture alliance<br />
leisten? Was die Altersabsicherung<br />
betrifft, verlassen die<br />
Jüngeren sich immer weniger<br />
auf ihre Familien oder auf die<br />
Nachrückenden. Stattdessen<br />
wird auf Eigenverantwortung<br />
und individuelle Anlagekonzepte<br />
gesetzt. Den „Generationenvertrag“<br />
sähen viele am<br />
liebsten „sofort gekündigt“:<br />
„Wenn ich mir anschaue, was<br />
ich monatlich als gesetzlich<br />
Rentenversicherte abgezogen<br />
bekomme und dass mein Arbeitgeber<br />
ja immerhin nochmal<br />
denselben Beitrag dafür<br />
zahlt… Wenn ich das in eine<br />
private Lebensversicherung<br />
einzahlte, dann wäre ich im<br />
Alter so reich, wie ich will.“<br />
Höchst kontrovers wird seit<br />
Juli ein Tagebucheintrag zum<br />
trauen sich so wenige Menschen,<br />
direkte Einflussmöglichkeiten<br />
zu fordern? Ich<br />
sehe große Potenziale in<br />
Volksentscheiden, so wie es<br />
auch bei unseren europäischen<br />
Nachbarn möglich ist<br />
(z. B. Schweiz).<br />
I. T.<br />
... NuR ALT SEIN MöCHTE NIEMAND“<br />
Thema „erfolgreich Altern“<br />
diskutiert. Eigentlich geht es<br />
darum, wie man möglichst<br />
lange gesund bleibt – und<br />
glücklich. Einige vermuten<br />
dahinter jedoch eine ökonomische<br />
Strategie: „Darf<br />
man in dieser Gesellschaft<br />
eigentlich überhaupt noch alt<br />
werden? Ab wann darf man<br />
sich denn zur RUHE begeben?<br />
Ab 90?“<br />
Unterdessen verteidigen andere<br />
die Qualitäten des Alters<br />
und den Beitrag, den die Älteren<br />
für die Gesellschaft leisten:<br />
„Ich finde, wir Alten (ich<br />
bin 70) sind oft gelassener,<br />
weil wir in unserem langen<br />
Leben schon viel erlebt oder<br />
überlebt haben. Wir können<br />
damit in manchen kritischen<br />
▸ Gesundheit<br />
In einer rauchfreien Gesellschaft!!<br />
Ich bewundere unsere<br />
EU-Nachbarländer außer<br />
Österreich, die das schon<br />
teilweise hinbekommen haben!<br />
Ich bin in einem Friseursalon<br />
beschäftigt, in dem Kollegen<br />
sowie Kunden rauchen<br />
können. Ich habe laut Arbeitsstättenverordnung<br />
jedoch nur<br />
bedingt einen Anspruch auf<br />
einen rauchfreien Job!<br />
D. S.<br />
Situationen beruhigend auf<br />
unsere Umwelt einwirken und<br />
damit unerwartete Problemlösungen<br />
aufzeigen.“ Insofern<br />
sind Senioren Leistungsträger.<br />
Nicht zuletzt sind genau<br />
dies die Fähigkeiten, die höher<br />
betagten Managern ihre<br />
beruflichen Posten sichern.<br />
Wobei im Rest der Arbeitswelt<br />
und in den Medien die Jugend<br />
regiert. <strong>Der</strong> Anspruch lautet:<br />
schneller, jünger, flexibler.<br />
Wenn man das Tempo aber<br />
nicht mehr durchhält, was<br />
macht man dann? „Wir sollten<br />
immer daran denken, dass<br />
wir auch mal älter werden.<br />
Aber wer kümmert sich dann<br />
um uns?“, appelliert ein junger<br />
Teilnehmer an die soziale<br />
Verantwortung.<br />
▸ Leben im Alter<br />
In einer Gesellschaft, in der<br />
man von Politikern und Reichen<br />
nicht mehr betrogen wird.<br />
Ich habe 40 Jahre voll in<br />
der Pflege (als Fachkraft)<br />
gearbeitet und bin jetzt krank<br />
und nicht einmal in der<br />
Lage, mich ohne Zuschuss<br />
selbst zu ernähren. Neue<br />
Kleidung oder eine Reparatur<br />
irgendeines Haushaltsgerätes<br />
ist auch nicht drin. Besuche<br />
bei meinem Enkel kann ich<br />
mir auch nicht leisten. Meine<br />
