Das Individuum und die Gesellschaft Lektüre: Kapitel 5. Sozialisation
Das Individuum und die Gesellschaft Lektüre: Kapitel 5. Sozialisation
Das Individuum und die Gesellschaft Lektüre: Kapitel 5. Sozialisation
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Vorlesung # 4 07.10.2009<br />
Dr. Dietmar J. Wetzel<br />
<strong>Das</strong> <strong>Individuum</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />
<strong>Lektüre</strong>: <strong>Kapitel</strong> <strong>5.</strong> <strong>Sozialisation</strong><br />
Gliederung:<br />
1. Die Frage nach <strong>Individuum</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />
1.1 Vorbedingungen<br />
1.2 Anlage <strong>und</strong> Umwelt: Begriff der Wechselwirkungen, frühe Kindheit<br />
(auch Deprivationsstu<strong>die</strong>n)<br />
2. Zum <strong>Sozialisation</strong>sbegriff (1)<br />
2.1 Erste Definitionen (von Geulen/Hurrelmann u. a.)<br />
2.2 <strong>Sozialisation</strong>sinstanzen<br />
3. Drei klassische <strong>Sozialisation</strong>stheorien: Freud, Mead <strong>und</strong> Piaget<br />
3.1 Sigm<strong>und</strong> Freud (1856-1939): Die innere Dynamik der <strong>Sozialisation</strong> <strong>und</strong><br />
<strong>Sozialisation</strong> als lebenslanger Kampf<br />
3.2 George H. Mead (1863-1931): <strong>Das</strong> soziale Selbst<br />
3.3 Jean Piaget (1896-1980): Aufbau kognitiver Strukturen <strong>und</strong><br />
Moralentwicklung<br />
4. Der <strong>Sozialisation</strong>sbegriff (2)<br />
4.1 Zwei Seiten der <strong>Sozialisation</strong><br />
4.2 Funktionen der <strong>Sozialisation</strong><br />
<strong>5.</strong> <strong>Sozialisation</strong> im Erwachsenenalter <strong>und</strong> im sozialen Wandel<br />
<strong>5.</strong>1 Primärsozialisation<br />
<strong>5.</strong>2 Sek<strong>und</strong>ärsozialisation<br />
<strong>5.</strong>3 Tertiärsozialisation<br />
<strong>5.</strong>4 „Lebenslange <strong>Sozialisation</strong>“<br />
6. Faktoren der <strong>Sozialisation</strong>: Beispiele Geschlecht <strong>und</strong> Schicht<br />
6.1 Geschlechtszugehörigkeit <strong>und</strong> Moral;<br />
Debatte über so. männliche <strong>und</strong> weibliche Moral (C. Gilligan)<br />
6.2 Effekte schichtspezifischer <strong>Sozialisation</strong><br />
Soziale Herkunft <strong>und</strong> Top-Manager (M. Hartmann)<br />
1
1. Die Frage nach <strong>Individuum</strong> <strong>und</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />
1.1 Vorbedingungen<br />
- Formbarkeit des Menschen<br />
- „Weltoffenheit“<br />
- zweite „sozio-kulturelle“ Geburt des Menschen<br />
1.2 Anlage <strong>und</strong> Umwelt<br />
1. Die Anlagetheoretiker: sie betonen den genetisch-biologisch bestimmten<br />
Anteil, der den Menschen in vielerlei Hinsicht festlegen würde. Der Umwelt wird<br />
entsprechend weniger Einfluss eingeräumt.<br />
- Soziobiologie/Evolutionstheorie<br />
2. Die Umwelttheoretiker: der Anteil der Umwelt wird hier ungleich höher<br />
eingeschätzt, man verweist gerne auf <strong>die</strong> große Variabilität menschlichen<br />
Verhaltens in verschiedenen Kulturen <strong>und</strong> Epochen.<br />
- Entscheidend: Der gesamte <strong>Sozialisation</strong>s- respektive Entwicklungsprozess<br />
kommt durch komplexe Wechselwirkungen zwischen einer Vielzahl<br />
