Erste Ausgabe PDF - PalästinaIsraelZeitung
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Nullnummer Juli 2011<br />
<strong>PalästinaIsraelZeitung</strong><br />
für Völkerrecht und Menschenrechte<br />
Editorial<br />
Liebe Leserin, lieber Leser,<br />
ergeht es Ihnen ähnlich? Uns, den Herausgebern<br />
dieser neuen Zeitung, fehlen bei<br />
der Berichterstattung des Nahostkonflikts<br />
in den Medien immer wieder die Hintergründe.<br />
„Da wird es doch nie Ruhe geben. Wir<br />
Deutsche müssen uns da raus halten.“ Oder<br />
„Das ist alles so kompliziert.“ Solche Sätze<br />
hängen mit dem Mangel zusammen: Wie<br />
sollen die Fernsehzuschauer, die Hörer und<br />
Leser die aktuelle Lage einordnen, wenn<br />
ihnen nicht erklärt wird, dass die Ungleichheit<br />
der Parteien in Nahost aussichtsreiche<br />
Friedensverhandlungen unmöglich macht?<br />
Dass die Palästinenser nicht über ihr eigenes<br />
Leben bestimmen können, insbesondere<br />
seit 1967? Die deutsche Öffentlichkeit<br />
und Politik haben sich seit Jahrzehnten einseitig<br />
auf die Sicherung des Staates Israel<br />
konzentriert und die palästinensische Perspektive<br />
vernachlässigt. Diese betonen wir<br />
in der Zeitung, denn Deutschland hat nach<br />
dem Dritten Reich, wie der Völkerrechtler<br />
Prof. Tomuschat in seinem Interview auf<br />
Seite 4 sagt, nicht nur eine besondere Verantwortung<br />
für Israel, sondern auch für das<br />
Recht, für Völkerrecht und Menschenrechte.<br />
Und unter deren fehlender Anwendung<br />
und Durchsetzung leiden die Palästinenser<br />
seit Israels Staatsgründung. Dabei liegt es<br />
auf der Hand, dass Freiheit und Gerechtigkeit<br />
für die Palästinenser der einzige<br />
Weg für Israels langfristige Sicherheit sind.<br />
Deutschland und die EU können viel mehr<br />
dafür tun. Das zeigt der Brief von Altkanzler<br />
Helmut Schmidt und anderen europäischen<br />
Ex-Politikern an die EU auf Seite 6.<br />
Mitglieder der Zeitungsinitiative in<br />
Bonn- Königswinter (Foto C. Kercher)<br />
Unsere Seiten sollen anschaulich und zugänglich<br />
sein. Wir sind neugierig auf Ihre<br />
Meinung. Und noch mehr: Wir wünschen<br />
uns die Mitarbeit von Einzelnen und<br />
Gruppen, die diese Zeitung weiterentwickeln<br />
wollen. Eine gedruckte Zeitung hat<br />
immer noch ihren Platz, glauben wir, besonders<br />
um Menschen zu erreichen, die<br />
die Informationen im Internet nicht gezielt<br />
suchen.<br />
Für die Zeitungsinitiative:<br />
Peter Bingel, Christian Kercher<br />
Handala, „Kind“ des Karikaturisten Naj Al-Ali<br />
„Palästina, das Land meiner Träume“<br />
Das Warten auf die Zukunft: Gemälde von Ibrahim Hazimeh (Ausschnitt)<br />
Grenzüberschreitung: Barenboim in Gaza<br />
„Ich bin Staatsbürger Palästinas und Israels“<br />
Musik ist keine unpolitische Kunst. Nicht beim israelischen Dirigenten Daniel<br />
Barenboim, der am 3. Mai 2011 sein Publikum im Gazastreifen begeistert. Mit 25<br />
Musikern aus den besten Orchestern Europas war ihm zum ersten Mal die Einreise<br />
über Ägypten gelungen, um ein Zeichen der Solidarität mit den Menschen<br />
in Gaza zu setzen, das seit fünf Jahren von Israel abgeriegelt wird.<br />
Die deutsche Gesellschaft der Vereinten Nationen hat ihm am 22. März in Berlin<br />
die Otto-Hahn-Friedensmedaille verliehen. Im Haus der Kulturen der Welt<br />
hält ein anderer prominenter Jude die Laudatio: Rolf Verleger ist Psychologie-<br />
Professor in Lübeck. Sein Vater hat Auschwitz überlebt. Er ist Autor des Buches<br />
„Israels Irrweg. Eine jüdische Stimme“. Er redet leise, aber eindringlich:<br />
„Daniel Barenboim sagt, er habe bei den<br />
Kriegen, die Israel nach seiner Einwanderung<br />
führte, 1956, 1967, 1973, immer in<br />
Israel Konzerte gegeben. Die Musik war<br />
meine „Waffe“ für Israel. Bei ihm habe es<br />
aber im Kopf „Klick“ gemacht, als die israelische<br />
Premierministerin Golda Meir 1970<br />
sagte: „Palästinenser? Was soll dieses Gerede<br />
von den Palästinensern? Das palästinensische<br />
Volk sind wir!“. Das habe ihn<br />
fassungslos gemacht. In seinem Interview<br />
in der Wochenzeitung Die ZEIT vom Juni<br />
2010 sagt er: „Wie ist das möglich? Es sind<br />
alles intelligente Menschen. Wenn du mit<br />
ihnen über Beethoven oder über Shakespeare<br />
oder über Karl Marx sprichst, dann<br />
haben sie rationale Argumente, aber wenn<br />
du auf das Thema Palästinenser kommst,<br />
werden sie total blind. Das ist nicht zu erklären.“<br />
Jedenfalls: Es ist da ein blinder Fleck,<br />
eine Denkblockade, die es den meisten Israelis<br />
– und auch den meisten aktiven Mitgliedern<br />
der heutigen jüdischen Gemeinden<br />
in Deutschland – unmöglich macht zu<br />