kulturellen Bedürfnisse habe<br />
ich für dieses Leben schon<br />
abgeschrieben. <strong>Die</strong> Bankmanager<br />
und Politiker sollte<br />
man dazu verdonnern, mindestens<br />
1 Jahr zu unseren<br />
Bedingungen zu leben und zu<br />
arbeiten.<br />
M. w.<br />
▸ Anderes<br />
Ich bin 13 Jahre alt und<br />
manchmal kotzt mich die<br />
Welt jetzt schon an. Ich möchte<br />
in einer Gesellschaft leben,<br />
in der Leute sich nicht nur<br />
respektieren, sondern keiner<br />
sollte sich minderwertig fühlen.<br />
Man sollte sich für Leute<br />
mehr einsetzten, die gemobbt<br />
werden.<br />
Ich wurde seit der 5. Klasse<br />
selber gemobbt, was dazu<br />
IMpRESSuM<br />
Herausgeber: Aktion Mensch, Heinemannstraße 36, 53175 Bonn.<br />
Leitung: Christian Schmitz, Heike Zirden (V.i.S.d.P.).<br />
Redaktion: Reinhard Backes (Chef <strong>vom</strong> <strong>Die</strong>nst), Mechthild Buchholz,<br />
Mark Czogalla, Bithja Isabel Gehrke (Layout),<br />
Jutta <strong>vom</strong> Hofe (Textredaktion), Karin Jacek, Christian Scheifl,<br />
Ulrich Steilen.<br />
Kontakt zur Redaktion: Tel. 02 28 - 20 92-364, Fax 02 28 - 20 92-333.<br />
E-Mail: zeitung@die<strong>Gesellschafter</strong>.de, Druck: General-Anzeiger, Bonn.<br />
die<strong>Gesellschafter</strong>.de erscheint regelmäßig kostenlos und liegt bundesweit<br />
an ausgewählten Stellen aus. Interessenten, die die Zeitung<br />
auslegen möchten, können sich unter www.die<strong>Gesellschafter</strong>.de/zeitung<br />
eintragen oder wenden sich an Tel. 02 28 - 20 92-345.<br />
<strong>Die</strong> in den Zitaten und Forumsbeiträgen abgedruckten Meinungen geben nicht<br />
in jedem Fall die Meinung der Redaktion wieder.<br />
führte, dass ich Depressionen<br />
bekam, und mit 13 sollte man<br />
einfach keine Depressionen<br />
haben!!!<br />
S. R.<br />
In einer Gesellschaft, in der<br />
die Bankenkrise nicht durch<br />
Steuergelder beigelegt wird.<br />
Zur Beilegung dieser Krise ist<br />
das Geld der Spekulationsgewinnler<br />
heranzuziehen.<br />
Es wird Zeit, die Maßlosen<br />
und Unfähigen auf Sozialhilfeniveauzurechtzustutzen,<br />
ihr Privatvermögen zu<br />
enteignen, zum Wohle der<br />
Allgemeinheit. Das Geld,<br />
dem sowieso kein realer<br />
Wert gegenübersteht, ist zur<br />
Beilegung der Krise aus dem<br />
Verkehr zu ziehen.<br />
U. R.<br />
3 die<strong>Gesellschafter</strong>.de<br />
KORREKTuR<br />
aDithmarschen<br />
ist eine<br />
historische Landschaft<br />
in Schleswig-Holstein,<br />
zugleich auch ein Landkreis.<br />
So sagt es der<br />
Brockhaus – und so ist<br />
es auch. Dass Dithmarschen<br />
in der letzten Ausgabe<br />
der <strong>Gesellschafter</strong>zeitung<br />
kurzerhand<br />
nach Niedersachsen<br />
verlegt wurde, war also<br />
falsch – hat aber auch<br />
etwas Gutes. Denn nun<br />
wissen wir, wie schön es<br />
dort ist: www.dithmarschen.de
24 Dezember 2008<br />
Augen-Blicke<br />
Fotografien zum alltag von Blinden<br />
Von Reinhard Backes<br />
Ein Blick kann schon genügen,<br />
um sich mit anderen<br />
auszutauschen oder eine<br />
Situation zu erfassen. Was<br />
aber, wenn das Sehvermögen<br />
eingeschränkt oder gar<br />
dauerhaft beschädigt ist?<br />
Blinde wissen mehr als Sehende,<br />
dass sich die Welt<br />
auch durch andere <strong>Sinn</strong>e<br />
erfassen lässt. Und dass sich<br />
daraus nicht nur ganz individuelle<br />
„Ansichten“, sondern<br />
auch Einsichten entwickeln<br />