organischer – <strong>und</strong> eben auch genetischer – Bedingungen mit Bedingungen<br />
der sozialen Umwelt über einen längeren Zeitraum zustande.<br />
Die frühe Kindheit<br />
- Betonung der frühen Kindheit (Psychoanalyse)<br />
- Deprivationsstu<strong>die</strong>n: <strong>Das</strong>s ein Mangel an sozialen Anregungen von Seiten<br />
der Umwelt zu schweren Störungen führen können, zeigen <strong>die</strong> so genannten<br />
Deprivationsstu<strong>die</strong>n von René Spitz (Psychoanalytiker); psychoanalytische<br />
Säuglingsforschung<br />
2. Zum <strong>Sozialisation</strong>sbegriff (1)<br />
2.1 Erste Definitionen:<br />
<strong>Sozialisation</strong> ist „der Prozess der Entstehung <strong>und</strong> Entwicklung der Persönlichkeit<br />
in wechselseitiger Abhängigkeit von der gesellschaftlich vermittelten sozialen <strong>und</strong><br />
materiellen Umwelt“ (Dieter Geulen <strong>und</strong> Klaus Hurrelmann)<br />
„<strong>Sozialisation</strong> (aus dem Lateinischen, sociare = verbinden) ist <strong>die</strong> Anpassung an<br />
gesellschaftliche Denk- <strong>und</strong> Gefühlsmuster durch Internalisierung von Normen.<br />
2
Sie bezeichnet zum einen <strong>die</strong> Entwicklung der Persönlichkeit aufgr<strong>und</strong> ihrer<br />
Interaktion mit einer spezifischen, materiellen <strong>und</strong> sozialen Umwelt, zum anderen<br />
<strong>die</strong> sozialen Bindungen von Individuen, <strong>die</strong> sich im Zuge sozialisatorischer<br />
Beziehungen konstituieren. Sie umfasst sowohl <strong>die</strong> absichtsvollen <strong>und</strong> planvollen<br />
Maßnahmen (=Erziehung) als auch <strong>die</strong> unabsichtlichen Einwirkungen auf <strong>die</strong><br />
Persönlichkeit.“<br />
Erziehung:<br />
„ein intentionales, zielgerichtetes <strong>und</strong> geplantes Handeln von in der Regel<br />
professionellem <strong>und</strong> entsprechend ausgebildetem Personal (Erzieher, Lehrer) in<br />
einem eigens dazu eingerichteten institutionellen Kontext (z.B. Kindergarten,<br />
Heim, Schule etc.)“ (Geulen 2007: 142).<br />
2.2 <strong>Sozialisation</strong>sinstanzen<br />
Die Familie<br />
- Noch immer <strong>die</strong> primäre <strong>Sozialisation</strong>sinstanz in der Kindheit<br />
- Die Familie, idealerweise beide Elternteile, führen das Kind in intime <strong>und</strong><br />
persönliche Beziehungen ein <strong>und</strong> vermittelt ihm seine ersten Erfahrungen als<br />
besonderes <strong>Individuum</strong> (Beispiel <strong>und</strong> Diskussion, Ende der Familie?)<br />
- Familie eingebettet in ein gesellschaftliches Bezugssystem, also nicht isoliert<br />
zu betrachten ist, anders gesagt: „Die Familie führt <strong>die</strong> Kinder in <strong>die</strong><br />
<strong>Gesellschaft</strong> ein <strong>und</strong> „verortet“ sie auf der sozialen Landkarte“ (Geulen 2007:<br />
151).<br />
Die Gleichaltrigen (peers)<br />
- In den so genannten Peer-groups (Gruppen Gleichaltriger) sammeln Kinder<br />
ihre ersten Erfahrungen im Umgang mit gleichberechtigten Beziehungen<br />
- Diese Gruppen geben einen idealen Rahmen für das Erlernen der Normen<br />
des Miteinander-Teilens <strong>und</strong> der Reziprozität (Gegenseitigkeit) ab (Beispiel<br />
