Einführung in die Empirische Sozialforschung - Universität Bern
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<strong>E<strong>in</strong>führung</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>Empirische</strong> <strong>Sozialforschung</strong><br />
PD Thomas Gautschi, Ph.D.<br />
<strong>Universität</strong> <strong>Bern</strong><br />
10. Sitzung: 08. Mai 2009<br />
Diekmann, Kapitel XI und XIII<br />
PD Thomas Gautschi, Ph.D. (u b ) <strong>Empirische</strong> <strong>Sozialforschung</strong> 08. Mai 2009 1 / 26
Überblick<br />
Überblick Vorlesung 08.05.2009<br />
1 Beobachtungen und nicht–reaktive Verfahren<br />
Beobachtung als Erhebungsmethode<br />
Varianten der Beobachtungstechnik<br />
Reaktivität und Nicht–Reaktivität<br />
Nicht–reaktive Verfahren<br />
Probleme nicht–reaktiver Methoden<br />
PD Thomas Gautschi, Ph.D. (u b ) <strong>Empirische</strong> <strong>Sozialforschung</strong> 08. Mai 2009 2 / 26
Beobachtungen und nicht–reaktive Verfahren Beobachtung als Erhebungsmethode<br />
Beobachtung als Erhebungsmethode<br />
Beobachtungsverfahren gehören zu den ältesten Erhebungsmethoden,<br />
werden aber <strong>in</strong>zwischen weit weniger als <strong>die</strong> Befragung und <strong>die</strong><br />
Inhaltsanalyse e<strong>in</strong>gesetzt.<br />
Dennoch s<strong>in</strong>d folgende generellen Aspekte der Beobachtung<br />
diskussionswürdig:<br />
◮ E<strong>in</strong>grenzung der “Beobachtung”<br />
◮ Vorteile der Beobachtung<br />
◮ Nachteile der Beobachtung<br />
◮ Journalistische Beobachtungen<br />
◮ Klassische Beobachtungsstu<strong>die</strong>n<br />
PD Thomas Gautschi, Ph.D. (u b ) <strong>Empirische</strong> <strong>Sozialforschung</strong> 08. Mai 2009 3 / 26
Beobachtungen und nicht–reaktive Verfahren Beobachtung als Erhebungsmethode<br />
E<strong>in</strong>grenzung der “Beobachtung”<br />
In der speziellen Deutung der <strong>Sozialforschung</strong> ist <strong>die</strong> “Beobachtung”<br />
e<strong>in</strong>e Erhebungsmethode:<br />
Beobachtung<br />
Es handelt sich dabei um <strong>die</strong> direkte Beobachtung menschlicher Hand-<br />
lungen, Äusserungen, nonverbaler Reaktionen (Mimik, Gestik) und sozialer<br />
Merkmale (Kleidung, Symbole, Gebräuche, Wohnformen), <strong>die</strong> (1) unter<br />
Bezug auf Forschungshypothesen zwar immer beschränkt, aber (2)<br />
kontrolliert und systematisch erfolgt.<br />
Die Betonung von (1) und (2) reflektiert dabei zwei Schwierigkeiten:<br />
◮ Problem der Verzerrung durch selektive Wahrnehmung<br />
◮ Problem der (Fehl-)Interpretation des beobachteten Geschehens<br />
PD Thomas Gautschi, Ph.D. (u b ) <strong>Empirische</strong> <strong>Sozialforschung</strong> 08. Mai 2009 4 / 26
Beobachtungen und nicht–reaktive Verfahren Beobachtung als Erhebungsmethode<br />
Vorteile der Beobachtung<br />
Generell hat <strong>die</strong> Beobachtung mehrere Vorzüge:<br />
Erfassung des tatsächlichen Verhaltens (u.U. auch unbewusstes<br />
Verhalten)<br />
Zugriff auf Informationen über Personen mit e<strong>in</strong>geschränktem<br />
Verbalisierungsvermögen (z.B. E<strong>in</strong>wegspiegel im Uni–K<strong>in</strong>dergarten)<br />
Überschaubarkeit und Verdeutlichung von sozialen Prozessen<br />
