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Juni 2009 - Die Gesellschafter.de

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2 <strong>Juni</strong> <strong>2009</strong>MeinungAus <strong>de</strong>m <strong>Gesellschafter</strong>-TagebuchFrauenrechte in GefahrVon Elias Bier<strong>de</strong>l„Männer und Frauen sindgleichberechtigt“ – seitnunmehr 60 Jahren steht<strong>de</strong>r Satz klar und ein<strong>de</strong>utigim Grundgesetz. Und dochsind Frauen weiterhin inverantwortlichen Positionenunterrepräsentiert,haben auf <strong>de</strong>m Arbeitsmarktschlechtere Chancenund verdienen bei gleicherLeistung weniger Geld alsihre männlichen Kollegen.Autorinnen und Autorensuchen im <strong>Gesellschafter</strong>-Tagebuch nach Grün<strong>de</strong>nund Lösungen.„Frauen verdienen weniger,weil sie Frauenarbeiten verrichten,und Frauenarbeitenwer<strong>de</strong>n geringer bezahlt,weil sie von Frauen ausgeübtwer<strong>de</strong>n.“ Der sprichwörtlicheZirkelschluss <strong>de</strong>r US-amerikanischenS o z i a l -psyc holo -ginnen SharonShepelaund AnnV i v i a n ogelte unverän<strong>de</strong>rt,fin<strong>de</strong>tBrigitteT r i e m s ,Präsi<strong>de</strong>ntin<strong>de</strong>r Europäischen Frauenlobby:„In <strong>de</strong>r geschlechtsspezifischenAufteilung undBewertung von Arbeit konstituiertsich die diskriminieren<strong>de</strong>Geschlechterhierarchietäglich neu: trotz gestiegenerQualifikation von Frauen – inDeutschland, in Europa, weltweit“,lautet ihr Befund.Und die Benachteiligungvon Frauen droht sich inZeiten <strong>de</strong>r Finanz- und Wirtschaftskrisenoch einmalzu verschärfen. <strong>Die</strong> Forschungsergebnissevon KlausDörre, Professor für Arbeits-,Industrie- und Wirtschaftssoziologie,weisen in dieseRichtung: „In Deutschlandverdienen bereits etwa 6,5Millionen Menschen wenigerals zwei Drittel <strong>de</strong>sDurchschnittslohns. Frauengehören zu <strong>de</strong>r am stärkstenbetroffenen Gruppe.“ Denwachsen<strong>de</strong>n Druck auf dieArbeitnehmer bekommenweibliche Beschäftigte amheftigsten zu spüren. Bereitserrungene Emanzipations-Erfolge scheinen erneut inGefahr. „Der Prozess <strong>de</strong>rGleichberechtigung droht insStocken zu geraten, wenndie Milliar<strong>de</strong>n ohne ernstzunehmen<strong>de</strong>soziale Auflagenzu Banken und Konzernengeleitet wer<strong>de</strong>n“, befürchtetdie PolitikwissenschaftlerinUta von Winterfeld. „Unteran<strong>de</strong>rem <strong>de</strong>shalb, weil dieprekär Beschäftigten von Krisenzuerst betroffen sind.“Das bekommen vor allemjene Frauen zu spüren, dieauf <strong>de</strong>r Suche nach Arbeit ihreHeimat verlassen mussten.„Frauen sind zunehmend indie weltweite Arbeitsmigrationinvolviert“, weiß die BerlinerRechtsanwältin Naile Tanis.„Hierbei können sie beson<strong>de</strong>rsleicht Opfer von struktureller,psychischer o<strong>de</strong>r physischerGewalt wer<strong>de</strong>n.“ Im Extremfallführe die systematischeA u s b e u -tung vonFrauen zuFormen <strong>de</strong>rSklaverei, auchin Deutschland.Damit sich die aktuelleKrise nicht weitervor allem zu Lasten vonFrauen auswirkt, mussgegengesteuert wer<strong>de</strong>n. „<strong>Die</strong>Ungerechtigkeit geschlechtergerechtverteilen!“, lautet<strong>de</strong>r Slogan <strong>de</strong>r JournalistinMithu Melanie Sanyal. Undsie erinnert in diesem Zusammenhangdaran, „daßdie Vereinbarkeit von Familieund Beruf nicht mehr alleinFrauensache sein sollte.“Hier sind wohl vor allem dieMänner gefragt. Ist <strong>de</strong>r verfassungsrechtlichverbriefteAnspruch auf Gleichberechtigungin <strong>de</strong>n Köpfen angekommen?Das schon, meintdie UNO-FrauenrechtlerinHanna Beate Schöpp-Schilling:„Im Bewusstsein vonMännern und Frauen habensich die Rollenerwartungenfür Frauen und Männergeän<strong>de</strong>rt“, fin<strong>de</strong>t sie, „auchwenn es an <strong>de</strong>r praktischenUmsetzung dann doch immerwie<strong>de</strong>r hapert!“<strong>Die</strong> kompletten Beiträge:die<strong>Gesellschafter</strong>.<strong>de</strong>/tagebuchAutoritär, <strong>de</strong>mokratisch o<strong>de</strong>r flexibel?Eltern auf <strong>de</strong>r Suche nach Konzepten für ihre Kin<strong>de</strong>rWo es früher um Disziplinund Pflichterfüllung ging,steht heute die Erziehungzu selbstbewussten undstarken Menschen im Mittelpunkt.Das ist das Ergebnis<strong>de</strong>r Allensbach-Studie„Generationenbarometer<strong>2009</strong>“. Ein erfreuliches Ergebnis,meint <strong>de</strong>r BildungsforscherProfessor KlausHurrelmann.Prof. Dr. Klaus Hurrelmannlehrt seit<strong>2009</strong> an <strong>de</strong>r HertieSchool of Governancein Berlin.„In <strong>de</strong>n Jugendstudien istes gera<strong>de</strong>zu überwältigend,dass 72 Prozent <strong>de</strong>r befragtenDIE INITIATIVEa„In was für einer Gesellschaftwollen wir leben?“Auf <strong>de</strong>r Internetseitedie<strong>Gesellschafter</strong>.<strong>de</strong>wer<strong>de</strong>n Antworten auf dieseFrage gesammelt, diskutiertund kommentiert.aWer sich freiwillig engagierenmöchte, kann in einer Datenbank nachwohnortnahen Adressen von Verbän<strong>de</strong>nund Initiativen suchen.aNeue I<strong>de</strong>en für Projekte und Aktionenkönnen mit bis zu 4.000 Euro geför<strong>de</strong>rtwer<strong>de</strong>n.aIn speziellen Themenforen können Themenwie Armut, Bildung, Familienpolitik,Teilhabe, Konsum und Glück, Umwelt,12- bis 25-Jährigen sagen,dass sie ihre eigenen Kin<strong>de</strong>reinmal genauso erziehenmöchten, wie sie durch ihreEltern erzogen wor<strong>de</strong>n sind.Das ist ein Rekordwert, <strong>de</strong>n esso noch nie gegeben hat. <strong>Die</strong>Beziehung zwischen <strong>de</strong>n Generationenist offensichtlichsehr gut.Dass Erziehungsratgeberheute <strong>de</strong>nnoch reißen<strong>de</strong>nAbsatz fin<strong>de</strong>n, wi<strong>de</strong>rsprichtdiesem Trend nur auf <strong>de</strong>nersten Blick. Denn es ist klar,dass in einer <strong>de</strong>mokratischenGesellschaft mit großen Offenheitendas Erziehen vonKin<strong>de</strong>rn und Jugendlichenfür Väter und Mütter heutesehr komplex ist. So schwerwie heute ist es <strong>de</strong>n Elternnoch nie gefallen, das richtigeVerhalten in ihrer Erziehungzu fin<strong>de</strong>n.Es gibt Bestsellerbücher,in <strong>de</strong>nen Psychiater, Psychotherapeuteno<strong>de</strong>r ehemaligeSchulleiter dafür plädieren,dass Eltern ihre Rolle als einenatürliche Autoritätspersonausüben. Manche gehen nochweiter und sagen, dass Disziplinwie<strong>de</strong>r das oberste Zielsein muss.<strong>Die</strong> Signale <strong>de</strong>r neuen Studiehalte ich insgesamt für ermutigend.<strong>Die</strong> Eltern gehen flexibelauf verän<strong>de</strong>rte gesellschaftlicheVerhältnisse ein. Mankann nur hoffen, dass das auchin <strong>de</strong>n Institutionen, wo dieBerufspädagogen tätig sind, indie gleiche Richtung geht undmit <strong>de</strong>r nötigen Professionalitätabgesichert wird.“Wirtschaft und Arbeit aktivund kontrovers diskutiertwer<strong>de</strong>n.aZu <strong>de</strong>n Diskussionen tragenauch Persönlichkeiten<strong>de</strong>s öffentlichen Lebens(Wissenschaftler, Künstler,Unternehmer etc.) bei. Sieerläutern ihre Konzepte und Mo<strong>de</strong>lle fürdie Fortentwicklung unserer Gesellschaftund stellen sie zur Diskussion.aIn einem Tagebuch stellt täglich ein an<strong>de</strong>rerGastkommentator eine Zeitungsmeldung<strong>de</strong>s Tages vor und kommentiert sie.a<strong>Die</strong> <strong>Gesellschafter</strong>-Zeitung kann onlineheruntergela<strong>de</strong>n und kostenfrei bestelltwer<strong>de</strong>n.


Junge Journalisten<strong>Juni</strong> <strong>2009</strong> We<strong>de</strong>r vernachlässigt noch verdrängtEin Film über das Leben mit Geschwistern und <strong>de</strong>ren Behin<strong>de</strong>rungVon Lena HutfilsWas be<strong>de</strong>utet die Behin<strong>de</strong>rungeines Kin<strong>de</strong>s für seineGeschwister? Zu wenigAufmerksamkeit <strong>de</strong>r Eltern,eine Last für die Zukunft, sodas Vorurteil. Stimmt nicht,sagt Kim Ronacher aus Erfahrung– und drehte einenFilm darüber.„Ich möchte in einer Gesellschaftleben, in <strong>de</strong>r es nichtnur eine Norm gibt, son<strong>de</strong>rnin <strong>de</strong>r gera<strong>de</strong> die Unterschie<strong>de</strong>zwischen <strong>de</strong>n Menschen anerkanntund respektiert wer<strong>de</strong>n“,wünscht sich Kim AnnakathrinRonacher. Sie hat ihreGrün<strong>de</strong>: Als Schwester zweierKin<strong>de</strong>r mit Behin<strong>de</strong>rung hatsie oft genug erlebt, wieunangenehm berührt vieleLeute auf das „an<strong>de</strong>rs sein“ihrer Geschwister reagierten.An<strong>de</strong>re bemitlei<strong>de</strong>ten sie – imGlauben, dass die Geschwistereine große Last für Kim AnnakathrinRonacher seien. „<strong>Die</strong>oft bestürzte Reaktion vonMitmenschen bei diesem Themaist gar nicht notwendig.Das wollte ich zeigen“, sagtRonacher. Also beschloss sie,einen Film über das Leben vonGeschwistern mit und ohneBehin<strong>de</strong>rung zu drehen.Trisomie 21 beimZwillingsbru<strong>de</strong>r„Meine Schwester ist behin<strong>de</strong>rt– Na und!?“ heißt <strong>de</strong>rFilm, <strong>de</strong>r die verschie<strong>de</strong>nenSeiten solch eines LebensDer Film„Meine Schwester ist behin<strong>de</strong>rt– Na und!?“ (Länge 40Min.) kann ab sofort für dieprivate Nutzung über <strong>de</strong>nVerein ZukunftssicherungBerlin e. V. für Menschenmit geistiger Behin<strong>de</strong>rungfür € 14,- zzgl. € 2,50 Versandkostenunter info@zukunftssicherung-ev.<strong>de</strong>bestellt wer<strong>de</strong>n.Für öffentliche Vorführungen,<strong>de</strong>n Einsatz fürSchulungszwecke und Weiterverleihwen<strong>de</strong>n Sie sich perE-Mail bitte an: meine-geschwister-und-ich@gmx.netFotos: picture AllianceMitleid statt Respekt: „<strong>Die</strong> oft bestürzte Reaktion von Mitmenschen ist nicht notwendig.“darstellen will. Saro, Danja,Till und Shamsey, das sinddie Hauptpersonen in <strong>de</strong>m40-minütigen Film. Alle viersind Geschwister von Kin<strong>de</strong>rnund Jugendlichen mit Behin<strong>de</strong>rungund schil<strong>de</strong>rn, wasdie Behin<strong>de</strong>rung für sie undihr Leben be<strong>de</strong>utete, nochimmer be<strong>de</strong>utet. Sie geben<strong>de</strong>m Zuschauer einen Einblickin ihren Alltag. Und erzählen,dass sie sich – an<strong>de</strong>rs als diemeisten Menschen <strong>de</strong>nken– we<strong>de</strong>r vernächlässigt nochin <strong>de</strong>n Hintergrund gedrängtfühlten o<strong>de</strong>r außergewöhnlicheEinschränkungen durchihre Geschwister erfahrenmussten.„Wir sind, wie Geschwistereben sind“, sagt Hanno undgrinst ein wenig verlegenin die Kamera. Hanno hatdas Down-Syndrom, auchTrisomie 21 genannt. Für seineZwillings-Schwester Saro,die keine Behin<strong>de</strong>rung hat,war es dadurch nicht immereinfach. So erzählt sie in <strong>de</strong>mFilm, wie sie einmal im Busmiterlebte, dass ihr Bru<strong>de</strong>rvon an<strong>de</strong>ren Jugendlichenwegen seiner Behin<strong>de</strong>rungverspottet wur<strong>de</strong>. Doch einkomplett an<strong>de</strong>res Leben alsKin<strong>de</strong>r mit „normalen“ Geschwistern– das hatte Saronach eigener Einschätzungnicht.<strong>Die</strong> I<strong>de</strong>e zu <strong>de</strong>m Filmprojekthatte die 26-jährige KimAnnakathrin Ronacher schoneine Weile im Kopf. „Bislanggab es wenig zum Thema Geschwistervon Behin<strong>de</strong>rten. ImVor<strong>de</strong>rgrund stand entwe<strong>de</strong>rdie ganze Familie o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>rBehin<strong>de</strong>rte selbst“, begrün<strong>de</strong>tsie ihre Entscheidung. Gera<strong>de</strong>dieser Mangel an Informationenzum Thema machte dasProjekt für sie so wichtig. AlsGeldgeber gewann sie <strong>de</strong>nVerein „Zukunftssicherunggeistig Behin<strong>de</strong>rter e.V. Berlin“sowie die Aktion Menschmit ihrer Initiative „<strong>Die</strong> <strong>Gesellschafter</strong>“.Gemeinsam mit <strong>de</strong>n vier Geschwistern,die im Film aus ihremLeben erzählen, und vielenweiteren Ehrenamtlichensetzte Ronacher ihre I<strong>de</strong>e indie Tat um. Mit Ausnahmevon Ton- und Kameramannarbeiteten alle Beteiligten reinehrenamtlich. „Mir war diesesProjekt einfach wichtig – dafürarbeitet man gerne malunentgeltlich“, sagt ProjektleiterinRonacher.Für Till, einer <strong>de</strong>r Protagonisten,be<strong>de</strong>utete <strong>de</strong>r Filmnicht nur Arbeit, er stecktenicht nur Zeit und Energiehinein. Son<strong>de</strong>rn er holte aus<strong>de</strong>m Projekt auch viel für sichheraus: „Durch das Projekthabe ich mich noch einmalviel intensiver mit <strong>de</strong>m Themaauseinan<strong>de</strong>rgesetzt. Eszusammen mit <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>renGeschwistern reflektiert undso neue Einsichten gewonnen“,sagt Till. „Und <strong>de</strong>r Filmist am En<strong>de</strong> besser gewor<strong>de</strong>n,als wir uns das alle vorgestellthaben.“JugendpresseaNachwuchsjourna-listen <strong>de</strong>r JugendpresseDeutschland haben erstmals2007/2008 bun<strong>de</strong>sweitProjekte besucht, dieim Rahmen <strong>de</strong>r <strong>Gesellschafter</strong>-Initiativegeför<strong>de</strong>rtwer<strong>de</strong>n. Im Mai <strong>2009</strong>mel<strong>de</strong>ten sich weitere jungeReporter zwischen 16und 28 Jahren, die übersoziale Themen berichtenwollten. Sie alle sammeltenEindrücke, sprachenmit <strong>de</strong>n Beteiligten undportraitierten zahlreicheInitiativen. Eine AuswahlNicht nur die Beteiligtenselbst sind mit <strong>de</strong>m Filmzufrie<strong>de</strong>n. Auch Eltern, dieebenfalls zur Zielgruppe <strong>de</strong>sFilmes gehören, fühlen sichangesprochen: „Wir habenjeweils ein Kind mit und ohneBehin<strong>de</strong>rung. <strong>Die</strong> Frage, wiewohl das Verhältnis <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>nsich in Zukunft entwickelnwird, steht mir ständig vorAugen”, beschreibt ein Vaterseine Gefühle: „Der Film gibtmir in dieser Hinsicht Mut un<strong>de</strong>ine bessere Vorstellung.“veröffentlicht die <strong>Gesellschafter</strong>zeitungAusgabefür Ausgabe.aZwargibt es viele I<strong>de</strong>enfür eine lebenswertereGesellschaft, doch nichtimmer gelingt es, sieauch Realität wer<strong>de</strong>nzu lassen. die<strong>Gesellschafter</strong>.<strong>de</strong>unterstützt engagierteMenschen bei<strong>de</strong>r Umsetzung ihrerKonzepte in konkreteProjekte mit bis zu 4.000Euro. Anträge können gestelltwer<strong>de</strong>n unter: foer<strong>de</strong>rung.aktion-mensch.<strong>de</strong>


4 <strong>Juni</strong> <strong>2009</strong> BerichteBIENE-StartaZum sechsten Mal undnoch bis zum 15. Juli<strong>2009</strong> suchen die AktionMensch und die StiftungDigitale Chancen die besten<strong>de</strong>utschsprachigenbarrierefreien Seiten imInternet. Ziel <strong>de</strong>s BIENE-Wettbewerbs – BIENEsteht für „BarrierefreiesInternet eröffnet neueEinsichten“ – ist es, vorbildlichebarrierefreieWebseiten zu würdigenund bekannt zu machen.aAmWettbewerb könnenAnbieter und Gestalter<strong>de</strong>utschsprachiger Internet-Angeboteteilnehmen.Für Studieren<strong>de</strong>und Auszubil<strong>de</strong>n<strong>de</strong> istein Nachwuchspreis ausgeschrieben.Außer<strong>de</strong>mkönnen InternetnutzerWebseiten, die sie imSinne <strong>de</strong>r Barrierefreiheitfür beson<strong>de</strong>rs gelungenhalten, für eine BIENEvorschlagen. Bewerbungenund Vorschlägesowie alle weiteren Informationenzum Wettbewerbunterwww.biene-wettbewerb.<strong>de</strong>UN-Konvention komplett umsetzenGleichstellung von Menschen mit Behin<strong>de</strong>rungen in zentralen Punkten sichernGehörlose Menschen informierenin München überihre Probleme im Alltag,Leipziger Aktivisten organisiereneine Kundgebung zurUN-Konvention, Berlinermit und ohne Behin<strong>de</strong>rung<strong>de</strong>monstrieren für Chancengleichheitund Teilhabeam gesellschaftlichen Leben,die ZukunftswerkstattZivilcourage tagt in Uelzen.Rund 300 solcher Veranstaltungenfan<strong>de</strong>n Anfang Maian vielen <strong>de</strong>utschen Ortenstatt. Den Anlass dazu bot <strong>de</strong>r5. Mai, <strong>de</strong>r Europäische Protesttagzur Gleichstellung vonMenschen mit Behin<strong>de</strong>rungen.Am 26. März <strong>2009</strong>, fast auf <strong>de</strong>nTag genau zwei Jahre nach<strong>de</strong>r Unterzeichnung, trat dieneue UN-Konvention über dieRechte von Menschen mit Behin<strong>de</strong>rungenin Deutschlandin Kraft. Zentrale Punkte <strong>de</strong>rKonvention sind das Rechtauf Arbeit, die Festschreibungeines integrativen Bildungssystems,die For<strong>de</strong>rung nacheinem selbstbestimmten Lebenund die Verpflichtungzur Barrierefreiheit. DamitMenschen mit Behin<strong>de</strong>rungnicht nur auf <strong>de</strong>m Papiergleichberechtigt sind, son<strong>de</strong>rndies auch im täglichen Lebenerfahrbar ist, riefen die Verbän<strong>de</strong><strong>de</strong>r Behin<strong>de</strong>rtenhilfeund -selbsthilfe gemeinsammit <strong>de</strong>r Aktion Mensch am 5.Mai <strong>2009</strong> zu bun<strong>de</strong>sweitenAktionen vor Rathäusern, inFußgängerzonen und auf zentralenPlätzen auf.Nichts über unsohne unsGemeinsam mit <strong>de</strong>r Behin<strong>de</strong>rtenbeauftragten<strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>sregierungKarin Evers-Meyerhaben ca. 250 Menschen mitBehin<strong>de</strong>rung auf einer Demonstrationvor <strong>de</strong>m BerlinerBun<strong>de</strong>skanzleramt <strong>de</strong>utlichgemacht: <strong>Die</strong> Umsetzung <strong>de</strong>rUN-Konvention über die Rechte<strong>de</strong>r Menschen mit Behin<strong>de</strong>rungin Deutschland darf nurnach <strong>de</strong>m Motto „Nichts überuns ohne uns“ angepackt wer<strong>de</strong>n.Um ein aktives Mitbestimmenund Mitgestalten ging esauch im nie<strong>de</strong>rsächsischenUelzen. Der Verein „SelbstbestimmtesLeben Uelzen e.V.“hat in Zusammenarbeit mit diversenSelbsthilfegruppen vorOrt eine Zukunftswerkstattdurchgeführt. Auf <strong>de</strong>m zentralenRathausplatz konnten„Gemeinsam bin ich stark“ in Bielefeld„Zivilcourage zeigen“ – bei einer 5. Mai-Aktion in Uelzen.Ein Aktionstag zum 5. Mai führt zu Kontakten, die es vorher so nicht gegeben hatFoto: Dörthe HagenguthInteressierte in <strong>de</strong>r Mal- undSchreibwerkstatt sowie aufeinem „Wunschbaum“ ihrenGedanken zum Thema „Zivilcouragezeigen – Gesellschaftgestalten“ kreativen Ausdruckverleihen.In Bielefeld haben sich indiesem Jahr zum ersten Maldie wichtigsten Akteure in<strong>de</strong>r Behin<strong>de</strong>rtenhilfe und-selbsthilfe zu einem Netzwerkzusammengefun<strong>de</strong>n.Das Ziel: einen Aktionstagunter <strong>de</strong>m Motto „Gemeinsambin ich stark“zu organisieren. Mit einemRollstuhlparcours, einemabwechslungsreichen Bühnenprogrammmit behin-Foto: Jürgen Christ<strong>de</strong>rten und nicht behin<strong>de</strong>rtenKünstlern und einer Diskussionzum Thema „UN-Konvention über die Rechtevon Menschen mit Behin<strong>de</strong>rungen“wollten die Veranstalterein Bewusstsein fürdie Lebenswelt von behin<strong>de</strong>rtenMenschen schaffen.Birgit Benad, Koordinatorin<strong>de</strong>s Aktionstages, nimmtim nachfolgen<strong>de</strong>n Interviewzum 5. Mai Stellung.Bühne frei in Bielefeld – auch für Menschen mit Behin<strong>de</strong>rung.Wie kam es zu <strong>de</strong>r Zusammenarbeit?Es gibt schon sehr lange einzelneAktionen anlässlich <strong>de</strong>s5. Mai in Bielefeld. Aber es hatnoch nie eine große gemeinsameAktion gegeben. Wir, dasheißt Bethel, haben 2003, imEuropäischen Jahr <strong>de</strong>r Menschenmit Behin<strong>de</strong>rung, einegroße Aktion gemacht undwollten dies gerne gemeinsammit an<strong>de</strong>ren wie<strong>de</strong>rholen. Insgesamtwaren acht Organisationenbeteiligt. Auch Menschenmit Behin<strong>de</strong>rung haben an <strong>de</strong>rPlanung und Durchführungmitgearbeitet.War <strong>de</strong>r gemeinsame Aktionstagin Bielefeld erfolgreich?<strong>Die</strong> Reaktionen <strong>de</strong>r Bevölkerungund in <strong>de</strong>r Stadt warensehr positiv. Das Wetter warlei<strong>de</strong>r für die Veranstaltungauf <strong>de</strong>m Jahnplatz schlecht,ansonsten wäre das Interessesicherlich noch größergewesen. Auf je<strong>de</strong>n Fall sinddurch die Aktion menschlicheKontakte entstan<strong>de</strong>n, die esvorher nicht gegeben hat.Außer<strong>de</strong>m hatten sowohl dievorbeikommen<strong>de</strong>n Zuschauerals auch die Menschen mit Be-ImpressumHerausgeber: Aktion Mensch, Heinemannstraße 36, 53175 Bonn.Leitung: Christian Scheifl, Christian Schmitz (V.i.S.d.P.).Redaktion: Reinhard Backes (Chef vom <strong>Die</strong>nst), Mechthild Buchholz,Mark Czogalla, Bithja Isabel Gehrke (Layout),Jutta vom Hofe (Textredaktion), Karin Jacek, Ulrich Steilen.Kontakt zur Redaktion: Tel. 02 28 - 20 92-388, Fax 02 28 - 20 92-333.E-Mail: zeitung@die<strong>Gesellschafter</strong>.<strong>de</strong>, Druck: General-Anzeiger, Bonn.die<strong>Gesellschafter</strong>.<strong>de</strong> erscheint regelmäßig kostenlos und liegt bun<strong>de</strong>sweitan ausgewählten Stellen aus. Interessenten, die die Zeitungauslegen möchten, können sich unter www.die<strong>Gesellschafter</strong>.<strong>de</strong>/zeitungeintragen o<strong>de</strong>r wen<strong>de</strong>n sich an Tel. 02 28 - 20 92-345.<strong>Die</strong> in <strong>de</strong>n Zitaten und Forumsbeiträgen abgedruckten Meinungen geben nichtin je<strong>de</strong>m Fall die Meinung <strong>de</strong>r Redaktion wie<strong>de</strong>r.hin<strong>de</strong>rung, die auf <strong>de</strong>r Bühnedas Programm mitgestalteten,sehr viel Spaß.Birgit Benad arbeitet für <strong>de</strong>nStiftungsbereich Behin<strong>de</strong>rtenhilfe<strong>de</strong>r v. Bo<strong>de</strong>lschwinghschenAnstalten Bethel.