können. Denn der Hör-, der<br />
Tast- und der Geruchssinn<br />
sind nicht weniger wichtige<br />
Schnittstellen zur Umwelt als<br />
das Sehvermögen.<br />
Für Fotografen ist das eine<br />
ganz besondere Herausforderung.<br />
Studentinnen und Studenten<br />
der Staatlichen Akademie<br />
der Bildenden Künste<br />
in Stuttgart haben sie auf<br />
Einladung des Evangelischen<br />
Blinden- und Sehbehinder-<br />
tendienstes Württemberg e.V.<br />
(EBSW) angenommen. Zwischen<br />
März 2007 und August<br />
2008 entstanden zahlreiche<br />
Fotografien, die den Alltag<br />
blinder und sehbehinderter<br />
Menschen festhalten. Alle<br />
Aufnahmen sind in der EBSW-<br />
Wanderausstellung „Augenblick“<br />
zu sehen.<br />
Nach einer ersten Station<br />
in der Stadtbücherei Stuttgart-Backnang<br />
werden die<br />
Fotografien voraussichtlich ab<br />
Ende März 2009 in Esslingen<br />
gezeigt. <strong>Die</strong> genauen Ausstellungsorte<br />
und Termine teilt<br />
das EBSW auf Anfrage mit:<br />
info@ebsw-online.de oder<br />
Telefon: 0 71 91 / 6 00 00.<br />
Während der Ausstellung in<br />
Stuttgart-Backnang konnten<br />
Schülerinnen und Schüler den<br />
Alltag von Menschen mit Sehbehinderung<br />
auch ganz unmittelbar<br />
kennenlernen, etwa<br />
bei einem Einführungskurs in<br />
Blindenschrift.<br />
www.ebsw-online.de<br />
ansichten<br />
Für Menschen mit Sehbehinderung ist Dunkelheit etwas Gewohntes, alltägliches.<br />
Tasten und Geräusche, aber auch Düfte helfen bei der orientierung. Blinde spielen Fußball – auch in einer Nationalmannschaft.<br />
Foto: Nicole heitz<br />
Fotos: carola Plappert & christoph Binder<br />
Foto: Nicole heitz
Beim „Mensch-ärgere-dich-nicht“ werden die Figuren und ihre Position ertastet.<br />
Eigenständig leben, trotz eingeschränktem Sehvermögen.<br />
ansichten Dezember 2008 25<br />
Foto: anne-katrin koch<br />
Foto: christoph Binder<br />
Ein Farberkennungsgerät hilft, kleidung aufeinander abzustimmen.<br />
Das in Braille gesetzte wort verbindet Menschen.<br />
Foto: anne-katrin koch<br />
Foto: christoph Binder
26 Dezember 2008 Filmfestival<br />
Filme ueber Macht<br />
<strong>Die</strong> dritte Filmtournee der <strong>Gesellschafter</strong>-Initiative startet im Januar 2009<br />
Seit drei Jahren stellt die<br />
<strong>Gesellschafter</strong>-Initiative<br />
der Aktion Mensch die Frage:<br />
„In was für einer Gesellschaft<br />
wollen wir leben?“<br />
Sie verweist damit darauf,<br />
dass in einer Demokratie<br />
zumindest theoretisch<br />
„alle Macht <strong>vom</strong> Volke“<br />
ausgeht. Zugleich aber dokumentiert<br />
sie in den weitverzweigten<br />
Diskussionen<br />
dieses „Volkes“ auf die<strong>Gesellschafter</strong>.de,<br />
wie komplex<br />
Machtverhältnisse in<br />
Wirklichkeit sind.<br />
„Keine Macht für Niemand“ ist<br />
eine schöne, aber unmögliche<br />
Utopie, denn politisch wie privat<br />
leben wir in einem komplizierten<br />
Gefüge aus Macht- und<br />
Herrschaftsbeziehungen, ohne<br />
die Gesellschaft gar nicht<br />
denkbar ist. Wo Menschen<br />
sind, ist Macht am Werk – und<br />
wir unterwerfen uns bewusst<br />
oder unbewusst Spielregeln.<br />
Als Mittel gesellschaftlicher<br />
Regulierung setzt Macht die<br />
Anerkennung der Verhältnisse<br />
durch die jeweils Mächtigen<br />
ebenso wie durch die Unterworfenen<br />
voraus. Doch nicht<br />
jede Macht, die allgemein anerkannt<br />