PD Thomas Gautschi, Ph.D. (u b ) <strong>Empirische</strong> <strong>Sozialforschung</strong> 08. Mai 2009 5 / 26
Beobachtungen und nicht–reaktive Verfahren Beobachtung als Erhebungsmethode<br />
Nachteile der Beobachtung I<br />
Generelle Schwachpunkte der Beobachtung s<strong>in</strong>d:<br />
Zugang zum sozialen Feld ist nicht immer e<strong>in</strong>fach.<br />
Bee<strong>in</strong>flussung des sozialen Geschehens (z.B. “Pygmalion–Effekt”) und<br />
Identifikation mit dem Untersuchungsgegenstand (bis zum “go<strong>in</strong>g<br />
native”).<br />
Daten über <strong>die</strong> Verteilung von Merkmalen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er grossen Population<br />
werden nicht erfasst (ke<strong>in</strong>e Totalität des Geschehens).<br />
◮ Letzteres ergibt sich <strong>in</strong>sbesondere deshalb, weil nur wenig E<strong>in</strong>heiten<br />
beobachtet werden können. Dies bedeutet, dass bei Beobachtungen oft<br />
nur e<strong>in</strong>e beschränkte Generalisierbarkeit besteht!<br />
Latente Eigenschaften von Situationen und Personen werden nicht<br />
erfasst.<br />
PD Thomas Gautschi, Ph.D. (u b ) <strong>Empirische</strong> <strong>Sozialforschung</strong> 08. Mai 2009 6 / 26
Beobachtungen und nicht–reaktive Verfahren Beobachtung als Erhebungsmethode<br />
Nachteile der Beobachtung II<br />
Vergangene und unwiederholbare Ereignisse werden von vornhere<strong>in</strong><br />
vernachlässigt.<br />
Was kann man dagegen tun?<br />
Schulung von Beobachtern<br />
E<strong>in</strong>satz mehrerer Beobachter<br />
Leitfaden und strukturiertes Beobachtungsschema<br />
Test auf Reliabilität und Validität<br />
PD Thomas Gautschi, Ph.D. (u b ) <strong>Empirische</strong> <strong>Sozialforschung</strong> 08. Mai 2009 7 / 26
Beobachtungen und nicht–reaktive Verfahren Beobachtung als Erhebungsmethode<br />
Beispiel: Pygmalion–Effekt<br />
PD Thomas Gautschi, Ph.D. (u b ) <strong>Empirische</strong> <strong>Sozialforschung</strong> 08. Mai 2009 8 / 26
Beobachtungen und nicht–reaktive Verfahren Varianten der Beobachtungstechnik<br />
Varianten der Beobachtungstechnik<br />
Nach bestimmten Kriterien können verschiedene Arten von<br />
Beobachtungen unterschieden werden:<br />
◮ Fremdbeobachtung oder Selbstbeobachtung (Introspektion)<br />
◮ Teilnehmende oder nicht teilnehmende Beobachtung<br />
◮ Offene oder verdeckte Beobachtung<br />
◮ Feldbeobachtung oder Laborbeobachtung<br />
◮ Unstrukturierte oder strukturierte Beobachtung<br />
Diese Formen gehen mit unterschiedlichen positiven und negativen<br />
Aspekten e<strong>in</strong>her, <strong>die</strong> jeweils diskussionswürdig s<strong>in</strong>d.<br />
Am häufigsten s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Komb<strong>in</strong>ationen:<br />
◮ Teilnehmende, offene, nicht strukturierte Fremdbeobachtung im Feld<br />
◮ Nichtteilnehmende, verdeckte, strukturierte Fremdbeobachtung<br />
im Labor.<br />
PD Thomas Gautschi, Ph.D. (u b ) <strong>Empirische</strong> <strong>Sozialforschung</strong> 08. Mai 2009 9 / 26
Beobachtungen und nicht–reaktive Verfahren Varianten der Beobachtungstechnik<br />
Teilnehmende und nicht teilnehmende Beobachtung<br />
