8 <strong>Juni</strong> <strong>2009</strong> Schwerpunk t > EuropaSchickt sie nach EuropaDas Straßburger Parlament ist selbstbewusster und mächtiger gewor<strong>de</strong>nVon Ulrich SteilenSchwarze <strong>Die</strong>nstwagen fahrenvor, Männer in Anzügenund Frauen in Kostümeneilen über das Pflaster <strong>de</strong>sVorplatzes. Jüngere Leute,zum Teil in Jeans undTurnschuhen, schulternKameras und Mikrofone.Vor <strong>de</strong>m Haupteingang isteine riesige aufblasbarePlastikrobbe postiert. Danebenwehen die Fahnen<strong>de</strong>r 27 Mitgliedsstaaten <strong>de</strong>rEU. Tierschützer drücken<strong>de</strong>n Eintreten<strong>de</strong>n kleinePlüschrobben, Ansteckerund Infoblätter in die Hän<strong>de</strong>.Sie for<strong>de</strong>rn die Mitglie<strong>de</strong>r<strong>de</strong>s EuropäischenParlaments (EP) auf, fürdas Verbot <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>lsmit Robbenerzeugnissenzu stimmen.Es ist <strong>Die</strong>nstagvormittag undSitzungswoche im StraßburgerParlament. Im Plenarsaal,<strong>de</strong>m Herz <strong>de</strong>s Parlamentsgebäu<strong>de</strong>s,steht gera<strong>de</strong> die Aussprachezum geplanten EU-Telekom-Paket auf <strong>de</strong>r Tagesordnung.In zwei Tagen wirddas Parlament über das Paketabstimmen. Danach en<strong>de</strong>t dieletzte Sitzungswoche <strong>de</strong>r aktuellenLegislaturperio<strong>de</strong>.Vier Minuten hat die <strong>de</strong>utscheAbgeordnete RebeccaHarms Zeit, um ihre Meinungzum Telekom-Paket im Plenumvorzutragen. Frau Harms istAnfang 50 und trägt schulterlangesbraunes Haar. Seit2004 sitzt sie im EP, ist stellvertreten<strong>de</strong>Fraktionsvorsitzen<strong>de</strong>Foto: Photo Service EuropaparlamentVor 57 Jahren schickten 6 Staaten 78 Abgeordnete, im 2004 gewählten 6. Parlament sind es 785 Volksvertreter aus 27 Län<strong>de</strong>rn.<strong>de</strong>r Grünen und in ihrer Fraktionfür Klima- und Energiepolitikzuständig. Außer<strong>de</strong>mist sie Mitglied <strong>de</strong>s ständigenAusschusses für Industrie, Forschungund Energie. Bevorsie auf die europäische Bühnewechselte, war die sympathischwirken<strong>de</strong> Frau zehn Jahrelang Landtagsabgeordnetein Nie<strong>de</strong>rsachsen, von 1998 bis2004 als Fraktionsvorsitzen<strong>de</strong>ihrer Partei. Sie spricht frei,ohne abzulesen, ruhig, aberentschlossen. Es sei gut, sagtAbgeordnete im EuroPäischen ParlamentAbgeordnete von insgesamtsieben Fraktionen sowie 30fraktionslose Abgeordneteteilen sich im 6. Parlament785 Sitze: <strong>Die</strong> Christ<strong>de</strong>mokratenals größte Fraktionmit 288 Sitzen, die Sozial<strong>de</strong>mokratenmit 217 Sitzen, dieLiberalen mit 100 Sitzen, dieGrünen/Freie EuropäischeAllianz mit 43, die Linkenmit 41 Sitzen, die europakritischeFraktion Unabhängigkeitund Demokratiemit 22 und die Fraktion fürdas Europa <strong>de</strong>r Nationen mit44 Sitzen. Alle Abgeordnetenwer<strong>de</strong>n in ihren jeweiligenHerkunftslän<strong>de</strong>rn für eineLegislaturperio<strong>de</strong> von fünfJahren direkt gewählt. Bei <strong>de</strong>rParlamentswahl vom 4. – 7.