We t tbe werb <strong>Juni</strong> <strong>2009</strong> 5„Lebe <strong>de</strong>inen Traum“Senioren als „Berater“ für die Welt von morgen„Verträume nicht <strong>de</strong>in Leben,son<strong>de</strong>rn lebe <strong>de</strong>inenTraum – lieber spät alsnie!“, rät Claus Günther(78) in seinem „Brief anmorgen“.konische Werk <strong>de</strong>r EvangelischenKirche in Deutschlandalte Menschen dazu auf, ihreI<strong>de</strong>en und Visionen aufzuschreiben.<strong>Die</strong> Resonanz wargroß. Viele Teilnehmer undTeilnehmerinnen betonen,wie wichtig es sei, einan<strong>de</strong>rzuzuhören und <strong>de</strong>n Dialogzwischen <strong>de</strong>n Generationennicht abreißen zu lassen. Mancheentwerfen ganz konkreteStrukturen einer künftigenOrdnung. <strong>Die</strong> Beiträge vermittelndie Ereignisse, ÄngsteNach anwendbaren Lebenserfahrungenund Konzeptenfür eine künftige Gesellschaftwar beim Seniorenschreibwettbewerb„Mein Brief andie Gesellschaft von morgen“gefragt. Damit riefen dieAktion Mensch und das DiaundHoffnungen eines ganzenJahrhun<strong>de</strong>rts. Der häufigsteAppell: „Nie wie<strong>de</strong>r Krieg!“.Betont wird auch die VerantwortungDeutschlands für einfriedliches Miteinan<strong>de</strong>r. „<strong>Die</strong>Gestaltungskraft, welche dieBriefe trotz oftmals traumatischerKriegserlebnisse ausstrahlen,unterstreichen diebe<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> Rolle <strong>de</strong>r Seniorenals Botschafter für die Gesellschaftvon morgen“, so JurymitgliedRoswitha Kottnik vomDiakonie Bun<strong>de</strong>sverband.Gewinner stehen fest!aMenschen ab 70 Jahrenwaren vom 1. <strong>Juni</strong> biszum 31. Dezember 2008aufgerufen, sich am Wettbewerb„Mein Brief an dieGesellschaft von morgen“im Rahmen <strong>de</strong>r <strong>Gesellschafter</strong>-Initiativezubeteiligen. Mehr als 400Senioren sind <strong>de</strong>r Auffor<strong>de</strong>runggefolgt und habenihre Geschichten und Konzepteeingereicht.a<strong>Die</strong> von <strong>de</strong>r Fachjuryausgewählten drei Gewinnertextesind: „EineE-Mail an meine Enkelin“von Reinhard H. Kludasaus Bergfel<strong>de</strong>, „Wer sichnicht bewegt, bewegtnichts“ von Ursula Langeaus Damme sowie „Briefan die Zukunft“ von RuthWunsch aus Hamburg.Wer die Beiträge <strong>de</strong>rzwölf Finalisten lesenmöchte, hat dazu Gelegenheitauf <strong>de</strong>r Internetseite:die<strong>Gesellschafter</strong>.<strong>de</strong>/briefanmorgenaIn Kürze wer<strong>de</strong>n dieFinalbeiträge auch in gedruckterForm als Kalen<strong>de</strong>rveröffentlicht.Auszüge aus <strong>de</strong>n Briefen an Morgen: Mit Herz und Hän<strong>de</strong>n für ein besseres EuropaAngelika Schneppe (80)aus Bonn blickt in ihrem„Brief an meine Enkelkin<strong>de</strong>r“auf das zurückliegen<strong>de</strong>Jahrhun<strong>de</strong>rt mitseinen verheeren<strong>de</strong>n Katastrophenin Europa wiemit seinen positiven Entwicklungenzurück. Obwohlsie sich <strong>de</strong>r Problemeund <strong>de</strong>r gesellschaftlichenUnzulänglichkeiten <strong>de</strong>rGegenwart bewusst ist,möchte sie ihren Enkelkin<strong>de</strong>rnvor allen DingenMut machen, das „Europavon morgen“ zu gestaltenund somit <strong>de</strong>r Vision voneiner „besseren Welt“ näherzukommen.Angelika Schneppe„Als ich im Jahr 1929 geborenwur<strong>de</strong>, hatte unserLand gera<strong>de</strong> eine schwereWirtschaftskrise hinter sichgebracht mit allen Folgenwie Arbeitslosigkeit, Armutund Elend bei einem großenTeil unserer Bevölkerung.Wenige Jahre später musstenwir die nationalsozialistischeDiktatur durchleben,die zum schrecklichenZweiten Weltkrieg führte.Als er 1945 en<strong>de</strong>te, warenunser Vaterland und großeTeile Europas ein Trümmerfeld.Viele Menschen hattenihre Heimat verloren, an<strong>de</strong>rewaren in Gefangenschaftgeraten, und viel zu vieleMenschen hatten ihr Lebenverloren. Schreckliche Verbrechenwaren im Namen unseresVolkes begangen wor<strong>de</strong>n. Ichwar damals 16 Jahre alt.Damals, nach diesemschrecklichen Krieg, war ichvoller Zuversicht, voller mutigerTräume von einer besserenWelt: In Zukunft wird allesneu. Ich war jung und vollerBegeisterung. Es folgten, zumin<strong>de</strong>stim westlichen Teil unseresgetrennten Vaterlan<strong>de</strong>s,gute Jahre in einer Demokratie.Wir konnten unser zerstörtesLand wie<strong>de</strong>r aufbauen.Das Wirtschaftswun<strong>de</strong>r geschah.Als ich 20 Jahre alt war,gab sich das <strong>de</strong>utsche Volkdas Grundgesetz. Darin steht:„<strong>Die</strong> Wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Menschen istunantastbar“. Das waren guteund mutige Worte. Ich konntesie für mein Leben voll bejahen.(…)Heute, im Jahr 2008, lebenwir Menschen in Europa inFrie<strong>de</strong>n und Freiheit nachbarschaftlichzusammen. Wir bemühenuns, auch in <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>renLän<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Welt Frie<strong>de</strong>n,Freiheit und Gerechtigkeitzu erreichen. Wir versuchen,unsere bedrohte Umwelt zuschützen und die Ressourcen<strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> zu unser aller Nutzenzu gebrauchen.Es ist noch lange nicht allesin Ordnung in unserer Gesellschaftvon heute, das wisst ihrselbst. Auch in unserem Landist die Menschenwür<strong>de</strong> nochÜber 400 Senioren schrieben ihren „Brief an morgen“.längst nicht immer unantastbar,obwohl das in unseremGrundgesetz verankert ist.Wird die Menschenwür<strong>de</strong> immergeachtet, auch beim ungeborenenLeben, o<strong>de</strong>r dann,wenn <strong>de</strong>r Mensch alt, kranko<strong>de</strong>r behin<strong>de</strong>rt ist? Wie wirdsich in Zukunft die immer größerwer<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Kluft zwischenArm und Reich auswirken?Wenn ich daran <strong>de</strong>nke, dannhabe ich oft Angst.Ja, meine lieben Enkelkin<strong>de</strong>r,meine Generation unddie Generation eurer Elternhinterlässt euch nicht nur einpositives Erbe. Ihr müsst euchselbst, euren Verstand, euerHerz und eure Hän<strong>de</strong> schonsehr anstrengen, damit ihr<strong>de</strong>r Vision von einer „besserenWelt“ näher kommen könnt– im Interesse eurer eigenenKin<strong>de</strong>r und Enkelkin<strong>de</strong>r. Ichmöchte euch dazu Mut machen.Seid selbstbewusst undstark, übernehmt Verantwortung,fangt an, die Welt vonmorgen zu gestalten.“In seinem Beitrag „DasMärchen vom Wachstum“geht Peter Schicketanz(78 Jahre) aus Garbsen aufdas Erbe ein, das die ältereGeneration hinterlässt.Einerseits das Glück, auf<strong>de</strong>m inzwischen friedlichenKontinent Europain Wohlstand zu leben,an<strong>de</strong>rerseits globale Problemewie die Umweltzerstörungund die immergrößer wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Diskrepanzzwischen Reichenund Armen. Wichtig seies, auch für künftige Generationen,ein Grundvertrauenzu entwickeln. Hierein Auszug aus seinem„Brief an morgen“:„Das 20. Jahrhun<strong>de</strong>rt ist füruns in Europa von zwei Extremengekennzeichnet. <strong>Die</strong>gigantischen Versuche vonHitler und Stalin, die Weltneu ordnen zu wollen, habenin Blut und Tränen geen<strong>de</strong>t.<strong>Die</strong> Weltkriege <strong>de</strong>r erstenHälfte <strong>de</strong>s Jahrhun<strong>de</strong>rts mitihren furchtbaren Folgen habenzu <strong>de</strong>r Einsicht geführt,dass Krieg nicht mehr seindarf. Friedliche Konfliktlösungensind statt<strong>de</strong>ssengefragt. Aber was in Europaeinigermaßen eingesehenwird – mit Ausnahme imehemaligen Jugoslawien –,ist in <strong>de</strong>r übrigen Welt nochlange nicht konsensfähig.Nach wie vor hinterlassenwir euch eine Welt vollerWaffen, Minenfel<strong>de</strong>r, Atomwaffenund gigantischerAusgaben für Rüstungen.“


6 <strong>Juni</strong> <strong>2009</strong>ReportageWettlauf gegen <strong>de</strong>n SchimmelNach <strong>de</strong>m Einsturz <strong>de</strong>s Kölner Stadtarchivs retten viele Freiwillige, was zu retten istVon Miriam OlbrischAls Anfang März das KölnerStadtarchiv einstürzte,hielt eine ganze Stadt <strong>de</strong>nAtem an. Nicht nur, weilzwei junge Männer unter<strong>de</strong>n Trümmern lagen – dieSchätze <strong>de</strong>s größten Archivsnördlich <strong>de</strong>r Alpen schienenverloren. Jetzt kämpft eineRettungsmannschaft ausfreiwilligen Helfern um <strong>de</strong>nErhalt <strong>de</strong>r wertvollen Stücke– und gegen die Schimmelsporen,die sich stetig durchdas feuchte Papier fressen.Von außen ist es nur eine unscheinbareLagerhalle am Stadtrandvon Köln. Doch hat man dieSicherheitsschleuse passiert,öffnet sich eine Parallelwelt.Weiße Kartons stapeln sich biszur Decke. Rund 80 Menschenhuschen zwischen <strong>de</strong>n Stapelnhin und her, schieben Kistenvoll vergilbter Ordner, nasserPapierlappen, staubiger Schnipselchenhin und her. Auf zweiEtagen, je<strong>de</strong> von ihnen so großwie eine Sporthalle, türmensich Briefe, Stadtpläne, Bücher,Karten – in mühevoller Arbeitaus <strong>de</strong>n Trümmern <strong>de</strong>s eingestürztenKölner Stadtarchivsgeborgen. Über <strong>de</strong>n genauenOrt wird Stillschweigen bewahrt.Zu groß ist die Angst, diewertvollen Archivalien könntenKriminelle auf <strong>de</strong>n Plan rufen.Konzentriert fixiert ChristinaPielmeyer die Papierschnipsel,kaum größer als Briefmarken,in ihrer Hand. „Esist Wahnsinn, welche Wertehier verloren gegangen sind“,seufzt sie über <strong>de</strong>n Rand ihresMundschutzes hinweg. Nur dasrosafarbene Tuch, mit <strong>de</strong>m sieihre Haare vor Staub schützt,unterschei<strong>de</strong>t sie äußerlich von<strong>de</strong>n Kollegen. Von Kopf bis Fußsind sie in weiße Schutzanzügegehüllt, die Finger stecken inEinweghandschuhen. Ein Anblick,als wären hier nicht Papierund Pappe, son<strong>de</strong>rn giftigeChemikalien gelagert.<strong>Die</strong> Maske dient als Schutzschildvor <strong>de</strong>n Sporen. Schonjetzt sind manche Urkun<strong>de</strong>n,Ordner, Pläne und Karten aufgrund<strong>de</strong>r Feuchtigkeit vomSchimmel befallen. Es ist einWettlauf gegen die Zeit. Unddraußen lauert <strong>de</strong>r Feind, auf<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite <strong>de</strong>r Scheibe:Fotos: Michael BauseDer Einsturz <strong>de</strong>s Kölner Stadtarchivs Anfang März hat für Aufsehen gesorgt. Zwei Anwohner konnten nur noch tot geborgen wer<strong>de</strong>n.Regen. Aber auch bei schönemWetter sind die Fenstergeschlossen. Drinnen lärmenBautrockner.So oft sie kann, streift ChristinaPielmeyer <strong>de</strong>n Schutzanzugüber Jeans und T-Shirt, oftsogar mehrmals in <strong>de</strong>r Woche.<strong>Die</strong> Frühschicht beginnt morgensum sieben. „Für mich istStadtansicht in Trümmern.das selbstverständlich, dassich hier anpacke“, sagt dieHistorikerin. Sie hat selbst inKöln studiert und fühlt sichso mit <strong>de</strong>m Archiv verbun<strong>de</strong>n.„Auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite ist esnatürlich auch spannend, dieRettung <strong>de</strong>r Bestän<strong>de</strong> vor Ortmitzuerleben“, sagt Pielmeyerund befreit einen Ordner<strong>de</strong>ckelvon einer Ladung Gesteinsbrocken.<strong>Die</strong> Freiwilligen sind dasRückgrat <strong>de</strong>r Rettungsmannschaft,die je<strong>de</strong>n Tag in einemZweischicht-System Stun<strong>de</strong>um Stun<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Lagerhalleschuftet. Siesortieren, entstauben,säubern, trocknen, verpacken.Zusammen mithauptamtlichen Archivarenund einer HandvollEin-Euro-Jobberstellen sie das Gros <strong>de</strong>rbei<strong>de</strong>n 80 Leute starkenSchichtteams. „OhneHilfe aus <strong>de</strong>r Bevölkerungginge es nicht“,sagt Max Plassmann,Archivar <strong>de</strong>r Stadt Köln,bestimmt. Kurz nach<strong>de</strong>m Unglück sei dasInteresse sehr groß gewesen.Doch langsamwer<strong>de</strong>n die Meldungenneuer Helfer seltener.Dass die Hallen nach wie vorgefüllt sind, haben die Kölnerauch <strong>de</strong>r Hilfe aus <strong>de</strong>m Auslandzu verdanken.Über ein bröckeliges Siegelaus <strong>de</strong>m elften Jahrhun<strong>de</strong>rtgebeugt, steht Anne-SophieSfez an einem Tisch. Am Abendzuvor ist die 28-Jährige aus<strong>de</strong>m Elsass angereist. Fünf Tagebleibt sie in Köln. Fünf Tagevoller Staub, Schmutz und <strong>de</strong>mLärm <strong>de</strong>r Bautrockner. Auchsie ist freiwillig hier. „Ich habeim französischen Fernsehenvom Einsturz gehört“, erzähltsie. Sehr erschüttert sei siegewesen, erinnert sich Sfez,die in Frankreich als Papierrestauratorinarbeitet. „Als ichdie Bil<strong>de</strong>r von <strong>de</strong>n Trümmerngesehen habe, war mir klar:<strong>Die</strong> brauchen je<strong>de</strong> Hilfe, diesie kriegen können.“ Über dieOrganisation Blue Shield, eineArt kulturelles Pendant zumRoten Kreuz, kam sie mit <strong>de</strong>nKölner Archivaren in Kontakt.„Wir sind überwältigt, wieviel Unterstützung wir aus<strong>de</strong>n Nachbarlän<strong>de</strong>rn erhalten“,sagt Archivar Plassmann.Am selben Morgen hat eine20-köpfige Gruppe vom nie<strong>de</strong>rländischenBlue Shield dieArbeit aufgenommen. „Helferaus Tschechien, Belgien und<strong>de</strong>r Schweiz waren auch hier.<strong>Die</strong> haben eine unglaublicheMotivation.“Probleme mit <strong>de</strong>r Verständigunggibt es keine. Iris Lasetzke,die zusammen mit zweiHollän<strong>de</strong>rn Stadtpläne aufRisse und Flecken überprüft,schüttelt energisch <strong>de</strong>n Kopf.„Viele können ein paar BrockenDeutsch. Zur Not geht esauch mit Hän<strong>de</strong>n und Füßen.“In ihrem Studium, Buch- undPapierrestaurierung an <strong>de</strong>r FHKöln, hat sie in früheren Semesternmit Material aus <strong>de</strong>mStadtarchiv gearbeitet. „Gutmöglich, dass auch ein paarArbeiten von mir hier herumliegen“,sagt Lasetzke.Das Restaurierendauert Jahrzehnte„Toll, dass die Unis uns miteinem großen Helferaufgebotzur Seite gesprungen sind“,sagt Archivar Plassmann. „Wirhoffen, dass <strong>de</strong>r Strom <strong>de</strong>rFreiwilligen nicht abreißt.“Stündlich kommen neue Kistenvon <strong>de</strong>r Unglücksstelle an<strong>de</strong>r Severinstraße. Wie langenoch, darüber mag er nurspekulieren. „Einige Monatewird es noch dauern, <strong>de</strong>n grobenSchmutz zu entfernen.“<strong>Die</strong> Sachen zu ordnen undzu restaurieren wer<strong>de</strong> Jahrzehntein Anspruch nehmen.„Im Moment ist nur wichtig,dass wir schneller sind als <strong>de</strong>rSchimmel.“


Schwerpunk t > Europa <strong>Juni</strong> <strong>2009</strong> 7Was bringt uns Europa?Mit Kohle und Stahl zu Frie<strong>de</strong>n und WohlstandVon Rüdiger LiedtkeEuropa: ein historischesErfolgsmo<strong>de</strong>ll. In <strong>de</strong>r Wahrnehmunghäufig verstelltvon Berichten über bürokratischesDickicht un<strong>de</strong>ndlose Auseinan<strong>de</strong>rsetzungenüber Abstimmungsmodalitäten.<strong>Die</strong> I<strong>de</strong>e einesEuropas, das auf seine Vielfaltnicht verzichtet undtrotz<strong>de</strong>m gemeinsam han<strong>de</strong>lt,hat wirtschaftlich undpolitisch zu einer Stabilitätgeführt, die auf <strong>de</strong>m kriegerischstenaller Kontinentekaum vorstellbar schien.Von Anfang an gab es untrennbarzwei Grün<strong>de</strong>, in Europazusammenzuarbeiten: Frie<strong>de</strong>nund Wohlstand. Als wenigeJahre nach <strong>de</strong>m verheeren<strong>de</strong>nZweiten Weltkrieg die Montanuniongegrün<strong>de</strong>t wur<strong>de</strong>, solltesie nicht nur eine gemeinsamePlattform für die Kohle- undStahlindustrie <strong>de</strong>r beteiligtensechs Staaten bil<strong>de</strong>n. Dahinterstand vielmehr die politischeÜberzeugung, durchwirtschaftliche Verflechtungkönne man Deutschland, damalsdie Bun<strong>de</strong>srepublik, festins <strong>de</strong>mokratische Westeuropaeinbin<strong>de</strong>n und so einen möglichenRückfall in nationalistischeAlleingänge verhin<strong>de</strong>rn.Eine Strategie, die sich alshöchst erfolgreich erwies.Von <strong>de</strong>r Einigungzum WirtschaftsboomIn mehreren Erweiterungsrun<strong>de</strong>nkamen immer neueStaaten hinzu. Und auch hierfunktionierte die „doppelteWirksamkeit“ von Marktwirtschaftund Demokratie <strong>de</strong>sgeeinten Europa: <strong>Die</strong> meistendieser Staaten konnten miteuropäischer Unterstützungihre wirtschaftlichen Rückstän<strong>de</strong>aufholen und <strong>de</strong>nLebensstandard ihrer Bürgererheblich steigern. So etwaGriechenland, Portugal undIrland. Gleichzeitig erwies sichfür die ehemaligen DiktaturenSpanien, Portugal und Griechenlanddie Einbindung inWesteuropa als große Hilfe bei<strong>de</strong>r Stabilisierung <strong>de</strong>s neuen<strong>de</strong>mokratischen Kurses undals Bollwerk gegen Rückfällein autoritäre Strukturen.Foto: Picture AllianceParis 1951: Jean Monnet, erster Präsi<strong>de</strong>nt <strong>de</strong>r Montanunion, <strong>de</strong>r französische Ministerpräsi<strong>de</strong>nt RobertSchuman, Bun<strong>de</strong>skanzler Konrad A<strong>de</strong>nauer und Staatssekretär Walter Hallstein (v.l.n.r.).Das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Ostblocks hatEuropa noch einmal vor völligneue Herausfor<strong>de</strong>rungengestellt. Schnell wur<strong>de</strong> klar,dass zahlreiche neue Staatenin <strong>de</strong>r Hoffnung aufWohlstand und Stabilität<strong>de</strong>r Gemeinschaft beitretenwollten. Aber diesmal warenes Staaten, die vierzig Jahrelang ein sozialistisches Wirtschafts-und Gesellschaftssystemgehabt hatten. DerSchock <strong>de</strong>s Bürgerkrieges inJugoslawien hat sicher einÜbriges dazu getan, dassdie Europäische Union 1993<strong>de</strong>utlicher als je zuvor in <strong>de</strong>nKopenhagener Beitrittskriterienihre unverrückbarenpolitischen Grundlagen formulierthat: Freiheit, Demokratie,Rechtsstaatlichkeit,Menschenrechte und bürgerlicheGrundfreiheiten.Daneben steht das ehrgeizigeZiel, Vorbild für <strong>de</strong>nwirtschaftlichen, sozialenund ökologischen Fortschrittin <strong>de</strong>r Welt zu wer<strong>de</strong>n. Bei<strong>de</strong>n Erweiterungen von 2004und 2007 stand ein<strong>de</strong>utigdie Strategie <strong>de</strong>r politischenEinbindung im Vor<strong>de</strong>rgrund.Aufgenommen wur<strong>de</strong>n dabeiauch Staaten, die objektivvon <strong>de</strong>n wirtschaftlichen,aber auch von <strong>de</strong>n <strong>de</strong>mokratischenEU-Parametern noch<strong>de</strong>utlich entfernt sind. Allerdingsbehält sich Brüsselvor, politische Fehlentwicklungenfinanziell zu sanktionieren.So wur<strong>de</strong>n etwaBulgarien 2008 mehrerehun<strong>de</strong>rt Millionen Euro För<strong>de</strong>rgel<strong>de</strong>rgestrichen bzw.eingefroren, weil die Regierungzu wenig gegen die Korruptionin Wirtschaft undVerwaltung unternimmt.Das Binnenverhältnis <strong>de</strong>rEU ist durch das <strong>de</strong>utlich gewachseneGefälle zwischeneinzelnen Mitgliedsstaatenschwieriger, die Konkurrenzum die Ressourcen härtergewor<strong>de</strong>n. Wie sich die aktuelleWirtschaftskrise vordiesem Hintergrund auswirkenwird, ist noch garnicht abzusehen. Doch dieVision <strong>de</strong>s geeinten Europaist attraktiver als je zuvor:Ein Wirtschaftsraum, in <strong>de</strong>mnicht nur Waren und Kapital,son<strong>de</strong>rn alle Bürger sich freibewegen können. Ein gemeinsamerMarkt, von <strong>de</strong>mnicht nur große Konzerneprofitieren, son<strong>de</strong>rn auch <strong>de</strong>rMittelstand und alle Arbeitnehmer.Ein Bildungsraum,<strong>de</strong>r die kulturelle Vielfalt respektiert,aber zugleich dieAusbildung von Schülern,Stu<strong>de</strong>nten und Lehrlingenüber die Grenzen hinwegermöglicht. Ein Rechtsraum,in <strong>de</strong>m die grundlegen<strong>de</strong>nRechte je<strong>de</strong>s Menschen ohneUnterschied gelten.Europa spürbarwer<strong>de</strong>n lassenNoch wird diese große I<strong>de</strong>eviel zu häufig hinter Einzelinteressen,kleinkariertem Gezänkund undurchdringlicherBürokratie versteckt. Doch:Um wirklich erfolgreich zusein, muss die I<strong>de</strong>e Europa imAlltag spürbar wer<strong>de</strong>n, täglichund überall.Ich will in einemEuropa leben, in <strong>de</strong>m alternativeEnergien eingesetztwer<strong>de</strong>n, in <strong>de</strong>m die Atemluftwie<strong>de</strong>r besser wird,in <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Fernverkehrvon Waren auf die Gleiseverlegt wird, in <strong>de</strong>m Fahrradwegein Großstädtenausgebaut wer<strong>de</strong>n, in <strong>de</strong>mnicht für je<strong>de</strong> beliebigekleine Strecke ein riesigesAuto in Gang gesetzt wer<strong>de</strong>nmuss; Schaffung vonEinkaufsmöglichkeiten undWohnzentren ohne gefährlichenund schädlichen Autoverkehr,auch Geschwindigkeitsbegrenzungenundmehr Rücksichtnahme.B.H., Hamburg3 die<strong>Gesellschafter</strong>.<strong>de</strong>