zur Reziprozitätsnorm)<br />
Die Massenme<strong>die</strong>n<br />
- Unter Massenme<strong>die</strong>n fallen ganz unterschiedliche Kommunikationsformen<br />
<strong>und</strong> –mittel: Radio, Fernsehen, Bücher, Zeitungen <strong>und</strong> natürlich PC <strong>und</strong><br />
Internet.<br />
- Rolle des Fernsehens<br />
- Kommentar zu den kulturkritischen Arbeiten von Neil Postman<br />
3
Die Schule<br />
- Schule ist nicht nur eine Erziehungs-, sondern eben auch eine<br />
<strong>Sozialisation</strong>sinstanz.<br />
• Der Ausdruck „heimlicher Lehrplan“ wurde in den späten 1960er Jahren<br />
geprägt, wahrscheinlich durch Übernahme des englischen Ausdrucks „hidden<br />
curriculum“, der angeblich von Philip W. Jackson („Life In Classrooms“, 1968)<br />
eingeführt wurde.<br />
• Die Schule führt – neben dem offiziellen Lehrplan – in unpersönliche,<br />
bürokratische Organisationen ein, <strong>die</strong> nach ganz bestimmten Prinzipien im<br />
allgemeinen funktionieren: nämlich Disziplin <strong>und</strong> Konformität (Beispiel)<br />
• Literaturtipp<br />
3. Drei klassische <strong>Sozialisation</strong>stheorien: Piaget, Freud <strong>und</strong> Piaget<br />
Jean Piaget (1896-1980): Aufbau kognitiver Strukturen<br />
• <strong>Das</strong> Kind verinnerlicht in der tätigen Auseinandersetzung mit den in seiner<br />
Umwelt vorgef<strong>und</strong>enen Gegenständen <strong>und</strong> Personen seine Erfahrungen <strong>und</strong> baut<br />
dabei ein System von Begriffen <strong>und</strong> Denkoperationen auf.<br />
• Diese bilden <strong>die</strong> kognitive Gr<strong>und</strong>lage der Handlungsorientierung<br />
• Im Zentrum der Piagetschen Theorie stehen dabei zwei komplementäre<br />
funktionale Prozesse: Assimilation auf der einen <strong>und</strong> Akkommodation auf der<br />
anderen Seite.<br />
• <strong>Das</strong> Kind begreift von seinem jeweiligen Entwicklungsstand <strong>die</strong> Eindrücke aus<br />
seiner Umwelt nur zum Teil: ein Angleichungsprozess läuft ab: Assimilation.<br />
• Durch eben <strong>die</strong>se Diskrepanz wird das Kind angeregt, sein Begriffssystem der<br />
Umwelt genauer anzupassen: Akkomodation: <strong>die</strong> wahrgenommene Realität wird<br />
den vorhandenen kognitiven Strukturen angepasst.<br />
• Beispiel, das gerne zitiert wird, ist der Greifakt des Kindes in den frühen Sta<strong>die</strong>n: das<br />
Kind kommt mit einem Greifreflex zur Welt. Ein Gegenstand, der anfangs durch Zufall<br />
berührt <strong>und</strong> dann "automatisch" ergriffen wird, wird sozusagen an den Greifakt<br />
assimiliert. Der Gegenstand bildet für das Kind "etwas Greifbares". Er existiert für das<br />
Kind zu <strong>die</strong>sem Zeitpunkt nur als solcher, also quasi als "Greifobjekt" <strong>und</strong> noch nicht als<br />
Objekt im geläufigen Sinne mit all seinen sensorisch erfassbaren Eigenschaften (siehe<br />
Objektpermanenz).<br />
• Die Assimilationsbewegung wird an <strong>die</strong>sem Objekt nun immer wieder "geübt". Der<br />
Gegenstand bildet "Nahrung" für das Greifschema. <strong>Das</strong> Kind begegnet natürlich anderen<br />
Gegenständen. Diese werden ebenso an das Schema assimiliert. Dennoch kann nun<br />