<strong>Juni</strong> <strong>2009</strong> sind mehr als 375Millionen EU-Bürgerinnenund Bürger in 27 Staatenzum Urnengang berechtigt.Damit ist das EP nicht nur dieeinzige europäische Institution,son<strong>de</strong>rn auch das einzigemultinationale Parlament <strong>de</strong>rWelt, <strong>de</strong>ssen Vertreter durchallgemeine Wahlen bestimmtsie, einen besseren Zugangzu Telekommunikationsleistungenzu ermöglichen, mehrInformationen für Verbraucherzu liefern und zugleich <strong>de</strong>nDatenschutz zu stärken. Bevordie Rechte von Internetnutzernbeschnitten wür<strong>de</strong>n, müsseaber unbedingt ein Richter vorgeschaltetsein. „Wir könntenals Parlament hier besser sein“,lautet ihr Resümee.Nach vier Minuten wird sievon <strong>de</strong>r Parlaments-Vizepräsi<strong>de</strong>ntin,die die Aussprachewer<strong>de</strong>n. Aus Deutschlandkommen 99 Abgeordnete,davon 68 Männer und 31Frauen. Kein an<strong>de</strong>res Landstellt mehr Parlamentarier.Aus Malta stammenlediglich 5 Volksvertreter.Allerdings spricht hier einAbgeordneter für 80.000Malteser, hingegen vertrittein <strong>de</strong>utscher Abgeordneter833.000 Landsleute. Imeuropaweiten Durchschnittkommen auf je einen Sitzim Parlament rund 615.000Einwohner.leitet, ermahnt, zum En<strong>de</strong> zukommen. Zwei Stun<strong>de</strong>n dauertdie Aussprache insgesamt.<strong>Die</strong> wenigen anwesen<strong>de</strong>nVolksvertreter verlieren sichan diesem Vormittag im Plenarsaalzwischen <strong>de</strong>n leerenSitzreihen. Nur etwa 30 Sitzesind besetzt. Wie eine riesige,ellipsenförmige Schüssel sieht<strong>de</strong>r Saal aus. Alles ist in weißund blau gehalten. <strong>Die</strong> Plätze<strong>de</strong>r Abgeordneten spreizensich strahlenförmig um dasRednerpult. Auf <strong>de</strong>r Empore,die <strong>de</strong>n Saal wie eine Halskrauseumringt, sitzen unter<strong>de</strong>m Dach die Besucher undgucken <strong>de</strong>n Abgeordneten vonoben bei ihrer Arbeit zu. Schüler-,Stu<strong>de</strong>nten- und Rentnergruppenkommen und gehenim 15 Minuten-Takt. Hinterin die Wän<strong>de</strong> eingelassenenGlasscheiben sitzen, wie inwinzigen VIP-Lounges einesmo<strong>de</strong>rnen Fußballstadions,die Übersetzer und sprechenangestrengt in ihre Mikrofone.Ihre Anzahl ist min<strong>de</strong>stensdoppelt so hoch wie die<strong>de</strong>r anwesen<strong>de</strong>n Abgeordneten.<strong>Die</strong> Atmosphäre im Saalwirkt, unterstützt durch daskünstliche Licht, irgendwieirreal, fast futuristisch.Im September 1952 tagtezum ersten Mal eine europäischeparlamentarischeVersammlung. Als Symbolfür die <strong>de</strong>utsch-französischeAussöhnung nach <strong>de</strong>m ZweitenWeltkrieg wur<strong>de</strong> damalsStraßburg als Hauptsitzfestgelegt. 78 nationaleAbgeordnete aus <strong>de</strong>n sechsGründungsstaaten <strong>de</strong>r EuropäischenGemeinschaft fürKohle und Stahl (EGKS)trafen sich zur „GemeinsamenVersammlung“. Ihrenanfänglich beschei<strong>de</strong>nen politischenEinfluss – sie hattelediglich beraten<strong>de</strong> Funktion– konnte die Versammlung,die sich ab 1962 „EuropäischesParlament“ nannte,sukzessive aus<strong>de</strong>hnen. Wur<strong>de</strong>in <strong>de</strong>n 1970er Jahren inDeutschland noch über das„Ausrangieren“ o<strong>de</strong>r „Wegbeför<strong>de</strong>rn“von Politikernauf einen Europaabgeordnetenpostenmit <strong>de</strong>m Slogan„Hast Du einen Opa, schickihn nach Europa“ gespöttelt,än<strong>de</strong>rte sich die Be<strong>de</strong>utung<strong>de</strong>s EP mit <strong>de</strong>r Direktwahl<strong>de</strong>r Abgeordneten seit 1979erheblich. Heute muss dasParlament nicht nur <strong>de</strong>nHaushalt <strong>de</strong>r EU billigen, son-