8 <strong>Juni</strong> <strong>2009</strong> Schwerpunk t > EuropaSchickt sie nach EuropaDas Straßburger Parlament ist selbstbewusster und mächtiger gewor<strong>de</strong>nVon Ulrich SteilenSchwarze <strong>Die</strong>nstwagen fahrenvor, Männer in Anzügenund Frauen in Kostümeneilen über das Pflaster <strong>de</strong>sVorplatzes. Jüngere Leute,zum Teil in Jeans undTurnschuhen, schulternKameras und Mikrofone.Vor <strong>de</strong>m Haupteingang isteine riesige aufblasbarePlastikrobbe postiert. Danebenwehen die Fahnen<strong>de</strong>r 27 Mitgliedsstaaten <strong>de</strong>rEU. Tierschützer drücken<strong>de</strong>n Eintreten<strong>de</strong>n kleinePlüschrobben, Ansteckerund Infoblätter in die Hän<strong>de</strong>.Sie for<strong>de</strong>rn die Mitglie<strong>de</strong>r<strong>de</strong>s EuropäischenParlaments (EP) auf, fürdas Verbot <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>lsmit Robbenerzeugnissenzu stimmen.Es ist <strong>Die</strong>nstagvormittag undSitzungswoche im StraßburgerParlament. Im Plenarsaal,<strong>de</strong>m Herz <strong>de</strong>s Parlamentsgebäu<strong>de</strong>s,steht gera<strong>de</strong> die Aussprachezum geplanten EU-Telekom-Paket auf <strong>de</strong>r Tagesordnung.In zwei Tagen wirddas Parlament über das Paketabstimmen. Danach en<strong>de</strong>t dieletzte Sitzungswoche <strong>de</strong>r aktuellenLegislaturperio<strong>de</strong>.Vier Minuten hat die <strong>de</strong>utscheAbgeordnete RebeccaHarms Zeit, um ihre Meinungzum Telekom-Paket im Plenumvorzutragen. Frau Harms istAnfang 50 und trägt schulterlangesbraunes Haar. Seit2004 sitzt sie im EP, ist stellvertreten<strong>de</strong>Fraktionsvorsitzen<strong>de</strong>Foto: Photo Service EuropaparlamentVor 57 Jahren schickten 6 Staaten 78 Abgeordnete, im 2004 gewählten 6. Parlament sind es 785 Volksvertreter aus 27 Län<strong>de</strong>rn.<strong>de</strong>r Grünen und in ihrer Fraktionfür Klima- und Energiepolitikzuständig. Außer<strong>de</strong>mist sie Mitglied <strong>de</strong>s ständigenAusschusses für Industrie, Forschungund Energie. Bevorsie auf die europäische Bühnewechselte, war die sympathischwirken<strong>de</strong> Frau zehn Jahrelang Landtagsabgeordnetein Nie<strong>de</strong>rsachsen, von 1998 bis2004 als Fraktionsvorsitzen<strong>de</strong>ihrer Partei. Sie spricht frei,ohne abzulesen, ruhig, aberentschlossen. Es sei gut, sagtAbgeordnete im EuroPäischen ParlamentAbgeordnete von insgesamtsieben Fraktionen sowie 30fraktionslose Abgeordneteteilen sich im 6. Parlament785 Sitze: <strong>Die</strong> Christ<strong>de</strong>mokratenals größte Fraktionmit 288 Sitzen, die Sozial<strong>de</strong>mokratenmit 217 Sitzen, dieLiberalen mit 100 Sitzen, dieGrünen/Freie EuropäischeAllianz mit 43, die Linkenmit 41 Sitzen, die europakritischeFraktion Unabhängigkeitund Demokratiemit 22 und die Fraktion fürdas Europa <strong>de</strong>r Nationen mit44 Sitzen. Alle Abgeordnetenwer<strong>de</strong>n in ihren jeweiligenHerkunftslän<strong>de</strong>rn für eineLegislaturperio<strong>de</strong> von fünfJahren direkt gewählt. Bei <strong>de</strong>rParlamentswahl vom 4. – 7.<strong>Juni</strong> <strong>2009</strong> sind mehr als 375Millionen EU-Bürgerinnenund Bürger in 27 Staatenzum Urnengang berechtigt.Damit ist das EP nicht nur dieeinzige europäische Institution,son<strong>de</strong>rn auch das einzigemultinationale Parlament <strong>de</strong>rWelt, <strong>de</strong>ssen Vertreter durchallgemeine Wahlen bestimmtsie, einen besseren Zugangzu Telekommunikationsleistungenzu ermöglichen, mehrInformationen für Verbraucherzu liefern und zugleich <strong>de</strong>nDatenschutz zu stärken. Bevordie Rechte von Internetnutzernbeschnitten wür<strong>de</strong>n, müsseaber unbedingt ein Richter vorgeschaltetsein. „Wir könntenals Parlament hier besser sein“,lautet ihr Resümee.Nach vier Minuten wird sievon <strong>de</strong>r Parlaments-Vizepräsi<strong>de</strong>ntin,die die Aussprachewer<strong>de</strong>n. Aus Deutschlandkommen 99 Abgeordnete,davon 68 Männer und 31Frauen. Kein an<strong>de</strong>res Landstellt mehr Parlamentarier.Aus Malta stammenlediglich 5 Volksvertreter.Allerdings spricht hier einAbgeordneter für 80.000Malteser, hingegen vertrittein <strong>de</strong>utscher Abgeordneter833.000 Landsleute. Imeuropaweiten Durchschnittkommen auf je einen Sitzim Parlament rund 615.000Einwohner.leitet, ermahnt, zum En<strong>de</strong> zukommen. Zwei Stun<strong>de</strong>n dauertdie Aussprache insgesamt.<strong>Die</strong> wenigen anwesen<strong>de</strong>nVolksvertreter verlieren sichan diesem Vormittag im Plenarsaalzwischen <strong>de</strong>n leerenSitzreihen. Nur etwa 30 Sitzesind besetzt. Wie eine riesige,ellipsenförmige Schüssel sieht<strong>de</strong>r Saal aus. Alles ist in weißund blau gehalten. <strong>Die</strong> Plätze<strong>de</strong>r Abgeordneten spreizensich strahlenförmig um dasRednerpult. Auf <strong>de</strong>r Empore,die <strong>de</strong>n Saal wie eine Halskrauseumringt, sitzen unter<strong>de</strong>m Dach die Besucher undgucken <strong>de</strong>n Abgeordneten vonoben bei ihrer Arbeit zu. Schüler-,Stu<strong>de</strong>nten- und Rentnergruppenkommen und gehenim 15 Minuten-Takt. Hinterin die Wän<strong>de</strong> eingelassenenGlasscheiben sitzen, wie inwinzigen VIP-Lounges einesmo<strong>de</strong>rnen Fußballstadions,die Übersetzer und sprechenangestrengt in ihre Mikrofone.Ihre Anzahl ist min<strong>de</strong>stensdoppelt so hoch wie die<strong>de</strong>r anwesen<strong>de</strong>n Abgeordneten.<strong>Die</strong> Atmosphäre im Saalwirkt, unterstützt durch daskünstliche Licht, irgendwieirreal, fast futuristisch.Im September 1952 tagtezum ersten Mal eine europäischeparlamentarischeVersammlung. Als Symbolfür die <strong>de</strong>utsch-französischeAussöhnung nach <strong>de</strong>m ZweitenWeltkrieg wur<strong>de</strong> damalsStraßburg als Hauptsitzfestgelegt. 78 nationaleAbgeordnete aus <strong>de</strong>n sechsGründungsstaaten <strong>de</strong>r EuropäischenGemeinschaft fürKohle und Stahl (EGKS)trafen sich zur „GemeinsamenVersammlung“. Ihrenanfänglich beschei<strong>de</strong>nen politischenEinfluss – sie hattelediglich beraten<strong>de</strong> Funktion– konnte die Versammlung,die sich ab 1962 „EuropäischesParlament“ nannte,sukzessive aus<strong>de</strong>hnen. Wur<strong>de</strong>in <strong>de</strong>n 1970er Jahren inDeutschland noch über das„Ausrangieren“ o<strong>de</strong>r „Wegbeför<strong>de</strong>rn“von Politikernauf einen Europaabgeordnetenpostenmit <strong>de</strong>m Slogan„Hast Du einen Opa, schickihn nach Europa“ gespöttelt,än<strong>de</strong>rte sich die Be<strong>de</strong>utung<strong>de</strong>s EP mit <strong>de</strong>r Direktwahl<strong>de</strong>r Abgeordneten seit 1979erheblich. Heute muss dasParlament nicht nur <strong>de</strong>nHaushalt <strong>de</strong>r EU billigen, son-


Schwerpunk t > Europa <strong>Juni</strong> <strong>2009</strong> 9<strong>de</strong>rn ist gemeinsam mit <strong>de</strong>mMinisterrat gleichberechtigtereuropäischer Gesetzgeber.Außer<strong>de</strong>m obliegt <strong>de</strong>m EP dieKontrollfunktion <strong>de</strong>r EuropäischenKommission, sprich <strong>de</strong>rExekutive. Ein Großteil <strong>de</strong>r gesetzgeberischenArbeit wird in<strong>de</strong>n 20 ständigen Ausschüssen<strong>de</strong>s Parlaments erledigt. <strong>Die</strong>sesetzen sich aus Abgeordnetenunterschiedlicher Fraktionenzusammen und glie<strong>de</strong>rn sichnach Politikbereichen wiebeispielsweise Binnenmarktund Verbraucherschutz, Umweltschutzund Lebensmittelsicherheit,Landwirtschaft,Haushalt o<strong>de</strong>r Verkehr.Nur bei Abstimmungenist <strong>de</strong>r Saal vollEs ist 11:20 Uhr als die Vizepräsi<strong>de</strong>ntindie Aussprachezum EU-Telekom-Paket been<strong>de</strong>t.Auf <strong>de</strong>n tageslichtdurchflutetenKorridoren außerhalb<strong>de</strong>s Plenarsaals mischensich Besucher, Medienmacherund Abgeordnete. Interviewswer<strong>de</strong>n geführt, es wird gere<strong>de</strong>tund telefoniert. Vielenutzen die Pause, um sich in<strong>de</strong>r „Blümchenbar“, die ihrenNamen <strong>de</strong>m bunten Blumenteppichbo<strong>de</strong>nverdankt, einenKaffee o<strong>de</strong>r ein Baguette zuholen. Auch Rebecca Harmshat sich mit einigen Kollegenin eine Ecke <strong>de</strong>r Bar zurückgezogenund bespricht mitihnen das Sitzungsprogramm.Um fünf vor zwölf ruft einaltmodischer Klingelton zurAbstimmung in <strong>de</strong>n Plenarsaal.Punkt zwölf ist <strong>de</strong>ram Vormittag gähnend leereRaum wie ausgewechselt, bisnahezu auf <strong>de</strong>n letzten Platzgefüllt. Alle Abgeordnetensitzen auf ihren Plätzen undstimmen im Sekun<strong>de</strong>ntakt ab,je nach vorgegebenem Modusper Handzeichen o<strong>de</strong>r elektronisch.In <strong>de</strong>n zur Abstimmungstehen<strong>de</strong>n Berichtenund Än<strong>de</strong>rungsanträgen gehtes unter an<strong>de</strong>rem um die BenzindampfrückgewinnungvonPkws an Tankstellen und umdie Regelung <strong>de</strong>r Arbeitszeitvon Gütertransportfahrern.Rebecca Harms ist die „VIP“(Very Important Person) inihrer Fraktion. Das heißt,sie gibt für ihre Kollegendas Abstimmungsverhaltenvor. Daumen rauf be<strong>de</strong>utetZustimmen, Daumen runtermeint Ablehnen. Nach einerDreiviertelstun<strong>de</strong> ist <strong>de</strong>r Abstimmungsdauerlaufvorbei.Der Sitzungssaal leert sichgenauso schnell, wie er sichzuvor gefüllt hatte. Parlamentarier,Mitarbeiter, Besucherund Medienleute strömen zumMittagessen in die Kantine.Im Anschluss an die Mittagspausestehen die Vorbereitung<strong>de</strong>s Europäischen RatesFoto: fotoliaEuropawahl <strong>2009</strong>: in Deutschland am 7. <strong>Juni</strong>.an und <strong>de</strong>r Plenarsaal bietetdas gleiche trostlose Bild wieam Vormittag. Eine jungebulgarische Journalistin, diein Madrid lebt und für ein bulgarischesMagazin schreibt,hat gera<strong>de</strong> auf <strong>de</strong>r BesuchertribünePlatz genommen. Alssie sich die Kopfhörer aufsetztund feststellt, dass sie dieDebatte auch auf Bulgarischhören kann, macht sie großeAugen und freut sich mitoffenem Mund. Dann blicktsie in das weite Rund <strong>de</strong>s fastleeren Saals und stellt empörtfest: „Es ist eine Schan<strong>de</strong>. Soein riesiges schönes Parlamentund da unten sitzt nur eineHand voll Abgeordneter.“Tatsächlich sind die meistenParlamentarier jetzt in ihrenBüros und bereiten sich aufAusschuss- und Fraktionssitzungenvor. <strong>Die</strong> Büros <strong>de</strong>r Parlamentariersind – an<strong>de</strong>rs alserwartet – das Gegenteil vonpompös. An <strong>de</strong>n Türen blättertteilweise die Farbe ab. AuchRebecca Harms telefoniertin ihrem Büro mit <strong>de</strong>r Tagesschau.Ihr Zehn-Quadratmeter-Büroteilt sie sich mit ihrerAssistentin. Im Interview istsie offen und freundlich, absolutunprätentiös. Mehrmalsklingelt das Festnetztelefonund ihr Handy vibriert permanentauf <strong>de</strong>r Schreibtischplatte.„Das kann jetzt warten“,sagt sie ruhig. Frau Harmsspricht konzentriert von ihrenAufgaben als Abgeordnete,ihren Visionen für das künftigeEuropa und ihre Erinnerungenan die Öffnung <strong>de</strong>s europäischenKontinents nach Osten,Anfang <strong>de</strong>r 1990er Jahre.„Das ist das große Wun<strong>de</strong>ram En<strong>de</strong> eines schlimmenJahrhun<strong>de</strong>rts gewesen“, sagtsie nach<strong>de</strong>nklich. Dann unterbrichtihre Assistentin das Gesprächmit entschuldigen<strong>de</strong>mBlick. Termine. Das ZDF willmit ihr sprechen, später dieBild-Zeitung. Im Plenarsaalsteht am frühen Abend einegemeinsame Aussprache zumBeschäftigungsgipfel und <strong>de</strong>rSozialagenda auf <strong>de</strong>r Tagesordnung.Rebecca Harms ist nichtdabei. Sie ist im Pressezentrumanzutreffen. „<strong>Die</strong> DeutscheWelle wartet auf mich“, erklärtsie. „Danach muss ich zur Fraktionssitzung.“Beim Weggehenfügt sie hinzu: „Wenn Sie nochFragen haben, rufen Sie micham Wochenen<strong>de</strong> doch einfachan. Dann bin ich auf <strong>de</strong>mParteitag in Berlin und habebestimmt zwischendurch einbisschen Zeit.“Diskussionen bisin die Nacht hineinIm Plenarsaal wird bis indie Nacht hinein weiterdiskutiert.Frage- und Antwortstun<strong>de</strong>nmit <strong>de</strong>r EuropäischenKommission stehen auf <strong>de</strong>mProgramm. <strong>Die</strong> Tierschützerübrigens können sich überdiesen Tag im EuropäischenParlament beson<strong>de</strong>rs freuen.Mit großer Mehrheit habendie Abgeordneten <strong>de</strong>n Han<strong>de</strong>lmit Robbenerzeugnissenweitgehend verboten. Nur dieEskimos dürfen weiter jagenund han<strong>de</strong>ln.Wichtiger als BerlinRebecca Harms über Europa und sein ParlamentFoto: picture allianceImmer mehr Fahnen: Europa wächst zusammen.Frau Harms, welche Beweggrün<strong>de</strong>haben Sie vomLandtag in Nie<strong>de</strong>rsachsen,wo Sie sechs Jahre langFraktionsvorsitzen<strong>de</strong> waren,in das EP geführt?Als für mich die Zeit reifwar, über ein neues Betätigungsfeldnachzu<strong>de</strong>nken,konnte ich mir aussuchen,ob ich lieber nach Brüsselo<strong>de</strong>r Berlin gehen wollte. Fürmich gab es keinen Zweifel,weil ich die Stabilisierung<strong>de</strong>r Europäischen Union unddie Weiterentwicklung ihrerpolitischen Integration alsdas Größte und Wichtigstebetrachte, was wir momentanzu tun haben.Der europäischen Politikwird manchmal <strong>de</strong>r Vorwurf<strong>de</strong>r fehlen<strong>de</strong>n <strong>de</strong>mokratischenLegitimationgemacht. Gibt es diesesDemokratie<strong>de</strong>fizit?Wenn <strong>de</strong>r Vertrag von Lissabonmal in Kraft tritt, wirddie Stimme je<strong>de</strong>s einzelnenEuropäers mehr Gewichtbekommen, <strong>de</strong>nn dann wirdauch <strong>de</strong>r Einfluss und dieKompetenz <strong>de</strong>s Parlamentsgestärkt. Aber das ist nichtdie einzige Frage, an <strong>de</strong>rsich Demokratie entschei<strong>de</strong>t.Für mich ist auch die Frage„Wie schaffen wir Öffentlichkeit?“für das Tun <strong>de</strong>sParlaments und <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>reneuropäischen Institutionenganz wesentlich. Ohne einegemeinsame europäischeÖffentlichkeit gibt es eineSchieflage hinsichtlich <strong>de</strong>s<strong>de</strong>mokratischen Systems.Öffentlichkeit, eine freiePresse, die Zivilgesellschaftinsgesamt, sind konstitutivRebecca Harmsfür das Funktionieren vonDemokratie. Das haben wirin <strong>de</strong>n europäischen Nationalstaatengelernt. Für dieEuropäische Union habenwir dies noch nicht erreicht.<strong>Die</strong> Fragen stellteUlrich Steilen


10 <strong>Juni</strong> <strong>2009</strong>Schwerpunk t > EuropaEuropas Grundwerte: „work in progress“Wie <strong>Die</strong>ter Bohlen Deutschland an <strong>de</strong>n Pranger brachteVon Elias Bier<strong>de</strong>lIm Herzen Wiens, amSchwarzenbergplatz Nummer11, befin<strong>de</strong>t sich <strong>de</strong>rSitz <strong>de</strong>r „Agentur <strong>de</strong>r EuropäischenUnion für Grundrechte“(FRA), die in <strong>de</strong>nMitgliedslän<strong>de</strong>rn überMin<strong>de</strong>rheitenschutz undMenschenrechte wacht. EinBericht über eine fast unbekannteEU-Behör<strong>de</strong>.Es war ausgerechnet <strong>de</strong>r Pop-Bar<strong>de</strong> <strong>Die</strong>ter Bohlen, <strong>de</strong>r dieWächter über die Grundrechtezur vorübergehen<strong>de</strong>n Aufgabeeines ansonsten ehernenPrinzips zwang: „Wir nennengrundsätzlich keine Namen,wenn wir einzelne Vorfälle in<strong>de</strong>n Mitgliedslän<strong>de</strong>rn kritisieren“,erklärt Agentur-SprecherinWaltraud Heller. „Aber indiesem Fall war es lei<strong>de</strong>r nichtzu vermei<strong>de</strong>n!“ Was war geschehen?Im jüngsten Berichtüber „Homophobie und Diskriminierungaufgrund sexuellerOrientierung in <strong>de</strong>r EU“ warein übler Ausrutscher aus <strong>de</strong>rFernseh-Show „Deutschlandsucht <strong>de</strong>n Superstar“ angeprangertwor<strong>de</strong>n. Als „Vollschwuchtel,die singt wie einSchwein“ hatte Bohlen dorteinen Kandidat beschimpft.Es sind Bemerkungen wiediese, die über GrundstimmungenAuskunft geben. VonFotos: FRA – Pictures Wolfgang VoglhuberDer Amtssitz <strong>de</strong>r „Agentur <strong>de</strong>r Europäischen Union für Grundrechte“ in Wien.„alarmieren<strong>de</strong>n Signalen“spricht <strong>de</strong>shalb Morten Kjaerum.„In einer EU, die sich aufGleichberechtigung etwas einbil<strong>de</strong>t,muss hier gegengesteuertwer<strong>de</strong>n!“, fin<strong>de</strong>t <strong>de</strong>r Däne,seit 2008 Chef <strong>de</strong>r FRA.<strong>Die</strong> Agentur hat 2008 eineeigene, EU-weite Umfrage unter23.500 Angehörigen ethnischerMin<strong>de</strong>rheiten durchführenlassen. Danach habenes Sinti und Roma überallbeson<strong>de</strong>rs schwer. In Deutschlan<strong>de</strong>rklärten 52 Prozent <strong>de</strong>rBürger türkischer Herkunft,schon einmal diskriminiertwor<strong>de</strong>n zu sein. <strong>Die</strong> FRAnimmt alle EU-Staaten nach<strong>de</strong>n gleichen Regeln unter dieLupe. Nur in einer Hinsichtgilt Deutschland ein beson<strong>de</strong>resAugenmerk: bei antisemitischenÜbergriffen. Dennin diesem Bereich wer<strong>de</strong>nhier neben Frankreich, Ungarn,Spanien und Polen nachwie vor die meisten Straftaten<strong>Die</strong> FRA<strong>Die</strong> „European Union Agencyfor Fundamental Rights“(FRA) ging Anfang 2007aus <strong>de</strong>r zehn Jahre zuvorgegrün<strong>de</strong>ten „EuropäischenStelle zur Beobachtung vonRassismus und Frem<strong>de</strong>nfeindlichkeit“hervor. IhreAufgabe besteht darin, „<strong>de</strong>nMitgliedsstaaten bei <strong>de</strong>rDurchsetzung <strong>de</strong>s Gemeinschaftsrechtsin Bezug aufdie Grundrechte Unterstützungzu gewähren“. Dazusammeln <strong>de</strong>rzeit rund 50Mitarbeiter Informationen,aus <strong>de</strong>nen Studien erstelltwer<strong>de</strong>n. Ziel ist es, die europäischeÖffentlichkeit fürMenschenrechtsfragen zusensibilisieren. Mehr dazuunter: fra.europa.euregistriert, auch wenn in <strong>de</strong>nletzten bei<strong>de</strong>n Jahren dieTen<strong>de</strong>nz leicht abnehmendwar. Im vierten Quartal 2008wur<strong>de</strong>n aus Deutschland 292antisemitische Übergriffe gemel<strong>de</strong>t.Bei aller Kritik gibt es auchFel<strong>de</strong>r, auf <strong>de</strong>nen Deutschlandals vorbildlich gilt: Von <strong>de</strong>nvier anerkannten nationalenMin<strong>de</strong>rheiten, Friesen, Sorben,Roma und Dänen, habenes Morten Kjaerums Landsleutein Schleswig-Holsteinam besten angetroffen. Fürsie gilt das „Bekenntnisprinzip“,wonach je<strong>de</strong>r Däne seinkann, <strong>de</strong>r Däne sein will.50.000 Bun<strong>de</strong>sbürger habensich <strong>de</strong>rzeit dazu entschie<strong>de</strong>n– und genießen ein Vorrecht:Ihre politische Vertretung istals einzige Partei in Deutschlandvon <strong>de</strong>r 5-Prozent-Hür<strong>de</strong>befreit, was ihr auf ewig Sitzund Stimme im Landtag garantiert.„Wir wollen Korridore für Sozialleistungen“Verdi-Chef Franz Bsirske for<strong>de</strong>rt eine gemeinsame Strategie aller Gewerkschaften in Europa<strong>Die</strong> EU stellt die Gewerkschaftenvor neue Herausfor<strong>de</strong>rungen.Beson<strong>de</strong>rsdie osteuropäischen Län<strong>de</strong>rmachen ihnen mit ihrerLohn- und Steuerpolitik zunehmendzu schaffen.Gibt es in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Gewerkschaftspolitikso etwaswie eine Europastrategie?Manche han<strong>de</strong>ln auf <strong>de</strong>r nationalenEbene und blen<strong>de</strong>nEuropa zu sehr aus. Wir müssenan<strong>de</strong>rs vorgehen. <strong>Die</strong> Gewerkschaftenkönnen in Europanur dann <strong>de</strong>n notwendigenEinfluss bekommen, wenn sieeine gemeinsame Strategie entwickeln.Wir können Lohn- undSteuerdumping nur europaweiteindämmen, vielleicht sogaraushebeln. Darauf müssen wirunser Han<strong>de</strong>ln in <strong>de</strong>n Mitgliedsstaatenkonzentrieren.Was heißt das konkret?Verdi setzt sich in Europa fürgesetzliche Min<strong>de</strong>stlöhne ein– in Relation zum nationalenDurchschnittslohn. Der darfnicht unterschritten wer<strong>de</strong>n.Natürlich ist <strong>de</strong>r gesetzlicheMin<strong>de</strong>stlohn in Bulgarien erheblichniedriger als in Luxemburg.Aber unter 50 Prozent<strong>de</strong>s durchschnittlichen Monatslohnsin einem Land dürfendie gesetzlich garantiertenMin<strong>de</strong>stlöhne nicht sinken.Das erwarten wir von einer europäischenRegulierung. Wirbenötigen Korridore für dieSozialleistungen in Relationzum jeweiligen Bruttoinlandsprodukt.Auch die müssennach unten eine Grenze haben,aber nach oben offen sein. Wirbrauchen Min<strong>de</strong>ststeuersätzefür die Unternehmen. Sonstbekommen wir <strong>de</strong>n Steuerwettbewerb,<strong>de</strong>r Zigtausen<strong>de</strong>arbeitslos macht, nie in <strong>de</strong>nGriff. Und dann fehlt einekoordinierte europäische Fiskalpolitik.Nur mit ihr lässt sichantizyklisch Einfluss nehmenauf das Konjunkturgeschehen.Wie wichtig sie wäre, sehen wirin <strong>de</strong>r gegenwärtigen Krise.Was wären die Folgeneines unregulierten Arbeitsmarktesin Europa?Das wird letztendlich dazu führen,dass die Menschen aufeinan<strong>de</strong>rlosgehen. <strong>Die</strong>s ist nichtim Sinne <strong>de</strong>s EuropäischenGedankens, son<strong>de</strong>rn höchstensim Sinne von marktradikalenI<strong>de</strong>ologen und Bürokraten.Setzen Sie auf starke europäischeBetriebsräte?Wollen wir verhin<strong>de</strong>rn, dassBelegschaften von <strong>de</strong>n Unternehmengegeneinan<strong>de</strong>r ausgespieltwer<strong>de</strong>n, müssen sie sichorganisieren, kommunizieren.Nehmen wir die französischenund <strong>de</strong>utschen Arbeiter vonFoto: verdiFrank BsirskeContinental, die vor kurzemin gemeinsamen Aktionen umihre jeweiligen Arbeitsplätzegekämpft haben. So stelle ichmir zukünftig Gewerkschaftsarbeitüber die nationalenGrenzen hinweg vor.Interview: Rüdiger Liedtke