wird, ist deshalb auch<br />
legitim. Ungerechte Machtverhältnisse<br />
offenzulegen, sie zu<br />
TOuRDATEN<br />
uEBER MACHT<br />
Berlin:<br />
09.01.2009<br />
Passau:<br />
16.01 – 27.03.2009<br />
Hamburg:<br />
22.01. – 12.02.2009<br />
Bamberg:<br />
27.01. – 08.02.2009<br />
Plauen:<br />
06.02. – 14.02.09<br />
Biesenthal:<br />
07.02. – 22.02.2009<br />
Eisenach:<br />
03.02. – 08.03.2009<br />
Saarbrücken:<br />
26.02. – 25.03.2009<br />
Boizenburg:<br />
01.03.2009<br />
Finsterwalde:<br />
03.03.2009 – 31.03.2009<br />
Zwickau :<br />
06.03. – 13.03.2009<br />
Das zentrale Motiv zum Filmfestival „ueber Macht“.<br />
kritisieren und zu verändern,<br />
ist nicht nur ein politischer,<br />
sondern auch ein kultureller<br />
Prozess. Veränderung ist allerdings<br />
nur als kollektive Anstrengung<br />
denkbar: „Gegen<br />
organisierte Macht gibt es nur<br />
organisierte Macht; ich sehe<br />
kein anderes Mittel, so sehr<br />
ich es auch bedaure“, schrieb<br />
Albert Einstein 1941.<br />
Mit „ueber Macht“ gehen<br />
die Filmfestivals der <strong>Gesellschafter</strong>-Initiative<br />
in die dritte<br />
Runde. 2006 hatte sich „ueber<br />
arbeiten“ dem Thema Wirt-<br />
schaft und Globalisierung gewidmet,<br />
2007 „ueber morgen“<br />
Utopien und Entwürfe für die<br />
Gesellschaft von morgen zur<br />
Diskussion gestellt.<br />
„ueber Macht“ erforscht die<br />
Ambivalenz der Macht: Sie ist<br />
oft ein Tabu und selten unverhüllt<br />
zu sehen, aber sie verschwindet<br />
nicht, nur weil niemand<br />
hinschaut. Sie kann zum<br />
Missbrauch verführen und ist<br />
doch unverzichtbar für jeden,<br />
der Veränderungen in Gang<br />
setzen will. Worauf es in einer<br />
demokratischen Gesellschaft<br />
ankommt, ist, wie diese Macht<br />
verteilt, kontrolliert, genutzt<br />
und auch wieder entzogen werden<br />
kann. Worauf es in einer sozialen<br />
Gesellschaft ankommt,<br />
ist, dass die Chancen zur<br />
Teilhabe an ihr gerecht verteilt<br />
sind und nicht von Herkunft,<br />
Beziehungen, Finanzkraft oder<br />
wirtschaftlichem Gewicht determiniert<br />
werden.<br />
Das Filmfestival „ueber<br />
Macht“ verdeutlicht explizite<br />
und implizite Machtstrukturen,<br />
legitime und illegitime<br />
Herrschaftsverhältnisse. Es<br />
möchte dazu ermutigen, im<br />
Alltag, in der Öffentlichkeit<br />
und in der Politik die Machtfrage<br />
zu stellen.<br />
<strong>Die</strong> ausgewählten Filme<br />
zeigen die Macht und ihre<br />
Tatort Erde<br />
kurzfilm-wettbewerb zum Thema Natur und Umwelt<br />
Yes, we can – ja, wir schaffen<br />
es! Nicht den Kopf in den<br />
Sand stecken, sondern aktiv<br />
die Zukunft mitgestalten. Genau<br />
das ist das Anliegen der<br />
<strong>Gesellschafter</strong>-Initiative.<br />
Im Internet-Forum „Umwelt“<br />
von die<strong>Gesellschafter</strong>.de wer-<br />
den neue Strategien zu Themen<br />
wie Klimawandel, Artenschutz<br />
oder Rohstoffverknappung<br />
heiß diskutiert. Um<br />
die spannende Thematik ein<br />
wenig <strong>vom</strong> Ballast der Theorie<br />
zu befreien und die Fantasie<br />
durch bewegte Bilder zu beflügeln,<br />
rufen die Aktion Mensch<br />
und der Bund für Umwelt<br />
und Naturschutz Deutschland<br />
(BUND) gemeinsam mit „Brot<br />
für die Welt“ und dem Evangelischen<br />
Entwicklungsdienst<br />
(EED) zur Teilnahme am<br />
Kurzfilm-Wettbewerb „Tatort<br />
Erde“ auf. Teilnehmen kann<br />