sehen, was die Israelis, deren Vorfahren in<br />
Europa verfolgt wurden, nun den Einwohnern<br />
Palästinas antun. In dem erwähnten<br />
Interview fragt die ZEIT-Redaktion: „Die<br />
israelische Regierung argumentiert mit<br />
ihrem Recht auf Selbstverteidigung.“ Und<br />
Barenboim antwortet: „Natürlich. Wenn<br />
du ein anderes Land besetzt, dann musst<br />
du dich die ganze Zeit verteidigen.“ ZEIT:<br />
„Halten Sie die israelische Bedrohungsanalyse<br />
nur für Einbildung oder Paranoia?“<br />
Barenboim: „Nein, die Israelis müssen<br />
sich in der Tat verteidigen, aber nur deshalb,<br />
weil sie so agieren, wie sie es getan<br />
haben und weiterhin tun.“ Der Israeli Daniel<br />
Barenboim fand auf palästinensischer<br />
Seite eine verwandte Seele, Edward Said,<br />
ein Weltbürger wie Barenboim, Professor<br />
für Englisch und vergleichende Literaturwissenschaft<br />
in den USA, Mitglied des<br />
palästinensischen Exil-Parlaments und vor<br />
allem: ein Liebhaber der Musik.<br />
Zusammen fassten sie den Plan, Barenboims<br />
musikalische Gaben zu verknüpfen<br />
mit dem Anliegen der Versöhnung:<br />
Themen<br />
Gefängnisbesuch:<br />
29 Stunden im Gaza-Streifen<br />
Landkarten zur Landnahme:<br />
Interview mit dem Völkerrechtsexperten<br />
Christian Tomuschat<br />
über Konsequenzen aus dem<br />
Gaza-Krieg 2008/9<br />
Klare Worte:<br />
Helmut Schmidt und<br />
Richard von Weizsäcker<br />
fordern neue Israel-Politik<br />
Seite 4/5<br />
Credo des Künstlers:<br />
„Die künstlerischen Elemente: die Frau, das<br />
Haus, der Baum stehen für die Sehnsucht nach<br />
Heimat und Geborgenheit. (...) Der beständig<br />
in den Bildern wirkende Rhythmus Frau, Haus,<br />
Baum (...) erinnert an den Refrain in der arabischen<br />
Musik, in der Architektur, in der Arabeske.<br />
Er steht für die Standhaftigkeit auf dem Weg<br />
zur Verwirklichung des Traums meines Volkes.<br />
Für den Staat Palästina.“<br />
Ibrahim Hazimeh<br />
Sie gründeten 1999 das „West-östliche Diwan-Orchester“:<br />
Ein Orchester, in dem Israelis,<br />
Palästinenser und Angehörige von<br />
Nachbarstaaten Israels zusammen spielen:<br />
als ein Klangkörper unter Maestro Barenboim,<br />
der sich die höchsten Ansprüche<br />
setzt und auch dieses Jahr auf Tournee<br />
gehen wird, mit Beethoven-Sinfonien, der<br />
Symphonie No. 10 von Gustav Mahler und<br />
dem Kammerkonzert von Alban Berg. Daniel<br />
Barenboim hat sich dabei nicht auf<br />
die Musik – die scheinbar unpolitische<br />
Kunst – zurückgezogen. Sondern er hat<br />
ausdrücklich politisch Stellung bezogen.<br />
Am deutlichsten wurde das darin, dass<br />
er 2007 die palästinensische Staatsbürgerschaft<br />
angenommen hat: Er ist Bürger<br />
eines Staats, den es überhaupt nicht gibt,<br />
und er hat damit die Verpflichtung übernommen,<br />
diesen Staat mitzuschaffen. Ich<br />
habe einige Deutsche und viele Israelis<br />
getroffen, die ein solches Verhalten überhaupt<br />
nicht verstehen können.<br />
In einer bizarren Verschiebung der<br />
Schuld von Nazi-Deutschland auf die Pa-<br />
Dr. Christine Kalb, Deutsche Gesellschaft der Vereinten<br />
Nationen, Daniel Barenboim, Salah Abdel Shafi,<br />
Generaldelegierter Palästinas im Haus der Kulturen der<br />
Welt, Berlin, nach der Preisverleihung (Foto C. Kercher)<br />
Der polnisch - jüdische Schriftsteller und Historiker Isaac Deutscher hatte es 1967 so formuliert: „Einmal sprang ein Mann aus dem<br />
obersten Stock eines brennenden Hauses, in dem bereits viele seiner Familienangehörigen umgekommen waren. Er konnte sein<br />
Leben retten, aber im Herunterfallen schlug er auf jemanden auf, der unten stand, und brach diesem Menschen Arme und Beine.<br />
Der Mann, der sprang, hatte keine Wahl, aber für den Mann mit den gebrochenen Gliedern war er die Ursache seines Unglücks.“<br />
Deutscher weiter: „Was geschieht, wenn diese beiden Leute sich irrational verhalten? Der Verletzte gibt dem andern die Schuld<br />
an seinem Unglück und schwört, dass er ihn dafür bezahlen lassen wird. Der andere, aus Angst vor der Rache des verkrüppelten<br />
Mannes, beleidigt, tritt und schlägt ihn, wann immer er ihn trifft. Der getretene Mann schwört erneut Rache und wird wieder<br />
geschlagen und bestraft. Die bittere Feindschaft, die zunächst ganz zufällig war, verhärtet sich und überschattet schließlich die<br />
gesamte Existenz der beiden Männer und vergiftet ihr Denken.<br />
Seite 3<br />
Seite 6<br />
Fortsetzung auf Seite 2
Fortsetzung von Seite 1<br />
lästinenser sehen sie die Palästinenser als<br />
die Nachfahren Hitlers an. Dazu sagt Barenboim:<br />
„Sehen Sie, man kann mit Blick<br />
auf die Palästinenser bezweifeln, ob sie<br />