Schwerpunk t > Europa<strong>Juni</strong> <strong>2009</strong> 11Europa einig Fußball-Land?Der rollen<strong>de</strong> Ball verbin<strong>de</strong>t Millionen. Ob er <strong>de</strong>n Zusammenhalt för<strong>de</strong>rt, ist jedoch strittigVon Marcus NickEgal ob Brüssel,Barcelona o<strong>de</strong>rBelgrad: Fußballist in Europamit Abstanddie SportartNummer eins– meist aberals nationalesP h ä n o m e n .<strong>Die</strong> Anhängerlieben vorallem ihre Nati o n a l m a n n -schaft und ihrelokalen Teams.Kann Fußballtrotz<strong>de</strong>m alsMotor für Europadienen?Rom En<strong>de</strong> Mai<strong>2009</strong>. Im ausverkauftenOlympia-Stadion kämpfenManchester Unitedund <strong>de</strong>r FC Barcelonaum <strong>de</strong>n wichtigsten europäischenVereinspokal: DerUEFA-Champions-League-Titelwird vor <strong>de</strong>n Augen vonmehr als 100 Millionen Fernseh-Zuschauernvergeben. Derenglische Meister, Sieger imVorjahr, kann als erste Mannschaft<strong>de</strong>n begehrten Titel verteidigen.Der Gegner von <strong>de</strong>riberischen Halbinsel kann nachzwei nationalen Titeln in Meisterschaftund Pokal als erstespanische Mannschaft sogar einedritte Trophäe erringen. Einspektakuläres Finale beginnt:Anfangs setzt Manchester Akzente:Der Portugiese CristianoRonaldo scheitert nur knappam spanischen Torwart. Dannaber ziehen die „fabelhaftenBarca-Boys“ ihr Kurzpass-Spielauf, das Fußballfans so bewun<strong>de</strong>rnund die Gegner so fürchten:Barcelona gewinnt 2:0.Fußball begeistertin Ost und WestFoto: Picture AllianceUnd in ganz Europa wird mit„Barca“ gejubelt o<strong>de</strong>r mit„ManU“ (Manchester United)getrauert.Denn Fußball begeistert dieMassen von Russland bis Portugalund von Island bis Israel– und das nicht nur bei einemdramatischen Champions-League-Finale. Fußball ist DERSport Europas,auch wenn dasSpiel, das vor rund 150 Jahrenin England erfun<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>,längst in einem Siegeszug dieganze Welt erobert hat. Dochkein Kontinent (außer Südamerika)befin<strong>de</strong>t sich so im Ballfieberwie Europa. Laut einerUntersuchung <strong>de</strong>r MarketingfirmaSportFive bezeichnensich 170 Millionen <strong>de</strong>r insgesamt700 Millionen Europäerals Fußball-Anhänger.Der „alte Kontinent“ ist alsoextrem fußballbegeistert. Aberför<strong>de</strong>rt <strong>de</strong>r Sport <strong>de</strong>shalb auchdie europäische Integration?<strong>Die</strong> Meinungen gehen auseinan<strong>de</strong>r.„<strong>Die</strong> gemeinsameSprache Europas ist <strong>de</strong>r Fußball“,erklärt etwa ProfessorAlbrecht Sonntag, <strong>de</strong>r bei <strong>de</strong>rinternationalen WirtschaftsschuleESSCA als Leiter für europäischeIntegration arbeitet.„Auch wenn die gesellschaftlicheBe<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Fußballsmanchen lächerlich erscheinenmag, ist sie doch nicht von<strong>de</strong>r Hand zu weisen.“Dass Fußball verbin<strong>de</strong>t, heißtjedoch nicht automatisch, dasser eine europäische I<strong>de</strong>ntitätschafft. Denn trotz <strong>de</strong>r gemeinsamenBegeisterung für „die„Fußball holt Europa in <strong>de</strong>n Alltag <strong>de</strong>r Menschen.“schönste Nebensache <strong>de</strong>r Welt“ist <strong>de</strong>r Sport zunächst einmalein durch und durch nationalesPhänomen. Bei großen Turnierenwer<strong>de</strong>n Nationalfahnenaus <strong>de</strong>m Fenster gehängt unddas eigene Land vor Großbildleinwän<strong>de</strong>nunterstützt. ImVereinsfußball gilt die Lei<strong>de</strong>nschaft<strong>de</strong>r meisten Anhängereiner Mannschaft aus <strong>de</strong>meigenen Umfeld – selbst wenndie Ka<strong>de</strong>r von Bayern Müncheno<strong>de</strong>r Juventus Turin echteWeltauswahlen sind. Fußballist <strong>de</strong>shalb zunächst einmal aufnationaler Ebene i<strong>de</strong>ntitätsstiftend,wie <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsche Weltmeisterschaftsgewinn1954und das „Sommermärchen“2006 bei uns zeigen.Das glaubt auch DanielCohn-Bendit, Fraktionsvorsitzen<strong>de</strong>r<strong>de</strong>r Grünen im Europaparlament.„Fußball kann zwarvölkerverständigen<strong>de</strong> Wirkunghaben, wenn man etwa ineinem frem<strong>de</strong>n Land ein Gesprächüber Fußball beginnt“,schreibt <strong>de</strong>r „Vorzeigeeuropäer“in einem Beitrag für DIE,Zeitschrift für Erwachsenbildung.„Allerdings hat Fußballbislang noch kein europäischesBewusstsein geschaffen.“Und doch hat <strong>de</strong>r Sportzu einem gewissen Teil zumZusammenwachsen beigetragen.Schon vor <strong>de</strong>r Gründung<strong>de</strong>r EWG 1957 als Vorstufe<strong>de</strong>r Europäischen Gemeinschaft,wur<strong>de</strong> 1955/56 dieerste Europameisterschaft <strong>de</strong>rClubs ausgetragen (die heutigeChampions League). Gera<strong>de</strong>einmal zehn Jahre nach<strong>de</strong>m En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s 2. Weltkriegeshalf <strong>de</strong>r Sport also Europaauf die Sprünge. „Fußballhat das Thema Europa in <strong>de</strong>nLebensalltag <strong>de</strong>r Menschengeholt“, analysiert <strong>de</strong>r SportwissenschaftlerRoland Binz.„Er war in <strong>de</strong>n 50-er und 60-erJahren das erste Zeichen einerManifestierung europäischerI<strong>de</strong>ntität.“Spiele wie <strong>de</strong>r legendäre6:3-Erfolg von Real Madridgegen Eintracht Frankfurtim Endspiel <strong>de</strong>s Europapokals<strong>de</strong>r Lan<strong>de</strong>smeister 1960sorgten schon früh dafür,dass Bil<strong>de</strong>r von großer Emotionalitätentstan<strong>de</strong>n. Bil<strong>de</strong>r,die verban<strong>de</strong>n und auchüber die Lan<strong>de</strong>sgrenzen hinausfür eine Annährungsorgten.Beim ZusammenrückenEuropas in<strong>de</strong>n vergangenenJ a h r z e h n t e nwar <strong>de</strong>r Fußballimmer einenS t o l l e n s c h u hvoraus: Schonein Jahr vor <strong>de</strong>rUnterzeichnung<strong>de</strong>r MaastrichterVerträge wur<strong>de</strong>1991 die ChampionsLeague– eine Art europäischeTop-Liga– gegrün<strong>de</strong>t.Und in kaumeinem Berufszweigwur<strong>de</strong>die freie Arbeitsplatzwahlso konsequentumgesetzt wieim Fußball. Nach<strong>de</strong>r Verkündung<strong>de</strong>s „Bosmann-Urteils“durch <strong>de</strong>n EuropäischenGerichtshof1995 reagierte <strong>de</strong>r Fußball-Verband UEFA, in<strong>de</strong>m er diefreie Arbeitsplatzwahl von <strong>de</strong>rEU auf ganz Europa (inklusiveIsrael als Mitglied <strong>de</strong>r UEFA)ausweitete.I<strong>de</strong>ntität brauchtmehr als EmotionenFußball, das zeigen die Beispiele,kann eine Art Katalysatorbeim Zusammenwachsen<strong>de</strong>r Nationalstaaten sein. „DerSport unterstützt <strong>de</strong>n Weg zueinem europäischen Verständnis“,ist sich Peter Brandt,Chefredakteur von DIE sicher.„Europa wird durch Fußballetwas normaler, <strong>de</strong>nn Spielein <strong>de</strong>r Champions League sindinzwischen nichts Beson<strong>de</strong>resmehr. Europa wird dadurchzum Alltag und das verbin<strong>de</strong>t.“Fußball kann also helfensich anzunähern und einMotor für Europa sein. Dochfür eine europäische I<strong>de</strong>ntitätsind sicher mehr als einigeemotionale Momente auf <strong>de</strong>mPlatz nötig. Auch wenn beimChampions-League-Finale imkommen<strong>de</strong>n Jahr sicher wie<strong>de</strong>rein Großteil <strong>de</strong>r Europäermitfiebert.


12 <strong>Juni</strong> <strong>2009</strong>Schwerpunk t > EuropaTranseuropäer bis zur SelbstauflösungEine neue, Grenzen übergreifen<strong>de</strong> Partei will die Europäische Union <strong>de</strong>mokratisierenVon Elias Bier<strong>de</strong>lWer ihn im Gewühl seinerHeimatstadt Paris auf <strong>de</strong>rStraße trifft, <strong>de</strong>r wird sichnachher wohl nicht an <strong>de</strong>nunscheinbaren Herrn erinnern:schmale Schultern,die das schlichte Cord-Jacketkaum ausfüllen, randloseBrille im eher blassenGesicht, die grauen Haarenach hinten gekämmt.So stellt man sich vielleichteinen braven Buchalter vor.Doch Franck Biancheri ist allesan<strong>de</strong>re als das: Im Gegenteil,<strong>de</strong>r 48-Jährige ist angetreten,um <strong>de</strong>r Europäischen UnionBeine zu machen. <strong>Die</strong> von ihmgegrün<strong>de</strong>ten „Newropeans“(zu <strong>de</strong>utsch etwa „Neuropäer“)setzen sich als „erstetranseuropäische Bewegung“für die Demokratisierung <strong>de</strong>rEU ein.„Man muss eigentlich nurzur richtigen Zeit die richtigenI<strong>de</strong>en in die Welt setzen – <strong>de</strong>rRest erledigt sich dann vonganz allein“, so spricht <strong>de</strong>rPräsi<strong>de</strong>nt <strong>de</strong>r „Newropeans“,lehnt sich genüßlich zurückund genießt <strong>de</strong>n erstauntenBlick seines Gegenübers. „Europahat am En<strong>de</strong> gar keinean<strong>de</strong>re Wahl, als unsere Vorschlägeumzusetzen – <strong>de</strong>nndie sind einfach zu gut.“Mangeln<strong>de</strong>s Selbstbewusstseinkann <strong>de</strong>m Sohn einesitalienischen Arbeiters un<strong>de</strong>iner französischen HausfrauFoto: picture allianceEuropa bauen: Für die Newropeans ist das eine Frage <strong>de</strong>r richtigen I<strong>de</strong>en zur richtigen Zeit.niemand vorwerfen. Und guteI<strong>de</strong>en hat Franck Biancheriebenfalls, wenn sie sich auchmanchmal etwas verrücktanhören.Da wäre zum Beispieldie Sache mit <strong>de</strong>r nächstenEU-Erweiterungsrun<strong>de</strong>: „Wirhaben vorgeschlagen, dasgesamte Ex-Jugoslawien imJahr 2014 in die EuropäischeNewropeans – Partei mit AblaufdatumaAls „erste transeuropäischepolitischeBewegung“ wur<strong>de</strong> Newropeansnach <strong>de</strong>m Scheitern<strong>de</strong>r EU-Verfassung2005 gegrün<strong>de</strong>t, um dieDemokratisierung <strong>de</strong>rUnion voranzutreiben.<strong>Die</strong> Partei tritt europaweitunter <strong>de</strong>m gleichenNamen, mit <strong>de</strong>m gleichenProgramm und mit <strong>de</strong>mgleichen Ziel auf, jedochausschließlich bei Wahlenzum Europa-Parlament.aAlle Entscheidungenfallen auf Jahrestreffen(„Agora“), nach<strong>de</strong>m sievon <strong>de</strong>n <strong>de</strong>rzeit etwa30.000 Mitglie<strong>de</strong>rn im Intranetbasis<strong>de</strong>mokratischdiskutiert wur<strong>de</strong>n. Kernpunkte<strong>de</strong>s Programmssind die Aufwertung <strong>de</strong>sEuropaparlaments, dieSchaffung einer europäischenRegierung und eineinheitliches Steuer- undSozialsystem für alle Mitgliedslän<strong>de</strong>r.aNewropeansverstehensich als Übergangs-Projekt: Wenn ihre politischenZiele erreichtsind, soll die Partei wie<strong>de</strong>raufgelöst wer<strong>de</strong>n.www.newropeans.euUnion aufzunehmen“, erzähltBiancheri freu<strong>de</strong>strahlend, soals sei ihm <strong>de</strong>r Gedanke gera<strong>de</strong>erst gekommen. „Genaueinhun<strong>de</strong>rt Jahre nach <strong>de</strong>nSchüssen von Sarajevo, die<strong>de</strong>n ersten Weltkrieg auslösten!Wir schließen damitsymbolisch ein Jahrhun<strong>de</strong>rt<strong>de</strong>s Blutvergießens in Europaab und nehmen <strong>de</strong>n Balkankomplett in unsere Mitte! Werkönnte da wi<strong>de</strong>rstehen?“ Nun,alle konnten wi<strong>de</strong>rstehen, bisherje<strong>de</strong>nfalls: keine einzigeRegierung <strong>de</strong>r EU-Mitgliedslän<strong>de</strong>rhat Unterstützung signalisiert.Aber das ficht <strong>de</strong>nI<strong>de</strong>engeber nicht an, trotz allerwi<strong>de</strong>rstreiten<strong>de</strong>r Interessen:„<strong>Die</strong> Sache ist in Bosnien,Serbien und Kroatien publikgewor<strong>de</strong>n und gewinnt dortbereits an Popularität. Siewer<strong>de</strong>n sehen, am En<strong>de</strong> wir<strong>de</strong>s so kommen, schon allein<strong>de</strong>shalb, weil die träge EUsolchen Vorschlägen nichtsentgegenzusetzen hat!“Und das ist erst <strong>de</strong>r Anfang.Wenn Franck Biancheri sich inFahrt re<strong>de</strong>t, dann ist von einemBuchhalter keine Spur mehrzu sehen. Er beschwört seineZuhörer, lacht, ru<strong>de</strong>rt mit <strong>de</strong>nHän<strong>de</strong>n, stellt rethorischeFragen und beantwortet sieumgehend selbst. Es geht umeine europäische Regierung,ein Parlament, das seinenNamen verdient, transparenteEntscheidungsprozesse, in diedie Bürgerinnen und Bürgereinbezogen sein müssten, EUeinheitlicheSteuern ... Hiersprüht ein glühen<strong>de</strong>r EuropäerFunken – und das plötzlicheFeuerwerk ist durchausbeeindruckend. Aber hat esüber <strong>de</strong>n Augenblick hinausBestand? Und wer kennt schondie erst vor drei Jahren gegrün<strong>de</strong>ten„Newropeans“?Ein Vor<strong>de</strong>nker fürEuropas ZukunftWahlplakate <strong>de</strong>r neuen Parteisuchte man in <strong>de</strong>n Straßenvergeblich. „Viel zu teuer“,fin<strong>de</strong>t Biancheri. Er setzt neben<strong>de</strong>n – kostenfrei ausgestrahlten– Wahlwerbespots im Fernsehenvor allem auf das Internet,um seine I<strong>de</strong>en zu verbreiten.„Eine <strong>de</strong>r weltweit erfolgreichstenWebsites“ betriebendie Transeuropäer, mehr als200.000 Menschen wür<strong>de</strong>n imDurchschnitt monatlich daselektronische Informationsangebotnutzen – Ten<strong>de</strong>nz steigend.Nachprüfen lässt sich soetwas freilich nicht. Allerdingsspricht das öffentliche Echozumin<strong>de</strong>st für funktionieren<strong>de</strong>Kommunikationswege: <strong>Die</strong>Leser <strong>de</strong>s „Time-Magazine“wählten Biancheri schon 2003zum „Hel<strong>de</strong>n Europas“. Undlaut <strong>de</strong>r Internet-Plattform„Politics Online“ gehört er zu„<strong>de</strong>n 10 Köpfen, die die Weltverän<strong>de</strong>rn“.Ohne Zweifel gehört FranckBiancheri wohl zu <strong>de</strong>n originellerenVor<strong>de</strong>nkern <strong>de</strong>r europäischenZukunft. Als Grün<strong>de</strong>rund Direktor <strong>de</strong>r Denkfabrik„LEAP/Europe 2020” (EuropeanLaboratory of PoliticalAnticipation) verkauft er seinenRat und seine Expertise.So hat er sowohl an diversenRegierungsprogrammen inFrankreich, Holland und Belgienmitgewirkt, als auch – imAuftrag <strong>de</strong>r EU-Kommission– das transatlantische Netzwerk„TIESWEB“ aufgebaut.Daher hatte Biancheri auchdas nötige Selbstbewußtsein,die Staats- und Regierungschefszum Gipfel <strong>de</strong>r G-20 inLondon in einem offenen Brief


Schwerpunk t > Europa<strong>Juni</strong> <strong>2009</strong> 13zum „sofortigen“ Han<strong>de</strong>ln aufzufor<strong>de</strong>rn:<strong>Die</strong> Welt braucheumgehend eine neue Reservewährunganstelle <strong>de</strong>s vollendsabgewirtschafteten Dollar. <strong>Die</strong>Gipfelteilnehmer zeigten sichallerdings weitgehend unbeeindruckt– und einigten sichauf ein weiteres, milliar<strong>de</strong>nschweresKonjunkturpaket. InDollar, versteht sich.Ein Prophet inKrisenzeiten ...Als „Engel <strong>de</strong>r Apokalypse“hat ihn eine französische Zeitungeinmal bezeichnet, weilBiancheri vor drei Jahren tatsächlichzu <strong>de</strong>n ersten gehörte,die lautstark vor jener großenFinanz- und Wirtschaftskrisewarnten, die uns dann prompteingeholt hat. „Dazu brauchteman ja kein Prophet zu sein“,stellt <strong>de</strong>r Mahner kühl fest,„alle Anzeichen sprachen seitJahren dafür, dass es zu einemerheblichen Crash kommenmusste!“ Nur falle <strong>de</strong>n herrschen<strong>de</strong>npolitischen Eliteneben nichts mehr dazu ein,wie man gegensteuern könne.„<strong>Die</strong> naheliegendste Sofortmaßnahme“,sagt Biancheriund nippt an seinem Kaffee,„wäre <strong>de</strong>r sofortige Ausstiegaus <strong>de</strong>m Dollar als weltweiteLeitwährung. Aber währenddie Chinesen, die Japaner,die Brasilianer das ganz klaransprechen, hört man von Europanichts! So verlieren wirwertvolle Zeit!“Franck Biancheri im Mai <strong>2009</strong> in Paris.Und das Schlimmste kommterst noch, davon ist Biancheriüberzeugt. „<strong>Die</strong> Krisewird gegen En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Jahres<strong>2009</strong> in eine neue Phasetreten – mit starken sozialenVerwerfungen und Massenstreiksweltweit. Vor allemdie Staaten Amerikas undAsiens wer<strong>de</strong>n heftige Auseinan<strong>de</strong>rsetzungenerleben. Beiuns wird man einen mil<strong>de</strong>renVerlauf sehen, <strong>de</strong>nn in Europasind die Sozialsysteme nochrelativ intakt – und die Demonstrantenhier sind nichtso gewaltbereit.“ Das gelteje<strong>de</strong>nfalls für die Staaten <strong>de</strong>rEuro-Zone. Außerhalb davonkönne es aber durchaus auchin <strong>de</strong>r EU zu „chaotischenSzenen“ kommen.Langeweile ist ausgeschlossen,wenn Franck Biancheri inseinem Stammcafé, <strong>de</strong>m „LeVictory“ in einer Seitenstraße<strong>de</strong>r Champs-Elysées, zum verbalenRundumschlag ausholt:„Unsere Politiker, das sinddoch alles Nullen! Ich nehmedie Parteien und Regierungenschon lange nicht mehr ernst.“– Natürlich gibt es da ganz interessanteEinzelfiguren. Aber imGrun<strong>de</strong> ist die Zeit dieser Leuteund ihrer Art von Politik dochlängst vorbei!“ In dieser Zeit <strong>de</strong>sÜbergangs, so Biancheris Credo,seien flexible Strukturenund höchste Kreativität gefragt.Doch in Brüssel herrschedas ganze Gegenteil. „Das istgefährlich! <strong>Die</strong> Erstarrung <strong>de</strong>rtraditionellen Politik in einersich rasch wan<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n Weltführt zum Erstarken <strong>de</strong>s Extremismus“,warnte <strong>de</strong>r selbsternannteErneuerer <strong>de</strong>r EU ineinem vielbeachteten Aufsatzschon 1998 („EU <strong>2009</strong> – Wenndie Enkel von Franco, Hitler,Mussolini und Pétain in Europadie Kontrolle übernehmen“)– und fühlt sich heute bestätigt:„Sehen sie nach Italien, wo dieLega Nord sich dafür einsetzt,dass künftig Einheimischeund Einwan<strong>de</strong>rerin getrenntenBussen fahren sollen!So eine Apartheidspolitikschien doch vorKurzem noch unvorstellbar!“Mit <strong>de</strong>n Rechtspopulistenwill er nichtszu schaffen haben, dasmacht er unmissverständlichklar. Mit allenan<strong>de</strong>ren Parteienübrigens auch nicht.„Wir haben unser Projektganz bewusst beiNull gestartet, ohneje<strong>de</strong> Verbindung zu bestehen<strong>de</strong>nNetzwerken. Wir sind unbelastetvom „Ancien Régime“gestartet!“ Ancien Régime, sonennt man die absolutistischenHerrscher <strong>de</strong>s 18. Jahrhun<strong>de</strong>rts,die die Zeichen <strong>de</strong>r Zeitnicht erkannten, bis sie von<strong>de</strong>r französischen Revolutionhinweggefegt wur<strong>de</strong>n. IstBiancheri also im Herzen einRevolutionär – o<strong>de</strong>r nur einWahlkampf à la Newropeans: 2008 verteilen Mitglie<strong>de</strong>r run<strong>de</strong>ine Million Flyer an Europas Strän<strong>de</strong>n.Träumer? Zumin<strong>de</strong>st letzteresweist er zurück: „Man muss<strong>de</strong>n Optimismus <strong>de</strong>s Willenshaben – und <strong>de</strong>n Pessimismus<strong>de</strong>r Intelligenz, bei<strong>de</strong>s zusammenergibt dann eine ziemlichrealistische Haltung. Bei mirkommt das so ungefähr hin,glaube ich.“Dabei nimmt Biancheri <strong>de</strong>nMund auch öfter mal zu voll: Inallen 27 EU-Mitgliedslän<strong>de</strong>rnwür<strong>de</strong>n seine „Newropeans“zur Europawahl antreten, hatteer vor drei Jahren angekündigt.Schließlich waren es gera<strong>de</strong>einmal drei: Frankreich,die Nie<strong>de</strong>rlan<strong>de</strong> und Deutschland.„Das sind immerhin fast100 Millionen Wählerinnenund Wähler, die erstmals dieGelegenheit haben, sich wirklichfür die Demokratisierung<strong>de</strong>r EU zu entschei<strong>de</strong>n!“ DasWort „Rückschlag“ lässt einerwie Biancheri dabei nichtgelten. „<strong>Die</strong> Dinge braucheneben Zeit“, sagt er dann. Undschließlich wür<strong>de</strong> die Zeitdoch für sein Konzept arbeiten.„Ein lebendiges, freiesEuropa <strong>de</strong>r 500 MillionenEntscheidungsträger o<strong>de</strong>r einautoritäres Europa <strong>de</strong>r Bürokraten– das ist die Alternative!“,gibt er sich überzeugt.Immerhin begann auch seinbisher größter Erfolg zunächstmit einer Nie<strong>de</strong>rlage. Biancheri– damals noch Stu<strong>de</strong>nt <strong>de</strong>rPolitikwissenschaften – sollteim Auftrag <strong>de</strong>s französischenKulturministeriums einenStu<strong>de</strong>ntenaustausch zwischen<strong>de</strong>n wichtigsten Hochschulen<strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s organisieren: „Dashat überhaupt nicht hingehauen“,erinnert er sich. „<strong>Die</strong>Stu<strong>de</strong>nten fan<strong>de</strong>n das uninteressant,ein Semester in Lilleo<strong>de</strong>r Bor<strong>de</strong>aux zu verbringen.“Damals sei ihm die I<strong>de</strong>eJugend hat inDeutschland keinen leichtenStand. Natürlich, dieAusgangsbedingungen warenselten so gut wie Anfang<strong>de</strong>s 21. Jahrhun<strong>de</strong>rts.In diesem so genanntenSuperwahljahr <strong>2009</strong> isterstmals eine Generationwahlberechtigt, die nach1990 Geborenen, die Kriegund Blockkonfrontationnur aus Erzählungen kennt.Mit <strong>de</strong>n Möglichkeiten,die ein in die EuropäischeUnion integriertes und globalvernetztes Deutschlandvor allem auch jungen Menschenbietet, sind aber auchgekommen, das Programmüber die Grenzen hinweg auszu<strong>de</strong>hnen.Daraus entstanddann „Erasmus“, das EuropeanRegion Action Scheme forthe Mobility of University Stu<strong>de</strong>nts.Davon wer<strong>de</strong>n alleinin diesem Jahr rund 170.000Studieren<strong>de</strong> profitieren. Aufdie geistige Vaterschaft ist Biancherihörbar stolz: „<strong>Die</strong>sesProgramm bringt junge Leutezusammen, bringt sie – jenseits<strong>de</strong>r wissenschaftlichenArbeit – in persönlichen Kontakt.Sie müssen sich verständigen,verlieben sich, streitenund vertragen sich wie<strong>de</strong>r ...und dabei, fast wie nebenbei,bauen sie am neuen Europa!“... o<strong>de</strong>r ein Phantastund Schwärmer?Nun könnte man Franck Biancherileicht für einen Schwärmerhalten. Noch leichterkönnte man ihn unterschätzen.Aber Biancheri ist einknallharter Marathon-Mann,<strong>de</strong>r seit 20 Jahren zielstrebigfür eine große Sache streitet.Weitere 15 Jahre gibt er <strong>de</strong>n„Newropeans“, bis sie ihrZiel erreicht haben sollen:ein wirklich <strong>de</strong>mokratischesEuropa <strong>de</strong>r Bürgerinnen undBürger. Und danach? Nach<strong>de</strong>m Willen seines Grün<strong>de</strong>rssoll die „transeuropäischeBewegung“ dann einfach erlöschen.„Wir sind die erstepolitische Gruppierung, dievon vornherein ein Ablaufdatumträgt, so wie <strong>de</strong>r Joghurtim Supermarkt“, verkün<strong>de</strong>tFranck Biancheri fröhlich.Sein Wunsch: Mission erfüllt– Partei aufgelöst. Wie<strong>de</strong>r einedieser verrückten I<strong>de</strong>en.Anfor<strong>de</strong>rungen, Erwartungenund Belastungenimmens gestiegen. Wie niezuvor muss sich die jungeGeneration gegen weltweiteKonkurrenz behaupten.In Anbetracht <strong>de</strong>r weltweitenWirtschafts- undFinanzkrise sind zu<strong>de</strong>m dieZiele ausgeglichener Haushalts-und Schul<strong>de</strong>ntilgungin weite Ferne gerückt. <strong>Die</strong>Hypotheken, mit <strong>de</strong>nen diejunge Generation in die Zukunftgeht, wachsen somit,statt kleiner zu wer<strong>de</strong>n.Sebastian Hille3 die<strong>Gesellschafter</strong>.<strong>de</strong>


