1 Entstehungsgeschichte - Übersicht der Motetten - von Andreas ...
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1 <strong>Entstehungsgeschichte</strong> - <strong>Übersicht</strong> <strong>der</strong> <strong>Motetten</strong><br />
Für die Entstehung <strong>der</strong> <strong>Motetten</strong> <strong>der</strong> Geistlichen Chormusik lassen sich zwei Zeitabschnitte unterschei-<br />
den: ihr größter Teil, nämlich die ersten sieben 1 , entstand ab 1934 in Lübeck, wo Distler seit 1. Januar<br />
1931 als Organist, seit April desselben Jahres außerdem als Kantor an <strong>der</strong> St. Jakobi-Kirche wirkte.<br />
Später komponiert und dem Zyklus als Nr. 8 u. 9 hinzugefügt sind die beiden <strong>Motetten</strong> „Das ist je ge-<br />
wißlich wahr“ und „Fürwahr, er trug unsere Krankheit“, beide nach 1937 während seiner Lehrtätigkeit<br />
in Berlin entstanden und 1941 im Druck erschienen. 2 Diese beiden <strong>Motetten</strong> waren ursprünglich als<br />
Rahmenchöre für eine Johannes-Passion bestimmt, <strong>der</strong>en Komposition Distler aber nicht weiter verfolgt<br />
hat. Die beiden <strong>Motetten</strong> „Ich wollt, daß ich daheime wär“ und „In <strong>der</strong> Welt habt ihr Angst“ komponier-<br />
te Distler aus persönlichen Anlässen (letztere beim Tod seiner Schwiegermutter).<br />
Die Bedingungen, die Distler in Lübeck vorfand, waren für die Komposition vokaler Kirchenmusik her-<br />
vorragend. Seine Intention, Kirchenmusik mit ausschließlich liturgischer Bestimmung zu schreiben, fiel<br />
sowohl bei Axel Werner Kühl (seit 1928 Pastor an St. Jakobi) als auch bei Bruno Grusnick (Leiter des<br />
„Lübecker Sing- und Spielkreises“) auf fruchtbaren Boden. Beide waren als Michaelsbrü<strong>der</strong> Verfechter<br />
<strong>der</strong> Liturgischen Erneuerungsbewegung, die sich <strong>von</strong> <strong>der</strong> Kirchenmusik <strong>der</strong> Romantik (autonome<br />
Kunstwerke, gefühlsbetont) distanzierte und für eine Musik im Dienst <strong>der</strong> Kirche einsetzte. Der Kom-<br />
ponist hatte sich nach den Vorstellungen <strong>der</strong> Bewegung den For<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Kirche unterzuordnen und<br />
die Musik in den Dienst <strong>von</strong> Verkündigung und Anbetung zu stellen. „Jede geregelte Kirchenmusik<br />
setzt ... liturgische Ordnung voraus ...“ 3 .<br />
Des weiteren ermöglichte <strong>der</strong> 1929 durch Bruno Grusnick gegründete „Lübecker Sing- und Spielkreis“<br />
Distler die Aufführung seiner Werke unmittelbar nach ihrer Entstehung und somit eine wertvolle Kon-<br />
trollmöglichkeit mit einem Chor als Klangkörper.<br />
So entstand über Jahre hinweg eine erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen Distler als Komponist,<br />
Grusnick als Chorleiter und Kühl als Pastor. 4<br />
Entsprechend dem liturgischen Bestimmungsort <strong>der</strong> <strong>Motetten</strong> in den Musikalischen Vespern entstanden<br />
zwei unterschiedliche <strong>Motetten</strong>formen: die Schriftwort-Motette als „Verkündigung und musikalische<br />
Auslegung des Schriftwortes“ 5 (statt einer Lesung) und die Choralmotette (meist nach einer Lesung).<br />
1<br />
Vgl. <strong>Übersicht</strong> S. 3<br />
2<br />
Ursula Rauchhaupt: Die vokale Kirchenmusik Hugo Distlers, S. 135<br />
3<br />
Ebd. S. 23<br />
4<br />
Grusnick selbst lobt diese Zusammenarbeit in seiner Schrift „Hugo Distler“, dort S. 8.<br />
5<br />
U. Rauchhaupt: Die vokale Kirchenmusik Hugo Distlers, S. 67<br />
1
Eine formale Ausnahme stellt hierbei <strong>der</strong> „Totentanz“ dar, bei dem neben die kurzen Spruchvertonungen<br />
auch gesprochene Dialoge und Flötenvariationen treten. 6<br />
Daß Hugo Distler seine Sammlung mit „Geistliche Chormusik“ betitelt, ist deutliches Zeichen dafür,<br />
wie sehr Heinrich Schütz für diese <strong>Motetten</strong> - letztlich für sein gesamtes geistliches Vokalwerk - Vor-<br />
bildcharakter hat, sicher nicht zuletzt wegen <strong>der</strong> ausschließlichen Ausrichtung <strong>der</strong> Musik auf den Got-<br />
tesdienst.<br />
Es folgt eine tabellarische <strong>Übersicht</strong>, die über Bestimmung, Quelle des Textes, Gattung, Form und Be-<br />
setzung <strong>der</strong> einzelnen <strong>Motetten</strong> Auskunft gibt.<br />
6 Eine ausführliche Betrachtung <strong>der</strong> Zusammenhänge zwischen den liturgischen Ordnungen an St. Jakobi, den<br />
aufführungspraktischen Möglichkeiten sowie <strong>der</strong> Liturgischen Bewegung findet sich ebd. (1. Kapitel).<br />
2
Abbildung 1: Tabellarische <strong>Übersicht</strong> <strong>der</strong> <strong>Motetten</strong> <strong>der</strong> Geistlichen Chormusik Hugo Distlers<br />
3
2 Typische stilistische Merkmale <strong>der</strong> Vokalmusik Hugo Distlers<br />
2.1 Melodik<br />
2.1.1 Pentatonik und daraus resultierende Intervallstruktur<br />
Für die <strong>Motetten</strong> <strong>der</strong> Geistlichen Chormusik, wie für fast alle Vokalmusik Distlers, ist die Pentatonik<br />
stilbildend. Am häufigsten findet sie sich in den ausgedehnten Melismen: 7<br />
Bsp. 1: "Singet frisch..."; Teil I, T. 128ff. Sopran<br />
Bsp. 2: "Wachet auf..."; Teil I, T. 74f. Sopran+Alt<br />
4<br />
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Am Beispiel <strong>der</strong> Motette „Singet dem Herrn ein neues Lied“ wird deutlich, wie wirkungsvoll Distler<br />
die Pentatonik zur Motivgestaltung ausnützt:<br />
Das erstmals im Sopran auftauchende Motiv „Singet dem Herrn“ (T. 4/5; siehe Notenbsp. 6) scheint<br />
durch die Dreiklangstöne f’’, d’’ und b’ sowie durch das diatonische c’’ eindeutig auf B-Dur hinzudeu-<br />
ten, mit dem g’ in T. 5 läßt sich das Motiv aber genauso pentatonisch definieren (pentatonische Skala<br />
auf b). Damit wird auch die bewußte Vermeidung des Tones es’’ als 4. Stufe in diesem Motiv verständ-<br />
lich (bei dem hieraus abgeleiteten Motiv in Teil II, T. 19ff. findet sich eben diese 4. Stufe, wodurch es<br />
klar in die Dur-Melodik einzuordnen ist). Hier gelingt Distler also die zweifache Einordnungsmöglich-<br />
keit nur eines Motivs. Ähnlich verhält es sich mit dem Anfangsmelisma <strong>der</strong> Männerstimmen in T. 1/2.<br />
Zunächst besteht eine nach e-Moll tendierende Melodik, durch den Beginn auf g allerdings mit schwe-<br />
bendem Charakter. Vor <strong>der</strong> enharmonischen Umdeutung in T. 3 wird sie durch das d auch pentatonisch<br />
erklärbar.<br />
7 Auf die Pentatonik in Melismen weißt auch Dirk Lemmermann hin: Studien zum weltl. Vokalwerk H.D., dort<br />
