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Jun. Prof. Dr. Svenja Taubner<br />

Universität Kassel, Institut für Psychologie<br />

International Psychoanalytic University Berlin<br />

AUFRUHR ODER ANPASSUNG?<br />

ADOLESZENZ AUS SICHT DER MODERNEN<br />

ENTWICKLUNGSPSYCHOLOGIE


Inhalte<br />

1. Theorien über die Adoleszenz<br />

2. Moderne Sichtweisen<br />

3. Exkurs zur Hirnforschung<br />

4. Kognitive und emotionale Entwicklung im<br />

Kontext von Metakognition<br />

5. Fazit


Theorien über die Adoleszenz


Entwicklungsaufgaben nach<br />

Havighurst (1948)<br />

Entwicklungsaufgaben sind Lernaufgaben im<br />

Zusammenspiel von:<br />

1. Physischer Reifung<br />

2. Gesellschaftlicher Erwartung<br />

3. Individueller Ziele und Werte


Entwicklungsaufgabe<br />

Adoleszenz (12 bis 18 Jahre)<br />

� Neue und reifere Beziehungen zu Altersgenossen beiderlei<br />

Geschlechts aufbauen<br />

� Übernahme der männlichen oder weiblichen<br />

Geschlechtsrolle<br />

� Akzeptieren der eigenen körperlichen Erscheinung und<br />

effektive Nutzung des Körpers<br />

� Emotionale Unabhängigkeit von den Eltern und von<br />

anderen Erwachsenen erreichen<br />

� Vorbereitung auf Ehe und Familienleben<br />

� Vorbereitung auf eine berufliche Karriere<br />

� Werte und ein ethisches System erlangen, das als Leitfaden<br />

für das Verhalten dient – Entwicklung einer Ideologie<br />

� Sozial verantwortliches Verhalten erstreben und erreichen


Anna Freud (1895-1982)<br />

� Adoleszenz ist entwicklungsbedingt<br />

turbulent und disharmonisch.<br />

� Konflikte beruhen auf<br />

� Sexuelle Reifung �Intensivierung des<br />

Sexualtriebs<br />

� Anstieg der libidinösen Energie � Anstieg<br />

von Aggressivität, Neugier und Egozentrik<br />

� Psychosexuelle Konflikt der Kindheit werden<br />

reaktiviert� Starke Konfliktspannung<br />

� Erweiterungen und neue Formen der<br />

Impulskontrolle werden notwendig:<br />

Sublimierung, Identifikation mit<br />

Erwachsenen und Gleichaltrigen,<br />

Intellektualisierung und Askese


Adoleszenz als 2. Chance (Blos 1979)<br />

� Durch die neuen Möglichkeiten des<br />

phantasievolleren Ich können für alte<br />

Konflikte (Traumatisierungen,<br />

Abhängigkeiten, Bedürfnisse und Ängste)<br />

neue und bessere Lösungen gefunden<br />

werden.