14 <strong>Juni</strong> <strong>2009</strong>Schwerpunk t > EuropaWie <strong>de</strong>mokratisch ist Europa wirklich?Andreas Fisahn: „Das Parlament spielt nur die zweite Geige“Mit <strong>de</strong>m Vertrag von Lissabonwill die EU auch die letztenSkeptiker davon überzeugen,dass Demokratiein Europa ernst genommenwird. Doch wie es scheint,haben die EU-Verantwortlichenihre Rechnung ohne<strong>de</strong>n Bürger gemacht. Denndie Bevölkerung Irlandslehnte <strong>de</strong>n Vertrag in einemReferendum mehrheitlichab. In Deutschland sind<strong>de</strong>rzeit vor <strong>de</strong>m Bun<strong>de</strong>sverfassungsgerichtetlicheHerr Professor Fisahn, wür<strong>de</strong>nSie die Strukturen <strong>de</strong>rEU, gemessen an bun<strong>de</strong>s<strong>de</strong>utschenMaßstäben, als<strong>de</strong>mokratisch bezeichnen?Ich erkenne ein erhebliches<strong>de</strong>mokratisches Defizit in <strong>de</strong>rEU. Das Parlament spielt nurdie zweite Geige. Wichtigersind <strong>de</strong>r Rat als Versammlung<strong>de</strong>r Europäischen Regierungenund die Kommission.Nach unserem Grundgesetzhat <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>stag Vorrangund die Exekutive muss <strong>de</strong>mParlament folgen. In Europaist es umgekehrt: Das Parlamentfolgt <strong>de</strong>r Exekutive.Ohne Kommission und Ratkönnen keine europäischenGesetze verabschie<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n.Ohne das Parlament istdas aber möglich.Das Grundgesetz bestimmt,dass die Staatsgewalt vomVolke ausgeht. Ist das auchdie politische Wirklichkeitin <strong>de</strong>r EU?Klagen anhängig, <strong>de</strong>renAusgang mit Spannungerwartet wird. Auch unter<strong>de</strong>n Experten schei<strong>de</strong>n sichdie Geister am LissabonerVertrag. Während die einendarin die Demontage <strong>de</strong>rnationalen Verfassungenund die Prinzipien <strong>de</strong>rDemokratie nicht weitreichendgenug gewahrt sehen,erkennen die an<strong>de</strong>rendarin einen Meilenstein zumehr Transparenz und Demokratie.<strong>Die</strong> europäischen Regierungensind auch vom Volk gewählt.Aber das Parlament soll möglichstdie unterschiedlichenMeinungen, Interessen undKulturen <strong>de</strong>r Gesellschaft wi<strong>de</strong>rspiegeln.Das kann eine Regierungnicht. Das Parlamentsoll in <strong>de</strong>r Diskussion das Gemeinwohlherausfin<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong>Regierung vertritt dagegen imZweifel beson<strong>de</strong>re Interessenihres Lan<strong>de</strong>s. <strong>Die</strong> Vermittlungzwischen Volk und Staatsgewaltist <strong>de</strong>shalb in Europaschwieriger als in Deutschland.Der Wille <strong>de</strong>s Volkes wirdmehrfach gefiltert und amEn<strong>de</strong> bleibt <strong>de</strong>r Wille europäischerEliten übrig, die sich inEuropa durchsetzen, <strong>de</strong>r Willevon Eliten aus Wirtschaft, Politikund Verwaltung.Aber die Bürger <strong>de</strong>r Mitgliedsstaatenwählen dochdas EU-Parlament direkt?Aber das Parlament hat ebennicht genug zu sagen.Wird die EU durch <strong>de</strong>n LissabonerVertrag <strong>de</strong>mokratischer?Ja zweifellos, allerdings nicht<strong>de</strong>mokratisch genug. <strong>Die</strong>Rechte <strong>de</strong>s Parlaments wer<strong>de</strong>ngestärkt, aber sie bleibtdie zweite Kammer, die nichtüberall mitentschei<strong>de</strong>n undkeine eigenen Vorschläge fürGesetze einbringen kann. <strong>Die</strong>sekleinen Fortschritte wärensicher zu begrüßen, wenn esdann weiter ginge. <strong>Die</strong> Diskussionum eine Reform <strong>de</strong>r EU istinzwischen fast 15 Jahre alt.Entwe<strong>de</strong>r schafft man jetzt eine<strong>de</strong>mokratische Union o<strong>de</strong>res gelingt in <strong>de</strong>n nächsten 50Jahren nicht mehr.Kritiker behaupten, mit <strong>de</strong>mLissaboner Vertrag wer<strong>de</strong>versucht, die im Jahr 2005am Wi<strong>de</strong>rspruch einiger Mitgliedslän<strong>de</strong>rgescheiterteVerfassung nahezu i<strong>de</strong>ntischwie<strong>de</strong>r einzuführen?Das wird sie allerdings. DerLissaboner Vertrag ist fastwortgleich mit <strong>de</strong>r Verfassung,die seinerzeit abgelehntwur<strong>de</strong>. In<strong>de</strong>m man die Hymneund die Fahne streicht, willman etwa <strong>de</strong>n Nie<strong>de</strong>rlän<strong>de</strong>rnweis machen, dass es keineEuropäische Verfassung gibt.Aber es kommt schließlich daraufan, was drin ist und nicht,was drauf steht.Welches sind – außer <strong>de</strong>mDemokratie<strong>de</strong>fizit – Ihrewichtigsten Kritikpunktean <strong>de</strong>m Vertrag?Ich sehe das Problem, dassdie EU weiter auf das gescheiterteneoliberale Wirtschaftsmo<strong>de</strong>llfestgelegt wird.Auf ein Wirtschaftsmo<strong>de</strong>llmit liberalisierten Finanzmärkten,die – das weiß maninzwischen ja – stark krisenanfälligsind. <strong>Die</strong>ses Mo<strong>de</strong>llist gescheitert und es müsstensich nun eigentlich an<strong>de</strong>rewirtschaftspolitische Konzeptionendurchsetzen. Dochdazu müsste die EuropäischeVerfassung offener wer<strong>de</strong>n.Braucht <strong>de</strong>nn Europaüberhaupt eine eigeneVerfassung?Ja, unbedingt. Ein so mächtigesGebil<strong>de</strong> wie die EUbenötigt klar <strong>de</strong>finierte, <strong>de</strong>mokratischeSpielregeln. Unddie schreibt man gewöhnlichin eine Verfassung.Benötigt die EU dazu <strong>de</strong>nLissaboner Vertrag?Durch die überhastete Osterweiterunghat sich Europa unnötigin Zugzwang gesetzt. Mit <strong>de</strong>mgegenwärtigen Vertrag ist dieeuropäische Abstimmung ausgesprochenmühsam o<strong>de</strong>r funktioniertnicht. Europa hat keinegemeinsame Antwort auf dieWirtschaftskrise gefun<strong>de</strong>n. Umeine gemeinsame europäischePolitik zu gestalten, braucht es<strong>de</strong>mokratischere Spielregeln alsdie <strong>de</strong>s Lissaboner Vertrages.Der Vertrag von Lissabonbekennt sich zu einer freienMarktwirtschaft. Bleibtdabei die soziale Komponente,wie sie seit LudwigErhardt hierzulan<strong>de</strong> gilt, inEuropa auf <strong>de</strong>r Strecke?Ein<strong>de</strong>utig ja. <strong>Die</strong> EU Verträgenormieren einen harmonisiertenBinnenmarkt in vielenBereichen wie Umwelt- o<strong>de</strong>rVerbraucherschutz – nur nichtin <strong>de</strong>n Bereichen <strong>de</strong>r sozialenSicherung und <strong>de</strong>r Steuern.Auf diesen Gebieten fin<strong>de</strong>t<strong>de</strong>shalb ein Wettbewerb <strong>de</strong>rStaaten statt, ein Wettbewerbals Rattenrennen um die billigstenKonditionen für dieWirtschaft. Das geht nur aufKosten <strong>de</strong>r sozialen Dimension.Wird Deutschland anEinfluss in <strong>de</strong>r EU verlieren,wenn <strong>de</strong>r neue Vertrag inKraft tritt?<strong>Die</strong> Bun<strong>de</strong>srepublik Deutschlandist <strong>de</strong>r mächtigste Staat in<strong>de</strong>r EU und wird es auch bleiben.<strong>Die</strong> Frage ist allerdings,ob das gut für die EU und ihreweiteren Entwicklung ist.Deutschland und Irlandhaben <strong>de</strong>m Vertrag bishernoch nicht zugestimmt.Geben Sie <strong>de</strong>m Vertrag vonLissabon noch eine Chance?Ich vermute, dass die Ireneinen Teufel tun wer<strong>de</strong>nund nach ihrem rasantenwirtschaftlichen Absturz nunplötzlich für <strong>de</strong>n Vertrag stimmen.Es sei <strong>de</strong>nn: Sie wer<strong>de</strong>nvon <strong>de</strong>r EU im wahrsten Sinne<strong>de</strong>s Wortes gekauft, zum Beispielmit hohen Zuschüssen,um ihre Wirtschaft wie<strong>de</strong>r inGang zu bringen. Wenn dieIren dagegen stimmen, ist <strong>de</strong>rVertrag gescheitert.Interviews: Joachim MerklProf. FisahnProfessor Andreas Fisahnist Inhaber <strong>de</strong>s Lehrstuhlsfür Öffentliches Recht,Umwelt- und Technikrecht,Rechtstheorie an <strong>de</strong>rUniversität Bielefeld.Foto: Picture AllianceIst <strong>de</strong>r nächsten Generation ein <strong>de</strong>mokratischeres Europa zu wünschen?


Schwerpunk t > Europa<strong>Juni</strong> <strong>2009</strong> 15... zwei Stimmen – zwei MeinungenIngolf Pernice: „Wer <strong>de</strong>n Vertrag von Lissabon versteht, muss ihn als Fortschritt begreifen“Herr Professor Pernice, im<strong>de</strong>utschen Grundgesetzheißt es in Artikel 20, „dieStaatsgewalt geht vomVolke aus“. Gilt das auch fürdie Europäische Union?<strong>Die</strong>ses Prinzip sollte mannicht als Maßstab für die EUanlegen, dafür sind die Unterschie<strong>de</strong>zu groß. Im Gegensatzzu <strong>de</strong>n EU-Staaten existierenin <strong>de</strong>r EU we<strong>de</strong>r ein Volk nocheine Staatsgewalt im Sinneunseres Grundsgesetzes. Alsogibt es auch keinen europäischenStaatsbürger. Das EU-Parlament kontrolliert keineRegierung, son<strong>de</strong>rn primär dieeuropäische Gesetzgebung.Wird nicht mit <strong>de</strong>m LissabonerVertrag die im Jahr 2005gescheiterte Verfassungdurch die Hintertür wie<strong>de</strong>reingeführt?In <strong>de</strong>r Tat entspricht <strong>de</strong>r Vertrag<strong>de</strong>m ursprünglichen Verfassungsentwurf.Allerdings hatman nun <strong>de</strong>n Begriff Verfassungund die ausdrückliche Festlegung<strong>de</strong>r Europa-Flagge und-Hymne im Text gestrichen.Bereits die Vorläufer-Verträgehaben „Verfassungscharakter“,sind aber ihrerBezeichnung nach keineVerfassung. Worin besteht<strong>de</strong>r Unterschied?Der Unterschied besteht in<strong>de</strong>r Form und in <strong>de</strong>r Bezeichnung.<strong>Die</strong> Form ist ein Vertragzwischen Staaten, und dieBezeichnung ist EG- o<strong>de</strong>rEU-Vertrag. Aber das Grundgesetzheißt ja auch nicht„Verfassung“.Der Lissaboner VertragAm 13. Dezember 2007 einigensich die 27 europäischenStaats- und Regierungschefs<strong>de</strong>r Europäischen Union in<strong>de</strong>r portugiesischen HauptstadtLissabon auf einenneuen Vertrag. Der „Vertragvon Lissabon“ soll noch<strong>2009</strong> in Kraft treten und dieEuropäische Union auf eineneue Grundlage stellen. Erersetzt die bestehen<strong>de</strong>n Verträgenicht, son<strong>de</strong>rn än<strong>de</strong>rtsie lediglich ab. Bevor er inKraft tritt, müssen sämtlicheMitgliedsstaaten <strong>de</strong>mFoto: Picture AllianceBun<strong>de</strong>skanzlerin Angela Merkel und Außenminister Frank-Walter Steinmeier unterzeichen 2007<strong>de</strong>n Lissabon Vertrag – ob er je in Kraft tritt, ist weiter offen.Vertragswerk zustimmen.Bisher haben Deutschlandund Irland <strong>de</strong>n Vertrag nochnicht ratifiziert. Außer<strong>de</strong>msind vor <strong>de</strong>m Bun<strong>de</strong>sverfassungsgerichtnoch mehrereKlagen gegen <strong>de</strong>n Vertraganhängig.Den vollständigen Wortlaut<strong>de</strong>s Lissaboner Vertragesfin<strong>de</strong>n Sie im Internet unterwww.auswaertiges-amt.<strong>de</strong>.Klicken Sie die Rubrik „Europa“an und geben Sie anschließend<strong>de</strong>n Suchbegriff„Reformvertrag“ ein.Kritiker behaupten, dass<strong>de</strong>r Lissaboner Vertrag diebestehen<strong>de</strong>n Demokratie<strong>de</strong>fizite<strong>de</strong>r EuropäischenUnion weiter verschärfe.Das Gegenteil ist <strong>de</strong>r Fall. ZumBeispiel entschei<strong>de</strong>t das EU-Parlament ohne Einschränkungüber <strong>de</strong>n Haushalt mitund wird neben <strong>de</strong>m Ratgleichberechtigter Partner imGesetzgebungsverfahren. Dasgilt auch für solche Politikbereiche,in <strong>de</strong>nen das EuropäischeParlament bislang nurkonsultiert wur<strong>de</strong>. Das EU-Parlament entschei<strong>de</strong>t über<strong>de</strong>n Haushalt mit, ohne diebisherigen Einschränkungen.Außer<strong>de</strong>m erhalten die nationalenParlamente mehr Kontrollfunktionen,wenn es umdas Han<strong>de</strong>ln auf europäischerEbene geht.Gegner <strong>de</strong>s Lissabon-Vertrages sprechen unteran<strong>de</strong>rem von einer schleichen<strong>de</strong>nKompetenzverlagerunghin zur EuropäischenUnion. Wie bewertenSie das?Allein <strong>de</strong>r Begriff „Kompetenzverlagerung“ist schief. Ersuggeriert, dass die nationalenParlamente etwas verliereno<strong>de</strong>r abgeben wür<strong>de</strong>n. DasGegenteil ist <strong>de</strong>r Fall, <strong>de</strong>nn siegewinnen neue Handlungsoptionenfür Dinge, die <strong>de</strong>rStaat allein nicht kann. DerVertrag regelt, dass Entscheidungenmöglichst bürgernahgetroffen wer<strong>de</strong>n sollen. InBereichen, die nicht in ihreausschließliche Zuständigkeitfallen, darf die EU nur danntätig wer<strong>de</strong>n, wenn ihre Maßnahmenwirksamer sind alseine nationale o<strong>de</strong>r regionale.Das gilt für weite Bereiche <strong>de</strong>sUmweltschutzes, vor allem bei<strong>de</strong>r Klimapolitik, aber auchfür das Funktionieren <strong>de</strong>sBinnenmarktes.Steht nicht zu befürchten,dass <strong>de</strong>r Europäische Gerichtshofimmer mehr zumobersten Gesetzeshüter füralle Mitgliedslän<strong>de</strong>r wird?<strong>Die</strong>se Befürchtung teile ichnicht. Der EuGH ist, zusammenmit <strong>de</strong>r Kommission, Hüter<strong>de</strong>r europäischen Gesetze.<strong>Die</strong> Richter in <strong>de</strong>n Mitgliedsstaatenbleiben Hüter <strong>de</strong>rstaatlichen Gesetze.Kritiker bemängeln einen„bisher nicht bemerktenKonstruktionsfehler“. DerLissaboner Vertrag wer<strong>de</strong>zur europäischen Oberverfassung,weil er die Verfassungen<strong>de</strong>r Mitgliedstaatenzu „Lan<strong>de</strong>sverfassungen“herunterstufe.Das ist blanker Unsinn. DerLissaboner Vertrag vereinfachtund ergänzt die heutigenVerträge nur. Der EU-Gerichtshof kann nationaleGesetze o<strong>de</strong>r Gerichtsentscheidungennicht aufheben.Verstößt beipielsweise einGesetz gegen EU-Recht, soist es nicht automatisch nichtig,son<strong>de</strong>rn muss geän<strong>de</strong>rtwer<strong>de</strong>n.Erhält nicht die EU imLissaboner Vertrag einenPersilschein, nationale Zuständigkeiteneinseitig ansich zu ziehen?Nein, gera<strong>de</strong> nicht. Der Vertragerlaubt <strong>de</strong>r EU nicht,sich selbst neue Kompetenzenzu schaffen. Allerdings kannsie im Einzelfall unter bestimmtenUmstän<strong>de</strong>n aktivwer<strong>de</strong>n, wenn keine ausdrücklichenKompetenzen gegebensind.Wird Deutschland durch <strong>de</strong>nVertrag an Einfluss in <strong>de</strong>r EUverlieren, weil es mit wenigerStimmen im Parlament vertretensein wird als bisher?<strong>Die</strong> Höchstzahl <strong>de</strong>r Abgeordnetenpro Land wird voraussichtlichauf 96 begrenzt sein,bislang hat Deutschland 99 Abgeordneteim Parlament. Nachaltem wie nach neuem Rechtgilt: Je größer die Bevölkerung,<strong>de</strong>sto mehr Leute wer<strong>de</strong>n durchje<strong>de</strong>n einzelnen Abgeordnetenrepräsentiert. Das Gewicht je<strong>de</strong>seinzelnen Wählers nimmtmit <strong>de</strong>r Größe <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s ab.Bei strikter Wahlrechtsgleichheithätten Län<strong>de</strong>r wie Malta,Zypern o<strong>de</strong>r auch Luxemburgnicht einmal einen Abgeordnetenim Parlament. Im Übrigenwird die Größe <strong>de</strong>r Bevölkerungkünftig durch das Prinzip <strong>de</strong>rdoppelten Mehrheit im Rat besserberücksichtigt als bisher. (Ab2014 sind Entscheidungen angenommen,wenn 55 Prozent <strong>de</strong>rStaaten sie wollen, die 65 Prozent<strong>de</strong>r Bevölkerung vertreten.)Mal ganz offen gefragt:Geben Sie <strong>de</strong>m LissabonerVertrag im Hinblick auf diein Deutschland anhängigenVerfassungsklagen überhauptnoch eine Chance?Darauf möchte ich ebenso offenantworten. Wer das EU-Rechtkennt und <strong>de</strong>n Vertrag von Lissabonversteht, muss ihn als erheblichenFortschritt in SachenTransparenz und Demokratiebegreifen. Wenn die Verfassungsrichterin Karlsruhe nichtvöllig verblen<strong>de</strong>t sind, wer<strong>de</strong>nsie die Klagen abweisen.Prof. PerniceProfessor Ingolf Pernice istInhaber <strong>de</strong>s Lehrstuhls fürÖffentliches Recht, VölkerundEuroparecht an <strong>de</strong>rHumboldt-Universität zuBerlin.


16 <strong>Juni</strong> <strong>2009</strong>Schwerpunk t > Europa<strong>Die</strong> BeispieleuropäerIn Berlin treffen sich Frauen und Männer zur Bürgerkonferenz und stellen For<strong>de</strong>rungen an die PolitikVon Erik HeierIm Januar bekam RobertBlaschko in Würzburg einenAnruf, <strong>de</strong>r ihm merkwürdigerschien. Eine Einladung.Zuerst dachte er an eineKaffeefahrt. Aber <strong>de</strong>r Anrufersprach von einer EuropäischenBürgerkonferenz inBerlin. Das klang nicht nachKamelhaar<strong>de</strong>cken. Blaschkohatte noch nie von <strong>de</strong>rKonferenz gehört. Er googeltesie erst mal. Sicher istsicher.Es ist das letzte Märzwochenen<strong>de</strong>,als Blaschko, ein schmaler22-jähriger BWL-Stu<strong>de</strong>ntmit dunkler Baseballmützeund gestreifter Kapuzenjacke,im Weltsaal <strong>de</strong>s AuswärtigenAmtes in Berlin sitzt. Wie 149weitere Deutsche aus <strong>de</strong>m gesamtenBun<strong>de</strong>sgebiet, verteiltauf zehn Tische.Sie sollen über die politischeund soziale Zukunft Europasdiskutieren. Sie sollen gemeinsamzehn For<strong>de</strong>rungenan die EU formulieren. Siesollen für zwei Tage Beispieleuropäersein.<strong>Die</strong> Teilnehmer wur<strong>de</strong>n,wie Blaschko selbst, angerufenvom Bamberger Centrumfür Empirische Forschungen<strong>de</strong>r Otto-Friedrich-Universität.Das Centrum hat sienach <strong>de</strong>m Zufallsprinzip ausTelefondatensammlungenausgewählt. Aus <strong>de</strong>nen, dieteilnehmen wollten, stellte eseine für Deutschland repräsentativeGruppe zusammen.Nach Alter, Geschlecht o<strong>de</strong>rauch Beruf. Der Älteste ist80, die Jüngste 18. MigrantenDiskussionen zwischen Skepsis und Euphorie.Fotos: Johannes BackesEin Wochenen<strong>de</strong> für Europa: Teilnehmer im Gespräch beim Treffen im Weltsaal <strong>de</strong>s Auswärtigen Amtes in Berlin.fin<strong>de</strong>t man allerdings fast garnicht. Eine einzige Frau mitKopftuch.Robert Blaschko sieht einbisschen blass aus an diesemfrühen Sonnabendmorgen. Erist zwar schon am Freitag angereist.Aber Berlins Partyszenehat sich auch in Würzburgherumgesprochen. Neben ihmsitzt Ulla Birsner, 60, eineältere, temperamentvolleFrau, Kun<strong>de</strong>ndienstlerin vomBo<strong>de</strong>nsee, ihm gegenüber RonaldMischke, 48, Schweißer,Ausbil<strong>de</strong>r und Betriebsrat ausChemnitz. Mischke ist <strong>de</strong>r Einzigeam Tisch aus <strong>de</strong>n neuenBun<strong>de</strong>slän<strong>de</strong>rn. Er sieht einbisschen aus wie <strong>de</strong>r FernsehsachseWolfgang Stumpf: „Ichbin hier <strong>de</strong>r Quoten-Ossi.“<strong>Die</strong> Europäischen Bürgerkonferenzen(European Citizens’Consultations – ECC)sind als das größte Beteiligungsprojektzur ZukunftEuropas angekündigt. An dreiWochenen<strong>de</strong>n im März wur<strong>de</strong>nsie in allen 27 EU-Län<strong>de</strong>rnanberaumt. Mit insgesamt1.500 EU-Bürgern. <strong>Die</strong> StimmenEuropas.<strong>Die</strong> Konferenzen wer<strong>de</strong>nvon einem Konsortium ausmehr als 40 Organisationenveranstaltet, in Deutschlandvon <strong>de</strong>r Robert-Bosch-Stiftungund <strong>de</strong>m IFOK-Institutfür Organisationskommunikation.Nach 2007 ist es diezweite Auflage. <strong>Die</strong> Leitfrageheißt diesmal: Was kann dieEU tun, um unsere wirtschaftlicheund soziale Zukunft ineiner globalisierten Welt zugestalten?Je<strong>de</strong>s <strong>de</strong>r 27 EU-Län<strong>de</strong>rformuliert jeweils zehn Bürgerfor<strong>de</strong>rungenan die EU,insgesamt wer<strong>de</strong>n es also 270Anliegen. Alle Teilnehmerkönnen sie anschließend onlinediskutieren und darüberabstimmen. So wer<strong>de</strong>n sich15 gesamteuropäische For<strong>de</strong>rungenherauskristallisieren.„Alle, die Sie hier sitzen, opfernein ganzes Wochenen<strong>de</strong>für Europa“, sagt ChristianHänel von <strong>de</strong>r Bosch-Stiftungin Berlin.Von Bankenkrisebis SubventionenDann geht es los. <strong>Die</strong> ersteEtappe in <strong>de</strong>m langen, vomIFOK-Institut ausgeklügeltenProzess. <strong>Die</strong> Teilnehmer sollenihre Ängste und Sorgen überEuropa formulieren. Jeweilsan ihren Tischen. <strong>Die</strong> Bankenkriseist oft dabei. DerUmgang mit Migranten auch.Subventionsverschwendung.Und die Angst vor sozialemAbstieg und um die sozialenSicherungssysteme. <strong>Die</strong> amallermeisten.An <strong>de</strong>n Tischen sitzen IFOK-Mo<strong>de</strong>ratoren mit Laptops. IhreNotizen gehen sofort anein Redaktionsteam an <strong>de</strong>rSeite <strong>de</strong>s Saals. Es fasst siezusammen, bün<strong>de</strong>lt sie zuSchwerpunkten, zu Clustern.Harte Arbeit. 341 Sorgenkommen in <strong>de</strong>r ersten Run<strong>de</strong>zusammen.Der Weltsaal <strong>de</strong>s AuswärtigenAmtes ist mit Geschichteaufgela<strong>de</strong>n. In <strong>de</strong>n 1930-erJahren tagte dort die Reichsbank,in <strong>de</strong>r DDR das Zentralkomitee<strong>de</strong>r SED. 1990beschloss die DDR-Volkskammerhier <strong>de</strong>n Beitritt zurBun<strong>de</strong>srepublik. Jetzt wogtdas Stimmengewirr unter <strong>de</strong>n14 Leuchtern an <strong>de</strong>r Deckewie Meeresrauschen hoch,es wird zurückgeworfen von<strong>de</strong>r Holzvertäfelung an <strong>de</strong>nWän<strong>de</strong>n.Europa hat viel zu sagen.Europa ist auf einmal ganznah, ganz greifbar. Ganz erlebbar.Normal ist das nicht.Normal ist, dass das politischeEuropa bei seinenBewohnern nicht <strong>de</strong>n bestenRuf hat. Dass dort nach landläufigerMeinung vor allemum Subventionen geschachertund das Aussehen von Obstnormiert wird. Dass es ei-