Teilnehmende Beobachtung: Der Beobachter ist Teil des<br />
Interaktionssystems, welches beobachtet wird.<br />
Beispiel: Teilnehmer der Veranstaltung beobachtet <strong>die</strong> anderen<br />
Teilnehmer im H<strong>in</strong>blick auf ihr Verhalten.<br />
Voraussetzung für <strong>die</strong> teilnehmende Beobachtung:<br />
◮ Übernahme e<strong>in</strong>er def<strong>in</strong>ierten und akzeptierten Rolle im Feld<br />
◮ Ke<strong>in</strong>e Bee<strong>in</strong>flussung der abhängigen Variable durch <strong>die</strong> Teilnahme.<br />
Nicht teilnehmende Beobachtung: Der Beobachter steht ausserhalb<br />
des Interaktionssystems (nur beobachten, ke<strong>in</strong>e Teilnahme).<br />
PD Thomas Gautschi, Ph.D. (u b ) <strong>Empirische</strong> <strong>Sozialforschung</strong> 08. Mai 2009 10 / 26
Beobachtungen und nicht–reaktive Verfahren Varianten der Beobachtungstechnik<br />
Offene und verdeckte Beobachtung<br />
Offene Beobachtung: Den Beobachteten ist bewusst, das sie<br />
beobachtet werden (und i.d.R. wer <strong>die</strong>s tut).<br />
Problem der Bee<strong>in</strong>flussung des Feldes durch den Beobachter.<br />
Verdeckte Beobachtung: Wissen der Beobachteten fehlt.<br />
Vorteil: nicht–reaktive Form der Datenerhebung.<br />
Nachteile: Technische Durchfhrung und eventuell ethische Probleme.<br />
PD Thomas Gautschi, Ph.D. (u b ) <strong>Empirische</strong> <strong>Sozialforschung</strong> 08. Mai 2009 11 / 26
Beobachtungen und nicht–reaktive Verfahren Varianten der Beobachtungstechnik<br />
Strukturierte Beobachtung<br />
Zentrales Problem von Beobachtungen: Reliabilität und Objektivität.<br />
Strukturierung als Möglichkeit, Verzerrungen vorzubeugen oder sie<br />
zum<strong>in</strong>dest zu reduzieren:<br />
◮ Beobachtungsleitfaden (Liste mit Gesichtspunkten, auf welche der<br />
Beobachter zu achten hat).<br />
◮ Hochstrukturiertes Beobachtungsschema<br />
⋆ Vorgabe von Kategorien, Skalen etc., mit deren Hilfe <strong>die</strong> Beobachtung<br />
weitgehend strukturiert und quantifiziert wird.<br />
⋆ Eröffnet <strong>die</strong> Möglichkeit der quantitativen Auswertung<br />
◮ M<strong>in</strong>destens zwei Beobachter.<br />
PD Thomas Gautschi, Ph.D. (u b ) <strong>Empirische</strong> <strong>Sozialforschung</strong> 08. Mai 2009 12 / 26
Beobachtungen und nicht–reaktive Verfahren Varianten der Beobachtungstechnik<br />
Beobachtungsprotokoll<br />
PD Thomas Gautschi, Ph.D. (u b ) <strong>Empirische</strong> <strong>Sozialforschung</strong> 08. Mai 2009 13 / 26
Beobachtungen und nicht–reaktive Verfahren Varianten der Beobachtungstechnik<br />
Reliabilität von Beobachtungen<br />
Beobachter 1<br />
Ja Ne<strong>in</strong> Total<br />
ja 6 3 9<br />
Beobachter 2 ne<strong>in</strong> 0 11 11<br />
Total 6 14 20<br />
Pc =<br />
K = P0 − Pc<br />
1 − Pc<br />
(6 · 9) + (14 · 11)<br />
20 2<br />
= 0.85 − 0.52<br />
1 − 0.52<br />
= 0.52<br />
= 0.69<br />
PD Thomas Gautschi, Ph.D. (u b ) <strong>Empirische</strong> <strong>Sozialforschung</strong> 08. Mai 2009 14 / 26
Beobachtungen und nicht–reaktive Verfahren Reaktivität und Nicht–Reaktivität<br />
Reaktivität und Nicht–Reaktivität<br />
Erhebungsmethoden heissen reaktiv, wenn <strong>die</strong> Gefahr besteht, dass<br />