wirklich das Existenzrecht Israels akzeptieren<br />
und ob sie wirklich mit den Juden<br />
zusammenleben wollen. Nur hat das, anders<br />
als eine verbreitete israelische Interpretation<br />
unterstellt, mit den Nazis und<br />
dem Holocaust nichts zu tun.<br />
Wenn ein Palästinenser, dessen Familie<br />
ein Haus in Jaffa oder in Nazareth seit dem<br />
11. Jahrhundert besitzt, nun nicht mehr<br />
das Recht hat, dort zu leben, und dieser<br />
Mensch hasst dann die Israelis – das hat<br />
doch mit Adolf Hitler nichts zu tun.“ Und<br />
Isaac Deutscher 1967: „Die Verantwortung<br />
für die Tragödie der europäischen<br />
Juden, für Auschwitz, Majdanek und das<br />
Gemetzel in den Ghettos liegt einzig bei<br />
der westlichen bürgerlichen ‚Zivilisation‘,<br />
deren rechtmäßiger, wenn auch degenerierter<br />
Abkömmling der Nationalsozialismus<br />
war. Doch es waren die Araber, die<br />
schließlich den Preis für die Verbrechen<br />
zahlen mussten, die der Westen an den<br />
Juden begangen hat. Man lässt sie auch<br />
heute noch zahlen, denn das ‚Schuldbewusstsein‘<br />
des Westens ist natürlich proisraelisch<br />
und anti-arabisch.“<br />
Das heißt: Die aufrichtige und ehrenwerte<br />
Beklemmung vieler Deutscher über<br />
das ungeheuerliche Unrecht, das von<br />
Deutschen in deutschem Namen den Juden<br />
Europas angetan wurde, führt heute<br />
dazu, dass neues Unrecht – lange nicht so<br />
ungeheuerlich wie das, was 1941-1945 geschah,<br />
aber verheerend und niederträchtig<br />
genug, und mit katastrophalen Folgen<br />
– dass dieses neue Unrecht schweigend<br />
toleriert wird. Und damit gerät die deutsche<br />
öffentliche Meinung heute in einen<br />
Widerspruch.<br />
Welche Konsequenzen sollen wir aus<br />
der Vergangenheit ziehen? Dass das<br />
Unrecht von vor 70 Jahren zwangsläufig<br />
neues Unrecht legitimiert?<br />
Ich fände es daher angebracht, wenn wir<br />
deutlich Stellung nehmen würden zur<br />
Strangulierung des Gaza-Streifens, zum<br />
43 Jahre andauernden Besatzungsregime<br />
im Westjordanland, zur kontinuierlichen<br />
Landnahme im Westjordanland, zur Verdrängung<br />
der alteingesessenen arabischen<br />
Einwohner Jerusalems, zu den gezielten<br />
Tötungen, zu den Tausenden Palästinensern,<br />
die in israelischen Gefängnissen interniert<br />
sind.<br />
Israel braucht klare Vorgaben von<br />
uns, um die Kraft aufzubringen, sich<br />
von seinem nationalistischen Kurs abzuwenden.<br />
Mit seiner jetzigen Politik<br />
– das hat Daniel Barenboim mehrfach<br />
gesagt – läuft Israel in eine Sackgasse.<br />
Die gesamte Rede ist nachzulesen unter:<br />
www.palästina-israel-zeitung.de<br />
Prof. Dr. Rolf Verleger nach seiner Rede im Haus<br />
der Kulturen der Welt, Berlin<br />
<strong>PalästinaIsraelZeitung</strong> • Juli 2011 • Seite 2<br />
„Wer Israel kritisiert, ist für Israel“<br />
Sprecher von Gush Shalom fordert von EU und Deutschland ein Ende der Feigheit vor dem Freund<br />
Adam Keller (Foto J. Zang)<br />
Gush Shalom (Friedensblock) ist eine<br />
israelische Friedensbewegung mit<br />
mehreren Hundert Aktivisten. 1992<br />
gegründet, engagiert sie sich in Protesten<br />
gegen die Mauer, schaltet Zeitungsanzeigen<br />
und klärt in Vorträgen<br />
über Israels Militärbesatzung in den<br />
Besetzten Palästinensischen Gebieten<br />
auf. Johannes Zang traf Adam Keller<br />
(55 J.), Historiker und Sprecher des<br />
Friedensblocks in Tel Aviv-Jaffa.<br />
Händeschütteln zwischen Rabin, Arafat,<br />
Clinton, Oslo-Friedensprozess - vor<br />
mehr als 15 Jahren schien der Frieden<br />
greifbar nahe zu sein. Was lief damals<br />
schief?<br />
Nachdem Rabin Arafat im September 1993<br />
die Hand geschüttelt hatte, gab es enorme<br />
Unterstützung für den Frieden unter Israelis<br />
und Palästinensern. Aber Rabin ließ<br />
die Siedler weiterbauen und expandieren.<br />
Er dachte, das mache nichts, in einigen<br />
Jahren würde es ohnehin ein Abkommen<br />
geben. Er wurde aber ermordet, ein<br />
Abkommen kam nicht zustande, und die<br />
Siedlungen verdoppelten sich. Im Februar<br />
1994 massakrierte der jüdische Siedler Baruch<br />
Goldstein 29 Muslime beim Gebet in<br />
Hebron. Dies hatte zur Folge, dass Hamas<br />
seine Selbstmordattentate und Bombenexplosionen<br />
in israelischen Bussen begann.<br />
Niemand erinnert sich heute daran, dass<br />
solches bis zum Goldstein-Massaker niemals<br />
geschehen war.<br />
Damals wurde auch schon palästinensisches<br />
Land enteignet, Palästinenser ausgewiesen<br />
oder ihr Aufenthaltsrecht widerrufen.<br />
Sarit Michaeli, Sprecherin der<br />
israelischen Menschenrechtsorganisation<br />
B‘tselem behauptet, Menschenrechte<br />
hätten während des Oslo-Prozesses gar<br />