Schwerpunk t > Europa<strong>Juni</strong> <strong>2009</strong> 17nen Reformvertragsvorschlaggibt, <strong>de</strong>r mal eine Verfassungwer<strong>de</strong>n sollte und be<strong>de</strong>nklichwankt.„Ich bin ein bisschen skeptisch,ob die Vorschläge, diewir hier erarbeiten sollen, von<strong>de</strong>r EU wirklich umgesetztwer<strong>de</strong>n“, sagt Blaschko.Am frühen Nachmittag gehtes an die zweite Stufe: For<strong>de</strong>rungsi<strong>de</strong>enan die EU sammeln.An je<strong>de</strong>m Tisch wer<strong>de</strong>nZettel beschrieben und an Tafelngeklebt. GewerkschafterMischke kritzelt: „KostenlosesStudium mit Grundsicherung.“Er zeigt <strong>de</strong>n Zettel Blaschko,winkt damit, grinst. Blaschkogrinst zurück. <strong>Die</strong> Tischmo<strong>de</strong>ratorinmahnt: „Ich möchteSie bitten, nur Sachen aufzuschreiben,die wir gemeinsamdiskutiert haben.“An <strong>de</strong>n Tischen kristallisierensich Wortführer heraus.Leute, die überzeugen können.O<strong>de</strong>r die einfach lautersind. Dann müssen die Mo<strong>de</strong>ratorengegensteuern. <strong>Die</strong>Stillen sind nicht unbedingtdie Wortlosen. Ulla Brisner,die Frau vom Bo<strong>de</strong>nsee, isteher laut. Sie staunt: „Ich hattemir das nicht so spannendvorgestellt.“An <strong>de</strong>r Tafel <strong>de</strong>s Tischesklebt mittlerweile ein Zettel:„Stärkeres Feedback <strong>de</strong>r Politikeran die Gesellschaft.“ Einpaar Meter weiter kriegen sicheine Frau und ein Mann überregenerative Energien fastin die Wolle. Ein paar Tischeweiter schreibt ein Mann:„Egoismus einschränken, das,nur ich’ sollte ausgegrenztwer<strong>de</strong>n.“ Dann kratzt er sicham Kopf: „Das bedarf wohlnoch <strong>de</strong>r Erläuterung.“152 For<strong>de</strong>rungen kommenso zusammen. <strong>Die</strong> Redaktionmacht daraus 33 Cluster. Oftgeht es darin um europäischeVereinheitlichung: Bildungsstandards,Klimaschutz, Min<strong>de</strong>stlohn,Grun<strong>de</strong>inkommen,Steuersysteme. Ausufern<strong>de</strong>Bürokratie wird aber auchbeklagt.Dass Vereinheitlichung gera<strong>de</strong>mehr Bürokratie zur Folgehaben kann, fällt wenigen auf.Außer <strong>de</strong>n gela<strong>de</strong>nen Experten,die danach die I<strong>de</strong>en kommentieren.<strong>Die</strong> ProfessorinAnke Hassel von <strong>de</strong>r BerlinerHertie School of Governancemahnt: „Je mehr man europäischregelt, <strong>de</strong>sto weniger hatman vor Ort Einfluss darauf.“Der SozialwissenschaftlerGünther Danner von <strong>de</strong>r Europavertretung<strong>de</strong>r DeutschenSozialversicherung in Brüsselsagt: „Gesetze machen istganz einfach. Das Problem ist:Ist es Dekoration o<strong>de</strong>r machtes wirklich Sinn?“ SabineOverkämping vom DeutschenJuristinnenbund wun<strong>de</strong>rt sich,wie stark Bildung thematisiertwird. „<strong>Die</strong> EU hat viel dafürgetan, aber wenn es Ihnen sowichtig ist, hat sie es offenbarnicht sichtbar getan.“Nach <strong>de</strong>r Expertenrun<strong>de</strong>geht Robert Blaschko füreine Zigarette vor die Tür. ErBürger <strong>de</strong>r Europäischen Union „bitten nicht. Sie haben das Recht zu for<strong>de</strong>rn.“pustet durch. „Kann es sein,dass diese Experten gera<strong>de</strong>die meisten unserer I<strong>de</strong>enzerrissen haben?“ Auch an<strong>de</strong>reBeteiligte wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>nVerdacht nicht los, dass dieExperten die Vorschläge nichtnur bewerten, son<strong>de</strong>rn auchsteuern wollen.So prallen die Wünsche<strong>de</strong>r 150 Bürger und ihreUmsetzungschancen im politischenSystem immer wie<strong>de</strong>rgegeneinan<strong>de</strong>r. Es ist eineüberaus aufschlussreiche Versuchsanordnung.Viele <strong>de</strong>rBürger wer<strong>de</strong>n nach undnach immer besser verstehen,wie Politikmachen in <strong>de</strong>r EUfunktioniert. Und wie nicht.Und wenn es gut läuft, tragensie daheim dieses Verständnisweiter. 150 Multiplikatorenfür Europa.Mehr Transparenzund KommunikationAm En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s ersten Tages,<strong>de</strong>s Sonnabends, stehen zehnüberarbeitete I<strong>de</strong>en-Clusterfest. <strong>Die</strong> angeglichenen Bildungssystemeund die Regulierung<strong>de</strong>r internationalenFinanzmärkte stehen ganzoben.Der nächste Morgen, Sonntag.<strong>Die</strong> 15 Tischgruppenwer<strong>de</strong>n aufgelöst, zehn neuegebil<strong>de</strong>t, diesmal sortiert nach<strong>de</strong>n zehn I<strong>de</strong>en-Clustern. Je<strong>de</strong>rzieht eine Nummer. RobertBlaschko hat Tisch dreierwischt: mehr Transparenzund Kommunikation bei politischenEntscheidungen.Der Wirtschaftsstu<strong>de</strong>nt gucktsehnsüchtig zu Tisch zweihinüber. Dort geht es um dieRegulierung <strong>de</strong>r Finanzmärkte.Darüber hat er gestern amliebsten gestritten: das kapitalistischeWirtschaftssystem,mangeln<strong>de</strong>r Wettbewerb, Oligopole.„Verdammt, da wür<strong>de</strong>ich mich lieber hinsetzen“,seufzt Blaschko.Dann wird an <strong>de</strong>n Tischenwie<strong>de</strong>r heftig diskutiert undum je<strong>de</strong>s einzelne Wort gerungen.An einer Tafel steht: „WirBürger für BürgerZwischen Dezember 2008und März <strong>2009</strong> konnte je<strong>de</strong>r,<strong>de</strong>r über einen Internetanschlussverfügt, online aneiner europaweiten Debatteteilnehmen. Das Thema:„Wie kann die EU unserewirtschaftliche und sozialeZukunft in einer globalisiertenWelt gestalten?“. Das Ergebnis:Zehn Vorschläge, diein die Debatte von 150 ausgewählten<strong>de</strong>utschen Bürgerinnenund Bürgern eingingen,die an <strong>de</strong>r EuropäischenBürgerkonferenz En<strong>de</strong> März<strong>2009</strong> in Berlin teilnahmen.Zwei Tage lang diskutiertensie die Empfehlungen.bitten die EU…“ Ein Mannschüttelt <strong>de</strong>n Kopf: „Nein. Wirfor<strong>de</strong>rn die EU auf. Wir bittennicht. Wir haben das Recht zufor<strong>de</strong>rn. Wir sind Europäer.“Derweil nehmen die Zigarettenpausen<strong>de</strong>r Raucherdraußen zu. Manchmal treffensich Tischnachbarn <strong>de</strong>sVortages. – „Wo bist du gelan<strong>de</strong>t?“– „Finanzen.“ – „Hast dues gut. Ich bin bei Forschung.Davon habe ich null Plan.“Bei<strong>de</strong> lachen.Deutsche For<strong>de</strong>rungenin die Debatte bringenZehn <strong>de</strong>utsche For<strong>de</strong>rungenkommen am En<strong>de</strong> heraus.Sie drehen sich um die Regulierung<strong>de</strong>r internationalenFinanzmärkte, um Bildung,um Einwan<strong>de</strong>rung, um Subventionen,um Transparenz,um Bürokratieabbau. Danndiskutieren sechs <strong>de</strong>utscheEU-Parlamentarier die Ergebnisse.Den Satz, <strong>de</strong>n alle hörenwollen, sagt <strong>de</strong>r Liberale JorgeChatzimarkakis: Je<strong>de</strong>r <strong>de</strong>ranwesen<strong>de</strong>n Abgeordnetenkönne eine parlamentarischeAnfrage stellen, auch diese<strong>de</strong>utschen For<strong>de</strong>rungen indie Debatte einzubringen,nicht nur die 15 gesamteuropäischenEmpfehlungen amEn<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Prozesses. „Und ichbitte alle Abgeordneten, dasauch zu tun.“Eine gute Woche geht es inBrüssel eine Run<strong>de</strong> weiter.150 Bürger aus <strong>de</strong>r ganzenEU verabschie<strong>de</strong>n am 10. und11. Mai in Brüssel EuropasFor<strong>de</strong>rungen und überreichensie <strong>de</strong>n politischen Entscheidungsträgern– darunterEU-Kommissionspräsi<strong>de</strong>ntEuropäische Bürgerkonferenzenfan<strong>de</strong>n an dreiWochenen<strong>de</strong>n zeitgleich inneun Län<strong>de</strong>rn statt. Insgesamt1.600 Bürgerinnenund Bürger haben an diesen27 nationalen Debatten teilgenommen.Im Mai wur<strong>de</strong>ndie Ergebnisse dann aufeiner weiteren Konferenz in<strong>de</strong>r belgischen Hauptstadtberaten. Im Herbst sollensie mit politischen Entscheidungsträgerdiskutiertwer<strong>de</strong>n.Mehr dazu im Internet unter:www.european-citizens-consultations.euJosé Manuel Barroso. Sieenthalten unter an<strong>de</strong>rem For<strong>de</strong>rungennach Klimaschutz,nachhaltiger Landwirtschaft,<strong>de</strong>r Harmonisierung von Arbeitsbedingungenund sozialenSicherungssystemen. Siesollen bis En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Jahres inzahlreichen Veranstaltungenmit Politikern und Bürgernweiter <strong>de</strong>battiert wer<strong>de</strong>n.Das alles ist noch Zukunftsmusik,als Robert Blaschkonach <strong>de</strong>r Berliner Konferenzzum letzten Mal am Aschenbechervor <strong>de</strong>m AuswärtigenAmt steht: „Europa ist wichtiger,als ich gedacht habe“,sagt er aufgeräumt. Sein Zugzurück nach Würzburg gehtnoch am Sonnntagbend. <strong>Die</strong>erste Vorlesung am Montagbeginnt um acht Uhr. Er wirdwie<strong>de</strong>r nicht viel schlafenkönnen. Aber Europa ist esihm wert.www.europaeische-buergerkonferenzen.eu/<strong>de</strong>Je<strong>de</strong>r und je<strong>de</strong>, diesich ehrenamtlich engagieren,tun nicht nur etwasfür An<strong>de</strong>re, in<strong>de</strong>m sie ineiner bestimmten Situationhelfen. Es ist aucheine Bereicherung für sieselbst, etwas Beson<strong>de</strong>resund das sogar unentgeltlichgeleistet zu haben. Esdient nicht zuletzt <strong>de</strong>r gesamtenGesellschaft, <strong>de</strong>nnes ist Hilfe von Bürgernfür Bürger.Mathias Krieger3 die<strong>Gesellschafter</strong>.<strong>de</strong>


18 <strong>Juni</strong> <strong>2009</strong>Schwerpunk t > EuropaWie weit reicht <strong>de</strong>r Arm Brüssels?Das EU-Gesetzgebungsverfahren ist kompliziert, es zu verstehen lohntVon Reinhard BackesBestimmen an<strong>de</strong>re über daseigene Geschick, fühlensich die meisten Menschennicht wohl in ihrer Haut.Ist obendrein nicht klar,wer eigentlich was verfügt,wächst das Misstrauen.Mit diesem Dilemma muss dieEuropäische Union seit Jahrenleben. Denn Brüssel fällt Entscheidungen,die unmittelbaro<strong>de</strong>r indirekt bin<strong>de</strong>n. Dochdas Verfahren ist kompliziertund vielen gar nicht o<strong>de</strong>r nurin Teilen bekannt. Währenddie, die Einfluss nehmen wollen,genau hinschauen, ist dasInteresse in <strong>de</strong>r Öffentlichkeiteher gering.Aufmerksamkeit ist stetsgarantiert, wenn eine EU-Regelung viele Bürger einesLan<strong>de</strong>s betrifft. Grundsätzlichgilt: <strong>Die</strong> EuropäischeKommission schlägt neueRechtsvorschriften vor o<strong>de</strong>rfor<strong>de</strong>rt die Mitgliedstaatenauf, bestimmte Normen innationale Gesetze einfließenzu lassen; sie hat das Initiativrecht.Angenommen wer<strong>de</strong>ndie Vorschriften vom Rat,das heißt <strong>de</strong>n zuständigenFachministern <strong>de</strong>r Mitgliedsstaaten,und vom Parlament.Behan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n Fragen <strong>de</strong>sBinnenmarktes, also <strong>de</strong>r Arbeits-,Industrie-, Umwelt-, Sozial-und Verkehrspolitik, <strong>de</strong>sVerbraucherschutzes und <strong>de</strong>rForschung wie auch <strong>de</strong>r Kultur.<strong>Die</strong> Mitgliedstaaten wieIch habe währendmeiner Schulzeit so vieleErfahrungen im europäischenAusland gemacht,dass ich zu <strong>de</strong>n Menschen,die ich dort kennengelernthabe, eine ebenso intensiveemotionale Bindung habewie zu meiner Heimat. Budapestund Warschau sindgenauso meine Heimat wie<strong>de</strong>r kleine Ort, aus <strong>de</strong>m ichstamme. Ich kann mit Stolzsagen, dass ich mich einenEuropäer nenne. Ich willin einem Europa leben, in<strong>de</strong>m man sich versteht undaufeinan<strong>de</strong>r zugeht.T.H., Eisenhüttenstadtihre Bürger können vor <strong>de</strong>mEuropäischen Gerichtshof(EuGH) in Luxemburg Rechteeinklagen o<strong>de</strong>r die Rechtmäßigkeitvon Vorschriftenüberprüfen lassen.Das VW-Gesetz sollgekippt wer<strong>de</strong>nIn Deutschland haben in <strong>de</strong>rjüngsten Zeit zwei Rechtsstreitefür Aufsehen gesorgt.<strong>Die</strong> For<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Kommission,das „Volkswagengesetz“zu än<strong>de</strong>rn, und die Klage<strong>de</strong>s nie<strong>de</strong>rländischen ArzneimitteldiscountersDoc Morrisgegen das <strong>de</strong>utsche Apothekengesetz.Im ersten Fall hattedie Kommission das im VW-Gesetz garantierte Vetorecht<strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s Nie<strong>de</strong>rsachsen,das nur 20 Prozent <strong>de</strong>r Aktienhält, als Verstoß gegen <strong>de</strong>n freienKapitalverkehr gerügt un<strong>de</strong>ine Än<strong>de</strong>rung verlangt. <strong>Die</strong>Sperrminorität setzt üblicherweise<strong>de</strong>n Besitz von einemViertel aller Aktien voraus.Das VW-Gesetz trat 1960, <strong>de</strong>mJahr <strong>de</strong>r Privatisierung <strong>de</strong>sKonzerns, in Kraft, um feindlichenÜbernahmen vorzubeugen.Das Stimmrecht je<strong>de</strong>seinzelnen Aktionärs wur<strong>de</strong> aufmaximal 20 Prozent begrenzt,selbst wenn ein Kapitalgeberim Besitz von weit mehr Aktienwar. <strong>Die</strong> Gewerkschaften verstan<strong>de</strong>ndie Regelung immerals Schutzklausel für Arbeitnehmerrechte.Der EuGH folgte im Oktober2007 <strong>de</strong>r Auffassung <strong>de</strong>rWir brauchen Visionen, die<strong>de</strong>r sich selbst „entregeln<strong>de</strong>n“Marktwirtschaft Rahmenbedingungenbieten und dieeine sozialökologische Marktwirtschaftermöglichen.<strong>Die</strong>se Rahmenbedingungenmüssen <strong>de</strong>n Weg für eineAngleichung <strong>de</strong>r materiellenLebensbedingungen in <strong>de</strong>neuropäischen Län<strong>de</strong>rn ebnen.Visionen, die eine fruchtbareWechselbeziehung zwischen<strong>de</strong>r persönlichen Verantwortungund staatlicher Fürsorgeermöglichen.Gerd Autrum, Hohenfel<strong>de</strong>3 die<strong>Gesellschafter</strong>.<strong>de</strong>Foto: carofoto<strong>Die</strong> EU-Kommission wie <strong>de</strong>r Europäische Gerichtshof können in<strong>de</strong>n Mitgliedstaaten Gesetzesän<strong>de</strong>rungen erzwingen.EU-Kommission, die gegendas Gesetz wegen Unvereinbarkeitmit EU-Recht geklagthatte. <strong>Die</strong> Bun<strong>de</strong>sregierungwur<strong>de</strong> aufgefor<strong>de</strong>rt, es zuän<strong>de</strong>rn. Analysten rechnetenschon mit einer Übernahmevon VW durch die StuttgarterPorsche AG, die damals 31Prozent <strong>de</strong>r Aktien hielt; ineiner ersten Reaktion betonte<strong>de</strong>r Sportwagenhersteller,man sei daran interessiert,das Stimmrecht voll ausübenzu können. Im Herbst 2008strebten die Stuttgarter dannoffiziell einen 50-prozentigenAnteil an, <strong>de</strong>r <strong>2009</strong> auf 75Prozent aufgestockt wer<strong>de</strong>nsollte. Dazu sollte es nichtmehr kommen: Nach Aktienkaufund Absatzflaute drücktdie Porsche AG eine erheblicheSchul<strong>de</strong>nlast. <strong>Die</strong> Bun<strong>de</strong>sregierungließ das Gesetzzwar än<strong>de</strong>rn, nicht jedoch die20-Prozent-Son<strong>de</strong>rregelung.Und: Wegen <strong>de</strong>r Finanzkriseund ihrer gravieren<strong>de</strong>n Folgenfür die Autobranche hat dieEU-Kommission vorerst Stillhaltensignalisiert.Im zweiten Fall hatte DocMorris gegen die <strong>de</strong>utscheRegelung geklagt, wonachnur studierte Pharmazeuteneine Apotheke führen dürfen.Das Unternehmen plant,in Deutschland eine eigeneFilialkette aufzubauen. DerEuGH wies die Klage zurück.Das Argument: <strong>Die</strong>gesetzliche Regelung begrün<strong>de</strong>einen hohen Standard in<strong>de</strong>r Arzneimittel-Versorgungund sei daher mit EU-Rechtvereinbar. Doc Morris musssich also weiter mit einemeingeschränkten Zugang zum<strong>de</strong>utschen Markt begnügen.<strong>Die</strong> Apotheker dürften die unliebsameKonkurrenz <strong>de</strong>nnochweiter beobachten. Denn dasUnternehmen kündigte nach<strong>de</strong>m Urteil an: „Wir wer<strong>de</strong>n aggressiverin <strong>de</strong>n Markt gehen.Bis 2011 soll es 500 Apothekenmit Doc-Morris-Logo geben.“Dazu wer<strong>de</strong> man ApothekernPartnerschaften anbieten.Ein dritter, wegen <strong>de</strong>rFinanz- und Bankenkriseebenfalls wohl nicht endgültiggeklärter Streit, liegtinzwischen Jahre zurück:die Auseinan<strong>de</strong>rsetzungenum die Sparkassen. Ihnengarantiert das <strong>de</strong>utsche Kreditwesengesetzeinen öffentlich-rechtlichenStatus,wenn sie sich im Eigentumvon Städten, Gemein<strong>de</strong>n,Landkreisen o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>renöffentlichen Körperschaftenbefin<strong>de</strong>n. Der Name schütztsie vor Übernahmen durchPrivatbanken – für die EuropäischeUnion ein Verstoß gegenGemeinschaftsrecht. DerDeutsche Sparkassen- undGiroverband (DSGV) siehtdas an<strong>de</strong>rs. Während Privatbankenin die Pleite rutscheno<strong>de</strong>r staatliche Bürgschaftenin Anspruch nehmen müssen,verweist er statt<strong>de</strong>ssen gernauf <strong>de</strong>n „Haftungsverbund“.Danach stehen „438 Sparkassen,7 Lan<strong>de</strong>sbankkonzerneund 10 Lan<strong>de</strong>sbausparkassenin einem hypothetischenNotfall füreinan<strong>de</strong>r ein“. <strong>Die</strong>Einlagen bei einem „Institut<strong>de</strong>r Sparkassen-Finanzgruppe“seien in unbegrenzter Höheabgesichert, „weit über diegesetzlich festgeschriebeneMin<strong>de</strong>sthöhe für die Einlagensicherheitvon 20.000Euro hinaus.“Wie viel bestimmtwird, ist strittigDass die EU Einfluss nimmt,ist unstrittig. Wie weit ertatsächlich reicht, darübersind sich aber nicht einmaldie Experten einig. NachAngaben <strong>de</strong>s Freiburger ForschungsinstitutsCEP, Centrumfür Europäische Politik,gingen „84 Prozent <strong>de</strong>r für dieBun<strong>de</strong>srepublik Deutschlandgelten<strong>de</strong>n Rechtsvorschriftenzwischen 1998 und 2004 vonBrüssel aus, nur 16 Prozentvon Berlin.“ Das MannheimerZentrum für Europäische Sozialforschung(MZES) kommtzu einem an<strong>de</strong>ren Ergebnis:„Der Europäisierungsgradvon <strong>de</strong>utschen Gesetzen wird<strong>de</strong>utlich überschätzt.“ In keinemPolitikbereich liege er sohoch wie vom CEP behauptet,son<strong>de</strong>rn durchschnittlich beinur 24 Prozent.


Diskussion<strong>Juni</strong> <strong>2009</strong> 19Für Kin<strong>de</strong>r Verantwortung tragenTräume, Wünsche, For<strong>de</strong>rungen von Jugendlichen und ErwachsenenAuf <strong>de</strong>r Internetseite „die<strong>Gesellschafter</strong>.<strong>de</strong>“diskutierenTausen<strong>de</strong> von Menschen dieFrage: In was für einer Gesellschaftwollen wir leben? VieleAntworten beinhalten konkreteVorschläge, etwa zurVerbesserung <strong>de</strong>r Arbeitsweltund zur Beteiligung vonMenschen mit Behin<strong>de</strong>rung.VOLLZEITJOB▸ Wirtschaft & ArbeitWir haben zwei Probleme: <strong>Die</strong>einen haben keine Arbeit. Vielean<strong>de</strong>re arbeiten zu viel – sodassihnen keine Freizeit, nicht malwirklich Zeit für Alltäglicheswie Einkaufen, bleibt. Auchwenn sich meine Vorstellungwohl nicht realisieren lässt,schil<strong>de</strong>re ich sie: Ein Großteilaller Jobs sollten Halbtagsjobssein! Keiner arbeitet dannmehr ZU viel. Und wer bisherkeine Arbeit hatte, <strong>de</strong>r bekommtjetzt die jeweils halbeArbeitsstelle eines an<strong>de</strong>ren.Alle haben ein erträglichesArbeitspensum, alle haben eingesun<strong>de</strong>s Maß an Freizeit.S. D▸ Behin<strong>de</strong>rung & TeilhabeIch möchte in einer Gesellschaftleben, wo Behin<strong>de</strong>rte nochmehr integriert wer<strong>de</strong>n, beson<strong>de</strong>rsdie Zuschüsse müsstengerechter verteilt wer<strong>de</strong>n. In<strong>de</strong>r Schule sollte es so sein, dassdie För<strong>de</strong>rschule für Körperbehin<strong>de</strong>rteabgeschafft wirdund diese Schüler die normaleGrund-, Haupt-, Realschule unddas Gymnasium besuchen.S. T.▸ ArmutIch möchte in einer Gesellschaftleben, in <strong>de</strong>r die Scherezwischen arm und reich nichtso weit auseinan<strong>de</strong>rklafft.In <strong>de</strong>r nicht Zeitarbeitsfirmen<strong>de</strong>n Arbeitsmarkt fürHilfskräfte kaputtmachen. Ichmöchte in einer Gesellschaftleben, in <strong>de</strong>r Arbeit nichtgleich Armut be<strong>de</strong>uten kann.In <strong>de</strong>r für gleiche Arbeit gleicheEntlohnung gezahlt wird.In <strong>de</strong>r auch unsere Kin<strong>de</strong>r eineZukunftschance haben.Hintergrund: Ich habe als Taxifahreringearbeitet und mangra<strong>de</strong> mal 5,80 Euro/Std.verdient. Jetzt bin ich bei einerZeitarbeitsfirma und mussgenauso hart arbeiten wie dieFestangestellten <strong>de</strong>r Entleihfirma.Ich habe bei weitem nichtso viel in <strong>de</strong>r Lohntüte wie sie.Dazu kommt noch, dass dieVerträge nur sehr kurze Verlängerungenerhalten (5 Wochen,4 Wochen, 3 Wochen).R. N.▸ Gesellschaft undGesellschaftskonzepteWer hat eigentlich bestimmt,dass sich all unser Han<strong>de</strong>lnnur um ein Thema drehenmuss? Nämlich Geld. Kannein je<strong>de</strong>r von uns die Verantwortungdafür tragen, dassKin<strong>de</strong>r sterben, nur weil Geldfehlt? Ist es ethisch zu sagen,dass unsere Kin<strong>de</strong>r lei<strong>de</strong>rnicht richtig geschult wer<strong>de</strong>nkonnten, weil das Geld zuknapp war?M. D.▸ KulturIch möchte in einer Gesellschaftleben, die gebil<strong>de</strong>t ist.Und damit meine ich nicht,dass man morgens, vor <strong>de</strong>mersten Kaffe, in die Bildschaut und auch nicht, dassman es übertreibt und <strong>de</strong>nganzen Tag lang nur Schillerliest. Nein ich möchte nur,dass man eines Tages in einerGesellschaft zu Hause ist,die sozialkritisch, politischaufgeschlossen/gebil<strong>de</strong>t un<strong>de</strong>ngagiert ist.Hintergrund: Ich bin 17 Jahrealt und gehe an einem Gymnasiumin München zur Schule.Ich nehme täglich einen weitenWeg auf mich, um meine Zukunftzu gewährleisten, was fürmich lediglich in Form einer gutenBildung realisierbar ist.R. D.3 die<strong>Gesellschafter</strong>.<strong>de</strong>„Mit <strong>de</strong>r Medienflut überfor<strong>de</strong>rt“Medien bestimmen <strong>de</strong>nAlltag von Millionen, ob Radio,Fernsehen, Zeitungeno<strong>de</strong>r – in zunehmen<strong>de</strong>nMaß – das Internet. Nichtalles, was Augen und Ohrenaufnehmen, nutzt jedoch<strong>de</strong>n Konsumenten.Das ist zumin<strong>de</strong>st die Meinungvieler, die sich amThemenforum „Medien“<strong>de</strong>r <strong>Gesellschafter</strong>-Initiativebeteiligen. Hier wirdkontrovers diskutiert.„Ich sehe eine Gesellschaft,die immer mehr zu verwahrlosendroht. Ich glaube, dassdie Medien einen großenTeil dazu beitragen.“ <strong>Die</strong>sebittere Analyse <strong>de</strong>s 31-jährigenZahnarztes steht beispielhaftfür die kritischeSicht vieler Besucher <strong>de</strong>s <strong>Gesellschafter</strong>-Forumsauf dieheutige Medienlandschaft.Zentraler Diskussionspunktist dabei immer wie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>rEinfluss von Sex, Gewaltund Konsumdruck in <strong>de</strong>nMedien auf Kin<strong>de</strong>r und Jugendliche.Im Blickpunkt steht beson<strong>de</strong>rsdas Fernsehen:„Dokusoaps, Konsumauffor<strong>de</strong>rungenund Actionfilmeführen zur Verdummung undVerrohung. Wollen wir wirklich,dass unsere Kin<strong>de</strong>r sichan <strong>de</strong>m, was so im Fernsehenläuft, orientieren?“, fragt einebesorgte Mutter. Denn das Programm<strong>de</strong>r Fernsehanstalten,so das Urteilvon vielen,lasse ansp r u c h s -volle Formateimmermehr vermissen.Sorge bereiteteinigenElternaußer<strong>de</strong>mdie zunehmen<strong>de</strong>Sexualisierung<strong>de</strong>sMediu m s.An<strong>de</strong>re fin<strong>de</strong>nes dagegen„durchauserstrebenswert, Kin<strong>de</strong>rnund Heranwachsen<strong>de</strong>n zuzeigen, dass Zärtlichkeit undSexualität zum Alltag gehören“,so ein dreifacher Vater.Einig sind sich die allermeistenjedoch in <strong>de</strong>r Ablehnung einervermehrten Darstellung vonGewalt, die <strong>de</strong>r Jugend <strong>de</strong>nFoto: fotolia<strong>Die</strong> Leere danach: Fernsehen erzeugt oft unerfüllbare Sehnsüchte.Eindruck vermittle, dass je<strong>de</strong>rKonflikt mit Gewalt einhergehe.Auch <strong>de</strong>r wachsen<strong>de</strong> Konsumdrucksteht in <strong>de</strong>r Kritik:Aggressive Werbung und dieverbreitete Darstellung vonrealitätsfernen Lebensverhältnissenim Fernsehen wür<strong>de</strong>nunerfüllbare Sehnsüchte un<strong>de</strong>in lebensfrem<strong>de</strong>s Anspruchs<strong>de</strong>nkenerzeugen.In <strong>de</strong>r Debatte um Hip-Hop-Musik befürchten Kritiker wegensexistischer, gewalt- unddrogenverherrlichen<strong>de</strong>r Rap-Texte eine Nachahmungsge-fahr für junge Musik-Fans,die ihren Idolen nacheifernwollten. An<strong>de</strong>re halten dieseGefährdung nicht für größer alsbei früheren Jugendkulturen:„Auch diese Kin<strong>de</strong>r wer<strong>de</strong>narbeiten gehen, gute Mitbürgersein, selberKin<strong>de</strong>r beko m m e nund über <strong>de</strong>renVerfall<strong>de</strong>r Moraljammern...“,wie ein Diskutantfeststellt.Ebenfallsin <strong>de</strong>r Kritik:Computerspiele.Einigesehen hierdie Gefahr<strong>de</strong>s Abgleitensin eineTraumwelt,die Folgenseien „Einsamkeit und geistigeVerarmung“, so ein 41-jährigerSpiele-Gegner. Insbeson<strong>de</strong>re„Ego-Shooter“ wer<strong>de</strong>n verdächtigt,zu einer gesteigertenGewaltbereitschaft auch imwirklichen Leben beizutragen.Spiele-Befürworter freilich haltenpauschale Vorwürfe für unbegrün<strong>de</strong>t.Ein 17-Jähriger:„Es kommt auf <strong>de</strong>n einzelnenMenschen an, wie er damitumgeht.“Beson<strong>de</strong>rs be<strong>de</strong>nklich fin<strong>de</strong>nviele <strong>de</strong>r Diskutieren<strong>de</strong>ndas Internet: Pornographieund Gewaltdarstellungenseien hier auch für Kin<strong>de</strong>rfrei verfügbar, Pädophilekönnten versuchen, Kontaktzu Jugendlichen aufzunehmen– und all das außerhalb<strong>de</strong>r Kontrolle <strong>de</strong>r Eltern.Aber wie mit Medienund jugendgefähr<strong>de</strong>n<strong>de</strong>nInhalten umgehen? Einige<strong>de</strong>r Diskussionsteilnehmerfor<strong>de</strong>rn gesetzliche Verbote.An<strong>de</strong>re sind überzeugt, dassdiese umgangen wer<strong>de</strong>nkönnen. Sie setzen auf einenverantwortungsbewusstenUmgang mit Medien in <strong>de</strong>rFamilie – und sehen die Elternin <strong>de</strong>r Pflicht. Es gelte,die Medienkompetenz <strong>de</strong>rJugendlichen zu stärken,damit diese die Inhalte selbstkritisch auswählen könnten.Doch ein 15-jähriger Schülerahnt, woran <strong>de</strong>r gute Vorsatzam En<strong>de</strong> scheitern könnte:„<strong>Die</strong> meisten Eltern sinddoch selbst mit <strong>de</strong>r Medienflutüberfor<strong>de</strong>rt.“