der Messvorgang (d.h. das Mess<strong>in</strong>strument, se<strong>in</strong> Anwender oder <strong>die</strong><br />
Messsituation) das Messergebnis bee<strong>in</strong>flussen und verfälschen kann<br />
(aber nicht muss).<br />
Als reaktiv kann man z.B. <strong>die</strong> Befragung bezeichnen.<br />
Dagegen können Formen der Inhaltsanalyse und Beobachtung<br />
nicht–reaktiv se<strong>in</strong>.<br />
So geht z.B. mit der Analyse von Dokumenten und z.B. der<br />
verdeckten Beobachtung sicher ke<strong>in</strong>e systematische Verzerrung des<br />
Messvorgangs e<strong>in</strong>her.<br />
PD Thomas Gautschi, Ph.D. (u b ) <strong>Empirische</strong> <strong>Sozialforschung</strong> 08. Mai 2009 15 / 26
Beobachtungen und nicht–reaktive Verfahren Nicht–reaktive Verfahren<br />
Nicht–reaktive Verfahren I<br />
Nicht–reaktive Methoden s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e neuen Klasse von Erhebungs-<br />
verfahren.<br />
Reaktivität oder Nicht–Reaktivität bezeichnet vielmehr e<strong>in</strong>e<br />
Eigenschaft unterschiedlicher Methoden.<br />
Dennoch können nicht–reaktive Verfahren klassifiziert werden:<br />
◮ Aktive nicht–reaktive Methoden (z.B. Komb<strong>in</strong>ationen von Beobacht-<br />
ungen und Feldexperimenten)<br />
◮ Passive nicht–reaktive Methoden (Erhebung von Verhaltensspuren oder<br />
prozessproduzierter Daten)<br />
Grundidee: Reaktivität wird durch das Wissen der Beteiligten über <strong>die</strong><br />
Messung erzeugt (ke<strong>in</strong> Wissen, ke<strong>in</strong>e Reaktivität).<br />
PD Thomas Gautschi, Ph.D. (u b ) <strong>Empirische</strong> <strong>Sozialforschung</strong> 08. Mai 2009 16 / 26
Beobachtungen und nicht–reaktive Verfahren Nicht–reaktive Verfahren<br />
Nicht–reaktive Verfahren II<br />
Zwei Möglichkeiten: Die Messung erfolgt verdeckt oder <strong>die</strong> Messung<br />
erfolgt ex ante durch Interpretation bereits existierender Daten.<br />
Die Gewährleistung des “Nichtwissens” ist für unterschiedliche<br />
Erhebungsmethoden unterschiedlich gut zu erreichen.<br />
Arten nicht–reaktiver Verfahren:<br />
◮ Feldexperimente<br />
◮ Unaufdr<strong>in</strong>gliche Beobachtung<br />
◮ Verhaltensspuren<br />
◮ Sekundäranalyse prozessproduzierter Daten<br />
◮ Inhaltsanalyse<br />
PD Thomas Gautschi, Ph.D. (u b ) <strong>Empirische</strong> <strong>Sozialforschung</strong> 08. Mai 2009 17 / 26
Beobachtungen und nicht–reaktive Verfahren Nicht–reaktive Verfahren<br />
Feldexperimente<br />
In Laborexperimenten ist <strong>die</strong> Messung offensichtlich, solche<br />
Experimente s<strong>in</strong>d somit immer reaktiv.<br />
Feldexperimente s<strong>in</strong>d experimentelle Untersuchungen <strong>in</strong> natürlicher<br />
Umgebung.<br />
Sofern zusätzlich nicht–reaktive Erhebungsmethoden (z.B. verdeckte<br />
Beobachtung) zum E<strong>in</strong>satz kommen, handelt es sich um<br />
nicht–reaktive Feldexperimente.<br />
Beispiele für solche nicht–reaktiven Feldexperimente s<strong>in</strong>d:<br />
◮ Experiment zur Hilfeleistung<br />
◮ Hup–Tendenz Experiment<br />
◮ Technik der verlorenen Briefe<br />
◮ Verwähltechnik<br />
◮ Experimentelle Briefe (z.B. fiktive Bewerbungen)<br />