nicht auf der Tagesordnung gestanden.<br />
Hat das möglicherweise auch zum Scheitern<br />
von Oslo beigetragen?<br />
Ganz sicher. Ein Hauptproblem des Oslo-<br />
Abkommens war, dass es ursprünglich<br />
von liberalen Intellektuellen entworfen<br />
wurde, die sehr gute Absichten hatten.<br />
Die Umsetzung wurde aber genau den<br />
Menschen anvertraut, die die Besatzungsherrschaft<br />
ausübten: die Armee, die Polizei,<br />
die Geheim- und Sicherheitsdienste<br />
und auch die Siedler, die den Regierungsapparat<br />
tief durchsetzt haben. Ihre Art der<br />
Umsetzung basierte auf klaren Prinzipien:<br />
Gebt den Palästinensern nichts, was ihr<br />
nicht geben müsst, macht keine großen<br />
Zugeständnisse, wenn kleine es auch tun,<br />
gebt nichts heute, wenn ihr es auf morgen<br />
oder auf das nächste Jahr verschieben<br />
könnt. Und das Ergebnis ist genau so, wie<br />
B‘tselem es darstellt. Man wollte die Besatzung<br />
aufrechterhalten und hatte damit<br />
Erfolg. Die Besatzung besteht bis heute.<br />
Nach einer zweiten Intifada, einem weiteren<br />
Libanonkrieg und einem Gaza-<br />
Krieg scheint im Jahr 2011 Frieden weit<br />
weg zu sein. Wie steht die heutige israelische<br />
Gesellschaft zum Frieden?<br />
Vereinfacht gesagt: Etwa zehn Prozent der<br />
jüdischen Israelis wollen wirklich Frieden<br />
schließen und sind willens, die dafür nötigen<br />
Zugeständnisse zu machen. Weitere<br />
zehn Prozent sind der Überzeugung, dass<br />
„das ganze Land uns gehört, weil Gott es<br />
uns versprochen hat“. Sie meinen: Sollten<br />
die Araber nicht bereit sein, auf dieser<br />
Grundlage Frieden zu schließen, werden<br />
wir sie eben weiterhin bekämpfen. Und<br />
die Mehrheit von 80 Prozent ist neutral.<br />
Sie unterstützt im Prinzip Frieden, ist aber<br />
sehr skeptisch, dass er tatsächlich erreicht<br />
werden kann.<br />
Was müsste geschehen, um diese schweigende<br />
Mehrheit von 80 Prozent der jüdischen<br />
Israelis zu überzeugen?<br />
Wenn es eine Regierung in Israel gibt, die<br />
Frieden machen und das West- Jordanland<br />
aufgeben wird, werden diese 80 Prozent<br />
oder die meisten von ihnen dieses Abkommen<br />
unterstützen. Sie werden sagen:<br />
„Ok, der Premierminister hat das so entschieden,<br />
lasst uns mal sehen, was dabei<br />
herauskommt.“ Aber sie werden nicht dagegen<br />
sein.<br />
Könnten Religionsoberhäupter einen<br />
Beitrag zum Frieden leisten?<br />
Es kommt darauf an, welche Verse Menschen<br />
in den Schriften und Traditionen<br />
ihrer jeweiligen Religionen betonen und<br />
hervorheben wollen. Es ist eine traurige<br />
Tatsache, dass heutzutage die Mehrheit<br />
der jüdischen religiösen Anführer in Israel<br />
der jüdischen Religion eine widerliche,<br />
gefährliche Interpretation gibt, die extrem<br />
nationalistisch und oft unverblümt rassistisch<br />
ist. Es gibt Gruppen wie die ‚Rabbiner<br />
für Menschenrechte‘, die eine humanistische<br />
und progressive Interpretation<br />
des Judentums anbieten, wofür man auch<br />
eine solide Grundlage in den jüdischen<br />
Schriften und Traditionen finden kann,<br />
so man denn will. Sie gehören zu den<br />
besten Leuten, die wir in der israelischen<br />
Friedensbewegung haben, doch sind sie<br />
leider in der Minderheit in ihrem eigenen<br />
religiösen Milieu.<br />
Verfolgt man die Berichte der fast 20 israelischen<br />
und palästinensischen Menschenrechtsorganisationen,<br />
gewinnt man<br />
den Eindruck: Mit den andauernden Zerstörungen<br />
palästinensischer Häuser, der<br />
Aberkennung des Wohnrechts oder der<br />
Verhinderung der Familienzusammenführung<br />
von Palästinensern und ihren<br />
ausländischen Ehepartnern – um nur<br />
drei Beispiele zu nennen – führt Israel<br />
einen täglichen, kaum sichtbaren büro-<br />
kratischen Krieg gegen die Palästinenser.<br />
Welches Ziel verbirgt sich hinter diesen<br />
Maßnahmen?<br />
Bei israelischen Beamten, egal ob im Zivil-<br />
oder Armeebereich, herrscht eine Art<br />
rassistische Mentalität. Sie sind wie Buchhalter,<br />
die eine Bilanzaufstellung machen.<br />
Jeder Jude, der ins Land kommt, steht auf<br />
der Habenseite, jeder Nichtjude ist auf<br />
der Sollseite. Jedes Haus, das von Juden<br />
bewohnt wird, steht auf der Habenseite,<br />
jedes Haus eines Nichtjuden auf der Sollseite.<br />
Jeder Quadratzentimeter, der von<br />
Juden besessen wird, steht auf der Habenseite,<br />
jeder Quadratzentimeter von Nicht-<br />
Juden auf der Sollseite. Und so weiter und<br />
so fort. Das ist die Grundlage für sehr<br />
repressive und diskriminierende Maßnahmen,<br />
die Baugenehmigungen, Stadtplanung,<br />
Einwanderung und viele andere<br />