jeder, der filmisch etwas beizutragen<br />
hat zur Zukunftsfähigkeit<br />
unserer Gesellschaft<br />
und unseres Planeten. <strong>Die</strong><br />
Filmgattung, ob Animations-,<br />
Dokumentar- oder Kurzspielfilm,<br />
darf frei gewählt werden.<br />
<strong>Die</strong> Filmtechnik spielt<br />
ebenfalls keine Rolle – auch<br />
mit dem Handy kann gedreht<br />
werden.<br />
Kontrolle an naheliegenden<br />
wie unerwarteten Orten: als<br />
Staatsapparat, in politischen<br />
Ämtern und in Institutionen<br />
aller Art, als Diktatur oder Diskussion,<br />
in demokratisch legitimierten<br />
und ritualisierten<br />
Strukturen und als spontaner<br />
Zusammenschluss, aber auch<br />
im Privaten.<br />
Das Festival schaut hinter<br />
die Kulissen eines Nobel-<br />
Internats für die Kinder der<br />
Reichen und Mächtigen und<br />
untersucht, welche Wertvorstellungen<br />
dort vermittelt werden.<br />
Es wirft einen Blick auf<br />
die dubiosen Verflechtungen<br />
des Gentechnik-Konzerns<br />
Monsanto mit der Politik und<br />
den Versuch, seine gewaltige,<br />
aber kaum sichtbare Macht zu<br />
kontrollieren. Es beobachtet<br />
deutsche Firmen dabei, wie<br />
sie sich bei einer der übelsten<br />
Diktaturen der Erde anbiedern,<br />
und amerikanische Abgeordnete<br />
bei der praktischen<br />
Ausübung der Demokratie.<br />
Das Filmfestival „ueber<br />
Macht“ ist in 120 Städten in<br />
ganz Deutschland zu Gast. <strong>Die</strong><br />
<strong>Gesellschafter</strong>-Initiative lädt<br />
ein, mitzudiskutieren über die<br />
Macht, ihre Kontrolle, über<br />
nötige und unnötige Regeln<br />
und die besten Wege zu mehr<br />
Selbstbestimmung.<br />
<strong>Die</strong> Kurzfilme sollten die<br />
Länge von 15 Minuten nicht<br />
überschreiten. Alle Beiträge<br />
können bis zum 30. April 2009<br />
auf dem Internet-Videoportal<br />
von die<strong>Gesellschafter</strong>.de<br />
hochgeladen werden.<br />
Einen überaus durchdachten<br />
Wegweiser, wie das Gestalten<br />
der Zukunft denn aussehen<br />
könnte, liefert übrigens die<br />
BUND-Studie „Zukunftsfähiges<br />
Deutschland in einer<br />
globalisierten Welt“. <strong>Die</strong> gerade<br />
komplett neu überarbeitete<br />
„grüne Bibel“ beschäftigt sich<br />
mit Fragen zur Umwelt- und<br />
Energiepolitik sowie einer<br />
gerechten Entwicklungs- und<br />
Menschenrechtspolitik.<br />
Näheres unter: die<strong>Gesellschafter</strong>.de/tatorterde
Filmfestival<br />
Was Macht mit uns macht<br />
Das Programm im Überblick – 1 Filme aus 9 Ländern in 120 deutschen Städten<br />
Macht – ein Begriff mit<br />
vielen Facetten. <strong>Die</strong> 13<br />
Filme des Festivals „ueber<br />
Macht“ geben 13 verschiedene<br />
Einblicke in das<br />
vielschichtige Thema. Was<br />
bedeutet Macht im privaten<br />
und im öffentlichen<br />
Leben? Wie verhalten sich<br />
Menschen, wenn sie Macht<br />
besitzen? Wie reagieren<br />
Menschen, wenn sie mit<br />
Macht konfrontiert werden?<br />
Jeder Film stellt auf<br />
seine, ganz eigene, Weise<br />
die Machtfrage.<br />
citizen havel<br />
Regie: Miroslav Janek und<br />
Pavel Koutecký<br />
<strong>Der</strong> Dissident wird Präsident.<br />
Von den Kommunisten wurde<br />
er verfolgt. Nach dem Fall des<br />
Regimes wurde er zum ersten<br />
Staatspräsidenten der Tschechischen<br />
Republik. Vaclav Havel.<br />
Zehn Jahre hatte er das<br />
höchste Staatsamt der jungen<br />