S. 116
Die Melismen in Alt und Tenor in den Takten 34/35 ergänzen sich zu den beiden pentatonischen Skalen<br />
auf e (ohne das dis’ im Tenor) und h (ohne das e’ im Alt), gleichzeitig sind beide Stimmen für sich allei-<br />
ne genommen auch als E- bzw. H-Dur zu deuten, da ihre Intervallstruktur dem Sopranmotiv des An-<br />
fangs (s.o.) entspricht. Der Schlußakkord hingegen enthält nun deutlich alle Töne <strong>der</strong> pentatonischen<br />
Skala auf e, wobei Grundton und Quinte durch ihre Verdopplung diese Zuordnung noch verstärken.<br />
Obwohl die Teile II und III deutlich stärker die Dur-Moll-Melodik betonen, kehren sie an den jeweiligen<br />
Schlüssen (Teil II: T. 45/4-54; Teil III: T. 46/3-55 ein Halbton tiefer) in Sopran und Alt zur Pentatonik<br />
zurück (Skala auf b bzw. a), jeweils nur am Schluß zugunsten eines Dur-Akkordes aufgegeben.<br />
Ein Beispiel für die <strong>von</strong> Friedrich Neumann so bezeichneten „pentatonischen Parallelen“ 8 findet sich in<br />
Sopran u. Alt in T. 9-11 (Teil I).<br />
Im Totentanz sind in den verschiedenen Spruchvertonungen insgesamt 16 Motive auf einer pentatoni-<br />
schen Skala aufgebaut. 9<br />
Betrachtet man die Intervallhäufigkeit in einer pentatonischen Tonleiter 10 , ergibt sich folgendes Bild:<br />
kl. Sekunde - Quinte 4 x<br />
gr. Sekunde 3 x kl. Sexte 1 x<br />
kl. Terz 2 x gr. Sexte 2 x<br />
gr. Terz 1 x kl. Septime 3 x<br />
Quarte 4 x gr. Septime -<br />
Abbildung 2: Intervallhäufigkeit in einer pentatonischen Tonleiter<br />
Am häufigsten finden sich Quinte und Quarte, die Distler nicht nur als Intervalle (so ist z.B. die Quar-<br />
te ein formbildendes Intervall in <strong>der</strong> Motette „Singet dem Herrn...“), son<strong>der</strong>n auch melodisch (z.B. Me-<br />
lismen in Quint- bzw. Quartparallelen; s.o.) und harmonisch (Akkorde, die sich aus <strong>der</strong> Schichtung <strong>von</strong><br />
Quinten und Quarten ergeben; vgl. „Singet dem Herrn...“; Teil III, T. 1-5) verwendet.<br />
Auffällig ist die Häufigkeit <strong>der</strong> kleinen Septime. Dieses Intervall durchzieht auch die <strong>Motetten</strong> <strong>der</strong><br />
Geistlichen Chormusik, wobei es meist durch die Zuordnung zu einer „solistischen“ Stimme 11 sehr deut-<br />
lich zur Geltung kommt.<br />
8 Ebd. S. 117<br />
9 Vgl. Anhang 1: Aufstellung <strong>der</strong> Motive des Totentanzes<br />
10 Vgl. Anhang 2: Intervallkonstellationen bei pentatonischen Skalen<br />
11 z.B. Außenstimme o<strong>der</strong> rhythmisch hervorgehobene Stimme im homophonen Satz<br />
5
Bsp. 3: Totentanz; 1. Spruch, T. 18/19 Sopran<br />
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Bsp. 4: "Ich wollt, daß ich daheime wär"; T. 19 Baß<br />
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Bsp. 5: "Fürwahr..."; T. 6/7 Alt<br />
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Oft findet sich auch <strong>der</strong> Ambitus einer kleinen Septime für einen größeren motivischen Zusammenhang:<br />
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Bsp. 6: "Singet dem Herrn..."; Teil I; T. 4/5 Sopran<br />
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Bsp. 7: "Wachet auf..."; Teil III, T. 24/25 Sopran<br />
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Die kleine Sekunde in ihrer Funktion als Leitton vermeidet Distler (z.B. Totentanz; 3. Spruch, T. 11/12<br />
im Alt: a g a als Kadenz-Oberstimme nach A-Dur). Erst in <strong>der</strong> Motette „Fürwahr, er trug unsere<br />
Krankheit“ erhält die kleine Sekunde eine leitmotivische Funktion 12 . Auch die Chromatik als Aneinan-<br />
<strong>der</strong>reihung <strong>von</strong> kleinen Sekunden taucht erst in den beiden späten <strong>Motetten</strong> auf, dort aber dann als wich-<br />
tiges formbildendes Element.<br />
Der Tritonus, ebenfalls nicht in <strong>der</strong> Pentatonik enthalten, findet sich in den frühen <strong>Motetten</strong> selten.<br />
Meist tritt er als unbetonte Wechselnote bei einem kleinen Sekundschritt abwärts auf:<br />
12 Siehe S. 8f.
Bsp. 8: Totentanz; 9. Spruch, T. 14/15 Baß<br />
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Entsprechend findet er sich im 1. Spruch im Sopran T. 12/13.<br />
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Anhand dieser Beispiele wird deutlich, wie sehr die Melodiebildung und die Intervallstruktur bei Distler<br />
mit <strong>der</strong> Pentatonik verknüpft ist. Aber auch die nicht pentatonischen Motive zeigen die sensible und sehr<br />
bewußte Verwendung <strong>der</strong> Intervalle.<br />
2.1.2 Intervalle als formbildende Elemente<br />
Von ihrer Einordnung in die Pentatonik abgesehen spielen bestimmte Intervalle in den <strong>Motetten</strong> <strong>der</strong><br />
Geistlichen Chormusik eine wichtige formbildende Rolle, indem sie quasi leitmotivisch wie<strong>der</strong>kehren.<br />
Wie bereits oben erwähnt, spielt die Quarte in <strong>der</strong> Motette „Singet dem Herrn...“ eine wichtige Rolle.<br />
Entwickelt aus dem 1. Motiv, kehrt sie in verschiedenen Zusammenhängen wie<strong>der</strong>:<br />
Bsp. 9: "Singet dem Herrn..."; Teil I, T. 5-7 Alt<br />
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Bsp. 10: ebd.; Teil II, T. 1/2 Baß<br />
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Bsp. 11: ebd.; Teil II, T. 14-16 Sopran (auch Unterstimmen !)<br />
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7
Bsp. 12: ebd.; Teil III, T. 12/13 Baß<br />
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Im Totentanz spielt die Terz (meist kleine Terz) eine wichtige Rolle 13 . Die Sprüche 1, 4, 7, 10, 12 und<br />
14 beginnen unmittelbar o<strong>der</strong> nach (z.T. mehrmaliger) Wie<strong>der</strong>holung des Anfangstones mit einer fallen-<br />
den Terz. Die Sprüche 2 und 3 fügen vor die fallende Terz noch einen großen Sekundschritt ein. In den<br />
Sprüchen 5, 6, 8 und 13 findet man einen Terzsprung nach oben. Nur die Sprüche 9 und 11 weichen<br />
vom Terzbeginn ab, in beiden ist aber zu späteren Zeitpunkten ein klar erkennbares Terzmotiv zu finden<br />
(9. Spruch: Sopran T. 2/3; 11. Spruch: Sopran T. 6/7). Die Aufstellung <strong>der</strong> Motive des Totentanzes 14<br />
macht außerdem deutlich, wie die Terz bei weiteren Motiven in den Sprüchen formbildend ist.<br />
Die kleine Sekunde als das Intervall, das in <strong>der</strong> Pentatonik nicht vorkommt, bestimmt die Motivgestal-<br />
tung <strong>der</strong> Motette „Fürwahr, er trug unsere Krankheit“, hier entwickelt aus <strong>der</strong> Urgestalt zu Beginn:<br />