Bereiche öffentlichen Lebens betreffen.<br />
Das ist meiner Ansicht nach viel bösartiger<br />
und gefährlicher als die offen rassistischen<br />
Politiker. Diese Art von Bürokraten im Innenministerium,<br />
in der Landbehörde, in<br />
vielen Stadtverwaltungen wie auch in der<br />
Militärregierung des Westjordanlandes<br />
sprechen nicht über Rassismus, sie vollziehen<br />
ihn einfach. Sie setzen ihn Tag für Tag<br />
in die Tat um. Wenn wir wollen, dass Israel<br />
eine echte Demokratie wird, müssen<br />
wir diese Art von Praktiken<br />
ausrotten.<br />
Können außer den USA andere Länder<br />
Einfluss nehmen, um Frieden im Nahen<br />
Osten zu erreichen?<br />
Ich verlange von der EU, dass sie nicht nur<br />
der US-Leitlinie folgt, sondern dass sie ihren<br />
eigenen unabhängigen Standpunkt hat.<br />
Ich meine, die EU ist weit davon entfernt,<br />
ihr ganzes Potential auszuschöpfen, da sie<br />
immer sehr besorgt ist, nicht zu weit von<br />
der Position der USA abzuweichen. Der,<br />
der Israel kritisiert, ist für Israel. Der, der<br />
es nicht tut, tut Israel Unrecht. Wenn Sie<br />
einen Freund haben, der Drogen nimmt,<br />
Alkoholiker ist oder spielsüchtig ist – sehen<br />
Sie da tatenlos zu? Natürlich nicht.<br />
Dasselbe gilt für Israel. Niemand sollte nur<br />
zuschauen. Natürlich ist die deutsche Politik<br />
sehr von den furchtbaren Erinnerungen<br />
an Deutschlands Vergangenheit und<br />
von dem, was in Deutschlands Namen an<br />
Furchtbarem begangen wurde, überschattet.<br />
Es ist sehr richtig und gerechtfertigt,<br />
dass Deutsche sich verpflichtet fühlen,<br />
Freunde Israels zu sein. Ja, Deutschland<br />
sollte Israels Freund sein. Was ein Freund<br />
Israels tun sollte, ist: Israel zu helfen, Frieden<br />
zu erreichen und Israel davon abzuhalten,<br />
in den Abgrund zu stürzen.<br />
Das ägyptische Volk<br />
Kämpft tapfer für die Menschenrechte.<br />
Die israelische Knesset<br />
Kämpft tapfer darum, die Menschenrechte<br />
abzuschaffen.<br />
Inserat von Gush Shalom in<br />
Ha‘aretz am 18.Februar 2011
<strong>PalästinaIsraelZeitung</strong> • Juli 2011 • Seite 3<br />
„Es gibt keine Hoffnung und keine Zukunft“<br />
29 Stunden im Gaza-Streifen<br />
von Johannes Zang<br />
Gaza-Stadt. Die Einreise in den Gaza-<br />
Streifen ist vergleichbar mit der Schwierigkeit,<br />
Zugang zu einem deutschen<br />
Hochsicherheitsgefängnis zu erhalten.<br />
Normale Besucher kommen nicht hinein,<br />
auch keine Israelis. Man muß schon Politiker,<br />
Diplomat, Journalist oder Mitarbeiter<br />
der Vereinten Nationen sein, damit einem<br />
das israelische Militär, das den Übergang<br />
Erez kontrolliert, die Einreise gewährt.<br />
Doch auch Entwicklungshilfeminister<br />
Dirk Niebel, Ex-US-Präsident Jimmy Carter<br />
oder Friedensnobelpreisträger Bischof<br />
Desmond Tutu wurden schon zurückgeschickt.<br />
Da Palästinenser bis heute unter<br />
israelischer Besatzung leben, bestimmt Israel<br />
alleine über die Einreise in den Streifen,<br />
der etwa so groß wie das Stadtgebiet<br />
von Köln ist und in dem 1,5 Millionen Palästinenser<br />
leben.<br />
Würde ist ein Fremdwort<br />
Einer von ihnen ist Yousef. Gerade<br />
bindet der 26-Jährige seinen Esel an einen<br />
Mast am Straßenrand. Dieser wird,<br />
nach getaner Arbeit, den Karren ziehen,<br />
beladen mit Steinen, Stahlstreben und<br />
all dem anderen, was der rotblonde Palästinenser<br />
sonst noch an Verwertbarem<br />
aus der Hausruine tragen wird. Schrottsammeln<br />
ist das angeblich am stärksten<br />
florierende Gewerbe in Gaza, denn die<br />
israelische Blockade samt Einfuhrverbot<br />
für Baumaterialien besteht bis heute.<br />
Das, was der Vater von fünf Kindern<br />
täglich für 12 Stunden ausschlachtet,<br />
ist ein 15-stöckiges Gebäude. Zu Beginn<br />
des israelischen Gaza-Krieges um<br />
die Jahreswende 2008/2009 sei es von<br />
zehn israelischen Raketen getroffen worden,<br />
erzählt Yousef, „weil es hoch ist.”<br />
Mit Frau, vier Töchtern und einem Sohn<br />
bewohnt er eine Mini-Wohnung, bestehend<br />
aus einem Zimmer und Bad, die ihn<br />
150 Shekel im Monat kostet. Manchmal<br />
bringt er, je nach Qualität seiner Beute, 15<br />
Schekel Tageslohn nach Hause, manchmal<br />
auch 20 – das sind vier Euro. Damit kann<br />
Yousef (26) vor Hochhaus-Ruine, von israelischen<br />
Raketen im Gaza-Krieg 2008/09 zerstört (Foto J. Zang)<br />
er nicht einmal einen Kubikmeter Wasser<br />
von einem Wassertanklaster kaufen, denn<br />
das Leitungswasser in Gaza fließt nicht<br />
nur spärlich, es ist wegen extrem hoher<br />
Nitrat- und Chloridanteile nicht trinkbar.<br />
Der Stadtteil, in dem Yousef redlich sein<br />