Schwerpunk t > Europa <strong>Juni</strong> <strong>2009</strong> 9<strong>de</strong>rn ist gemeinsam mit <strong>de</strong>mMinisterrat gleichberechtigtereuropäischer Gesetzgeber.Außer<strong>de</strong>m obliegt <strong>de</strong>m EP dieKontrollfunktion <strong>de</strong>r EuropäischenKommission, sprich <strong>de</strong>rExekutive. Ein Großteil <strong>de</strong>r gesetzgeberischenArbeit wird in<strong>de</strong>n 20 ständigen Ausschüssen<strong>de</strong>s Parlaments erledigt. <strong>Die</strong>sesetzen sich aus Abgeordnetenunterschiedlicher Fraktionenzusammen und glie<strong>de</strong>rn sichnach Politikbereichen wiebeispielsweise Binnenmarktund Verbraucherschutz, Umweltschutzund Lebensmittelsicherheit,Landwirtschaft,Haushalt o<strong>de</strong>r Verkehr.Nur bei Abstimmungenist <strong>de</strong>r Saal vollEs ist 11:20 Uhr als die Vizepräsi<strong>de</strong>ntindie Aussprachezum EU-Telekom-Paket been<strong>de</strong>t.Auf <strong>de</strong>n tageslichtdurchflutetenKorridoren außerhalb<strong>de</strong>s Plenarsaals mischensich Besucher, Medienmacherund Abgeordnete. Interviewswer<strong>de</strong>n geführt, es wird gere<strong>de</strong>tund telefoniert. Vielenutzen die Pause, um sich in<strong>de</strong>r „Blümchenbar“, die ihrenNamen <strong>de</strong>m bunten Blumenteppichbo<strong>de</strong>nverdankt, einenKaffee o<strong>de</strong>r ein Baguette zuholen. Auch Rebecca Harmshat sich mit einigen Kollegenin eine Ecke <strong>de</strong>r Bar zurückgezogenund bespricht mitihnen das Sitzungsprogramm.Um fünf vor zwölf ruft einaltmodischer Klingelton zurAbstimmung in <strong>de</strong>n Plenarsaal.Punkt zwölf ist <strong>de</strong>ram Vormittag gähnend leereRaum wie ausgewechselt, bisnahezu auf <strong>de</strong>n letzten Platzgefüllt. Alle Abgeordnetensitzen auf ihren Plätzen undstimmen im Sekun<strong>de</strong>ntakt ab,je nach vorgegebenem Modusper Handzeichen o<strong>de</strong>r elektronisch.In <strong>de</strong>n zur Abstimmungstehen<strong>de</strong>n Berichtenund Än<strong>de</strong>rungsanträgen gehtes unter an<strong>de</strong>rem um die BenzindampfrückgewinnungvonPkws an Tankstellen und umdie Regelung <strong>de</strong>r Arbeitszeitvon Gütertransportfahrern.Rebecca Harms ist die „VIP“(Very Important Person) inihrer Fraktion. Das heißt,sie gibt für ihre Kollegendas Abstimmungsverhaltenvor. Daumen rauf be<strong>de</strong>utetZustimmen, Daumen runtermeint Ablehnen. Nach einerDreiviertelstun<strong>de</strong> ist <strong>de</strong>r Abstimmungsdauerlaufvorbei.Der Sitzungssaal leert sichgenauso schnell, wie er sichzuvor gefüllt hatte. Parlamentarier,Mitarbeiter, Besucherund Medienleute strömen zumMittagessen in die Kantine.Im Anschluss an die Mittagspausestehen die Vorbereitung<strong>de</strong>s Europäischen RatesFoto: fotoliaEuropawahl <strong>2009</strong>: in Deutschland am 7. <strong>Juni</strong>.an und <strong>de</strong>r Plenarsaal bietetdas gleiche trostlose Bild wieam Vormittag. Eine jungebulgarische Journalistin, diein Madrid lebt und für ein bulgarischesMagazin schreibt,hat gera<strong>de</strong> auf <strong>de</strong>r BesuchertribünePlatz genommen. Alssie sich die Kopfhörer aufsetztund feststellt, dass sie dieDebatte auch auf Bulgarischhören kann, macht sie großeAugen und freut sich mitoffenem Mund. Dann blicktsie in das weite Rund <strong>de</strong>s fastleeren Saals und stellt empörtfest: „Es ist eine Schan<strong>de</strong>. Soein riesiges schönes Parlamentund da unten sitzt nur eineHand voll Abgeordneter.“Tatsächlich sind die meistenParlamentarier jetzt in ihrenBüros und bereiten sich aufAusschuss- und Fraktionssitzungenvor. <strong>Die</strong> Büros <strong>de</strong>r Parlamentariersind – an<strong>de</strong>rs alserwartet – das Gegenteil vonpompös. An <strong>de</strong>n Türen blättertteilweise die Farbe ab. AuchRebecca Harms telefoniertin ihrem Büro mit <strong>de</strong>r Tagesschau.Ihr Zehn-Quadratmeter-Büroteilt sie sich mit ihrerAssistentin. Im Interview istsie offen und freundlich, absolutunprätentiös. Mehrmalsklingelt das Festnetztelefonund ihr Handy vibriert permanentauf <strong>de</strong>r Schreibtischplatte.