Bsp. 13: "Fürwahr..."; T. 1 Alt (Urgestalt)<br />
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Bsp.<br />
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14: ebd.; T. 19/20 Alt<br />
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Bsp. 15: ebd.; Fugenthema T. 66/67 Sopran<br />
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8<br />
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13 Vgl. Dirk Lemmermann: Studien zum weltlichen Vokalwerk H.D.; S. 108ff.<br />
14 Vgl. Anhang 1
Bsp. 16: ebd.; T. 23 Sopran<br />
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Bsp. 17: ebd.; T. 22/23 Baß<br />
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Das Anfangsmotiv des Altes wird in den an<strong>der</strong>en Stimmen wie<strong>der</strong>holt, so daß in den ersten 6 Takten nur<br />
kleine Sekunden als Intervalle vorkommen. In den Takten 45-48 (und den entsprechenden Parallelstel-<br />
len) sequenzieren Sopran, Alt und Baß dieses Motiv (rhythmisch umgekehrt), nur im Tenor ist zur har-<br />
monischen Vervollständigung <strong>der</strong> Akkorde ein Terzsprung notwendig. Zuletzt läßt sich auch die Chro-<br />
matik am Schluß des Fugenthemas (Sopran T. 71-73) als Variation dieses Anfangsmotives erklären. 15<br />
2.1.3 Musikalische Rhetorik<br />
Wurden die verschiedenen Intervalle bisher nur als musikalisch absolute Gebilde untersucht, so soll nun<br />
anhand einiger Beispiele gezeigt werden, wie Distler melodische Elemente im Sinne musikalischer Rhe-<br />
torik als Mittel zur Textausdeutung einsetzt.<br />
Den in Notenbsp. 5 gezeigten kleinen Septimsprung verwendet Distler auf den Text „...er trug unsere<br />
Krankheit“; seine rhetorische Wirkung wird in diesem Zusammenhang noch verstärkt durch die 1/4-<br />
Pause in den an<strong>der</strong>en Stimmen. Noch eindrücklicher ist die vermin<strong>der</strong>te Septime im Fugenthema <strong>der</strong>sel-<br />
ben Motette auf den Text „Aber um unsere Missetat willen...“ (Sopran T. 66ff.). In <strong>der</strong> Motette „In <strong>der</strong><br />
Welt habt ihr Angst“ findet sich im Baß zweimal <strong>der</strong> Tritonus b-e (T. 1 u. 2), gleichzeitig in T. 1 <strong>der</strong><br />
Tritonus es’-a’ im Alt. Beide machen die Angst und Unsicherheit des Menschen in <strong>der</strong> Welt musikalisch<br />
faßbar. In <strong>der</strong> barocken Figurenlehre würde man in diesen Fällen <strong>von</strong> Saltus duriusculus sprechen. 16<br />
15<br />
Eine ausführliche motivisch-thematische Analyse <strong>der</strong> Motette findet sich im 3. Kapitel dieser Arbeit (siehe S.<br />
32ff.)<br />
16<br />
Inwieweit eine Deutung mit Hilfe <strong>der</strong> barocken Figurenlehre bei Distler legitimiert ist, sei dahingestellt. Die<br />
Termini dienen in diesem Fall als Symbole für typische Wendungen, die sich über die Jahrhun<strong>der</strong>te erhalten<br />
haben.<br />
9
In <strong>der</strong> Motette „Fürwahr, er trug unsere Krankheit“ fällt <strong>der</strong> häufige Einsatz <strong>der</strong> Chromatik auf. Im<br />
bereits oben erwähnten Fugenthema T. 66ff. steigt <strong>der</strong> Sopran ab T. 70 chromatisch (mit Zwischentö-<br />
nen) eine Quarte abwärts, zur Darstellung des Textes „...ward er verwundet“. Rhetorisch ließe sich dies<br />
als Passus duriusculus beschreiben, gleichzeitig erinnert es durch den chromatisch durchlaufenen Ton-<br />
raum einer Quarte abwärts an die Lamento-Bässe des Barockzeitalters.<br />
Tonwie<strong>der</strong>holungen über lange Strecken benutzt Distler im letzten Spruch des Totentanzes zur<br />
Darstellung <strong>der</strong> „Ewigkeit“ (z.B. T. 1-9 Sopran).<br />
Quarten und Quinten haben häufig Signalcharakter, so z.B. am Anfang <strong>der</strong> Motette „Wachet auf...“<br />
(T. 1-8) o<strong>der</strong> im 11. Spruch des Totentanzes („Auf, auf!“; T. 1-6).<br />
Einige <strong>der</strong> zahlreichen Melismen könnte man im Sinne <strong>der</strong> Gregorianik als Jubilus bezeichnen, so z.B.<br />
das Melisma auf den Text „...des jauchzen wir“ („Wachet auf“; Teil III, T. 36-39 Sopran), das sich<br />
über 4 Takte erstreckt. 17<br />
Ebenfalls ein Ausdruck spielerischer Freude sind die geworfenen Intervalle, wie z.B. beim Wort<br />
„wohlauf“ (vgl. Notenbsp. 2) o<strong>der</strong> bei „singet“ (Motette „Singet dem Herrn...“; Teil II, T. 48ff. Sopran<br />
u. Alt; entsprechend an <strong>der</strong> Parallelstelle in Teil III).<br />
2.1.4 Melismen<br />
Melismen spielen in <strong>der</strong> Gestaltung <strong>der</strong> Melodik bei Distler eine entscheidende Rolle. Meist dienen sie<br />
<strong>der</strong> Ausdeutung eines Wortes, treten dazu aber in verschiedenen Arten auf:<br />
• einstimmige Melismen („Singet dem Herrn...“; Teil II, T. 10-12 Sopran)<br />
• einstimmige Melismen im unisono (ebd. Teil I; T. 1/2 und Parallelstellen in Tenor/Baß)<br />
• zweistimmige Melismen; meist in Quart- o<strong>der</strong> Quintparallelen (ebd. Teil II, T. 47-55 Sopran/Alt)<br />
• mehrstimmige, parallel laufende Melismen (ebd. Teil III, T. 6-8 in Sopran I/II/Alt)<br />
• mehrstimmige, gegenläufige Melismen (ebd. Teil III, T. 1-4)<br />
An wenigen Stellen gleichen die Melismen mehr einer Oberstimme mit instrumentalem Charakter als<br />
einer Gesangsstimme:<br />
• Totentanz; 1. Spruch, T. 19-21 Sopran über liegen<strong>der</strong> Bordunquinte<br />
• „Ich wollt, daß ich daheime wär“; T. 7-9 Sopran als Oberstimme zum c.f.<br />
Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Vergleich mit den Flötenvariationen 8 und 11 des Toten-<br />
tanzes (Melodiebildung und rhythmische Struktur).<br />
17 Vgl. z.B. auch das enthusiastische 3-stg. Melisma am Ende des Chores „Ehre sei Gott in <strong>der</strong> Höhe“ in <strong>der</strong><br />
„Weihnachtsgeschichte“ op. 10.<br />
10
2.2 Satztechnik<br />
2.2.1 Satzbeginn<br />
Betrachtet man die einzelnen <strong>Motetten</strong> <strong>der</strong> Geistlichen Chormusik hinsichtlich ihres Satzbeginnes, bilden<br />
sich typische Einsatzfolgen 18 heraus:<br />
1. Sehr häufig ist <strong>der</strong> einstimmige Beginn, auch wenn es sich oft nur um wenige Töne handelt.<br />
Zählt man die unisono-Einsätze dazu, so beginnen acht <strong>der</strong> neun <strong>Motetten</strong> in ihrem jeweils ers-<br />
ten Teil einstimmig. Lediglich die Motette „Ich wollt, daß ich daheime wär“ beginnt mit einem<br />
Quintintervall.<br />
Für die folgenden Einsätze gibt es nach einstimmigem Beginn mehrere Möglichkeiten:<br />
a) imitatorische Einsatzfolge (z.B. „Das ist je...“; „Singet frisch...“; „Wach auf, du deut-<br />