nicht mehr <strong>die</strong>selbe Greifaktion ausgeführt werden. Ein Spielzeugauto muss anders<br />
gegriffen werden, als eine Rassel. Noch prägnanter wird das Beispiel mit dem Versuch<br />
eines Kleinkindes, Wasser zu greifen. <strong>Das</strong> ausgebildete Greifschema muss dem neuen<br />
Gegenstand angepasst, also akkommo<strong>die</strong>rt werden, im Falle des Wassers resultiert<br />
4
eine Schöpfbewegung. Die Inkorporation von einer Reihe von Gegenständen nennt<br />
Piaget generalisierende Assimilation.<br />
Vier Phasen<br />
1. Sensumotorisches Stadium (0-3 Jahre) – Erwerb von sensumotorischer<br />
Koordination, praktischer Intelligenz <strong>und</strong> Objektpermanenz; ohne interne<br />
Repräsentation: erste Steuerung gelingt durch Training<br />
2. Präoperationales Stadium (2-7 Jahre) – Erwerb des Vorstellungs- <strong>und</strong><br />
Sprechvermögens; gekennzeichnet durch Realismus <strong>und</strong> Animismus<br />
(zusammenfassend: Egozentrismus); Regeln werden nunmehr befolgt, damit<br />
es u. a. auch zur Bedürfnisbefriedigung kommt<br />
3. Konkretoperationales Stadium (7-11 Jahre) – Erwerb von<br />
Dezentrierungsfähigkeit, Reversibilität, auch kooperative Phase: Die Regeln<br />
werden mittels Einsicht befolgt, weil sie gerechtfertigt werden können;<br />
4. Formaloperationales Stadium (ab 12 Jahre) – Erwerb der Fähigkeit zum<br />
logischen Denken; der Heranwachsende kann nicht nur über konkrete Dinge,<br />
sondern auch über Gedanken nachdenken.<br />
Sigm<strong>und</strong> Freud (1856-1939): Die innere Dynamik der <strong>Sozialisation</strong> <strong>und</strong><br />
<strong>Sozialisation</strong> als lebenslanger Kampf<br />
• In der ersten Topik unterschied Freud das „Bewusste“ vom größeren <strong>und</strong><br />
einflussreicheren „Unbewussten“ <strong>und</strong> legte dar, wie das Unbewusste das<br />
Bewusstsein beeinflusst. In der zweiten Topik, <strong>die</strong> er vor allem in seiner Schrift<br />
<strong>Das</strong> Ich <strong>und</strong> das Es (1923) entwickelte, beschrieb Freud erstmals seine Theorie<br />
über das Es, das Ich <strong>und</strong> das Über-Ich<br />
• Nach Freud gibt es hauptsächlich drei Kräfte in der Seele des Menschen:<br />
• <strong>Das</strong> so genannte Instanzenmodell oder <strong>die</strong> zweite Topik<br />
1. <strong>Das</strong> „Es“: ein Reservoir aus angeborenen Trieben, <strong>die</strong> nach physischem<br />
Lustgewinn streben; <strong>Das</strong> Es tritt dabei an <strong>die</strong> Stelle des Unbewussten. Es bildet<br />
das triebhafte Element der Psyche <strong>und</strong> kennt weder Negation noch Zeit oder<br />
Widerspruch. Damit bezeichnet Freud jene psychische Struktur, in der <strong>die</strong> Triebe<br />
(z. B. Essen, Sexualtrieb), Bedürfnisse <strong>und</strong> Affekte (Neid, Hass, Vertrauen, Liebe)<br />
gründen. Die Triebe, Bedürfnisse <strong>und</strong> Affekte sind auch Muster (psychische<br />
„Organe“), mittels denen wir weitgehend unwillentlich bzw. unbewusst<br />
wahrnehmen <strong>und</strong> unser Handeln leiten.<br />
2. <strong>Das</strong> „Über-Ich“: dabei handelt es sich wesentlich um das Gewissen einer Person,<br />
das <strong>die</strong> verinnerlichten Gebote beziehungsweise Verbote der Eltern <strong>und</strong> daher<br />