Adoleszente Zusammenbrüche<br />

(Laufer & Laufer 1989)<br />

� Wenn sexuelle Triebschübe gleichzeitig<br />

massive Abhängigkeits- und<br />

Versorgungswünsche aktivieren �<br />

Jugendliche verlieren das innere<br />

Gleichgewicht � geben die Sexualität auf �<br />

keine Loslösung aus inneren und äußeren<br />

Abhängigkeiten


Psychosoziale Theorien<br />

(Erik Erikson 1959)<br />

� Erringen von Identität beruht auf der Bewältigung<br />

der gesellschaftlichen Anforderungen und<br />

Integration psychosexueller und psychosozialer<br />

Veränderung.<br />

� Selbstkonsistenz und Ich-Identität als<br />

Kernaufgabe der Adoleszenz<br />

� Krise zwischen Identitätsfindung und Diffusion<br />

� Adoleszenz als psychosoziales Moratorium,<br />

ermöglicht Rollenexperimente, um den Platz in der<br />

Gesellschaft zu finden


Moderne Sichtweisen


Sequenzen<br />

� Bereichsspezifische Entwicklungslinien (biologisch,<br />

kognitiv, emotional) überlagern sich gegenseitig mit<br />

je eigengesetzlicher Entwicklungsdynamik<br />

� Jugendtypisch sind eher markante Übergänge oder<br />

abrupte Brüche als lineare Veränderungen<br />

� Beginn: Geschlechtsreife (Pubertät)<br />

� Entwicklungsbezogene Veränderung in der<br />

Jugendphase = Adoleszenz<br />

1. Frühe Adoleszenz (10-13 Jahre)<br />

2. Mittlere Adoleszenz (14-17 Jahre)<br />

3. Späte Adoleszenz (18-22 Jahre) bzw. bis ins 3.<br />

Lebensjahrzehnt („emerging adulthood“)<br />

� Abgrenzung zwischen Jugend und Erwachsenenalter<br />

erfolgt nicht über definierte Zeitpunkte, sondern<br />

über Rollenwechsel und Kriterien sozialer Reife


Adoleszenz hat sich<br />

verlängert..<br />

� Früherer Eintritt in die Geschlechtsreife (in<br />

allen Industrienationen)<br />

� Längere Ausbildungszeiten durch gestiegene<br />

Berufsanforderungen<br />

� „Maturation Gap“


Aktuelle Adoleszenzforschung<br />

� Seit 1970: „Adjustment vs. turmoil“<br />

� Intra- und interpersonelle Konflikte sind kein<br />

generelles Entwicklungsphänomen in der<br />

Adoleszenz! (Offer & Offer 1975)<br />

� Adoleszente Autonomie geht nicht zu Lasten der<br />

Bindungsbeziehung zu den Eltern!<br />

� Identität ist eine lebenslange Aufgabe!<br />

� Ins Zentrum der Forschung gerät die verbesserte<br />

kognitive Komplexität!


Reflexionsfähigkeiten als<br />

Motor der Veränderung?<br />

� Dezentrierung des Selbst:<br />

� Gefühl der (unerträglichen) Einsamkeit<br />

� Geschichtlichkeit<br />

� Umarbeitung der eigenen Kindheitserinnerungen<br />

� Kindheitserinnerungen erhalten eine<br />

lebensgeschichtliche Bedeutung


Bindung und Exploration (Autonomie)<br />

als komplementäre Systeme<br />

Bindungsverhalten<br />

Unsicherheit<br />

Sicherheit<br />

„Sichere Basis“<br />

Unsicherheit<br />

Explorationsverhalten<br />

Sicherheit


Bindung wird transformiert<br />

� Metakognition hilft über die eigenen<br />

Bindungsmuster nachzudenken.<br />

� Keine aggressiv unterfütterten<br />

Ablöseprozesse!<br />

� Sicher-gebundene Jugendlichen tragen<br />

Konflikte so aus, dass Autonomie-Bedürfnisse<br />

unter Aufrechterhaltung der Bindung zu den<br />

Eltern ausbalanciert werden.<br />

� Bindungswünsche werden verallgemeinert und<br />

auf weitere Personen verlagert (z. B.<br />

Liebespartner) (Allen 2008).


Unsichere Bindung<br />

� Adoleszente mit unsicher-vermeidender<br />

Bindung zeigen vermehrt<br />

� beziehungsunterbrechende Konfliktlösestrategien<br />

durch Ausgrenzung anderer (Zimmermann, et al.,<br />

2001).<br />

� Verhaltensweisen, die Autonomie und<br />

Verbundenheit verhindern (Becker-Stoll, 2002)


Identität vs. Selbstkonzept<br />

� Identitätsfindung endet nicht in der<br />

Adoleszenz und ist eher Thema der<br />

Spätadoleszenz (Steinberg & Morris 2001)<br />

� Wird heute nicht mehr notwendig als<br />

krisenhaft begriffen: Entwicklung des<br />

Selbstkonzeptes (Pinquart & Silbereisen<br />

2000)<br />

� Mentaler, begründeter, differenzierter,<br />

Ambivalenz-tolerierend


Emotionaler Aufruhr<br />

� 10-20% der Jugendlichen sind<br />

psychopathologisch auffällig<br />

� Bestimmte psychische Erkrankungen beginnen<br />

in der Adoleszenz<br />

� Depression und Angst<br />

� Antisoziales Verhalten<br />

� Drogenabusus<br />

� Schizophrenie


Aufruhr…<br />

� 62% der Todesfälle unter Jugendlichen als<br />

Folge tödlicher Verletzungen<br />

� Ursachen (Statistisches Bundesamt 2010) :<br />

� Verkehrsunfälle, Gewalt und Selbstverletzungen<br />

� Gründe (National Youth Risk Behavior Survey,<br />

Eaton et al. 2006)<br />

� Alkohol am Steuer, Fahren ohne Sicherheitsgurt<br />

� Tragen von Waffen<br />

� Substanzabausus<br />

� Ungeschützter Geschlechtsverkehr


Entscheidungs- und<br />

Risikoverhalten (Kambam & Thompson 2009)<br />

� „kalte“ Kognitionen (logisches Denken,<br />

Hypothesentestung) ist ab 14 Jahren auf dem<br />

Stand Erwachsener<br />

� „heiße“ Kognitionen in Situationen mit hoher<br />

emotionaler Involviertheit<br />

� Konformitätsdruck mit den Peers<br />

� Weniger Verantwortlichkeitsempfinden<br />

� Weniger langfristige Perspektive<br />

� Weniger Impulskontrolle<br />

� Mehr Wunsch nach „Belohnung“ oder „sensation<br />

seeking“ (Steinberg 2008)