sches Reich“, 2. Vers; Totentanz, Spruch 1, 3 & 7)<br />
b) gleichzeitiger Einsatz <strong>der</strong> übrigen Stimmen (z.B. „Fürwahr...“; „In <strong>der</strong> Welt...“;<br />
Totentanz, Spruch 12 & 14)<br />
c) Spezialfall „Wachet auf...“: Echodialog zwischen Alt und 2. Sopran über 10 Takte,<br />
dann erst weitere Einsätze<br />
2. Ein weiterer Fall ist die Umkehrung <strong>der</strong> Einsatzfolge 1. b): drei Stimmen beginnen, später folgt<br />
eine Stimme (meist imitierend); z.B. „Ich wollt...“; „Wach auf, du deutsches Reich“, 6. Vers;<br />
Totentanz, Spruch 8 & 11).<br />
3. Vergleichsweise selten kommt <strong>der</strong> gleichzeitige Beginn aller Stimmen vor (z.B. „Singet dem<br />
Herrn“, Teil III), meist handelt es sich dabei um Quint-Quart-Klänge. Sieht man <strong>von</strong> den Cho-<br />
ralanfängen („Singet frisch...“, Teil III; „Das ist je...“; „Fürwahr...“) ab, findet sich nur ein<br />
Beispiel für einen Dur-Akkord als Einsatz (Totentanz, Spruch 10 → D-Dur), hier aber<br />
wie<strong>der</strong>um nur dreistimmig.<br />
4. Auffällig ist, das Distler bei einstimmigem Beginn den Alt als Stimme bevorzugt, so werden<br />
immerhin drei <strong>der</strong> neun <strong>Motetten</strong> vom Alt eröffnet.<br />
18 Wäre diese Darstellung für die Geistliche Chormusik allein nicht unbedingt repräsentativ, so zeigen sich die<br />
genannten Einsatzfolgen auch in an<strong>der</strong>en Chorwerken Distlers. Vor allem <strong>der</strong> einstimmig imitatorische Einsatz<br />
findet sich sehr häufig (Weihnachtsgeschichte op. 10, Jahrkreis op. 5). Auch für die Bevorzugung des Altes<br />
finden sich zahlreiche weitere Beispiele (Beschluß <strong>der</strong> Weihnachtsgeschichte; „Die Tochter <strong>der</strong> Heide“ aus:<br />
Mörike-Chorlie<strong>der</strong>buch op. 19).<br />
11
2.2.2 Schlußklauseln<br />
In Distlers Werk finden sich Schlußklauseln, die in ihrer Vorhaltsbildung deutlich an die musikalische<br />
Sprache <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>ländischen Schule anknüpfen. Ein Beispiel dafür findet sich in einer zweistimmigen<br />
Passage im 4. Spruch des Totentanzes:<br />
Bsp. 18: Totentanz; 4. Spruch, T. 4/5 Sopran & Alt<br />
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Sieht man <strong>von</strong> <strong>der</strong> Tonart ab, handelt es sich bei den beiden 7-6-Vorhalten um typische Diskantklauseln,<br />
wie sie in Werken Lassos o<strong>der</strong> Palestrinas sehr häufig zu finden sind.<br />
Oft verwendet Distler Schlußwendungen ohne (bzw. mit erniedrigtem) Leitton:<br />
Bsp. 19: Totentanz; 6. Spruch, T. 19/20 Tenor & Baß<br />
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Weitere Beispiele: Totentanz; 7. & 11. Spruch, jeweils T. 15/16 Sopran; „Wach auf, du deutsches<br />
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Reich“; 2. Vers, T. 4/5 Baß.<br />
Wenn auch solch „stilechte“ Schlüsse selten sind, so finden sich häufig Anlehnungen an Kadenzklau-<br />
seln. So handelt es sich beim 3stg. Schluß des 3. Spruchs (Totentanz) um eine modifizierte Fauxbour-<br />
don-Kadenz mit „falschem“ e und f im Tenor. Schon allein das Notenbild zeigt in vielen Fällen Ähnlich-<br />
keit mit dem alter Messen und <strong>Motetten</strong>. 19<br />
2.2.3 Besetzung<br />
Mit Ausnahme <strong>der</strong> Motette „Wachet auf...“ sind die <strong>Motetten</strong> <strong>der</strong> Geistlichen Chormusik vierstimmig<br />
SATB. Interessant ist die ähnliche Verwendung zweier Sopransoli in den <strong>Motetten</strong> „Wach auf, du<br />
deutsches Reich“ (4. Vers) und „Wachet auf...“ (Teil II). Die beiden Solostimmen beginnen mit einer<br />
Art Vorimitation des jeweiligen Choralthemas, <strong>der</strong> Chor antwortet im ersten Fall mit einem 4stg.,<br />
hauptsächlich homophonen Satz mit c.f.-Anklängen, im zweiten Fall mit einem 5stg. figuriertem Cho-<br />
19 Zur harmonischen Gestaltung <strong>der</strong> Schlüsse siehe S. 19f.
alsatz mit c.f. im Sopran. In beiden Fällen entwickelt sich <strong>der</strong> Chorsatz dynamisch vom anfänglichen<br />
Begleiten <strong>der</strong> Solisten bis zur gleichwertigen Stimmgruppe.<br />
Ein beliebtes satztechnisches Mittel ist die Kopplung jeweils zweier o<strong>der</strong> mehrerer Stimmen zu ei-<br />
nem quasi „mehrchörigen“ Satz:<br />
• Kopplung zweier Stimmen:<br />
„Singet dem Herrn...“; Teil II, T. 46ff.: S&A - T&B, entsprechend T. 47ff. in Teil III<br />
Totentanz; 6. Spruch, T. 17ff.: S&A - T&B<br />
„Wach auf, du deutsches Reich“; 1. Vers: S&A - T&B<br />
• Kopplung mehrerer Stimmen: 20<br />
Totentanz; 4. Spruch: A,T&B - S bzw. S,T&B - A; 5. Spruch: S,A&T - B<br />
„Singet frisch...“; Teil I, T. 125ff.: A,T&B - S<br />
„Fürwahr...“; T. 1ff. und Parallelstellen: S,T&B - A<br />
Reale Doppelchörigkeit, wie z.B. in <strong>der</strong> Weihnachtsgeschichte (Choral „Die Hirten zu <strong>der</strong> Stunde) o<strong>der</strong><br />
im Mörike-Chorlie<strong>der</strong>buch („Lebewohl“), kommt in <strong>der</strong> Geistlichen Chormusik nicht vor.<br />
Unisonomelodik aller Stimmen kommt nur im Schlußchoral <strong>der</strong> Motette „Das ist je gewißlich wahr“ vor<br />
(Kyrie...). In <strong>der</strong> Motette „Singet dem Herrn...“ finden sich Tenor u. Baß stellenweise als unisono-<br />
Stimmgruppe (Teil I, Anfang u. Parallelstellen; Teil III, T. 28ff.).<br />
2.2.4 Stimmlagen<br />
Distler nutzt die verschiedenen Stimmgruppen des Chores mit ihrer jeweiligen Charakteristik optimal<br />
aus. Hier dokumentiert sich Distlers großes Wissen über den Chor als Klangkörper, erworben durch die<br />
Erfahrungen mit dem „Lübecker Sing- und Spielkreis“ sowie bei seiner eigenen Chorleitertätigkeit. So<br />
nutzt er z.B. die hohe Lage des Sopranes (g’’) in <strong>der</strong> Motette „Singet dem Herrn...“ zur Darstellung des<br />
Jubels (Teil II, T. 10ff.). Unmittelbar danach entsteht durch den Baßton G ein Ambitus <strong>von</strong> drei<br />
Oktaven, <strong>der</strong> „umfassend“ die ganze Welt darstellt (T. 14ff.).<br />
Im 14. Spruch des Totentanzes bewegen sich die Oberstimmen in extrem tiefer Lage, jede Stimme be-<br />
wegt sich nur im Rahmen einer Quinte (T. 1-8 bzw. 23-26), so daß ein äußerst gedrängter Satz entsteht<br />
(kleinster Abstand zwischen Sopran u. Baß: kleine Sexte e-c’).<br />
20 Die Kopplung mehrere Stimmen ergibt meist, daß die übriggebliebene Stimme solistische Funktion erhält.<br />
Daraus resultiert auch <strong>der</strong> häufig einstimmige Beginn <strong>der</strong> <strong>Motetten</strong> (siehe S. 11).<br />
13