auch insofern <strong>die</strong> moralischen Normen der <strong>Gesellschaft</strong> verkörpert. <strong>Das</strong> Über-Ich<br />
bezeichnet jene psychische Struktur, in der <strong>die</strong> aus der erzieherischen Umwelt<br />
verinnerlichten Handlungsnormen, Ich-Ideale, Rollen <strong>und</strong> Weltbilder gründen, <strong>die</strong><br />
da wären: „Gewissen“, Moralische Instanz, Wertvorstellungen, Gebote <strong>und</strong><br />
Verbote der Eltern <strong>und</strong> subjektiv empf<strong>und</strong>ene Autoritäten <strong>die</strong>nen als Vorbild,<br />
Vorstellungen von Gut <strong>und</strong> Böse<br />
• In topischer Hinsicht der Gegenpart zum „Es“<br />
5
3. <strong>Das</strong> „Ich“ als rationaler Teil des Selbst, das auch als Vermittler zwischen Ich <strong>und</strong><br />
<strong>Gesellschaft</strong> (Über-Ich) auftritt. Hauptaufgabe ist genauer, Mittel zu finden, um<br />
das Es zu befriedigen, ohne dass das Über-Ich Schuldgefühle oder<br />
Gewissensbisse verursacht. Randgebiet des „Es“; bezeichnet jene psychische<br />
Strukturinstanz, <strong>die</strong> mittels des selbstkritischen Denkens <strong>und</strong> mittels kritischrational<br />
gesicherter Normen, Werte <strong>und</strong> Weltbild-Elementen realitätsgerecht<br />
vermittelt „zwischen den Ansprüchen des Es, des Über-Ich <strong>und</strong> der sozialen<br />
Umwelt mit dem Ziel, psychische <strong>und</strong> soziale Konflikte konstruktiv aufzulösen (=<br />
zum Verschwinden zu bringen).“<br />
• Denken, Erinnern, Fühlen, Ausführen von Willkürbewegungen; Vermittler<br />
zwischen impulsiven Wünschen des Es <strong>und</strong> dem Über-Ich; sucht nach rationalen<br />
Lösungen ist zum größten Teil bewusst<br />
• Freud geht davon aus, das <strong>die</strong> Menschen nicht mit einem Ich <strong>und</strong> einem Über-<br />
Ich ausgestattet auf <strong>die</strong> Welt kommen; dazu braucht es <strong>die</strong> Interaktion mit der<br />
sozialen Umwelt, im Kindesalter sind <strong>die</strong>s <strong>die</strong> Eltern oder Bezugspersonen mit<br />
ähnlichen Funktionen.<br />
• <strong>Das</strong> Kleinkind ist Freud zufolge ein triebgesteuertes Wesen, dass im Lauf der Zeit<br />
lernen muss, das nicht alle Triebe erfüllbar sind (vgl. später: Lust- <strong>und</strong><br />
Realitätsprinzip)<br />
• Freuds These bezüglich der Formung der Persönlichkeit ist, dass <strong>die</strong>ser<br />
Bildungsprozess davon abhängt, wie es <strong>die</strong> Konflikte zwischen den Trieben des<br />
Es <strong>und</strong> den elterlichen Forderungen löst.<br />
• Um Konflikte (<strong>und</strong> Unlustgefühle beziehungsweise Frustration) auf Dauer zu<br />
vermeiden, identifiziert sich das Kind mit den Eltern (bei Freud vermittelt durch<br />
den Ödipuskomplex mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil in puncto sexuelle<br />
Identität)<br />
• Wichtig: Freuds Einsicht, der zufolge <strong>die</strong> bei der <strong>Sozialisation</strong> ablaufenden<br />
Prozesse <strong>und</strong> <strong>die</strong> dabei entstehenden Strukturen nicht als solche im Bewusstsein<br />
des <strong>Individuum</strong>s erscheinen, sondern – <strong>und</strong> das ist eben ein bleibender Ver<strong>die</strong>nst<br />