Demokratie inne. Während<br />
dieser Zeit begleiteten die Filmemacher<br />
den Präsidenten mit<br />
der Kamera. „Citizen Havel“<br />
erlaubt außergewöhnliche Einblicke<br />
hinter die Kulissen der<br />
Macht und in das Räderwerk<br />
der Politik.<br />
<strong>Die</strong> dünnen Mädchen<br />
Regie: Maria Teresa Camoglio<br />
Diagnose: Magersucht. Sie haben<br />
gehungert bis zur Selbstauflösung<br />
und können nicht<br />
einfach damit aufhören. <strong>Die</strong><br />
Krankheit frisst sich in das<br />
Leben von acht jungen Frauen<br />
zwischen 18 und 29 Jahren<br />
– bis zur vollständigen Machtübernahme.<br />
Maria Theresa<br />
Camoglios Film dokumentiert,<br />
wie die jungen Frauen wieder<br />
eine Beziehung zu ihrem Körper<br />
aufbauen, um damit auch<br />
die Kontrolle über ihr Leben<br />
zurückzugewinnen.<br />
Fotos: EYZmedia<br />
Faustrecht<br />
Regie: Robi Müller und Bernard<br />
Weber<br />
Jugendliche Gewalttäter. In<br />
den Medien werden sie oft zu<br />
„Monstern“ reduziert, und zur<br />
Zuspitzung von Wahlkämpfen<br />
eignen sie sich auch prima.<br />
„Faustrecht“ schaut genauer<br />
hin. Um die beiden 16-jährigen<br />
Hauptpersonen zeichnet der<br />
Film ein differenziertes Bild<br />
von engagierten Helfern, überforderten<br />
Therapeuten und Eltern,<br />
die zwischen Ratlosigkeit<br />
und Desinteresse schwanken.<br />
Für Gott, Zar und Vaterland<br />
Regie: Nino Kirtadze<br />
Mikhail Morozov hat beste<br />
Beziehungen zum russischen<br />
Geheimdienst, dem Militär,<br />
der orthodoxen Kirche und der<br />
Partei Wladimir Putins. Und er<br />
besitzt in der Nähe von Moskau<br />
das Dorf Durakovo, wo er nach<br />
feudalen Gepflogenheiten<br />
herrscht. Demokratie bedeutet<br />
hier Chaos und ist ein Schimpfwort.<br />
Eine Reise in ein Land,<br />
das zuweilen den Eindruck<br />
erweckt, auf dem Weg zurück<br />
ins 19. Jahrhundert zu sein.<br />
Gesetzgeber<br />
Regie: Frederick Wiseman<br />
Drei Monate im Jahr treffen<br />
die Abgeordneten des<br />
Landesparlaments von Idaho<br />
(USA) zusammen, um über<br />
neue Gesetze zu beraten. Den<br />
Rest des Jahres gehen sie ihrem<br />
Beruf nach, wie jeder andere<br />
auch. Demokratie funktioniert<br />
hier anders: direkter,<br />
weniger hierarchisch, offener<br />
– offen für Mitwirkung.<br />
Ihr Name ist Sabine<br />
Regie: Sandrine Bonnaire<br />
Sabine und Sandrine Bonnaire<br />
sind Schwestern. Sabine<br />
ist Autistin. Sandrine dagegen<br />
gehört zu den großen Stars am<br />
Kinohimmel. Ihre erste Arbeit<br />
als Regisseurin hat sie ganz<br />
ihrer Schwester gewidmet.<br />
Manda Bala – Send a Bullet<br />
Regie: Jason Kohn<br />
Eine brasilianische Froschfarm,<br />
ein korrupter Politiker,<br />
ein reicher amerikanischer<br />
Geschäftsmann, ein Entführer<br />
aus den Slums von São Paulo.<br />
Jason Kohn porträtiert in seinem<br />
Film eine Gesellschaft im<br />
Kriegszustand. Jeder versucht,<br />
an die Spitze der Nahrungskette<br />
zu gelangen. Alle wollen<br />
sie Geld, ohne Rücksicht auf<br />
Verluste. Ein visueller Essay,<br />
dessen expressive Bilder und<br />
poppige Klänge mit der Härte<br />
der sozialen Realität kontrastieren.<br />
Monsanto, mit Gift<br />
und Genen<br />
Regie: Marie-Monique Robin<br />
Genetisch veränderte Lebensmittel<br />
sind sicher. Das sagen<br />
die Hersteller-Firmen. Marie-Monique<br />
Robins brillante<br />
Recherche über den Biotechnologie-Konzern<br />