Auf die Bevorzugung des Altes als solistischer Stimme wurde bereits hingewiesen 21 . Erwähnenswert ist<br />
hierzu noch, daß Distler gekonnt die Lagen verwendet, in denen die farbliche Charakteristik des Altes<br />
am größten ist (z.B. „Fürwahr...“; T. 1-9: a-as’).<br />
Am Beginn des 2. Verses <strong>der</strong> Motette „Wach auf, du deutsches Reich“ vertont Distler den Textabschnitt<br />
„In finstrer Nacht, da schliefen wir“ nur mit den drei Unterstimmen in tiefer Lage. 22<br />
Bei Schlußakkorden liegt die Terz häufig in tiefen o<strong>der</strong> bequemen Lagen (Totentanz: 3., 4., 7., 8., 11.,<br />
13. Spruch; Motette „Ich wollt, daß ich daheime wär“ usw.), was für eine reine Intonation för<strong>der</strong>lich ist.<br />
An dieser Stelle sei noch auf eine Passage des Vorwortes <strong>der</strong> Weihnachtsgeschichte op. 10 hingewiesen,<br />
die gewiß auch für entsprechende Stellen <strong>der</strong> Geistlichen Chormusik Geltung hat. Distler warnt hier vor<br />
<strong>der</strong> Umfärbung <strong>der</strong> Vokale in ausgedehnten Melismen in den verschiedenen Lagen, ein Hinweis, <strong>der</strong><br />
unmittelbar <strong>der</strong> chorleiterischen Praxis entspringt. 23<br />
2.2.5 Homophonie/Polyphonie<br />
Unter den <strong>Motetten</strong> <strong>der</strong> Geistlichen Chormusik findet sich (mit Ausnahme <strong>der</strong> Choralsätze) nur in <strong>der</strong><br />
Motette „Singet frisch...“ ein größerer zusammenhängen<strong>der</strong> Teil, <strong>der</strong> (über weite Strecken) homophon<br />
geschrieben ist (Teil III, Choralbearbeitung mit Sopran-c.f.).<br />
Homophone Abschnitte setzt Distler meist in bestimmtem Kontext ein:<br />
• Choralartige Passagen mit einer Art c.f. sind z.B. die Takte 17ff. des 7. Spruches und die Takte<br />
14<br />
13ff. des 11. Spruches im Totentanz. Sie erzeugen eine zusammenfassende Schlußwirkung.<br />
• In <strong>der</strong> Motette „Singet dem Herrn...“ ist <strong>der</strong> Beginn des Teiles II homophon vertont und unterstützt<br />
damit die markante Rhythmik, die Distler tonmalerisch für den Sieg Gottes einsetzt. Beson<strong>der</strong>s in<br />
den Takten 6ff. bewirkt die ständige Wie<strong>der</strong>holung des homophonen Rufes „er sieget“ eine Art „Ein-<br />
hämmern“.<br />
• In den Takten 14ff. <strong>der</strong> Motette „In <strong>der</strong> Welt habt ihr Angst“ nutzt Distler die Homophonie zur ab-<br />
schließenden Raffung einer Aussage. War vorher die Textzeile „...die Welt überwunden“ imitato-<br />
risch über die einzelnen Stimmen verteilt, so wird sie nun homophon zusammengefaßt und durch<br />
Wie<strong>der</strong>holung und Verkürzung intensiviert.<br />
• In das dreimal einstimmig vorgestellte Thema „Heute uns erschienen ist...“ in <strong>der</strong> Motette „Singet<br />
frisch...“ (Teil I, T. 62ff.) fällt <strong>der</strong> Chor jeweils jubelnd mit dem homophonen Ruf „Immanuel“ ein.<br />
21 Siehe S. 11<br />
22 Vgl. auch: Weihnachtsgeschichte op. 10; „...aus diesem Jammertal...“ (Choral „Wir bitten dich <strong>von</strong> Herzen“)
• Häufig sind vierstimmig ausgesetzte Melismen, so z.B. im 1. Spruch des Totentanzes (T. 5ff.,<br />
T. 14ff.).<br />
• Im 13. Spruch des Totentanzes bewegen sich die Oberstimmen homophon über liegendem Baßton.<br />
Folgende beiden Satzweisen kommen in <strong>der</strong> Geistlichen Chormusik am häufigsten vor:<br />
• Motettische Polyphonie:<br />
Imitation einzelner kurzer Motive („Soggetti“) in allen Stimmen (im Sinne <strong>der</strong> motettischen Praxis),<br />
ohne daß z.B. ein Fugenprinzip zugrunde liegt: z.B. Beginn <strong>der</strong> Motette „Singet frisch...“; Teil III<br />
<strong>der</strong> Motette „Wachet auf...“.<br />
• Mischform Polyphonie/Homophonie:<br />
Drei o<strong>der</strong> mehr Stimmen sind homophon gekoppelt, eine o<strong>der</strong> mehrere Stimme bildet dazu einen<br />
Kontrapunkt (oft nur durch <strong>der</strong>en metrische Verschiebung, z.B. Vorimitation) 24 : z.B. 8. Spruch des<br />
Totentanzes; 4. Vers <strong>der</strong> Motette „Wach auf, du deutsches Reich“: 2 imitatorische Sopransoli mit<br />
homophonem Choralsatz.<br />
Regelrechte Fugen finden sich, außer in den beiden späten <strong>Motetten</strong> 25 , noch in <strong>der</strong> Motette „Singet dem<br />
Herrn...“ (Teil II, T. 19ff.) und in <strong>der</strong> Motette „Singet frisch...“ (Teil I, T. 62 ff., dort allerdings eher ein<br />
Fugato).<br />
Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die imitatorische Satzweise in <strong>der</strong> Geistlichen Chormusik<br />
gegenüber <strong>der</strong> homophonen deutlich überwiegt und damit <strong>der</strong>en motettischen Charakter unterstreicht,<br />
während z.B. im Mörike-Chorlie<strong>der</strong>buch zahlreiche Lie<strong>der</strong> rein homophon vertont sind (z.B. „Denk’ es,<br />
o Seele“).<br />
23 erschienen bei Bärenreiter (BA 690), dort S. 3<br />
24 Vgl. dazu auch die Aufstellungen in 2.2.1 „Satzbeginn“ und 2.2.3 „Besetzung“ (S. 11ff.)<br />
25 Vgl. S. 25ff.<br />
15
2.3 Harmonik 26<br />
2.3.1 Melisma-Begleitung<br />
Neben den ein- o<strong>der</strong> zweistimmigen Melismen verwendet Distler diese auch in allen Stimmen gleichzei-<br />
tig, indem er die Stimmen z.B. gegenläufig in Parallelen führt. Dadurch ergeben sich beson<strong>der</strong>e harmo-<br />
nische Konstellationen:<br />
Bsp. 20: Totentanz; 1. Spruch, T. 14ff.<br />
16<br />
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In diesem Beispiel entstehen, bedingt durch die geschickte Parallelführung <strong>der</strong> Stimmgruppen mit <strong>der</strong><br />
�<br />
Abweichung h im Sopran, nur die Akkorde C-Dur, d-Moll und die Quinte e-h. In an<strong>der</strong>en Fällen führt<br />
die streng durchgehaltene Parallelführung <strong>der</strong> Stimmgruppen dazu, daß Dissonanzen bewußt in Kauf<br />
genommen werden. Im folgenden Beispiel entsteht so <strong>der</strong> Akkord g-Moll 7 sowie die None f-g’’ zwischen<br />
Sopran und Baß:<br />
Bsp. 21: "Singet dem Herrn..."; Teil III, T. 1ff.<br />
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� ��<br />
Beim Melisma auf dem Wort „Harfen“ benutzt Distler in dieser Motette einen Quart-Sext-Akkord, den<br />
�<br />
er verschiebt (ebd. Teil III, T. 6ff.), wodurch reizvolle mediantische Wendungen (E/C-Dur; D/B-Dur)<br />
entstehen.<br />
26 Zur Frage, inwieweit Distlers Harmonik auf <strong>der</strong> funktionellen Harmonielehre aufbaut, verweise ich auf die<br />
Darstellungen Dirk Lemmermanns in „Studien zum weltlichen Vokalwerk H.D.“, S. 118ff.