der Psychoanalyse – unbewusst bleiben, aber dennoch das Verhalten des<br />
<strong>Individuum</strong>s entscheidend prägen.<br />
• Mittels der psychoanalytischen Therapie können solche unbewussten Prozesse in<br />
gewisser Weise dem <strong>Individuum</strong> bewusst gemacht werden. Der berühmte<br />
Ausspruch von Freud: „Wo Es war, soll Ich werden“.<br />
George H. Mead (1863-1931): Perspektivenübernahme <strong>und</strong> das soziale Selbst<br />
• Säuglinge spüren von Anfang an, dass sie bei der Bedürfnisbefriedigung auf<br />
andere angewiesen sind<br />
• Sie merken aber auch, dass ihre Handlungen einen Einfluss darauf haben, wie<br />
sich andere ihnen gegenüber verhalten<br />
• Mit Gesten <strong>und</strong> Wörtern lernen <strong>die</strong> Kinder in der frühen <strong>Sozialisation</strong><br />
gewünschtes Verhalten anderer herbeizuführen; signifikante Symbole (Sprache)<br />
• Symbole entstehen aus der Optimierung der Kooperation von Subjekten: Der<br />
heranwachsende Mensch realisiert, dass sein Verhalten der Reiz für das<br />
Verhalten anderer ist.<br />
• Durch den Gebrauch sprachlicher Symbole in der Interaktion lernen Kinder, sich<br />
in Gedanken <strong>und</strong> in <strong>die</strong> Position anderer zu versetzen <strong>und</strong> auch<br />
vorwegzunehmen, was <strong>die</strong>se von ihnen erwarten: taking the role oft he other<br />
6
• Aus der frühen Interaktion entsteht eine Struktur des Ich, <strong>die</strong> sich für Mead aus<br />
zwei Komponenten zusammensetzt: <strong>Das</strong> „I“, das „Subjekt-Ich“ <strong>und</strong> das „me“, das<br />
„Objekt-Ich“<br />
• <strong>Das</strong> Subjekt-Ich: es ist der Urheber unserer Gedanken <strong>und</strong> Handlungen<br />
• <strong>Das</strong> Objekt-Ich: Komponente, <strong>die</strong> das Subjekt-Ich <strong>und</strong> <strong>die</strong> anderen wahrnehmen,<br />
bewerten <strong>und</strong> auf <strong>die</strong> sie reagieren. Kinder verfügen über das Objekt-Ich, wenn<br />
sie es vermögen, sich selbst als Objekt der Aufmerksamkeit zu verstehen („Papa<br />
lächelt mich an“)<br />
• I <strong>und</strong> ME bilden <strong>die</strong> Einheit der Differenz des SELF (Selbst, Identität)<br />
• Im kindlichen Spiel übernehmen Kinder <strong>die</strong> Rollen von signifikanten Anderen:<br />
Mutter, <strong>die</strong> sich um ein Baby kümmert, oder der Lehrer, der eine St<strong>und</strong>e hält…<br />
• Dieses Spiel erlaubt, sich selbst aus der Perspektive einer anderen Person<br />
wahrzunehmen (als Tochter in der Rolle der Mutter…)<br />
� Reifen des Bewusstseins über das eigene Subjekt-Ich<br />
• Von der Übernahme der Perspektive spezifischer Anderer gelangt das Kind zu<br />
Perspektivenübernahmen generalisierter Anderer<br />
� <strong>Das</strong> Kind lernt, wie man im Allgemeinen eine bestimmte Handlung bewertet<br />
� Es richtet sein eigenes Verhalten an allgemeinen sozialen Erwartungen aus.<br />
• Mead interessiert auch <strong>die</strong> Frage der Identität: Die Identität bildet sich<br />
individualbiographisch durch das Durchleben des Kindes zweier Spielphasen:<br />
PLAY <strong>und</strong> GAME. In <strong>die</strong>sen lernt das Kind <strong>die</strong> Haltung anderer zu übernehmen,<br />