Monsanto<br />
untersucht, wie die „wissenschaftlichen<br />
Beweise“ für<br />
diese Behauptung zustande<br />
kommen. Sie enthüllt die<br />
Einflussnahme des Konzerns<br />
auf Politik und Kontrollbehörden<br />
bei seinem weltumspannenden<br />
Griff nach der Macht<br />
über unser Essen.<br />
Ruhnama – Im Schatten<br />
des heiligen Buches<br />
Regie: Arto Halonen<br />
In der Hauptstadt steht eine<br />
gigantische Statue des Buches<br />
– ein Geburtstagsgeschenk<br />
westlicher Unternehmen. Titel<br />
des Buches: Ruhnama. Sein<br />
Autor: Saparmurat Nijasow,<br />
Diktator von Turkmenistan.<br />
Seine Herrschaft stützt sich<br />
auf einen Personenkult stalinistischer<br />
Monstrosität, erbarmungslose<br />
Unterdrückung<br />
– und lukrative Geschäfte<br />
mit dem Westen. Das Buch<br />
ist immer dabei. <strong>Die</strong> deutsche<br />
Übersetzung übernahm<br />
DaimlerChrysler.<br />
<strong>Die</strong> Schuld, eine Frau<br />
zu sein<br />
Regie: Mohammed Naqvi<br />
<strong>Die</strong> Geschichte einer Selbstbefreiung,<br />
die um die Welt ging.<br />
<strong>Die</strong> Pakistanerin Mukhtar Mai<br />
wird von den Männern eines<br />
Nachbarclans vergewaltigt<br />
– die Strafe eines archaischen<br />
Machtsystems. Doch die junge<br />
Frau weigert sich, die ihr zugedachte<br />
Rolle zu akzeptieren<br />
und sich aus Scham selbst zu<br />
töten, wie es üblich ist. Mit<br />
Hartnäckigkeit und gegen<br />
viele Widerstände bringt sie<br />
die Täter vor Gericht. Mit der<br />
Entschädigungszahlung baut<br />
sie in ihrem Heimatdorf die<br />
erste Schule für Mädchen und<br />
junge Frauen auf.<br />
Schule der Elite<br />
Regie: Daniella Marxer<br />
Wissen ist Macht. In das „Lyceum<br />
Alpinum Zuoz“, einem<br />
imposanten Internat in den<br />
Dezember 2008 27<br />
Schweizer Bergen, schickt<br />
die Führungselite Europas<br />
ihre Kinder. Hier lässt sie<br />
ihre Wertmaßstäbe und Verhaltensregeln<br />
reproduzieren.<br />
Demokratische Ideale wie Individualität<br />
und eigenständiges<br />
Denken scheinen nicht<br />
dazuzugehören.<br />
Strange Culture/<br />
Fremdkulturen<br />
Regie: Lynn Hershman Leeson<br />
Steve Kurtz ist Performance-<br />
Künstler, seine Arbeit dreht<br />
sich um das Thema Biotechnologie.<br />
Seine Arbeitsmittel<br />
– harmlose Bakterienkulturen<br />
– erregen in der Terrorfurcht<br />
nach dem 11. September<br />
die Aufmerksamkeit<br />
des FBI. Agenten in Schutzanzügen<br />
durchsuchen seine<br />
Wohnung. <strong>Der</strong> Vorwurf: Bio-<br />
Terrorismus. Unvermittelt<br />
sieht Kurtz sich von einem<br />
übermächtigen Staat bedroht.<br />
<strong>Die</strong>ser Film ist Teil<br />
einer internationalen Aktion,<br />
mit der sich bekannte<br />
Künstler wie Tilda Swinton<br />
und die Residents mit Kurtz<br />
solidarisieren.<br />
Streik(t)raum<br />
Regie: Matthieu Chatellier<br />
und Daniela de Felice<br />
Als die französische Regierung<br />
Anfang 2006 ein<br />
Gesetz durchsetzen will, mit<br />
dem Berufseinsteiger zwei<br />
Jahre lang fristlos entlassen<br />
werden können, proben die<br />
Studenten den Aufstand und<br />
besetzen die Universitäten.<br />
<strong>Die</strong> streikenden Studenten<br />
lernen etwas, das im universitären<br />
Leben selten vorkommt:<br />
trotz widerstreitender<br />
Ansichten gemeinsame<br />
Entscheidungen zu finden,<br />
mit Macht umzugehen und<br />
Macht auszuüben.