2.3.2 Mediantik<br />
Mediantische Wendungen verwendet Distler meist zur formalen Glie<strong>der</strong>ung. Beispiele hierfür finden<br />
sich im 1. Spruch des Totentanzes (T. 5 bzw. 14), wo die Wendung E→C den imitatorischen vom nach-<br />
folgenden homophon-melismatischen Abschnitt trennt, o<strong>der</strong> auch in <strong>der</strong> Motette „Das ist je gewißlich<br />
wahr“ (T. 137/38) beim Übergang zweier Formteile (H→G).<br />
Im 13. Spruch des Totentanzes entstehen durch die Wendung F→D zwei Tonartenebenen, während<br />
gleichzeitig die Einheit des Stückes durch Motivik und Satztechnik gewahrt bleibt.<br />
In <strong>der</strong> Motette „Singet dem Herrn...“ (Teil II, T. 6ff.) findet sich folgende harmonische Fortschreitung:<br />
T. 6 T. 7 T. 8 T. 9<br />
Fis→A E→G→h* D**→A→C G<br />
Abbildung 3: Harmonischer Verlauf <strong>der</strong> Takte 6 - 9<br />
Die Wendung E→G wird entschärft durch das für ein<br />
Achtel erklingende e-Moll, dadurch Querstand gis’-g in<br />
Alt/Tenor. *h-Moll zunächst noch mit cis im Tenor<br />
**D-Dur zunächst noch mit cis<br />
im Tenor.<br />
Hier finden sich die mediantischen Wendungen Fis→A, E→G und A→C sequenzartig in einem größe-<br />
ren harmonischen Zusammenhang.<br />
Extreme harmonische Rückungen sind in den frühen <strong>Motetten</strong> <strong>der</strong> Geistlichen Chormusik selten anzu-<br />
treffen. Im letzten Spruch des Totentanzes findet sich eine Rückung um 5 Quinten (cis→F, T. 32), in<br />
ihrer Wirkung noch verstärkt durch die Halbtonführung in Sopran, Alt und Baß. 27<br />
2.3.3 Beson<strong>der</strong>e Klänge<br />
Verläßt Distler den Bereich <strong>der</strong> Dur-Moll-Akkorde, so bevorzugt er Klänge mit weichem Charakter<br />
(hoher Verschmelzungsgrad <strong>der</strong> enthaltenen Töne). Sie entstehen z.B. durch<br />
• Pentatonische Klangflächen:<br />
In den ersten 4 Takten des 9. Spruchs (Totentanz) kommen in allen Stimmen nur Töne <strong>der</strong> pentatoni-<br />
schen Reihe auf g vor (Ausnahme ist das fis’ im Alt). Dadurch entsteht eine weiche Klangfläche<br />
g a h d e, wobei die Baßführung noch den Eindruck einer Kadenzführung vermittelt (V-I-Schluß).<br />
• Quintschichtung:<br />
Der Schlußklang des 12. Spruchs (Totentanz) schichtet <strong>von</strong> A aus vier Quinten übereinan<strong>der</strong> (cis’ im<br />
27 Zum harmonischen Verlauf <strong>der</strong> Takte 196-220 <strong>der</strong> Motette „Das ist je gewißlich wahr“ sowie verschiedener<br />
Stellen <strong>der</strong> Motette „Fürwahr...“ siehe S. 30ff.<br />
17
18<br />
Alt allerdings eine Oktave tiefer). Da so nur die große Sekunde/None als Dissonanz entsteht, besitzt<br />
dieser Klang keine Schärfe. Ähnlich verhält es sich mit dem Schlußklang des Teiles I in <strong>der</strong> Motette<br />
„Singet dem Herrn...“.<br />
• Hinzufügung harmoniefrem<strong>der</strong> Töne:<br />
Der zweite Teil <strong>der</strong> Motette „Wachet auf...“ endet im Chorsatz mit einer Kadenz nach C-Dur, wobei<br />
die Quinte fehlt. In den beiden Solostimmen werden die Töne fis’ und h’ etabliert. Durch die sehr<br />
bewußt gewählte Lage <strong>der</strong> einzelnen Töne entschärft Distler die Dissonanz h-c zu einer großen Sep-<br />
time, „aufgefüllt“ mit großer Terz und Tritonus (c’ e’ fis’ h’ e’’), wodurch ein Klang <strong>von</strong> ganz eige-<br />
nem Charakter entsteht.<br />
Häufig verfremdet Distler die Dominante in Kadenzen. Im folgenden Beispiel handelt es sich um eine<br />
Dominant-Tonika-Beziehung in ais (Einordnung Dur/Moll durch fehlende Terz nicht möglich). Die<br />
Dominante eis erscheint als Moll-Septakkord (kleine Septime dis’’), statt <strong>der</strong> Quinte verwendet Distler<br />
die kleine Sexte cis’’. Klanglich entsteht ein halbvermin<strong>der</strong>ter Akkord mit dominantischer Funktion:<br />
Bsp. 22: "Singet dem Herrn..."; Teil III, T. 26/4 & 27/1 � � � � � � �� � � �� �<br />
�� ��<br />
Ein ähnliches Beispiel ist zu finden bei <strong>der</strong> bereits in 2.2.1 erwähnten Tritonuswendung im Baß<br />
� 28 : Moll-<br />
Dominante mit kleiner Septime und Quarte statt Quinte im Tenor:<br />
Bsp. 23: Totentanz; 9. Spruch, T. 14/4 & 15/1<br />
� � � ��<br />
��<br />
��<br />
�<br />
Seltener als z.B. im Mörike-Chorlie<strong>der</strong>buch 29 sind in <strong>der</strong> Geistlichen Chormusik harte dissonante<br />
Klänge zu finden. Im 10. Spruch findet sich auf dem Wort „Dornen“ (T. 11/3) <strong>der</strong> Akkord A h f’ e’’, er<br />