sein Verhalten nach deren Erwartungen abzustimmen. Zunächst im freien <strong>und</strong><br />
naiven Spiel mit sich selbst (PLAY), dann im organisierten Wettkampf mit vielen<br />
Anderen (GAME). <strong>Das</strong> Kind übt eine Selbstkontrolle auf sich aus <strong>und</strong> unterliegt<br />
damit der sozialen Kontrolle der Gemeinschaften, denen es angehört <strong>und</strong> nach<br />
denen sich <strong>die</strong> soziale Struktur der Identität (ME) ausgebildet hat. Die<br />
unterschiedlichen Ansprüche verschiedener Gruppen zu koordinieren, das heißt<br />
verschiedene verinnerlichte Gruppenhaltungen zu synthetisieren, also <strong>die</strong> Einheit<br />
der Differenz von MEs herzustellen, ist eine der Aufgaben der Identität. Aus den<br />
daraus entstehenden moralischen Konflikten entwickelt Mead seine Theorie der<br />
Ethik <strong>und</strong> des sozialen Wandels, <strong>die</strong> jedoch weit weniger beachtet wurden als<br />
seine Theorie der symbolvermittelten Kommunikation <strong>und</strong> der Entstehung von<br />
Identität <strong>und</strong> Bewusstsein.<br />
4 Der <strong>Sozialisation</strong>sbegriff (2)<br />
4.1 Zwei Seiten der <strong>Sozialisation</strong><br />
- Vergesellschaftung des/der Einzelnen<br />
- Individuierung des/der Einzelnen<br />
4.2 Funktionen der <strong>Sozialisation</strong><br />
- Handlungsfähigkeit des <strong>Individuum</strong><br />
- Integrativer Aspekt der <strong>Sozialisation</strong>: durch <strong>Sozialisation</strong> kann ein jeder von<br />
uns zum Zusammenhalt der <strong>Gesellschaft</strong>, letztlich auch zum Funktionieren der<br />
<strong>Gesellschaft</strong> beitragen (Erläuterung zum Gr<strong>und</strong>begriff der sozialen Integration)<br />
- Ausbildung zu einer unverwechselbaren Persönlichkeit<br />
7
5 <strong>Sozialisation</strong> im Erwachsenenalter <strong>und</strong> im sozialen Wandel<br />
<strong>5.</strong>1 Primärsozialisation<br />
- Die primäre <strong>Sozialisation</strong> (oder auch: Soziabilisierung) findet vor allem in<br />
der Familie - aber auch in Beziehungen zu Gleichaltrigen (wir denken an <strong>die</strong><br />
peer-groups) - statt <strong>und</strong> wird im Normalfall mit der Herausbildung einer<br />
personalen Identität des <strong>Individuum</strong>s abgeschlossen.<br />
<strong>5.</strong>2 Sek<strong>und</strong>ärsozialisation:<br />
- Schule, Eintritt ins Berufsleben<br />
- Sek<strong>und</strong>äre <strong>Sozialisation</strong> (manchmal auch: Enkulturation) bezeichnet <strong>die</strong><br />
"Menschwerdung in einer <strong>Gesellschaft</strong>", also den Prozess der<br />
Vergesellschaftung.<br />
<strong>5.</strong>3 Tertiärsozialisation<br />
• Eine weitergehende <strong>Sozialisation</strong> des/der Erwachsenen, <strong>und</strong> zwar aufgr<strong>und</strong><br />
des Eintritts <strong>und</strong> der Übernahme neuer Rollen <strong>und</strong> Funktionen<br />
- Elternschaft, neue soziale Gruppen (neuer Fre<strong>und</strong>eskreis durch Migration)<br />
- Institutionen (neue Berufserfahrungen durch einen Stellenwechsel)<br />
- Begegnung mit neuen Kulturen<br />
<strong>5.</strong>4 „Lebenslange <strong>Sozialisation</strong>“ <strong>und</strong> Konstruktion der persönlichen Identität<br />