Exkurs zur Hirnforschung (Jay Giedd, NIMH)


Neue Erkenntnisse<br />

� Die Adoleszenz ist eine entscheidende<br />

Entwicklungsphase, in der über die strukturelle<br />

und funktionelle Organisation des Gehirns<br />

entschieden wird.<br />

� Während die pränatale Hirnentwicklung (u. a.<br />

Synaptogenese) vorrangig genetisch<br />

programmiert ist , wird die Hirnentwicklung in<br />

der Adoleszenz (Synapsen-Elimination) durch<br />

die Umwelt (Lernerfahrungen) beeinflusst<br />

(Huttenlocher und Dabholkar 1999).


Das zweischneidige Schwert<br />

der adoleszenten<br />

Gehirnplastizität<br />

Opportunity<br />

Vulnerability<br />

z. B. Cannabis!


Daten Basis (1991-dato)<br />

� Longitudinale Messungen (~ 2 Jahres Intervalle)<br />

� Imaging (sMRI, fMRI, MEG, DTI, MTI)<br />

� Genetics<br />

� Neuropsychological / Clinical<br />

� 8000+ Scans mit 3000+ Probanden<br />

� ~ ½ normale Entwicklung<br />

� ~ ½ Zwillinge<br />

� 25 Klinische Gruppen<br />

� ADHS, Autismus, Bipolare Depression, Schizophrenie,<br />

Depression, OCD, Sex Chromosom Variationen (XXY,<br />

XXX, XXY, XXYY, XXXXY), Tourette Syndrome, …


Das Neuron<br />

Cell body<br />

(the cell’s life<br />

support center)<br />

Neuronal<br />

Impulse<br />

Dendrites<br />

Myelin<br />

sheath<br />

Axon<br />

Terminal<br />

branches of<br />

axon<br />

Donald Bliss, MAPB, Medical Illustration


Axon<br />

Nucleus<br />

Oligodendroglia<br />

Male (152 scans from 90<br />

subjects)<br />

Female (91 scans from 55<br />

subjects)<br />

95% Confidence Intervals<br />

Weiße Substanz<br />

White Matter<br />

Age in years


Graue Substanz Entwicklung bei gesunden<br />

Kindern und Adoleszenten<br />

(1412 Scans mit 540 Probanden)<br />

Volume in ml<br />

240<br />

220<br />

200<br />

Frontal Lobe Gray Matter<br />

4 6 8 10 12 14 16 18 20 22<br />

Age in years


Die Reifung des Gehirns von<br />

4 bis 25 Jahre


Ungleichgewicht zwischen<br />

limbischer und kortikaler<br />

Entwicklung (Casey et al. 2008)


Kognitive und emotionale<br />

Entwicklung im Kontext von<br />

Metakognition/ Mentalisierung


Theory-of-Mind (ToM) in der<br />

Adoleszenz<br />

� ToM bedeutet eine psychologische Theorie zum<br />

Verständnis des Verhaltens anderer<br />

anzuwenden, basierend auf Wünschen, Zielen,<br />

Absichten und Gefühlen.<br />

� Formal-logisches Denken (Piaget)<br />

� Perspektivenübernahme?<br />

� Nachdenken über das Denken (Metakognition)


Perspektivenverschränkung, „cold<br />

cognition“ (Dumontheil et al. 2009)


Ergebnisse:


Metacognition der eigenen<br />

Bindungsbeziehungen, „hot<br />

cognition“: das Adult-<br />

Attachment-Interview<br />

� 1,5 – 2stündiges Interview<br />

� 18 Fragen zu den primären Bindungspersonen<br />

� Fragen sollen das Unbewusste überraschen<br />

� Interview wird zunehmend stressiger<br />

� Bsp.: Versuchen Sie nun fünf Eigenschaftswörter zu finden, die möglichst<br />

treffend beschreiben, wie Sie die Beziehung zu Ihrer Mutter in Ihrer Kindheit<br />