„Das kann jetzt warten“,sagt sie ruhig. Frau Harmsspricht konzentriert von ihrenAufgaben als Abgeordnete,ihren Visionen für das künftigeEuropa und ihre Erinnerungenan die Öffnung <strong>de</strong>s europäischenKontinents nach Osten,Anfang <strong>de</strong>r 1990er Jahre.„Das ist das große Wun<strong>de</strong>ram En<strong>de</strong> eines schlimmenJahrhun<strong>de</strong>rts gewesen“, sagtsie nach<strong>de</strong>nklich. Dann unterbrichtihre Assistentin das Gesprächmit entschuldigen<strong>de</strong>mBlick. Termine. Das ZDF willmit ihr sprechen, später dieBild-Zeitung. Im Plenarsaalsteht am frühen Abend einegemeinsame Aussprache zumBeschäftigungsgipfel und <strong>de</strong>rSozialagenda auf <strong>de</strong>r Tagesordnung.Rebecca Harms ist nichtdabei. Sie ist im Pressezentrumanzutreffen. „<strong>Die</strong> DeutscheWelle wartet auf mich“, erklärtsie. „Danach muss ich zur Fraktionssitzung.“Beim Weggehenfügt sie hinzu: „Wenn Sie nochFragen haben, rufen Sie micham Wochenen<strong>de</strong> doch einfachan. Dann bin ich auf <strong>de</strong>mParteitag in Berlin und habebestimmt zwischendurch einbisschen Zeit.“Diskussionen bisin die Nacht hineinIm Plenarsaal wird bis indie Nacht hinein weiterdiskutiert.Frage- und Antwortstun<strong>de</strong>nmit <strong>de</strong>r EuropäischenKommission stehen auf <strong>de</strong>mProgramm. <strong>Die</strong> Tierschützerübrigens können sich überdiesen Tag im EuropäischenParlament beson<strong>de</strong>rs freuen.Mit großer Mehrheit habendie Abgeordneten <strong>de</strong>n Han<strong>de</strong>lmit Robbenerzeugnissenweitgehend verboten. Nur dieEskimos dürfen weiter jagenund han<strong>de</strong>ln.Wichtiger als BerlinRebecca Harms über Europa und sein ParlamentFoto: picture allianceImmer mehr Fahnen: Europa wächst zusammen.Frau Harms, welche Beweggrün<strong>de</strong>haben Sie vomLandtag in Nie<strong>de</strong>rsachsen,wo Sie sechs Jahre langFraktionsvorsitzen<strong>de</strong> waren,in das EP geführt?Als für mich die Zeit reifwar, über ein neues Betätigungsfeldnachzu<strong>de</strong>nken,konnte ich mir aussuchen,ob ich lieber nach Brüsselo<strong>de</strong>r Berlin gehen wollte. Fürmich gab es keinen Zweifel,weil ich die Stabilisierung<strong>de</strong>r Europäischen Union unddie Weiterentwicklung ihrerpolitischen Integration alsdas Größte und Wichtigstebetrachte, was wir momentanzu tun haben.Der europäischen Politikwird manchmal <strong>de</strong>r Vorwurf<strong>de</strong>r fehlen<strong>de</strong>n <strong>de</strong>mokratischenLegitimationgemacht. Gibt es diesesDemokratie<strong>de</strong>fizit?Wenn <strong>de</strong>r Vertrag von Lissabonmal in Kraft tritt, wirddie Stimme je<strong>de</strong>s einzelnenEuropäers mehr Gewichtbekommen, <strong>de</strong>nn dann wirdauch <strong>de</strong>r Einfluss und dieKompetenz <strong>de</strong>s Parlamentsgestärkt. Aber das ist nichtdie einzige Frage, an <strong>de</strong>rsich Demokratie entschei<strong>de</strong>t.Für mich ist auch die Frage„Wie schaffen wir Öffentlichkeit?“für das Tun <strong>de</strong>sParlaments und <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>reneuropäischen Institutionenganz wesentlich. Ohne einegemeinsame europäischeÖffentlichkeit gibt es eineSchieflage hinsichtlich <strong>de</strong>s<strong>de</strong>mokratischen Systems.Öffentlichkeit, eine freiePresse, die Zivilgesellschaftinsgesamt, sind konstitutivRebecca Harmsfür das Funktionieren vonDemokratie. Das haben wirin <strong>de</strong>n europäischen Nationalstaatengelernt. Für dieEuropäische Union habenwir dies noch nicht erreicht.<strong>Die</strong> Fragen stellteUlrich Steilen