- Die Bedeutung, aber auch <strong>die</strong> Dynamik <strong>die</strong>ser „lebenslangen <strong>Sozialisation</strong>“<br />
nimmt in modernen <strong>Gesellschaft</strong>en eher zu, <strong>und</strong> zwar als Folgen des sozialen<br />
Wandels: anders gesagt: es kommt zu Differenzierung, Pluralisierung <strong>und</strong><br />
Mobilitätserscheinungen<br />
- Somit stellt sich auch <strong>die</strong> Frage, wie sich personale Identität beziehungsweise<br />
wie sich Identitätsbildungsprozesse in modernen <strong>Gesellschaft</strong>en (aktiv)<br />
gestalten lassen.<br />
6 Faktoren der <strong>Sozialisation</strong>: Zwei Beispiele aus der Forschung: Geschlecht<br />
<strong>und</strong> Schicht<br />
6.1 Geschlechtszugehörigkeit <strong>und</strong> Moral<br />
Zur Debatte über sog. männliche <strong>und</strong> weibliche Moral<br />
- Carol Gilligan (* 1936) US-amerikanische Psychologin <strong>und</strong> feministische<br />
Ethikerin.<br />
8
- Klassiker: In A Different Voice , erstmals 1982 erschienen, auf deutsch: Die<br />
andere Stimme. Lebenskonflikte <strong>und</strong> Moral der Frau. München 1982.<br />
- Wichtigste Punkte ihrer Forschungen: Gilligan legt dar, dass <strong>die</strong><br />
Selbstwahrnehmung von Frauen stärker in den sozialen Kontext eingeb<strong>und</strong>en<br />
ist <strong>und</strong> sie deshalb in Stu<strong>die</strong>n zur Moralentwicklung, <strong>die</strong> an der Ausprägung<br />
der Autonomie orientiert sind, zwangsläufig ein durchschnittlich geringeres<br />
Niveau aufweisen als Männer.<br />
- Gilligan stellt der sog. männlichen Gerechtigkeitsmoral <strong>die</strong> sog. weibliche<br />
Fürsorgemoral gegenüber. Frauen orientieren sich nach Gilligan bei<br />
moralischen Urteilen mehr am Beziehungs-, Interaktions- <strong>und</strong><br />
Verantwortungsgefüge der in eine Problem- oder Dilemmasituation Beteiligten.<br />
- Männer orientieren sich eher an abstrakten Rechten <strong>und</strong> Pflichten. Gilligan<br />
sieht beide Moralen, <strong>die</strong> weibliche <strong>und</strong> <strong>die</strong> männliche, strukturell als<br />
gleichwertig an.<br />
- Beispiel für geschlechtsspezifische <strong>Sozialisation</strong><br />
6.2 Effekte schichtspezifischer <strong>Sozialisation</strong><br />
Soziale Herkunft <strong>und</strong> Top-Manager (Hartmann im Anschluss an Bour<strong>die</strong>u)<br />
Michael Hartmann (Jahrgang 1952):<br />
- Professor für Soziologie mit den Schwerpunkten Eliteforschung,<br />
Managementsoziologie, Industrie- <strong>und</strong> Organisationssoziologie an der<br />
Technischen Universität Darmstadt<br />
- Wichtige Publikation: „Der Mythos von den Leistungseliten“ (Frankfurt am<br />
Main 2002)<br />
Forschungen:<br />
- In seiner viel beachteten Stu<strong>die</strong> Der Mythos von den Leistungseliten belegt er<br />
mit empirischen Daten, dass <strong>die</strong> so genannte Chancengleichheit beim Zugang<br />
zu Elitepositionen in der B<strong>und</strong>esrepublik nicht existent ist. Er arbeitet den<br />
großen Einfluss heraus, den <strong>die</strong> soziale Herkunft bei der Besetzung solcher<br />
Position spielt.<br />
- Soziale Ungleichheit: Entscheidend ist der Status der Eltern (Beispiel)<br />
- Verhaltensweisen (Habitus) der Person<br />
9