28 Siehe S. 6f.<br />
29 Vgl. Dirk Lemmermann: Studien zum weltlichen Vokalwerk H.D.; S. 131ff.
einhaltet also die kleine None, den Tritonus und die große Septime und „sticht“ damit wörtlich aus dem<br />
harmonischen Umfeld heraus.<br />
2.3.4 Schlußwendungen<br />
Distler vermeidet bei Schlüssen meist die klassische Kadenzharmonik bzw. ersetzt sie durch kirchento-<br />
nale/modale Wendungen. So findet sich in <strong>der</strong> Motette „Fürwahr...“ in den Takten 8, 34 und 63/64 eine<br />
S-T-Kadenz, die also auch (Da-capo-Form) die Motette beschließt. Erst <strong>der</strong> Schlußchoral bringt dann<br />
die „vollwertige“ S-D-T-Kadenz. Den Abschluß <strong>von</strong> „Wachet auf...“ stellt ebenfalls eine<br />
S-T-Kadenz dar, wobei auf <strong>der</strong> letzten Zählzeit in T. 41 durch den 7-6-Durchgang des Altes sogar ein<br />
S 6 entsteht. Subdominantische Schlußkandenzen (z.T. modifiziert, aber durch die Quartführung im Baß<br />
klar erkennbar) finden sich außerdem am Schluß des II. und III. Teils <strong>von</strong> „Singet dem Herrn...“ und<br />
dem 1. und 6. Vers <strong>von</strong> „Wach auf, du deutsches Reich“ (im 1. Vers hauptsächlich als Höreindruck auf<br />
den betonten Zählzeiten).<br />
Interessant ist die Untersuchung <strong>der</strong> unterschiedlichen Schlüsse im Totentanz. Immerhin acht <strong>von</strong> vier-<br />
zehn Sprüchen enden mit einem Dur-Akkord, drei in einer leeren Quinte (ohne Terz) 30 , zwei im Einklang<br />
und Spruch 12 mit dem o.g. Quintklang. 31 Bei den Dur-Auflösungen findet sich in zwei Fällen eine Art<br />
phrygische Wendung (Moll-Sextakkord→Dur-Grundstellung):<br />
Bsp. 24: Totentanz; 8. Spruch, T. 9-11, Unterstimmen<br />
��<br />
�� � � � � �<br />
� � � �<br />
� �� �� � � � � � � ��<br />
Entsprechend ist <strong>der</strong> Schluß des 5. Spruches.<br />
�<br />
Im 3. Spruch findet sich diese Wendung mit einem Dur-Sextakkord (G→A), also mit <strong>der</strong> Parallele <strong>der</strong><br />
Moll-Dominante (G-Dur als Moll-Dominant-Parallele <strong>von</strong> a/A). Auch hierfür findet sich in den Takten<br />
15/16 des 7. Spruches ein weiteres Beispiel.<br />
In an<strong>der</strong>en Fällen benutzt Distler diese Moll-Dominant-Parallele in Grundstellung, so im 6. Spruch<br />
(T. 9/10) und als Abschluß des 7. Spruchs.<br />
30 Vgl. dazu auch die Aufstellung über die Schlüsse <strong>der</strong> Stücke des Mörike-Chorlie<strong>der</strong>buches ebd., S. 133f.<br />
31 Siehe S. 17f.<br />
19
Beson<strong>der</strong>s überraschend wirkt die Schlußwendung des 1. Spruchs: a→C über den Durchgangston d’’ im<br />
1. Sopran.<br />
An dieser Stelle sei noch auf die häufig vorkommende Verzögerung eines Schlußklanges durch<br />
Weiterlaufen einer o<strong>der</strong> mehrerer Stimmen (zumeist Mittelstimmen) hingewiesen. Dies kann in <strong>der</strong> Form<br />
geschehen, daß <strong>der</strong> Schlußklang mehrmals erreicht und wie<strong>der</strong> verlassen/umspielt wird („Singet dem<br />
Herrn“; Teil I, T. 34-36) o<strong>der</strong>, wie z.B. in <strong>der</strong> Motette „Das ist je gewißlich wahr“, indem durch Disso-<br />
nanz und Vorhaltsbildung bis zum Schlußakkord ein Spannungsbogen aufgebaut wird (z.B. T. 49-52).<br />
Vergleichbare Beispiele sind die Schlüsse des 9. und 13. Spruches des Totentanzes, <strong>der</strong> Verse 2, 4 und 6<br />
<strong>der</strong> Motette „Wach auf, du deutsches Reich“, <strong>der</strong> 3 Teile <strong>der</strong> Motette „Singet frisch...“ usw.<br />
Nicht selten läßt Distler auch nur eine Stimme (meist den Sopran) den Schlußton früher erreichen, wäh-<br />
rend die übrigen Stimmen die Schlußkadenz harmonisch unabhängig zu Ende bringen (z.B. Motette<br />
„Wach auf, du deutsches Reich“; 1. Vers, T. 14/15).<br />
2.4 Rhythmik<br />
2.4.1 Rhythmische Verschleierung<br />
Wichtigstes Merkmal <strong>der</strong> Rhythmik im Werk Hugo Distlers ist die Unabhängigkeit <strong>von</strong> Taktschwer-<br />
punkten und die damit einhergehende Verschleierung <strong>der</strong> rhythmischen Gebilde. Diese kann in verschie-<br />
denen Formen auftreten:<br />
• Überlagerung verschiedener Rhythmen<br />
20<br />
Während Distler in an<strong>der</strong>en Werken (z.B. Jahrkreis, Weihnachtsgeschichte) spezifisch jede Stimme<br />
in ihrem eigenen Takt notiert und damit die Überlagerung <strong>der</strong> verschiedenen Rhythmen auch im<br />
Schriftbild dokumentiert, finden sich in <strong>der</strong> Geistlichen Chormusik polyrhythmische Gebilde nur in-<br />
nerhalb des gleichbleibenden Taktschemas. Ein eindrucksvolles Beispiel hierfür sind die Takte 196-<br />
220 <strong>der</strong> Motette „Das ist je gewißlich wahr“. Während Sopran und Alt (entwickelt aus <strong>der</strong> Themen-<br />
struktur <strong>der</strong> Takte 174-179: Ende des Themas im Sopran, synkopischer Kontrapunkt im Alt) einen<br />
3 /2-Rhythmus mit gleichem Schwerpunkt haben (Beginn auf <strong>der</strong> Eins des Taktes 196), in den sich <strong>der</strong><br />
Tenor in T. 197 einklinkt, befindet sich <strong>der</strong> Schwerpunkt des 3 /2-Rhythmus des Basses jeweils einen<br />
Takt später. Gleichzeitig sind aber alle Stimmen im 3 /4-Takt notiert. So ist für den Hörer keine<br />
rhythmische Orientierung mehr möglich. 32<br />
32 Ähnlich verhält es sich in <strong>der</strong> Fuge „Aber um unserer Missetat willen...“ (Motette „Fürwahr...“; T. 66ff.).<br />
Siehe dazu S. 32ff.
• Hemiolen<br />
Die <strong>Motetten</strong> <strong>der</strong> Geistlichen Chormusik stehen über weite Strecken in geraden Takten. So sind He-<br />
miolen seltener anzutreffen als z.B. im Mörike-Chorlie<strong>der</strong>buch. 33 Sie finden sich z.B. als auskompo-<br />
nierte Verzögerungen am Ende eines Abschnitts (Motette „Fürwahr...“: T. 131-133; Totentanz,<br />
9. Spruch: T. 2/3; Motette „Das ist je gewißlich wahr“: Schluß des Fugenthemas T. 171ff.), aber<br />
auch über längere Strecken, wo sie einen Taktwechsel assoziieren können, <strong>der</strong> in Wirklichkeit nicht<br />
stattfindet. Das Fugenthema „Aber um unserer Missetat willen...“ (siehe Fußnote 29) beginnt als<br />
3 /4-Takt, um schon im 2. Takt in einen 3 /2-Rhythmus zu wechseln, <strong>der</strong> über 8 Takte beibehalten wird<br />
und in den sogar noch <strong>der</strong> Beginn des Kontrapunktes „und um...“ (T. 74) eingepaßt ist. Erst <strong>der</strong> Ein-<br />
tritt des Comes im Alt läßt diesen Hemiolenrhythmus wie<strong>der</strong> unklarer werden.<br />
• Synkopierung<br />
Die Motette „Singet dem Herrn...“ beginnt mit einem punktierten Viertel, das synkopisch bis zum<br />
nächsten Takt weitergeführt wird. Zusammen mit dem 5 /4-Takt, dem Triolenrhythmus im zweiten<br />
Takt und dem freien Zeitmaß kann erst im dritten Takt überhaupt metrische Orientierung entstehen.<br />
Häufig wendet Distler Synkopen in den Melismen an, so zum Beispiel im 1. Spruch des Totentanzes<br />
(T. 5/6 und Parallelstelle), oft mit dem zusätzlichen Hinweis auf das frei zu nehmende Zeitmaß.<br />