PD Thomas Gautschi, Ph.D. (u b ) <strong>Empirische</strong> <strong>Sozialforschung</strong> 08. Mai 2009 18 / 26
Beobachtungen und nicht–reaktive Verfahren Nicht–reaktive Verfahren<br />
Hup–Tendez Experiment<br />
Fahrzeugtyp Reaktionszeit (Median <strong>in</strong> sec.) Anzahl Autos (N)<br />
Oberklasse 1.4 4<br />
Obere Mittelklasse 2.5 6<br />
Mittelklasse 3.0 20<br />
Untere Mittelklasse 4.1 21<br />
Kle<strong>in</strong>wagen 3.6 6<br />
Nicht–teilnehmende, verdeckte Beobachtung zum Zusammenhang<br />
zwischen Status und Aggressivität.<br />
Blockieren des Verkehrs vor grüner Ampel und Messen der Zeit bis<br />
der Fahrer des blockierten Fahrzeugs <strong>die</strong> Hupe betätigt.<br />
Eventuell Variation des blockierenden Fahrzeugtyps.<br />
PD Thomas Gautschi, Ph.D. (u b ) <strong>Empirische</strong> <strong>Sozialforschung</strong> 08. Mai 2009 19 / 26
Beobachtungen und nicht–reaktive Verfahren Nicht–reaktive Verfahren<br />
Verlorene Briefe<br />
Anschrift Anzahl verlorener Briefe Rücklaufquote <strong>in</strong> %<br />
Medical Research Association 100 72<br />
Mr. Walter Carnap 100 71<br />
Friends of Communist Party 100 25<br />
Friends of Nazi Party 100 25<br />
Nicht–reaktives, verdecktes Feldexperiment zur Ermittlung von<br />
Vorurteilen.<br />
Annahme: Rücklaufquote korreliert mit der Sympathie gegenüber dem<br />
Adressaten.<br />
Eventuell Variation des Inhalts.<br />
PD Thomas Gautschi, Ph.D. (u b ) <strong>Empirische</strong> <strong>Sozialforschung</strong> 08. Mai 2009 20 / 26
Beobachtungen und nicht–reaktive Verfahren Nicht–reaktive Verfahren<br />
Verhaltensspuren<br />
Menschen h<strong>in</strong>terlassen fast überall Spuren und <strong>die</strong>se lassen<br />
Rückschlüsse auf das Verhalten und ihre Präferenzen zu.<br />
Den Ausdruck “Verhaltensspuren” kann man als Oberbegriff für <strong>die</strong><br />
Erfassung und Auswertung von prozessproduzierten Daten und<br />
Dokumenten auffassen.<br />
Beispiele für <strong>die</strong> Analyse von Verhaltensspuren betreffen u.a.:<br />
◮ Pizzabestellung im Weissen Haus vor dem Golfkrieg<br />
◮ Abnutzung und Abdrücke: Lese-, Seh- und Hörgewohnheiten<br />
◮ Untersuchung von Abfällen zur Konsumfeststellung<br />
◮ Verkaufsziffern von Kondomen als Reaktion auf AIDS<br />
◮ Archivierte Daten (Sozialversicherung, Personalbüro)<br />
PD Thomas Gautschi, Ph.D. (u b ) <strong>Empirische</strong> <strong>Sozialforschung</strong> 08. Mai 2009 21 / 26
Beobachtungen und nicht–reaktive Verfahren Nicht–reaktive Verfahren<br />
Prozessproduzierte Daten und ihre Probleme<br />
Prozessproduzierte Daten: Daten <strong>die</strong> im Rahmen sozialer (<strong>in</strong>sbe-<br />
sondere bürokratischer) Prozesse automatisch ohne E<strong>in</strong>griff (Planung,<br />
Messung etc.) des Forschers erhoben werden.<br />
Problem: Datenerhebung wird nicht durch den Forscher durchgeführt.<br />
◮ Reliabilität: Zuverlässigkeit der Buchführung oder Personalkarteien.<br />
◮ Validität: Wie aussagekräftig ist z.B. <strong>die</strong> Steuerklasse für <strong>die</strong><br />
Familiensituation? Hat<br />
◮ Zugänglichkeit: Prozessproduzierte Daten s<strong>in</strong>d häufig geschützt.<br />