Brot verdienen will, heißt El Karameh<br />
– Würde auf Deutsch. Würde ist zum<br />
Fremdwort in Gaza geworden, wo die<br />
Blockade 80 Prozent der Bevölkerung<br />
zu Almosenempfängern gemacht hat.<br />
Weiter geht die Fahrt mit Taxifahrer Maher,<br />
der mich in den nächsten eineinhalb<br />
Tagen zu mehr als einem Dutzend Interviews<br />
und Gesprächen begleitet: darunter<br />
Menschenrechtsaktivisten und Ärzte, Süßwarenbäcker<br />
und Hausmeister, Studenten<br />
und Menschen, deren Haus von Israel im<br />
Gaza-Krieg 2008/2009 bombardiert wurde<br />
und die es notdürftig wiederaufgebaut<br />
haben oder immer noch in Zelten leben,<br />
Mitarbeiter des Flüchtlingshilfswerks UN-<br />
RWA und junge Leute, die aus dem Auto<br />
springen, um mit mir zu reden, um ihr<br />
Englisch aufzubessern oder die sich von<br />
mir, weil ich Ausländer bin, die Aussicht<br />
auf eine Arbeitsstelle versprechen.<br />
Litanei der Leiden<br />
Diese Tour gleicht einer Tiefbohrung in<br />
die Seele Gazas von einer Leidensschicht<br />
zur nächsten. So wie der berühmte Tell<br />
von Jericho, der alte Schutthügel der palästinensischen<br />
Stadt, 23 Besiedlungsschichten<br />
aufweist, scheint die Seele Gazas aus<br />
mindestens ebensovielen Schmerzensschichten,<br />
Wunden und Narben zu bestehen.<br />
Die meisten sind Facetten und Folgen<br />
israelischer Besatzung oder der Reaktion<br />
des israelischen Militärs auf palästinensische<br />
Attentate, Anschläge oder Raketen;<br />
einige haben ihren Ursprung im innerpalästinensischen<br />
Bruderkampf zwischen<br />
Hamas und Fatah. Zusammen lesen sie<br />
sich wie eine Litanei der Leiden:<br />
Bombardiert Beschlagnahmt Blockiert<br />
Israel hat schon 1982 durch den Zaunbau<br />
die Stadt Rafah in zwei Hälften geteilt. Israel<br />
hat mittels des Systems der Passierscheine<br />
die Zahl der in Israel arbeitenden<br />
Palästinenser eingeschränkt. Israel hat<br />
den im Bau befindlichen Seehafen Gazas<br />
bombardiert. Gleiches gilt für den damals<br />
bereits fertiggestellten und in Betrieb befindlichen<br />
Flughafen. Bis heute erlaubt Israel<br />
es nicht, See- und Flughafen wieder<br />
aufzubauen. Israel hat, obwohl die Abkommen<br />
den Palästinensern das Fischen<br />
bis zu 20 Seemeilen erlauben, Schritt für<br />
Schritt diese Zone bis auf drei Seemeilen<br />
eingeschränkt – die reichen Fischgründe<br />
finden sich aber erst ab acht bis zehn<br />
Seemeilen. Israels Marine hat wiederholt<br />
Fischerboote beschossen, Fischer erschossen<br />
oder verhaftet, ihre Ausrüstung beschlagnahmt<br />
oder beschädigt. Israel zielt<br />
mittels lasergesteuerter Raketen oder unbemannter<br />
Drohnen auf mutmaßliche Terroristen:<br />
Regelmäßíg müssen unbeteiligte,<br />
unschuldige Passanten in der Nähe der<br />
Zielperson dafür mit ihrem Leben büßen.<br />
Israel zerstört immer wieder mit Bulldozern<br />
Felder, Äcker und Plantagen. Israel<br />
hat die Pufferzone zum Zaun, der den<br />
ganzen Gaza-Streifen umgibt, von anfangs<br />
300 Metern auf 1500 Metern ausgedehnt:<br />
Damit können 17 Prozent der landwirtschaftlichen<br />
Fläche Gazas nicht genutzt<br />
werden. Israel hat das West-Jordanland<br />
und den Gaza-Streifen so voneinander isoliert,<br />
obwohl sie laut Oslo-Verträgen eine<br />
territoriale Einheit sind, dass es für einen<br />
gesunden Palästinenser fast unmöglich ist,<br />
eine Erlaubnis zu erhalten, um von<br />
Generatoren stehen überall in den Straßen bereit, denn jeden Moment kann der Strom ausfallen - seit Israel im<br />
Sommer 2006 das einzige Kraftwerk Gazas bombardierte (Foto J. Zang)<br />
einem Gebiet in das andere zu fahren.<br />
Immer wieder berichten mir Menschen<br />
wie Um Khalil aus Gaza-Stadt, dass ihre<br />
Töchter weder zur Beerdigung ihres Vaters<br />
nach Gaza, noch ihr Sohn Khalil zur<br />
Bestattung seiner Schwester nach Ramallah<br />
reisen durfte. Auch Export und Import<br />
hängen bis heute von Israels Gnade ab: In<br />
den letzten fünf Jahren waren die Übergänge<br />
für Waren, seien es Baumaterialien,<br />
Schnittblumen oder Kirschtomaten, nur an<br />
wenigen Tagen geöffnet, mit verheerenden<br />
Folgen für die Wirtschaft. Familien sind<br />
getrennt – ein Ehepartner im West-Jordanland,<br />
der andere in Gaza. Rami Tarazi,<br />
ein 32 Jahre alter Sozialarbeiter und Vater<br />
zweier kleiner Kinder, wird sehr deutlich.<br />
Der palästinensische Christ urteilt so:<br />
„Das hier ist ein Gefängnis. Uns wird die<br />
Luft abgedrückt. Es gibt keine Menschlichkeit.<br />
Es gibt keine Hoffnung und keine<br />
Zukunft.” Wird er, wenn einige Staatschefs<br />
und Außenminister dieser Welt endlich intervenieren,<br />
doch noch Zukunft haben?<br />