20 <strong>Juni</strong> <strong>2009</strong>EngagementVertrauen aufbauen, Spaß vermitteln„Schüler für Schüler“: <strong>Die</strong> nicht gewöhnliche Nachhilfe, die sich je<strong>de</strong>r leisten kannVon Reinhard Backes„Was musst du jetzt machen?“,fragt Lea und schautLaura an. Das junge Mädchenblickt angestrengt auf ihrSchreibheft. <strong>Die</strong> aufgeschlageneSeite zeigt mehrereTriangeln. Neben <strong>de</strong>m Heftliegt ein Geodreieck. Dahinterist ein Mathematikbuchaufrecht gestellt; es wirdvon einem Schulmäppchenvoller Stifte gestützt. Wieein Schutzwall schirmt dasLehrbuch das Schreibheft vorallzu neugierigen Blicken ab.Laura überlegt. Dann schautsie die etwas ältere Leaan und sagt zögernd: „Jetztkann ich <strong>de</strong>n Winkel berechnen.“Lea nickt: „Ja. Und wiemusst du dabei vorgehen?“<strong>Die</strong> Mädchen sitzen in einemGang, <strong>de</strong>r zu einem Unterrichtsraumführt. Große Fenstererlauben einen Blick in einenangrenzen<strong>de</strong>n Garten. <strong>Die</strong> Türsteht offen. Draußen scheint dieSonne. Es ist warm. Doch Leaund Laura achten nicht darauf.Sie berechnen weiter Mathematikaufgaben.Es geht umGeometrie, Winkelmessung.Lea ist 16 Jahre alt, Laura 12.Konzentriert erklärt die ältere<strong>de</strong>r jüngeren die Lösungen.Laura <strong>de</strong>nkt lange nach, fin<strong>de</strong>tdann aber die richtige Antwort.Pro Woche gibt Lea vier Stun<strong>de</strong>n Nachhilfe.„Mathe ist nicht gera<strong>de</strong> meinLieblingsfach“, sagt sie undzuckt mit <strong>de</strong>n Achseln. Ohnegrundlegen<strong>de</strong> Kenntnisse gehees in diesem Fach ja aber wohlauch nicht. Das habe sie verstan<strong>de</strong>n.Deshalb besucht Laurazweimal in <strong>de</strong>r Woche, montagsund mittwochs von 16 bis 18Uhr, die Nachhilfe beim SkF,<strong>de</strong>m Sozialdienst katholischerFotos: Michael EbertVon <strong>de</strong>r Initiative profitieren nicht nur die Schülerinnen und Schüler, son<strong>de</strong>rn auch ihre jugendlichen Nachhilfelehrer.Frauen, im nordrhein-westfälischenDüren. „Schüler fürSchüler“ heißt das Projekt, dasseit März angeboten wird.Das Beson<strong>de</strong>re an <strong>de</strong>mService: Schülerinnen undSchüler helfen jüngeren o<strong>de</strong>rgleichaltrigen. <strong>Die</strong> sollen ihreDefizite überwin<strong>de</strong>n, lernen,g e m e i n s a mzu arbeiten,Erfolg zu habenund Spaßam Lernen zufin<strong>de</strong>n. GabiUerlichs vomSkF erklärt:„Wir haben Jugendlicheangesprochen,weil die jungeMenschendoch viel ehererreichen alsErwachsene.Da baut sichschneller Vertrauen auf.“ <strong>Die</strong>Nachhilfelehrer bekommenvier Euro pro Unterrichtsstun<strong>de</strong>.<strong>Die</strong> Teilnehmer zahlen 50Cent pro Treffen. Es ist einsymbolischer Betrag, <strong>de</strong>nn diefür Nachhilfe eigentlich üblichenSätze können sie nichtaufbringen; sie stammen ausFamilien, die nur über geringeEinkommen verfügen.Das Geld wird für Aktivitätenzurückgelegt, die zum Programmgehören, etwa einengemeinsamen Grillabend o<strong>de</strong>rAusflug. Was die Jugendlichenunternehmen, entschei<strong>de</strong>n sieselbst. Gabi Uerlichs: „Wir können‚Schüler für Schüler’ anbieten,weil die Aktion Mensch unsfinanziell unterstützt. Sobaldunser Antrag durch war, habenwir losgelegt.“ <strong>Die</strong> Maßnahme,die im Rahmen <strong>de</strong>r <strong>Gesellschafter</strong>-Initiativegeför<strong>de</strong>rtwird, ist zunächst auf zweiSchuljahre begrenzt. Wennes gut läuft, soll es auch 2010weiter gehen. Doch schon jetzt,nach wenigen Wochen, sprechendie Verantwortlichen voneinem gelungenen Start. „Dassdie Jugendlichen sich auch in<strong>de</strong>n Ferien zum Lernen treffen,zeigt doch, dass es ihnen wasbringt“, so Uerlichs.Gegenwärtig nutzen zwölfJugendliche das Angebot inDüren. Um die schulischenLeistungen zu verbessern,kommen fünf regelmäßig insJugendhilfezentrum in <strong>de</strong>rBonner Straße; sieben lebenauch in <strong>de</strong>m Jugendhilfezentrumin die Bonner Straße – ineiner Jugendwohngruppe. Wases damit auf sich hat, erläutertPetra Stollenwerk: „<strong>Die</strong> Jugendlichenwohnen hier, weilsie in ihren eigenen Familiennicht mehr leben wollen o<strong>de</strong>rkönnen.“ Zusammen mit sechsKolleginnen und Kollegen betreutdie Sozialpädagogin zweiGruppen. Sinn und Zweckdieser Maßnahme: <strong>Die</strong> Heranwachsen<strong>de</strong>nsollen lernen,selbständig zu leben, das heißtauch, die Anfor<strong>de</strong>rungen zumeistern, vor die sie in Schuleund Ausbildung gestellt sind.Bessere Schulnoten helfen, dasSelbstvertrauen zu stärken.Vor allem Sprachenund Mathematik<strong>Die</strong> jungendlichen Nachhilfelehrer,die zweimal die Wocheins Jugendhilfezentrumkommen, bringen offenkundigbei<strong>de</strong>s mit. Sie beherrschen dieFächer, die sie unterrichten, undtreten selbstbewusst auf. Allewur<strong>de</strong>n von Mitarbeiterinnen<strong>de</strong>s SkF angesprochen und zumMitmachen eingela<strong>de</strong>n. ZumTeam gehört auch Gerd Flucht.Der pensionierte Soldat wolltesich ehrenamtlich engagieren,wandte sich an die Stadt Dürenund wur<strong>de</strong> an <strong>de</strong>n SkF verwiesen.Dort nahm man die Hilfegern an. Seit<strong>de</strong>m begleitet erdas Team, unterrichtet auchselbst. „<strong>Die</strong> jungen Leute wissengar nicht so recht, wie sie lernensollen. Lernorganisation ist alsoein wichtiger Bestandteil <strong>de</strong>sProgramms“, betont Flucht.Immer wie<strong>de</strong>r schaut <strong>de</strong>r 59-Jährige in <strong>de</strong>n Lerngruppenvorbei. An diesem Nachmittagsind insgesamt sieben Jugendlichegekommen, drei Junglehrerinnenund vier Schülerinnen;später sollen weitere dazustoßen. Vier Räume stehen für<strong>de</strong>n Unterricht zur Verfügung.Für die Jugendlichen habendie Mitarbeiterinnen <strong>de</strong>s SkFsogar ihren Besprechungsraumgeräumt.Bei „Schüler für Schüler“sind vor allem die „Klassiker“gefragt, Mathematik und Sprachen,insbeson<strong>de</strong>re Englisch.Letzteres unterrichtet die 18-jährige Viktoria. Sie erklärt Soniadie Gesetze <strong>de</strong>r englischenGrammatik: „Nein, Präsensdarfst du in diesem Fall nichtbenutzen.“ Im kommen<strong>de</strong>n Jahrwill Viktoria Abitur machenund studieren – wie auch diebei<strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Schülerinnen,die an diesem Tag im Jugendhilfezentrumunterrichten. Alledrei wissen offenbar, was siewollen: Sich für an<strong>de</strong>re einsetzenmacht Spaß, das haben siehier gelernt.


Integr ation<strong>Juni</strong> <strong>2009</strong> 21John Wayne war ein kleiner MannMänner mit Behin<strong>de</strong>rung sprechen über Rollen, Erwartungen, Selbstbil<strong>de</strong>r und KatastrophenVon Erik HeierIrgendwann musste es japassieren. Ihm auch. Wie sovielen an<strong>de</strong>ren. Sven Königverliebte sich in eine Stu<strong>de</strong>ntin,eine Krankenpflegerin.Eine „von <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>renSeite, sag’ ich mal“. SeineSeite, das ist <strong>de</strong>r Rollstuhl,die Behin<strong>de</strong>rung eine spastischeLähmung. „Ich habeihr meine Liebe gebeichtet“,erzählt Sven. „Es war eineKatastrophe.“ <strong>Die</strong> jungeFrau zog sich sofort zurück.Er sich dann auch. In sichselbst. „Da habe ich daserste Mal in meinem Lebenmeinen Rollstuhl verflucht.“Das sagt er in einem Klassenzimmer<strong>de</strong>r Grundschule amBran<strong>de</strong>nburger Tor in Berlin.Es ist ein Gesprächskreis vonzehn behin<strong>de</strong>rten Männern.Man duzt sich, spricht sich mitVornamen an. GesprächsleiterFabian Schwarz sagt: „Ganzhäufig verliebt man sich ja inseine Betreuer.“ Kevin nickt:„Oh ja, dauernd.“ Jürgen, nebenihm: „Da können wir unsdie Hand reichen.“Der Kreis heißt: „Kein Cowboy– aber ein Mann!“ SeinTitel spielt auf einen Schlagervon Gitte Haenning an, „Ichwill ’nen Cowboy als Mann“,von 1963. Es geht um dasMännerbild von Menschen mitBehin<strong>de</strong>rungen. <strong>Die</strong> meistensitzen wie Sven im Rollstuhl,einige können sich aber an<strong>de</strong>rsals er nicht mehr verbaläußern, allenfalls über Bil<strong>de</strong>rundBuchstabentafeln.Fabian Schwarz, 35, istkleinwüchsig, er bewegt sichDer BVKM„Kein Cowboy – aber einMann!“ – unter diesem Slogandiskutierten Männermit Behin<strong>de</strong>rung über Liebe,Sex und Partnerschaft.Anlass war ein Jubiläum:Anfang Mai hat <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>sverbandfür körperundmehrfachbehin<strong>de</strong>rteMenschen (BVKM) in Berlinseinen 50. Geburtstaggefeiert, mit Foren undVorträgen, Workshops un<strong>de</strong>inem Fest.Foto: Johannes BackesEine bittere Erfahrung für Menschen mit Behin<strong>de</strong>rung: Statt mit zu re<strong>de</strong>n, wird über sie gere<strong>de</strong>t.behän<strong>de</strong> mit Hilfe eines Metallgestellsauf Rollen, eingebürtiger Berliner. Er arbeitetim Bun<strong>de</strong>sverband für körperundmehrfachbehin<strong>de</strong>rte Menschene.V. Dort koordiniert erdie Männergruppen, 15 gibtes bun<strong>de</strong>sweit, und 30 Frauengruppen.<strong>Die</strong> Männer re<strong>de</strong>nüber Liebe, über die Schwierigkeiten,Partner zu fin<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>rnur Frem<strong>de</strong> anzusprechen.Über Sex auch. Eigentlich aberüber alles. Das Leben.Da ist zum Beispiel RolandMiksch, 53, aus Eisenach, <strong>de</strong>rauf Krücken geht, ein Sarkastikerund James-Bond-Fan,<strong>de</strong>r viel wegstecken kann undlei<strong>de</strong>r oft auch muss, vor allemvon Jugendlichen. Er wur<strong>de</strong>mal nie<strong>de</strong>rgeschlagen, einfieser Raub, wegen 30 Cent.Seiner Freundin hauten sieein an<strong>de</strong>res Mal die Gehhilfenweg. Nur dieses eine Wort,„Krüppel“, das hat er nie ertragenwollen, „wenn ich konnte,habe ich <strong>de</strong>nen noch einenKnüppel ins Kreuz geworfen.“O<strong>de</strong>r Jürgen Gerster, 38,aus Kempten, <strong>de</strong>r so gernmal eine Freundin hätte undAutos über alles liebt. SeinGeld gehe größtenteils fürAutomagazine drauf, sagt er,ein lustiger Kerl. In seiner WGfür Schwerstbehin<strong>de</strong>rte gäbedas gelegentlich Ärger, seinZimmer ist einfach zu klein fürso viel Papier, „ich muss allehalbe Jahre Hefte wegtun, dasschmerzt schon.“ Aber er willsich einfach nicht reinre<strong>de</strong>nlassen, „ich muss doch schonauf so viel verzichten, wer<strong>de</strong>niemals Auto fahren, keinenBeruf mit Autos machen.“O<strong>de</strong>r eben Sven König,41, aus Plauen, verschmitztesLächeln, <strong>de</strong>r Mann mit <strong>de</strong>renttäuschten Liebe, damalsmit 25. Der nun mit einer Frau,auch im Rollstuhl, zusammenlebt,seit sechs Jahren schon.Sex von Behin<strong>de</strong>rten, sagt er,sei doch ein Tabuthema. Einmalwäre eine Beraterin vonPro Familia gekommen – ummit <strong>de</strong>n Betreuern darüberzu sprechen. Nur mit <strong>de</strong>nen.„Da wur<strong>de</strong> wie<strong>de</strong>r nur überuns Behin<strong>de</strong>rte gere<strong>de</strong>t.“ DasWort „über“ betont Sven. Esklingt bitter.Einmal lässt Fabian Plüschtiereholen. Je<strong>de</strong>r soll eines davonals Symbol für seine Behin<strong>de</strong>rungauswählen. Jürgen: einEichhörnchen. „Wenn Gefahrim Verzug ist, läuft es schnellweg. Wie ich.“ Sven: eine Schildkröte.„Es ist eine Art Schutz. Siekann sich, wenn ihr alles zuvielwird, zurückziehen.“ Roland:ein Pinguin. „Meistens tritt erin <strong>de</strong>r Gruppe auf. Darin kannman sich, wenn es Schwierigkeitengibt, verstecken. Einzelnist man gefähr<strong>de</strong>t.“Fabian spricht an diesemFreitag viel von Selbstbewusstseinund Selbstbehauptung.Dazu dient zum Beispiel einRollenspiel. Fabian rollt auf Michaelzu: „Ich bin jetzt <strong>de</strong>r blö<strong>de</strong>Arsch und mache dich dumman.“ Michael, leise: „Hey.“ Fabian:„Kannst du das auch lauter?“Michael, schüchtern: „AufBefehl kann ich das nicht.“ Eratmet tief durch. Plötzlich einDonnerschrei, aus voller Kehle,von ganz tief unten: „Hey!!!“Alle zucken zusammen. Ehe siejubeln. „Das war ziemlich gut“,sagt Fabian.Denn Mann zu sein, dasbe<strong>de</strong>ute manchmal auch, Verantwortungzu übernehmen.Auch wenn man nicht laufenkönne.Am En<strong>de</strong> bilanziert Sven:„Es war eine lehrreiche Erfahrung,dass man nicht allein istmit seinen Problemen.“ Manmüsse sich zu helfen wissen.Dann sagt Fabian langsam:„Wisst ihr, John Wayne warein kleiner Mann. Deswegenhaben sie ihm beim Filmdrehdie Türen niedriger gebaut– damit er größer wirkte.“<strong>Die</strong> Männer sehen sich füreinen Moment an. Dann lachensie los. Wie befreit.


22 <strong>Juni</strong> <strong>2009</strong>Zusa mmenlebenWem gehört die Stadt?Vom Streit um kommunales Eigentum, Bürgerengagement und InteressenkonfliktenIn verschie<strong>de</strong>nen Städtenwehren sich Bürger gegen<strong>de</strong>n Verkauf kommunalerEinrichtungen. Den Verweis<strong>de</strong>r Stadtoberen auf „knappeKassen“ lassen sie nichtgelten. Das städtische Eigentumgehöre auch ihnen,argumentieren sie. Es gehtum die Frage, „wem gehörtdie Stadt?“ und „wasbraucht eine Stadt?“. DreiBeispiele.▸ Neues Eis- undSchwimmstadionan altem PlatzAm 5. <strong>Juni</strong> <strong>2009</strong> erfolgt <strong>de</strong>rerste Spatenstich. In KölnsLentstrasse, dort, wo bisvor zwei Jahren das alteEis- und Schwimmstadionstand, wird für 20 MillionenEuro ein neues errichtet– Lohn für einen langen,heftigen Kampf. Denn dieStadt wollte das begehrteGrundstück an einen Investorverkaufen.Foto: För<strong>de</strong>rstiftung Leipzig StadtbadDer Ruheraum <strong>de</strong>r Sauna 1. Klasse im Stadtbad Leipzig kann heute für Veranstaltungen gemietet wer<strong>de</strong>n.Rückblick: Anfang 2001. <strong>Die</strong>städtische Sportstätten GmbHwill das beliebte Eis- undSchwimmstadion im HerzenKölns schließen. <strong>Die</strong> Sanierungskostenseien zu hoch. Bürgerinnenund Bürger bringt dasauf die Barrika<strong>de</strong>n. Denn erstseit Kurzem konnten die Kölnerdas Eisstadion selbst richtignutzen. Ihre legendäre Eishockeymannschaft,die „Haie“,trainierten bereits woan<strong>de</strong>rs.Endlich gab es feste Eislaufzeitenfür die Bürger. Und siekamen in Scharen zur stadtnahenEislauffläche. Viele Schulenkonnten Sportunterricht nuranbieten, weil sie nun regelmäßigdie Eis- und Schwimmhallenutzen konnten.Mehrere hun<strong>de</strong>rt Schülerinnenund Schüler verschie<strong>de</strong>nerGrundschulen sind esdann auch, die mit Trillerpfeifenund Transparentenvor <strong>de</strong>m Eisstadion lautstarkgegen <strong>de</strong>n geplanten Abriss<strong>de</strong>monstrieren. Für sie ist unvorstellbar,dass die Stadt eineso günstig gelegene Sporthalleschließen will, um dortein Bürohaus zu errichten.O<strong>de</strong>r gar ein Hotel. Notfallswollen sie <strong>de</strong>shalb „bis vordas Rathaus ziehen“, um <strong>de</strong>nVerkauf und Abbruch <strong>de</strong>sEis- und Schwimmstadionszu verhin<strong>de</strong>rn, sagt WolfgangJülich. Er leitet die Nikolaus-Groß-Schule in Köln. Einean<strong>de</strong>re, die Städtische KatholischeGrundschule Bil<strong>de</strong>rstöckehn/Nippessammelt mehrals 1.800 Unterschriften undübergibt sie <strong>de</strong>m Oberbürgermeister.Auch die BürgerinitiativeNördliche Altstadt unddie Stadtteilkonferenz Agnesviertel/Eigelsteinsind mit imBoot. Sie weisen darauf hin,wie notwendig es sei, gera<strong>de</strong>für Jugendliche Sport- undBewegungsmöglichkeiten in<strong>de</strong>r Innenstadt zu erhalten.Offenbar überrascht von soviel Protest dreht Kölns OberbürgermeisterFritz Schrammawenige Monate später bei:Das Eis- und Schwimmstadionwird vorerst nicht abgerissen.Nach einem Gutachtenwird das Gebäu<strong>de</strong> 2007 wegen„akuter Einsturzgefahr“dann doch geschlossen – undschließlich abgerissen, umeiner neuen Anlage Platz zumachen. En<strong>de</strong> 2010 sollen dieKölner dort wie<strong>de</strong>r Eislaufenund schwimmen können, sogarin einem Naturba<strong>de</strong>see.Text: Ursula Mense▸ OrientalischesFlair aus Tausendun<strong>de</strong>inerNachtMit Hilfe einer Stiftungwollen Leipziger Bürgerund Bürgerinnen ihr historischesStadtbad retten.Doch <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rstand <strong>de</strong>rStadt war zunächst groß;die Kosten seien hoch.Lieselotte Pickler steht vor einemleeren Schwimmbecken, fahlesLicht fällt durch die schmutzigenFenster: „Gleich nebenan,in <strong>de</strong>r Damenhalle habe ichdamals Schwimmen gelernt.“Damals, das war 1946. Oft kamdie Leipzigerin mit ihren Freundinnennach <strong>de</strong>r Schule hierher.Wehmütig schaut sich die heute72-Jährige um. Ihr Blick gleitetdurch die Herren-Schwimmhalle<strong>de</strong>s Leipziger Stadtba<strong>de</strong>s,jahrzehntelang war sie das Nonplusultra<strong>de</strong>s Ba<strong>de</strong>vergnügensin <strong>de</strong>r Messestadt. Es gab sogarein Meter hohe Wellen! Unddas schon 1916 zur Eröffnung.Eine Sensation zur damaligenZeit. Vor fünf Jahren kam in<strong>de</strong>r Herren-Schwimmhalle einStück Decke runter, das war<strong>de</strong>r Anlass, das Bad sofort zuschließen.Beim Rundgang wird klar,warum die Leipziger fürdieses Bad kämpfen. Warumsie eigens eine Stiftung gegrün<strong>de</strong>thaben, die För<strong>de</strong>rstiftungLeipziger Stadtbad,um das Gebäu<strong>de</strong> zu retten.Fast eine halbe Million Eurosind auf <strong>de</strong>m Spen<strong>de</strong>nkontobereits eingegangen.Viele Leipziger spen<strong>de</strong>ten beidiversen Benefiz-Veranstaltungen,von ein paar Cent biszu 100 Euro. Etwa 40 mittelständischeLeipziger Firmenhelfen auf ihre Art: So machtein Foto-Atelier unentgeltlichFotos für verschie<strong>de</strong>nePräsentationen, eine Firmastellte kostenlos einen Zaun,die große Anzeige im örtlichenTelefonbuch war auchumsonst.Noch nicht lange gibt esim Ruheraum 1. Klasse dieweißen Sofas, Sitzhocker undStehtische – <strong>de</strong>r Raum wirdvon <strong>de</strong>r För<strong>de</strong>rstiftung an Firmenund Vereine vermietet,die hier ein stilvolles Ambientefür Veranstaltungen allerArt fin<strong>de</strong>n. Das Geld kommt<strong>de</strong>m Wie<strong>de</strong>raufbau <strong>de</strong>s Ba<strong>de</strong>szugute, genauso wie ein Drittel<strong>de</strong>r Einnahmen aus Gästeführungen.Auch Dirk Thärichen gingfrüher oft in die Stadtbad-Sauna.Der 39-Jährige engagiertsich ehrenamtlich als Direktor<strong>de</strong>r För<strong>de</strong>rstiftung. ZumPressetermin in einem Caféin <strong>de</strong>r Leipziger Innenstadtre<strong>de</strong>t er über dieses Früherund darüber, wie schwer esmanchmal ist, Leipziger Entscheidungsträgervon einemWie<strong>de</strong>raufbau <strong>de</strong>s Stadtba<strong>de</strong>szu überzeugen. Denn diesekämen oft aus <strong>de</strong>n alten Bun<strong>de</strong>slän<strong>de</strong>rn,ihnen fehle diesegewisse Sensibilität.Doch es gibt keinen wirklichenBedarf an einem weiterenBad in <strong>de</strong>r Stadt. Denkbarwäre ein Wellness-Tempel,dafür wie<strong>de</strong>rum fehlt <strong>de</strong>r Investor.Warum also das Engagement?„Unsere Urgroßelternhaben dieses Bad gebaut, undwir lassen es verkommen.“ Esgäbe diese Einstellung, allesmuss <strong>de</strong>r Staat übernehmen.Für ihn ist das Stadtbad dasSymbol, selbst etwas zu unternehmen.Thärichen wünscht,dass etwas geschieht, dass allean einem Strang ziehen: Bürger,Unternehmen, Stadträte.Anfang <strong>2009</strong> lädt die Stiftungzu Kulturveranstaltungen insStadtbad ein, <strong>de</strong>n „Ba<strong>de</strong>tagen“.


24 <strong>Juni</strong> <strong>2009</strong>AnsichtenOhne Zusammenhalt keine ZukunftWer bestimmt eigentlich die Richtung unserer Gesellschaft?Von Reinhard Backes„Wie wäre es mit einer Gesellschaft,die Heimat seinkann für alle Menschen, die inihr leben? Wie wäre es mit einerGesellschaft, die sich daraufbesinnt, was Demokratieist – nämlich, und das ist dieschönste Definition, die ichfür Demokratie kenne, ‚eineGesellschaft, die ihre Zukunftmiteinan<strong>de</strong>r gestaltet‘.“<strong>Die</strong> Worte stammen von HeribertPrantl, <strong>de</strong>m Leiter <strong>de</strong>s RessortsInnenpolitik <strong>de</strong>r Süd<strong>de</strong>utschenZeitung. Obwohl vor dreiJahren bei <strong>de</strong>r Auftaktveranstaltung<strong>de</strong>r <strong>Gesellschafter</strong>-Initiativegesprochen, haben sienichts von ihrer Aktualität verloren.Prantl warnte damals davor,Menschen auszugrenzen:„Arbeitslose, sozial Schwache,Menschen mit Behin<strong>de</strong>rungen,Auslän<strong>de</strong>r, Flüchtlinge, Einwan<strong>de</strong>rer.“Inzwischen sorgensich viele um <strong>de</strong>n Gemeinsinnin unserer Gesellschaft. Ist sietatsächlich Heimat für alle, diein ihr leben?<strong>Die</strong> Motive <strong>de</strong>r neuen <strong>Gesellschafter</strong>-Kampagnegreifendas Thema auf: „Be<strong>de</strong>utet Zusammenarbeitauch Zusammenhalt?“o<strong>de</strong>r „Wer bestimmteigentlich die Richtung unsererGesellschaft?“. Von oben geht<strong>de</strong>r Blick auf unsere Gesellschaft.<strong>Die</strong> Plakate zeigen beispielhafteund alltägliche Situationenkombiniert mit immerpräsenten Fragen an unser gesellschaftlichesSelbstverständnis.Sie wollen <strong>de</strong>m Betrachtereinen Anstoß geben, sich einzubringenin die Gestaltungunserer Gesellschaft: über Diskussionenund mit konkretenProjekten und persönlichemEngagement.