◮ Informationsbeschränkung: Meist enthalten prozessproduzierte Daten<br />
nur wenige Informationen<br />
PD Thomas Gautschi, Ph.D. (u b ) <strong>Empirische</strong> <strong>Sozialforschung</strong> 08. Mai 2009 22 / 26
Beobachtungen und nicht–reaktive Verfahren Probleme nicht–reaktiver Methoden<br />
Probleme nicht–reaktiver Methoden I<br />
Nicht–Reaktivität ist e<strong>in</strong>e wünschenswerte Eigenschaft, dennoch<br />
ergeben sich aber auch Probleme.<br />
Aufgrund der Heterogenität nicht–reaktiver Methoden stellen sich für<br />
jedes Verfahren etwas anders dar.<br />
Beispiele für potentielle Schwierigkeiten s<strong>in</strong>d:<br />
◮ Was ist <strong>die</strong> Stichprobe (z.B. verlorene Briefe, Abfallforschung)?<br />
◮ S<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Indikatoren gültig (z.B. hat rückgesandter “verlorener” Brief<br />
etwas mit Sympathie gegenüber Adressat zu tun)?<br />
◮ Wie reliabel s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> e<strong>in</strong>zelnen Verfahren (z.B. was ist mit “Technik der<br />
verlorenen Briefe” bei Regen? Versetzt der Fund e<strong>in</strong>er Münze <strong>die</strong><br />
Person wirklich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e bessere Stimmung?)?<br />
PD Thomas Gautschi, Ph.D. (u b ) <strong>Empirische</strong> <strong>Sozialforschung</strong> 08. Mai 2009 23 / 26
Beobachtungen und nicht–reaktive Verfahren Probleme nicht–reaktiver Methoden<br />
Probleme nicht–reaktiver Methoden II<br />
◮ Wie valide s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> e<strong>in</strong>zelnen Verfahren (z.B. ist der Autotyp e<strong>in</strong> guter<br />
Indikator für Status?)?<br />
◮ Welche ethischen Probleme ergeben sich (z.B. bei Täuschungsverfahren)?<br />
Entsteht der <strong>in</strong>volvierten Person e<strong>in</strong> unzumutbarer Schaden?<br />
Generell empfiehlt sich, wenn möglich, jeweils e<strong>in</strong> Methodenmix (d.h.<br />
Komb<strong>in</strong>ation verschiedener Verfahren und ihrer jeweiligen Vorteile).<br />
PD Thomas Gautschi, Ph.D. (u b ) <strong>Empirische</strong> <strong>Sozialforschung</strong> 08. Mai 2009 24 / 26
Beobachtungen und nicht–reaktive Verfahren Probleme nicht–reaktiver Methoden<br />
Vorteile nicht–reaktiver Methoden<br />
Natürlich: ke<strong>in</strong>e Verzerrung durch Reaktivität.<br />
Hohe <strong>in</strong>terne Validität: gute Kontrollierbarkeit des Stimulus,<br />
<strong>in</strong>sbesondere, wenn e<strong>in</strong>e Randomisierung möglich ist (wie im<br />
Laborexperiment).<br />
Sehr hohe externe Validität (logisch: Realitätsnähe).<br />
PD Thomas Gautschi, Ph.D. (u b ) <strong>Empirische</strong> <strong>Sozialforschung</strong> 08. Mai 2009 25 / 26
Beobachtungen und nicht–reaktive Verfahren Probleme nicht–reaktiver Methoden<br />
Vor- und Nachteile der e<strong>in</strong>zelnen Methoden<br />
teilnehmend nicht–teiln. offen verdeckt Feld Labor<br />
Gleichzeitigkeit − + +<br />
Nicht–Reaktivität + + (−)<br />
Neutralität + +<br />
Ethik + − +<br />
Kontrolle − +<br />
Manipulierbarkeit − +<br />
externe Validität + (−)<br />
Langfristigkeit + −<br />
PD Thomas Gautschi, Ph.D. (u b ) <strong>Empirische</strong> <strong>Sozialforschung</strong> 08. Mai 2009 26 / 26