Raketen gegen Raketen<br />
Die Litanei der Israelis liest sich kürzer:<br />
Angst und Traumatisierung im südlichen<br />
Israel nach fast zehn Jahren des Raketenbeschusses.<br />
Doch Israel setzt weiterhin<br />
auf Symptombehandlung: Kürzlich<br />
hat es das mobile Raketenabwehrsystem<br />
Iron Dome (Eiserne Kuppel) installiert,<br />
das über 300 Millionen Euro gekostet<br />
haben soll. Dazu kommen die Kosten<br />
pro Abfangrakete von etwa 50 000 Euro.<br />
Die Wurzelbehandlung sähe anders aus:<br />
Aufhebung der Blockade, dazu ehrliche<br />
Verhandlungen mit einem festgesetzten<br />
Zieldatum für die Ausrufung eines palästinensischen<br />
Staates. Nach Meinung der<br />
Vereinten Nationen hat die palästinensische<br />
Autonomiebehörde nun die Voraussetzungen<br />
erfüllt, um einen palästinensischen<br />
Staat regieren zu können. Wird die<br />
internationale Staatengemeinschaft Palästina<br />
eine Chance dazu geben? Es ist allerhöchste<br />
Zeit.<br />
Johannes Zang war am 10. bis 11. April 2011<br />
zum ersten Mal seit Sommer 2008 wieder in<br />
Gaza. Sowohl im Februar 2009 als auch 2010<br />
stellte er via Fax Anträge für die Einreise nach<br />
Gaza beim israelischen Militär. Zusätzlich<br />
wurde er im israelischen Regierungspresseamt<br />
in Jerusalem vorstellig, wo er nicht nur<br />
seinen internationalen Presseausweis, sondern<br />
auch Schreiben von Zeitungen vorlegte,<br />
aus denen Arbeitsaufträge zum Thema GAZA<br />
hervorgingen. In beiden Fällen hieß es bis<br />
zum Tag der Rückreise nach Deutschland:<br />
„Ihr Antrag wird noch bearbeitet.“<br />
Johannes Zang, Nahostreferent, Journalist<br />
und Pilgerführer, liest aus seinem Buch:<br />
Unter der Oberfläche. Erlebtes aus Israel und Palästina,<br />
AphorismA Verlag, 2010 (4. Aufl.)
„Israel verweigerte sich“<br />
Völkerrechtler Tomuschat über die Aufarbeitung des Gaza- Krieges<br />
Der renommierte Professor für Völkerrecht<br />
Christian Tomuschat ist viel für die<br />
Vereinten Nationen unterwegs. Zuletzt<br />
leitete er für den UNO- Menschenrechtsrat<br />
die Kommission des ersten<br />
Nachfolgeberichts zum Goldstone Report<br />
über den Gaza-Krieg 2008/ 09. Gegen<br />
dessen Relativierung hat er sich mehrfach<br />
klar ausgesprochen. Christian Kercher traf<br />
ihn am 22.April in der Berliner Humboldt<br />
Universität.<br />
Prof. Dr. Christian Tomuschat (Foto C. Kercher)<br />
Haben Sie als Deutscher gezögert, der<br />
Anfrage der UN-Hochkommissarin für<br />
Menschenrechte nachzukommen?<br />
Ich bin nicht der Auffassung, dass man<br />
sich als Deutscher zurückhalten müsste,<br />
sonst hätte ich zum Beispiel gar nicht im<br />
Menschenrechtsausschuss der Vereinten<br />
Nationen mitwirken können. Das ist es<br />
gerade, was uns die schlimmen Zeiten<br />
der Vergangenheit gelehrt haben, dass<br />
wir das Recht auf jedermann ohne<br />
irgendeine Bevorzugung oder Benachteiligung<br />
anwenden sollten. Mir ist<br />
bewusst, dass Deutschland als Staat eine<br />
besondere Verantwortung für Israel hat.<br />
Andererseits haben wir als Deutsche auch<br />
eine besondere Verantwortung für das<br />
Recht, gerade das Völkerrecht, das bei<br />
uns im Grundgesetz mit Artikel 25 an so<br />
hervorragender Stelle steht. Dem fühle ich<br />
mich verpflichtet.<br />
Können Sie die Arbeitsweise der Kommission<br />
beschreiben? Wann haben Sie<br />
begonnen?<br />
Im Juni letzten Jahres haben wir in Genf<br />
begonnen. Im September mussten wir<br />
den Bericht vorlegen. Wir sollten nicht<br />
die Taten, wie sie im Goldstone-Bericht<br />
geschildert sind, nochmals untersuchen,<br />
sondern der Frage nachgehen, ob Israel<br />
und die Palästinenser die gebotenen Konsequenzen<br />
aus diesem Bericht ziehen.<br />
Die Kontaktaufnahme war schwierig<br />
(...), vor allem hat Israel sich jeder Zusammenarbeit<br />
versagt, genau wie zuvor<br />
gegenüber Goldstone und unserer<br />
Nachfolge-Kommission. Das ist sehr bedauerlich,<br />
wenn man darauf angewiesen<br />
ist, Informationen zu erhalten. So war es<br />
uns verwehrt, nach Israel zu reisen oder<br />
zur palästinensischen Autonomiebehörde<br />
nach Ramallah. Wir sind nach Amman<br />
geflogen, um uns dort mit Menschenrec<br />
htsorganisationen der Palästinenser und<br />
Israelis zu treffen. Das war eine vorzügliche<br />
Zusammenarbeit. Eine zweite Reise<br />
unternahmen wir nach Gaza über Kairo,<br />
um Gespräche zu führen mit Opfern selbst,<br />
Menschenrechtsorganisationen, auch mit<br />
dem Hamas-Justizminister, aber in seiner<br />
Funktion als Vorsitzender der in Gaza<br />
eingesetzten Untersuchungskommission.<br />
Aufschlussreich war der Kontakt mit<br />
den Opfern, die erlebt haben, wie auf<br />