Ansichten <strong>Juni</strong> <strong>2009</strong> 25


26 <strong>Juni</strong> <strong>2009</strong> FilmfestivalDer Dissi<strong>de</strong>nt als Präsi<strong>de</strong>ntDer Film „Citizen Havel“ zeigt <strong>de</strong>n Menschen hinter <strong>de</strong>n Kulissen <strong>de</strong>r MachtVon Ulrich SteilenWie kaum ein an<strong>de</strong>rer hatVáclav Havel die Gesichter<strong>de</strong>r Macht und ihre Ambivalenzkennengelernt. Er hatunter ihrer Willkür gelitten,wur<strong>de</strong> seiner Freiheit beraubtund war später, alsPräsi<strong>de</strong>nt, selbst <strong>de</strong>r mächtigsteMann seines Lan<strong>de</strong>s.chen hatte. Als Moralist undunverbesserlicher Romantikerverunglimpft zu wer<strong>de</strong>n,nahm er dafür in Kauf.Über zehn Jahre hatte Haveldas höchste Staatsamt <strong>de</strong>r jungenDemokratie inne. Währenddieser Zeit begleitete RegisseurPavel Koutecký <strong>de</strong>n Präsi<strong>de</strong>ntenmit <strong>de</strong>r Kamera. In seinem Filmsehen wir Havel, <strong>de</strong>n Mann <strong>de</strong>sWortes, wie er mit einfachenLeuten auf <strong>de</strong>r Straße, mitpolitischen Beratern und Wi<strong>de</strong>rsachernspricht. Wir hören– dank <strong>de</strong>s tschechischen Originaltonsmit <strong>de</strong>utschem Untertitel– seine dunkle Stimme,die vom permanenten Rauchen„genährt“ wird. Wohltuend,fast meditativ klingt seine anMonotonie grenzen<strong>de</strong> Stimme.Seine Worte sind immer wohlgewählt, er <strong>de</strong>nkt erst und„ueber Macht“ zeigt „Citizen Havel“„Citizen Havel“ (tschechischerOriginaltitel:„Obcan Havel“) läuft imRahmen <strong>de</strong>s Filmfestivals„ueber Macht“. Das Filmfestivalist Teil <strong>de</strong>r <strong>Gesellschafter</strong>-Initiative<strong>de</strong>rAktion Mensch und tourtin diesem Jahr durch 120<strong>de</strong>utsche Städte. Insgesamt13 aktuelle Dokumentarfilmeregen zum Nach<strong>de</strong>nkenan über die Macht,ihre Kontrolle, über nötigeund unnötige Regeln unddie besten Wege zu mehrSelbstbestimmung. <strong>Die</strong>Festivalbeiträge basierenmeist auf intensiven undlangwierigen Recherchearbeiten.So auch „Citizen Havel“:14 Jahre lang habendie Filmemacher Pavel Kouteckýund Miroslav Janekihren Protagonisten, <strong>de</strong>nehemaligen tschechischenPräsi<strong>de</strong>nten Václav Havel,mit <strong>de</strong>r Kamera begleitet.2008 wur<strong>de</strong> „Obcan Havel“für <strong>de</strong>n Europäischen Filmpreis„Bester europäischerDokumentarfilm“ nominiert.mehr Informationen unter:www.ueber-macht.<strong>de</strong>Im November 1989 trat Havelauf einen Balkon am PragerWenzelsplatz und for<strong>de</strong>rte vor500.000 Menschen freie Re<strong>de</strong>und freie Wahlen. Das warüberaus mutig, <strong>de</strong>nn zu diesemZeitpunkt war die freie Re<strong>de</strong>keine Selbstverständlichkeitin <strong>de</strong>r TschechoslowakischenSozialistischen Republik. Zumaler aufgrund seines Eintretensfür dieses Menschenrechtbereits mehrere Jahre hinterGittern verbracht hatte. Einenguten Monat später, am 29.Dezember 1989, wur<strong>de</strong> VáclavHavel Präsi<strong>de</strong>nt <strong>de</strong>r Tschechoslowakei.Wort und Wahrheit,Macht und Moral trafen inseiner Präsi<strong>de</strong>ntschaft zusammen.Er blieb sich treu. AlsPräsi<strong>de</strong>nt sprach er so, wie erals Oppositioneller gesprosprichtdann. Vor wichtigen, öffentlichenAuftritten übt Havelseine Re<strong>de</strong>n genau ein. Wir hören,wie <strong>de</strong>r Schriftsteller-Präsi<strong>de</strong>ntGedichte rezitiert, wie erscherzt und herzlich lacht. Wirbegleiten ihn zu Staatsbesuchen,empfangen mit ihm Gästewie die Rolling Stones o<strong>de</strong>r BillClinton und lernen seine FrauOlga kennen, die bis zu ihremTod 1996 immer an seiner Seitewar. Wir erfahren, dass Haveldie politische Bühne als Herausfor<strong>de</strong>rungbetrachtet, merkenihm aber auch die innere Anspannungund die Bür<strong>de</strong> seinesAmtes an. „Ein Gleichgewichtzu fin<strong>de</strong>n ist schwierig“, sagter in einer Szene, zu Haus, entspanntauf einer Bank liegend.„<strong>Die</strong> einen sagen: Das ist nicht<strong>de</strong>r alte Havel. An<strong>de</strong>re meinen:Er verhält sich nicht wie einPräsi<strong>de</strong>nt.“Koutecký verzichtet in seinemFilm auf jegliche dramaturgischeZuspitzung undÜberhöhung <strong>de</strong>r Person Havels.Er sucht nicht <strong>de</strong>n Hel<strong>de</strong>n,son<strong>de</strong>rn betrachtet <strong>de</strong>n Menschin seiner Rolle. An 150 Drehtagenist er <strong>de</strong>m Präsi<strong>de</strong>nten aufSchritt und Tritt gefolgt, hat120 Stun<strong>de</strong>n Film belichtet.Dadurch stellt sich so etwaswie Selbstverständlichkeit,Routine ein. Als sei die Kameraunsichtbar, befin<strong>de</strong>t sich <strong>de</strong>rZuschauer mit Havel auf Augenhöheund erlebt ihn so, wieer ist, „ungeschminkt“, nichtinszeniert, menschlich eben.Der Film „Citizen Havel“erlaubt uns Einblicke hinterdie Kulissen <strong>de</strong>r politischenBühne, die einem normalerweiseversagt bleiben. Wirerleben einen Präsi<strong>de</strong>nten, <strong>de</strong>rzuweilen ironisch mit <strong>de</strong>reigenen Rolle spielt, <strong>de</strong>r aberauch im Konflikt mit seinemneoliberalen Gegenspieler VáclavKlaus nachdrücklich Stellungbezieht. <strong>Die</strong> nicht seltenunspektakulären Bil<strong>de</strong>r <strong>de</strong>sFilms wirken niemals trivialo<strong>de</strong>r überflüssig. Sie zeigen<strong>de</strong>n Bürger und SchriftstellerHavel in <strong>de</strong>r Präsi<strong>de</strong>ntenrolle,wie er die Aufgabe <strong>de</strong>r Repräsentationreflektiert und dabeiauch bemüht ist, sein eigenesMarkenzeichen zu kreieren.„Man muss langfristig <strong>de</strong>nken,nicht von Wahl zu Wahl“, sagtVáclav Havel. Der Regisseurhat ihn beim Wort genommen.Dadurch gewinnt <strong>de</strong>r Film seinehohe Glaubwürdigkeit.Wi<strong>de</strong>rsacher <strong>de</strong>s UnsinnsVáclav Havel gilt als überzeugter Europäer und ist eine Symbolfigur für DemokratieVon Ulrich SteilenJirí <strong>Die</strong>nstbier, ehemaligerAußenminister <strong>de</strong>r Tschechoslowakei,schrieb bereitsim Jahr 1983 über seinen politischenWeggefährten Havel:„Er wollte im Bewusstsein<strong>de</strong>r Öffentlichkeit nichtzu einem Berufsrevolutionäro<strong>de</strong>r Berufsdissi<strong>de</strong>ntenwer<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn vor allemals Schriftsteller gelten. Erwollte Wi<strong>de</strong>rsacher <strong>de</strong>s Unsinnssein, wo auch immerer blühte.“Den Kampf gegen <strong>de</strong>n „Unsinn“nahm Havel bereits als jungerMann auf. Havel, Jahrgang1936, war Vorreiter <strong>de</strong>r 68erRevolution in <strong>de</strong>r damaligenTschechoslowakischen SozialistischenRepublik. Nach <strong>de</strong>rNie<strong>de</strong>rschlagung <strong>de</strong>s PragerFrühlings trat er, als einer<strong>de</strong>r führen<strong>de</strong>n Köpfe <strong>de</strong>r Demokratiebewegung,immerwie<strong>de</strong>r öffentlich gegen daskommunistische Regime unterPräsi<strong>de</strong>nt Gustáv Husák auf.1977 war er einer <strong>de</strong>r dreiHauptinitiatoren <strong>de</strong>r „Charta77“, jenem Dokument, mit <strong>de</strong>mdie tschechoslowakische Bürgerrechtsbewegunggegen dieMenschenrechtsverletzungenim eigenen Land protestierte.Sein Kampf gegen <strong>de</strong>n Kommunismuskostete ihn dieFreiheit – Havel verbrachteinsgesamt fast fünf Jahre imGefängnis – und machte ihnzugleich zur Symbolfigur fürDemokratie. Nach <strong>de</strong>r sogenanntensamtenen Revolution,die <strong>de</strong>n autoritären Sozialismusstürzte, führte Havel seinLand 1990 zu <strong>de</strong>n ersten freien,<strong>de</strong>mokratischen Wahlen undwur<strong>de</strong> Präsi<strong>de</strong>nt <strong>de</strong>r Tschechoslowakei.Im Januar 1993,nach <strong>de</strong>r friedlichen Trennungvon Tschechischer und SlowakischerRepublik, wur<strong>de</strong>er mit großer Mehrheit zumPräsi<strong>de</strong>nten <strong>de</strong>r TschechischenRepublik gewählt und bliebdies bis 2003.Kultur macht <strong>de</strong>n Menschzum MenschenEn<strong>de</strong> April dieses Jahres erhieltHavel <strong>de</strong>n „internationalenDemokratiepreis Bonn“. „Demokratie“,sagte er anlässlich<strong>de</strong>r Preisverleihung „ist keintechnisches Instrument zumRegieren. Demokratie ist eineGesellschaftsordnung, diedazu dient, universelle Werte,wie die Menschenrechte, umzusetzen“.Nachdrücklich betonteHavel die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>rFoto: Deutsche WelleDemokratiepreis-Verleihung an Václav Havel in Bonn, April <strong>2009</strong>.Kultur für <strong>de</strong>n europäischenIntegrationsprozess: „Ich habe<strong>de</strong>n Eindruck, dass die EuropäischeUnion ihre Wurzelnvergisst. An erster Stelle stehendie Finanzen, dann kommtdie Wirtschaft. Aber es ist dieKultur, die <strong>de</strong>n Mensch zumMenschen macht. Kultur gibtuns die Möglichkeit, uns selbstzu i<strong>de</strong>ntifizieren und unsereWerte nach außen zu tragen.“


Filmfestival<strong>Juni</strong> <strong>2009</strong> 27„Wie ein absur<strong>de</strong>s Theater“Regisseur Pavel Koutecký im Interview zu seinem Film „Citizen Havel“Wie muss man sich dieDreharbeiten vorstellen?Durften Sie bei sämtlichenGelegenheiten dabei sein?Nicht die ganze Zeit natürlich,eher einige Male pro Monat.Wir durften aufnehmen, waswir wollten, aber es war nichtimmer vorhersehbar, ob etwasspannend wird o<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>nPunkt kommt. Das Ganze warein bisschen, als wür<strong>de</strong> mandie Zukunft in einer Kristallkugellesen. Es passierte unsoft, dass wir ankamen undHavel o<strong>de</strong>r jemand an<strong>de</strong>rsuns sagte: „Scha<strong>de</strong>, dass ihrgestern nicht da wart! Das warwirklich interessant!“Wie haben Sie jeweils entschie<strong>de</strong>n,wann Sie drehensollten?Intuitiv natürlich, auf Instinktbasis.Daneben versuchteich aber auch im Augezu behalten, welches Themaaufkam. Bei Havel lag dasThema, das er vor vielenJahren in seinem Essay‘<strong>Die</strong> Macht <strong>de</strong>r Ohnmächtigen‘benannt hat, auf <strong>de</strong>rHand. Nun ging es um die‘Ohnmacht <strong>de</strong>r Mächtigen‘.Interessant war auch dasVerhältnis von Politik undMedien. Und dann vor allemHavel, <strong>de</strong>r Dramatiker undTheatermann, <strong>de</strong>r Regisseur,<strong>de</strong>r mit seiner Erfahrung dieDinge um sich herum wiegewohnt in Szene setzt. Erbetrachtet die Welt <strong>de</strong>r Politikaus <strong>de</strong>r Distanz, wie einabsur<strong>de</strong>s Theaterstück, in<strong>de</strong>m er selbst mitwirkt.Wie war es, Havel aufzunehmen– unter visuellen Gesichtspunktenbetrachtet?Beson<strong>de</strong>rs nach seinen Krankheitsphasenpflegte Havel vorallem zu sitzen und zu re<strong>de</strong>n.Wir haben also nicht unbedingt„Actionszenen“‘ eingefangen.Am verblüffendstenaber war, dass Havel sich soverhielt, als ob es keine Kameragäbe o<strong>de</strong>r er sie zumin<strong>de</strong>stnicht wahrnehmen wür<strong>de</strong>.An<strong>de</strong>re Leute verhalten sichvöllig an<strong>de</strong>rs; sobald sie eineKamera bemerken, formulierensie ‘Sätze für das Geschichtsbuch‘und stilisierensich selbst auf die eine o<strong>de</strong>ran<strong>de</strong>re Weise. Havel vergaßdie Kamera, er ignorierte sievollständig. In dieser Hinsichtwar er wirklich großartig.Foto: EYZMediaPavel KouteckýSie zeigen hochrangige Politikaus <strong>de</strong>r Sicht eines ironischenIntellektuellen, <strong>de</strong>rzwar Präsi<strong>de</strong>nt ist, sich dabeiaber immer wie<strong>de</strong>r überalles Mögliche lustig macht.Würdigen Sie dadurch nichtsein hohes Amt herab?Zunächst mal glaube ich nicht,dass es da irgen<strong>de</strong>twas herabzuwürdigengäbe. Aber Haveltut auch nichts Unwürdigeso<strong>de</strong>r Respektloses in <strong>de</strong>m Film.Er verhält sich so natürlich wiemöglich, <strong>de</strong>nkt über Menschenund Dinge nach, nennt sie beimNamen, was sicher nicht immerdiplomatisch ist. Er drückt sichhumorvoll aus, neigt manchmalzur Übertreibung und äußertmehrfach Selbstzweifel.Ich glaube, das, was wir gefilmthaben, ist <strong>de</strong>shalb so einzigartig,weil Havel ein einzigartigesPhänomen in <strong>de</strong>r Politik ist.Je<strong>de</strong>r konventionelle Durchschnittspolitikerhätte Hintergedankendabei gehabt, wenner gefilmt wor<strong>de</strong>n wäre.Pavel Koutecký wur<strong>de</strong> am 10.<strong>Juni</strong> 1956 in Prag geboren. ImApril 2006 kam er in Prag beiDreharbeiten ums Leben.„Intelligent gestaltet“Über 300 Beiträge im Kurzfilmwettbewerb „Short Notice“Von Ulrich Steilen„Short Notice“, <strong>de</strong>r Kurzfilmwettbewerb<strong>de</strong>r <strong>Gesellschafter</strong>-Initiative,ist fastabgeschlossen und einigeGewinner stehen bereitsfest. <strong>Die</strong> Filme und Vi<strong>de</strong>ossetzen sich mit <strong>de</strong>r Frage„In was für einer Gesellschaftwollen wir leben?“auseinan<strong>de</strong>r.Unter be<strong>de</strong>cktem Himmel, amUfer eines tristen Hafenbeckenssitzt ein gelangweilterAngler und angelt – lediglichLumpen. Er dreht sich um,<strong>de</strong>nn irgendwie fühlt er sichbeobachtet. Und tatsächlich,aus einiger Entfernung interessiertsich ein ebensogelangweilter Hun<strong>de</strong>-Gassi-Geher für sein Nichtstun.<strong>Die</strong> Blicke treffen sich, mehrpassiert nicht. Der Anglerwen<strong>de</strong>t sich wie<strong>de</strong>r seiner stilldümpeln<strong>de</strong>n Pose zu. „ZuvielZeit?“, fragt die Regisseurin.„Angeln“ heißt <strong>de</strong>r Gewinnerbeitragvon Monika Nitscheund <strong>de</strong>m Team <strong>de</strong>r Freiwilligen-Agentur Tatendrang Münchenin <strong>de</strong>r Son<strong>de</strong>rkategorie „GetInvolved!“, welche die <strong>Gesellschafter</strong>-Initiativezusammenmit <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>sarbeitsgemein-Foto: EYZMedia„Get Involved!“-Gewinnerbeitrag: „Angeln“ von Monika Nitscheschaft <strong>de</strong>r Freiwilligenagenturene.V. (bagfa) ausgeschriebenhatte. Alle Beiträge <strong>de</strong>rSon<strong>de</strong>rkategorie setzen sichmit <strong>de</strong>m Thema Freiwilligenarbeitund Ehrenamt auseinan<strong>de</strong>r.Neben „Angeln“ wur<strong>de</strong>n„Schrei für Dein Recht!“ vonMarc Ludwig und „the futuregeneration needs your information“mit jeweils 3.333 EuroPreisgeld belohnt.„Get Involved!“ ist einevon sieben „Short Notice“-Kategorien, in welche dieFilmemacher ihre Beiträge miteiner maximalen Länge von 15Minuten einstellten.Insgesamt über 300 Kurzfilmewur<strong>de</strong>n auf <strong>de</strong>m Vi<strong>de</strong>oportalvon die<strong>Gesellschafter</strong>.<strong>de</strong> hochgela<strong>de</strong>n und konnten in<strong>de</strong>n vergangenen Monaten von<strong>de</strong>n Besuchern <strong>de</strong>r Website bewertetund kommentiert wer<strong>de</strong>n.Viel Lob, wie „Super geschnitten,intelligent gestaltet“o<strong>de</strong>r „Der Film hat mir Kraftgegeben“, aber auch Kritik,wie „Ein erschrecken<strong>de</strong>r Film“,„Thema verfehlt“ ernteten dieKurzfilme. Am 7. April <strong>2009</strong>tagte eine Fachjury und wähltedie 13 beeindruckendsten Beiträgeaus. <strong>Die</strong> drei Gewinner<strong>de</strong>r Son<strong>de</strong>rkategorie „Get Involved!“wur<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>r Jurydirekt bestimmt. Weiter imRennen sind zehn Beiträge aus<strong>de</strong>n übrigen sechs Kategorien,unter ihnen ein animierterKurzfilm zum Thema „I<strong>de</strong>ntität“,ein gesellschaftskritischesHip-Hop-Vi<strong>de</strong>o und eine Politsatireüber <strong>de</strong>n Einbür-Tourdatenueber machtHier ist das Filmfestival„ueber Macht“ in <strong>de</strong>n kommen<strong>de</strong>nWochen zu Gast:Weimar3. <strong>Juni</strong> – 15. Juli <strong>2009</strong>Osnabrück14. <strong>Juni</strong> – 24. <strong>Juni</strong> <strong>2009</strong>Frankfurt/O<strong>de</strong>r14. <strong>Juni</strong> – 20. <strong>Juni</strong> <strong>2009</strong>Bayreuth15. <strong>Juni</strong> – 1. Juli <strong>2009</strong>Bad Endorf19. <strong>Juni</strong> – 24. <strong>Juni</strong> <strong>2009</strong>Sin<strong>de</strong>lfingen24. <strong>Juni</strong> – 28. <strong>Juni</strong> <strong>2009</strong>En<strong>de</strong> <strong>Juni</strong> legt das Filmfestivaleine Sommerpauseein, bevor es Anfang Septemberweiter geht mit Filmen„ueber Macht“.gerungstest eines türkischenFamilienvaters. Noch bis zum15. <strong>Juni</strong> <strong>2009</strong> können die Besucher<strong>de</strong>r <strong>Gesellschafter</strong>-Internetseiteper „Online-Voting“ dieGewinner unter diesen zehnFinalisten ermitteln.<strong>Die</strong> besten „Short Notice“-Kurzfilmesollen im <strong>Gesellschafter</strong>-Filmfestival2010bun<strong>de</strong>sweit in über 100 Kinosals Vorfilme laufen.Weitere Infos unter: die<strong>Gesellschafter</strong>.<strong>de</strong>/shortnotice


28 <strong>Juni</strong> <strong>2009</strong>Le tzteAktion Mensch · 53175 BonnPVST, DPAG „Entgelt bezahlt“Foto: ZDF/ FABIAN MAERZDunja Hayali, Journalistinund Mo<strong>de</strong>ratorin beim ZDF„Ich möchte in einer Welt leben, in <strong>de</strong>r je<strong>de</strong>r die gleichen Chancenhat – unabhängig vom sozialen Status und von seiner Herkunft.Außer<strong>de</strong>m wünsche ich mir ein ehrliches und respektvolles Miteinan<strong>de</strong>r,in <strong>de</strong>m freies Denken und Vielfalt möglich sind. Eigentlichgar nicht so schwer, wenn sich alle auf das besinnen, was klugeKöpfe schon vor 60 Jahren nie<strong>de</strong>rschrieben ... nachzulesen imGrundgesetz.“3 die<strong>Gesellschafter</strong>.<strong>de</strong>„Zeit geben, das Feld zu bestellen“Uschi Glas setzt sich dafür ein, dass Sterben<strong>de</strong> die Hilfe bekommen, die sie brauchenUschi Glas nutzt ihre Prominenzkonsequent für Menschenund Themen abseits<strong>de</strong>r Glamourwelt. <strong>Die</strong> beliebteSchauspielerin engagiertsich für ein Obdachlosenprojektin München,eine in <strong>de</strong>n USA zum To<strong>de</strong>verurteilte Frau und ist seit1996 Schirmherrin <strong>de</strong>r PatientenschutzorganisationDeutsche Hospiz Stiftung,die sich für die Rechte <strong>de</strong>rSchwerstkranken und Sterben<strong>de</strong>neinsetzt.Warum engagieren Sie sichfür die Deutsche HospizStiftung?<strong>Die</strong> Rechte <strong>de</strong>r Schwerstkrankenund Sterben<strong>de</strong>n liegenmir am Herzen. Schließlichmüssen wir alle einmal sterben.Und alle erleben wir danndas Gleiche. Nämlich, dasswir auf eine Gesellschaft <strong>de</strong>sWegschauens treffen. Das willich durch mein Engagementän<strong>de</strong>rn. Ich will, dass wir hinschauen– und zwar in unserenPflegeheimen, in <strong>de</strong>n Krankenhäusernund auch daheim.Gibt es ein persönliches Erlebnis,das Ihr Engagementerklärt?Foto: Deutsche Hospiz StiftungUschi Glas for<strong>de</strong>rt Selbstbestimmung bis zuletzt.Als mein Vater an Lungenkrebsstarb, habe ich dasLei<strong>de</strong>n und Sterben zumersten Mal aus nächster Näheerlebt. Wir hatten keinePatientenschutzorganisation,die uns mit Rat und Tat zurSeite stand. Seit ich mich fürdie Deutsche Hospiz Stiftungengagiere, weiß ich, wie vielHilfe möglich ist.Wie sieht die Hilfekonkret aus?Wenn sich zum Beispiel einArzt weigert, die Schmerztherapievorzunehmen, die <strong>de</strong>mPatienten zusteht, dann berätdie Deutsche Hospiz Stiftungdie hilfesuchen<strong>de</strong>n Menschen.O<strong>de</strong>r wenn <strong>de</strong>r Pflegedienstdazu drängt, Kosten selbstzu übernehmen. Wenn nötig,schalten wir uns auch direktein. Außer<strong>de</strong>m machen wiruns stark für Patientenverfügungen.Und wir mischen unsein in die öffentliche Debatteum die Gesundheitsversorgung<strong>de</strong>r Schwerstkrankenund Sterben<strong>de</strong>n. Schließlicherhalten nur 12,5 Prozent <strong>de</strong>rBetroffenen die Sterbebegleitung,die nötig wäre, um ihreSelbstbestimmung Realitätwer<strong>de</strong>n zu lassen.Was möchten Sie erreichen?Einen grundsätzlichen Wan<strong>de</strong>l.Dafür muss <strong>de</strong>r Hospizgedanke– also Fürsorge undSelbstbestimmung bis zuletzt– überall dort Einzug halten,wo Menschen sterben. Nichtnur in Hospizen o<strong>de</strong>r ambulanten<strong>Die</strong>nsten, son<strong>de</strong>rn auchin Pflegeheimen. Denn dieAngst, zum Pflegefall zu wer<strong>de</strong>n,gehört zu <strong>de</strong>n größtenSorgen <strong>de</strong>r Generation 50plus.Vergessen wir nicht: Etwaje<strong>de</strong>r Zweite wird im Laufe seinesletzten Lebensjahres pflegebedürftig.Und die Angstdavor treibt die Menschen indie Arme von selbst ernanntenSterbehelfern.Könnte es nicht auch <strong>de</strong>rWunsch sein, über daseigene Sterben selbst zubestimmen?Ich frage mich, ob <strong>de</strong>r Rufnach aktiver Sterbehilfe o<strong>de</strong>rHilfe zum Suizid wirklichselbstbestimmt ist. Ist es nichtvielmehr so, dass Menschendiesen Weg suchen, weilwir ihnen keine Alternativenbieten?Wie möchten Sie selbersterben?Früher habe ich gedacht wiedie meisten: einfach umfallenund tot sein. Heute sehe ichdas an<strong>de</strong>rs. Ich habe gelernt,wie wichtig die Zeit <strong>de</strong>sAbschiednehmens ist. Mannannte das früher: das Feldbestellen. Wer das tut, kannleben. Carpe diem – nutze<strong>de</strong>n Tag!Das Interview führteAnja MartinAN DER ECKE

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