28 Dezember 2008<br />
Aktion Mensch · 53175 Bonn<br />
PVST, DPAG „Entgelt bezahlt“ „Ich möchte in einer Gesellschaft leben, in der Ermöglicher wieder<br />
in der Überzahl sind statt der Verwalter und Verhinderer.<br />
Ich möchte in einer Gesellschaft leben, die sich mit Konflikten<br />
auseinandersetzt, statt davor ängstlich davonzulaufen und<br />
sich von banaler Unterhaltung ablenken und zuballern zu las-<br />
Dr. <strong>Die</strong>ter wedel,<br />
autor und Schauspieler<br />
sen. Ich möchte in einer Gesellschaft leben, die es ablehnt, sich<br />
durchnummerieren zu lassen.“<br />
3 die<strong>Gesellschafter</strong>.de<br />
„Nicht alles an die große Glocke hängen“<br />
christine Neubauer über soziales Engagement und die Verantwortung Prominenter<br />
Christine Neubauer spielt<br />
nicht nur im Fernsehen<br />
eine Ärztin, die in einem<br />
Krankenhaus in der afrikanischen<br />
Provinz Menschen<br />
hilft. Auch im echten Leben<br />
engagiert sich die Münchner<br />
Schauspielerin für Menschen<br />
in Not. Seit 2007 ist<br />
sie Botschafterin des Deutschen<br />
Roten Kreuzes.<br />
Frau Neubauer, was<br />
macht eigentlich eine<br />
DRk-Botschafterin?<br />
Ich repräsentiere das Deutsche<br />
Rote Kreuz in der Öffentlichkeit<br />
und lenke mit meinem<br />
Namen die Aufmerksamkeit<br />
auf Projekte, die es unterstützt.<br />
So habe ich bei Dreharbeiten<br />
in Namibia ein Projekt<br />
besucht, in dem das DRK hilft,<br />
die Lebenssituation von Aids-<br />
Waisen und HIV-positiven<br />
Kindern zu verbessern.<br />
wie kam es zu dieser<br />
Zusammenarbeit?<br />
Das begann, als ich 2007 den<br />
Film „Suchkind 312“ gedreht<br />
habe. Da ging es darum, dass<br />
ich in den Kriegsendwirren<br />
mein Kind verloren habe und<br />
es mit Hilfe des Roten Kreuzes<br />
gesucht und gefunden habe.<br />
AN DER ECKE<br />
Jeder vierte Deutsche war in<br />
Folge des Zweiten Weltkrieges<br />
auf der Suche nach Angehörigen<br />
oder wurde selbst gesucht.<br />
Das war auch in meiner Familie<br />
so. Und auch heute noch<br />
werden Menschen über den<br />
Suchdienst des Deutschen<br />
Roten Kreuzes gesucht.<br />
Sie engagieren sich auch<br />
für andere organisationen.<br />
Ja, zum Beispiel für „Save the<br />
Children“ und für „Plan International“.<br />
Für diese Organisation<br />
habe ich ein Patenkind in<br />
Indien begleitet, bis es seine<br />
Schulbildung abgeschlossen<br />
hatte. Ich habe es auch besucht.<br />
wie wählen Sie Projekte<br />
aus?<br />
Für mich ist der persönliche<br />
Bezug sehr wichtig. Deshalb<br />
sind es meist Dinge, die ich<br />
über meine Arbeit kennengelernt<br />
habe oder die mir sehr<br />
am Herzen liegen. Immer<br />
geht es darum, benachteilig-<br />
ten Kindern Möglichkeiten zu<br />
eröffnen, ihre Zukunft selbst<br />
zu gestalten. Da ich mich<br />
aber immer sehr persönlich<br />
einsetze, muss ich mein Engagement<br />
auf eine Handvoll<br />
Foto: Picture alliance<br />
Le tzte<br />
Für christine Neubauer ist persönliche hilfe wichtiger als Publicity.<br />
Projekte begrenzen. Deshalb<br />
kann ich leider nicht alle Bitten<br />
annehmen, die an mich<br />
herangetragen werden.<br />
Sie unterstützen vor<br />
allem international tätige<br />
organisationen. warum?<br />
Ich denke, es hat damit zu tun,<br />
dass ich durch meine Dreharbeiten<br />
viel in der Welt herumkomme.<br />
Aber darüber vergesse<br />
ich die Situation im eigenen<br />
Land nicht. Auch hier engagiere<br />
ich mich, aber das hänge ich<br />
nicht an die große Glocke.<br />
können Sie uns dennoch<br />
ein Beispiel nennen?<br />
Ich habe mit meinem Mann eine<br />
Familie mit zwei schwerstbehinderten<br />
Mädchen unterstützt<br />
und eine Delfin-Therapie<br />
in Florida organisiert.<br />
Das war ein sehr persönlicher<br />
Kontakt. Ich habe die beiden<br />
Mädchen auch kennen-<br />
gelernt, das haben wir ganz<br />
privat gemacht, da war keine<br />
Presse dabei.<br />
warum?<br />
Ich sehe zwar, dass Publicity<br />
nutzt, um die Aufmerksamkeit<br />
auf Missstände und<br />
Hilfsprojekte zu lenken. Das<br />
setze ich ja auch ein. Aber<br />
es hat schon mal den Beigeschmack:<br />
Da produziert sich<br />
einer und nutzt sein Engagement,<br />
um sich selbst in der<br />
Öffentlichkeit darzustellen.<br />
Das möchte ich vermeiden,<br />
indem ich auch Dinge tue, die<br />
mit der Öffentlichkeit überhaupt<br />
nichts zu tun haben.<br />
Letztendlich aber ist es nicht<br />
so wichtig, was sich einer<br />
dabei denkt, wenn er hilft.<br />
Hauptsache, er tut es.<br />
Das Interview führte<br />
Anja Martin