• Wie<strong>der</strong>holung <strong>von</strong> Motiven, die nicht dem Taktschema entsprechen<br />
In den Takten 113-116 <strong>der</strong> Motette „Singet frisch und wohlgemut“ (Teil I) wird das aus vier Achteln<br />
bestehende Motiv „<strong>der</strong> Herre Christ“ (Sopran u. Alt) zunächst auf drei, dann auf zwei Achtel ver-<br />
kürzt, so daß es im notierten 3 /8-Takt jeweils eigene Taktschwerpunkte entwickelt. Ähnlich verhält es<br />
sich in <strong>der</strong> Motette „In <strong>der</strong> Welt habt ihr Angst“:<br />
Bsp. 25: "In <strong>der</strong> Welt habt ihr Angst"; T. 4-6 Sopran<br />
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� �� ��<br />
� �� ��<br />
� ��� �<br />
Dem notierten<br />
� 3 /4-Takt setzt <strong>der</strong> Sopran einen 2 /4-Rhythmus entgegen, <strong>der</strong> sich dreimal wie<strong>der</strong>holt<br />
und dadurch eine eigene metrische Qualität erhält.<br />
33 Vgl. Dirk Lemmermann: Studien zum weltlichen Vokalwerk H.D.; S. 93ff.<br />
21
2.4.2 Rhythmik im Melisma<br />
Wie oben schon angedeutet, ist die rhythmische Gestaltung in Melismen meist freier als innerhalb nor-<br />
maler Motivgestalten. Oft findet innerhalb eines Melisma eine Beschleunigung bzw. Verlangsamung<br />
(o<strong>der</strong> beides) durch schrittweise Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Notenwerte statt:<br />
Bsp. 26: Totentanz; 4. Spruch, T. 7-9 Alt<br />
��<br />
� �� � � � � �� � � � � � � � �� � �� � �<br />
In vielen Fällen ist <strong>der</strong> Spitzenton eines Melisma durch Punktierung verlängert, so daß folgende rhyth-<br />
�<br />
mische Gruppe entsteht:<br />
Bsp. 27: "Singet dem Herrn..."; Teil I, T. 1 Tenor & Baß<br />
� � �� � � �� ��� �<br />
Weitere Beispiele für diese Gruppierung finden sich u.a. im 1. Spruch des Totentanzes (T. 6 bzw. 16)<br />
�<br />
o<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Motette „Wach auf, du deutsches Reich“ (2. Vers, T. 3/4 im Alt).<br />
2.4.3 Weitere rhythmische Mittel<br />
In zwei Fällen setzt Distler die Augmentation eines Motives ein, um damit eine zusammenfassende<br />
Schlußwirkung zu erreichen. In <strong>der</strong> Motette „Singet dem Herrn...“ wird das „Singet“-Motiv in T. 13-15<br />
(Teil I) rhythmisch vergrößert, wodurch ein auskomponiertes Ritardando entsteht. An<strong>der</strong>s wirkt die<br />
Themenvergrößerung des Tenors in <strong>der</strong> Motette „Fürwahr...“ (T. 118-124): da im Alt gleichzeitig das<br />
Thema in seiner ursprünglichen rhythmischen Gestalt auftritt, wird ein Spannungsbogen zu T. 125 hin<br />
erzeugt.<br />
Nur einmal, nämlich in den Takten 17ff. des 7. Spruchs des Totentanzes, benutzt Distler bewußt eine<br />
alte Notierungsart in Ganzen, wobei gleichzeitig ein Taktwechsel zur 3er-Proportion stattfindet. Bedenkt<br />
man den auffälligen Madrigalcharakter dieses Spruches (Einsatzfolge), so ist diese Notierung am Ende<br />
wohl als eine Art Reminiszenz zu verstehen, die gleichzeitig im Notenbild die „ew’ge Ruh“ sichtbar<br />
darstellt.<br />
22
2.5 Form<br />
In den <strong>Motetten</strong> <strong>der</strong> Geistlichen Chormusik fallen Parallelen im formalen Großaufbau <strong>der</strong> einzelnen<br />
<strong>Motetten</strong> auf: die <strong>Motetten</strong> „Singet dem Herrn...“, „Singet frisch...“ und „Wachet auf...“ sind dreiteilig<br />
angelegt (wobei sich diese Dreiteiligkeit bei den letzten beiden durch die Strophen ergibt), die beiden<br />
Choralmotetten „Wach auf, du deutsches Reich“ und „Ich wollt, daß ich daheime wär“ führen mehrere<br />
Strophen durch, die letzten drei <strong>Motetten</strong> <strong>der</strong> Sammlung sind zweiteilig Motette - Choral 34 . Formale<br />
Ausnahme bildet <strong>der</strong> Totentanz mit dem Wechsel zwischen Spruchvertonungen, gesprochenen Dialogen<br />
und Flötenvariationen.<br />
Die Motette „Singet dem Herrn...“ vereint mehrere formale Aspekte. Innerhalb <strong>der</strong> Dreiteiligkeit fin-<br />
den sich thematische Bezüge: <strong>der</strong> erste Teil ist in Rondoform aufgebaut, die Takte 1-4 (Männer-<br />
stimmen) kehren, jeweils einen Ganzton höher, als Refrain wie<strong>der</strong> und lassen damit auch im Kleinen<br />
eine Dreiteiligkeit entstehen: A B / A’ B’ / A’’ C. Im Mittelpunkt des zweiten Teils steht ein fugierter<br />
Teil (E), <strong>der</strong> abschließende Teil F (T. 46-54) findet sich, zusammen mit dem Refrain A, am Ende des<br />
dritten Teils als Da capo wie<strong>der</strong> (ebenfalls transponiert). Durch diese Synthese im letzten Teil erreicht<br />
Distler eine formale Einheit <strong>der</strong> Motette. Gleichzeitig sind hier bereits formale Elemente angelegt, die in<br />
den beiden späten <strong>Motetten</strong> zu einer Vollendung gebracht werden.<br />
Die formale Einheit des Totentanzes wird, obwohl keiner <strong>der</strong> Sprüche gleich vertont ist, durch sensible<br />
motivische Bezüge gewährleistet 35 .<br />
Die Verse 1, 3, 5 & 7 <strong>der</strong> Motette „Wach auf, du deutsches Reich“ sind gleich vertont (Choralsatz<br />
mit Sopran-c.f.), während die übrigen Strophen stärker am Text entlang komponiert sind (Vers 2 u. 6:<br />
motettische Reihungsform, Vers 4: Chorchoral mit zwei vorimitierenden Sopransoli). Dieser Wechsel<br />
läßt wie<strong>der</strong>um eine Art Rondoform entstehen.<br />
In <strong>der</strong> Motette „Ich wollt, daß ich daheime wär“ (Reihungsform) fällt das Prinzip <strong>der</strong> Stimmreduzie-<br />
rung bzw. -erweiterung auf, mit dem Distler (neben dem <strong>der</strong> Durchführung des c.f. in verschiedenen<br />
Stimmen) Abwechslung schafft: die 2., 3. und 9. Strophe sind nur zweistimmig in verschiedenen<br />
Stimmkombinationen vertont, jeweils umgeben <strong>von</strong> vierstimmigen Strophen. Die Rahmenstrophen sind<br />
nahezu gleich vertont (Da capo). Die Reduzierung auf zwei Stimmen findet sich auch im zweiten Teil<br />
<strong>der</strong> Motette „Singet frisch und wohlgemut“.<br />
34 Vgl. Abb. 1, S. 3<br />
35 Vgl. S. 8 u. Anhang 1: Aufstellung <strong>der</strong> Motive des Totentanzes<br />
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Auf den formalen Aufbau <strong>der</strong> beiden letzten <strong>Motetten</strong> <strong>der</strong> Sammlung wird im folgenden genauer einge-<br />
gangen, interessant ist <strong>der</strong> Vorgriff <strong>der</strong> Zweiteiligkeit Motette-Choral in „In <strong>der</strong> Welt...“, hier allerdings<br />
in äußert gedrängter Form (es handelt sich um die kürzeste Motette <strong>der</strong> Sammlung, Motette und Choral<br />
sind nahezu gleich lang) 36 .<br />
36 Eine kurze Analyse dieser Motette findet sich bei Wolfgang Thein in seinem Artikel „Funktion, Deutung,<br />
Verkündigung - Zu Hugo Distlers Orgel- und geistlichen Chorkompositionen“ (in: Komponisten in Bayern,<br />
Bd. 20: Hugo Distler; S. 62ff.)<br />
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