(Kindheit bis Jugend) erlebt haben. Lassen Sie sich dafür ruhig Zeit und<br />

überlegen Sie erst Mal 1 Minute. Danach werde ich Sie fragen, warum Sie<br />

gerade diese Eigenschaftswörter ausgewählt haben.<br />

� Auswertung erfolgt mit den transkribierten Texten<br />

(20-50 Seiten)


M<br />

E<br />

N<br />

T<br />

A<br />

L<br />

I<br />

S<br />

I<br />

E<br />

R<br />

U<br />

N<br />

G<br />

Stressabhängiges Schaltmodell<br />

Präfrontal/<br />

kontrolliert<br />

Erregung/Stress - Bindungsaktivierung<br />

Posteriore und subkortikale<br />

Kortizes/automatisch<br />

Schaltpunkt


Mentalisierung in der<br />

Adoleszenz<br />

� Hypermentalisierung oder Rückzug<br />

� Im Gegensatz zum Kind muss der Jugendliche<br />

sich zunehmend selbst steuern, daher wird<br />

ein Steuerungsvakuum erst jetzt sichtbar.<br />

� Der Zusammenbruch bzw. die Inhibierung<br />

reflexiver Fähigkeiten steht im<br />

Zusammenhang mit dem Anstieg von<br />

psychopathologischen Auffälligkeiten<br />

(Fonagy et al. 2002).


Aktuelle Studie: Mentalisierung<br />

in der Adoleszenz – Zusammenhänge<br />

zu psychischer Gesundheit?<br />

� Studie mit 98 Schülerinnen und Schülern aus Kasseler<br />

Gesamtschulen im Vergleich zu 100 Jugendlichen mit<br />

einer Störung des Sozialverhaltens (in Kooperation mit<br />

Jugendpsychiatrien in Kassel, Göttingen, Bremen und<br />

Berlin)


11-stufige Skala der Reflective<br />

Functioning (RF)<br />

9 außergewöhnliche<br />

7 ausgeprägte<br />

5 deutliche, allgemeine<br />

3 fragliche oder niedrige<br />

1 abwesende<br />

-1 negative<br />

durchschnittliche<br />

bis hohe RK<br />

niedrige bis<br />

negative RK


Spezifisch für mentale<br />

Befindlichkeiten sind Aussagen,<br />

die<br />

� das Wissen um die Art innerpsychischer<br />

Befindlichkeiten dokumentieren (A),<br />

� das ausdrückliche Bemühen aufweisen, die<br />

einem Verhalten zugrundeliegenden<br />

psychischen Prozesse herauszuarbeiten (B),<br />

� den Entwicklungsaspekt von mentalen<br />

Prozessen anerkennen (C)<br />

� oder Bezug nehmen auf innerpsychische<br />

Befindlichkeiten des Interviewers (D).


Beispiel für eine<br />

durchschnittliche RF


Beispiel für eine niedrige<br />

RF


RF Ergebnisse<br />

Mittelwert<br />

(SD)<br />

Median<br />

Min<br />

Max<br />

Schiefe<br />

Kurtosis<br />

KLS<br />

N=91<br />

3,93<br />

(1,41)<br />

4,0<br />

1,0<br />

7,0<br />

,11<br />

-, 47<br />

Mädchen<br />

(n=45)<br />

Jungen<br />

(n=46)<br />

T-test<br />

p<br />

M (SD) 4,22 (1,4) 3,65 (1,4) .053


Wem haben Sie sich als Kind<br />

näher gefühlt?


Wer ist der wichtigste<br />

Mensch im Augenblick?<br />

Migration background effects current significant others<br />

Chi Square (5) = 17.28, p=.004


Fazit<br />

� Adoleszenz ist eine der sensiblen Periode der<br />

Entwicklung<br />

� Besonders die neurobiologíschen Erkenntnisse<br />

fordern heraus, sich mit der Bedeutsamkeit<br />

pädagogischer, therapeutischer und<br />

gesellschaftlicher Anforderungen an<br />

Adoleszente neu auseinanderzusetzen.<br />

� Deutliche individuelle Unterschiede in der<br />

Mentalisierung, aber hohe Reflexive Kompetenz<br />

schon bei 15jährigen<br />

� Adoleszente brauchen ihre Eltern genauso sehr<br />

wie Kinder!


Vielen<br />

Dank!<br />

Svenja.taubner@uni-kassel.de<br />

Svenja.taubner@ipu-berlin.de

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