israelischer Seite mit den Geschehnissen<br />
umgegangen wird: aus palästinensischer<br />
Sicht nicht günstig. Teilweise hat man den<br />
Palästinensern überhaupt kein Gehör<br />
geschenkt bei Fällen, wo Menschen ums<br />
Leben gekommen sind und in Israel<br />
Untersuchungen stattgefunden haben. Den<br />
Angehörigen ist nichts mitgeteilt worden<br />
über den Verfahrensverlauf. (…) Im August<br />
2010 waren noch in keinem einzigen<br />
Fall irgendwelche Entschädigungen gezahlt<br />
worden. In einigen Fällen sind<br />
Palästinenser am Grenzübergang Erez<br />
als Zeugen vernommen worden. Uns<br />
wurde berichtet, dass man die Zeugen mit<br />
absoluter Verachtung behandelt habe. Sie<br />
wurden stundenlang in einen Warteraum<br />
eingeschlossen. Es wurde ihnen sogar<br />
verwehrt, auf die Toilette zu gehen.<br />
Was ist das Ergebnis des Berichts?<br />
Letztlich konnte die Kommission ihren<br />
Auftrag nicht erfüllen, weil es ihr an Fakten<br />
fehlte. Israel hat drei eigene Berichte<br />
eingereicht, beim UN-Generalsekretär<br />
selbst und nicht bei uns, als Demonstration<br />
seiner Verweigerungshaltung. Sie sind aufschlussreich<br />
zur israelischen Argumentation:<br />
Was Goldstone behaupte, dass<br />
zivile Objekte ohne jede Berechtigung<br />
beschossen worden seien, treffe nicht<br />
zu. Denn von dort sei Feuer auf die<br />
israelischen Truppen eröffnet worden.<br />
Das sind Dinge, die nicht nachgeprüft<br />
werden können. Was die eingeleiteten<br />
Gerichtsverfahren angeht, so spricht der<br />
letzte israelische Bericht vom Juli 2010 von<br />
einer einzigen Verurteilung eines Soldaten<br />
in Gaza wegen des Diebstahls einer<br />
Kreditkarte. Als israelische Regierung<br />
hätte ich das nicht mitgeteilt, weil es<br />
den Eindruck erweckt, dass man sich<br />
mit dem Kern der Vorwürfe gar nicht<br />
auseinandergesetzt habe. Das ganze<br />
Ausmaß des Geschehens ist von Israel nicht<br />
aufgearbeitet worden. Zumindest politisch<br />
hätte eine Anstrengung unternommen<br />
werden müssen, vornehmlich durch die<br />
Einsetzung eines parlamentarischen Unter<br />
suchungsausschusses. Eigentlich hätte ein<br />
Aufschrei durch ein Land gehen müssen,<br />
das sich als Rechtsstaat versteht. Das<br />
Verhältnis von 1400 palästinensischen zu<br />
14 Toten auf israelischer Seite spricht doch<br />
für sich und gibt Anlass zu Fragen. Die<br />
Fragen sind aber nicht gestellt worden.<br />
Ist die Rechtsstaatlichkeit Israels nur ein<br />
Lippenbekenntnis?<br />
Das lässt sich nicht sagen. Tatsache ist<br />
aber, dass in einem Lande, das sich so<br />
existentiell bedroht fühlt, die Bedrohung<br />
das Denken und Handeln aller prägt. Und<br />
die Gerichte sind ganz offensichtlich Teil<br />
des Herrschaftssystems. Sie korrigieren<br />
hie und da, aber ich wüsste nicht, dass die<br />
Politik der Aneignung palästinensischen<br />
Landes vom Obersten Gerichtshof jemals<br />
gestoppt worden wäre. Dass die<br />
Siedlungen sich immer weiter ausbreiten,<br />
darf eigentlich nicht sein. Israel ist sicher<br />
ein Staat, der nach rechtlichen Normen<br />
lebt, aber ob die Palästinenser wirklich<br />
gleich behandelt werden, ist eine<br />
offene Frage. Was wir erfahren haben,<br />
insbesondere die Berichte von der üblen<br />
Behandlung der palästinensischen Zeugen<br />
beim Übergang Erez von Gaza nach Israel,<br />
ist ein deutliches Zeichen dafür, dass es<br />
eine klare Diskriminierung gibt. Das darf<br />
in einem Rechtsstaat nicht vorkommen,<br />
und ein Richter, der solche Zeugen<br />
vernimmt, dürfte nicht akzeptieren, dass<br />
die Menschen, die vor ihm auftreten,<br />
vorher so behandelt worden sind.<br />
Was erwarten Sie von der deutschen<br />
Außenpolitik in bezug auf Israel?<br />
<strong>PalästinaIsraelZeitung</strong> • Juli 2011 • Seite 4<br />
1946 UN-Teilungsplan 1947 1949 - 1967 2000<br />
60 Jahre Israel - 60 Jahre Entrechtung der Palästinenser - graphische Darstellung der<br />
Landnahme 1946 bis heute<br />
Gaza Freiheits-Flotille die Zweite<br />
15 Schiffe aus verschiedenen europäischen Häfen sollen<br />
in der dritten Juniwoche Kurs auf Gaza nehmen,<br />
teilte die Internationale Free Gaza Bewegung am 9. Mai<br />
2011 in Paris mit. Das deutsche Schiff soll auf den Namen<br />
‚Tahrir‘ getauft werden, dem Platz der erfolgreichen<br />
Revolution in Kairo. Ziel ist die Beendgung der Blockade Gazas. Die von Israel versprochenen<br />
Lockerungen seien unzureichend und zum größten Teil nicht eingehalten worden,<br />
kritisierten 25 europäische Menschenrechtsorganisationen in einer Erklärung. Information<br />
und Spendenaufruf unter: www.freegaza.de und www.kopi-online.de C. K.<br />
Dass Frau Merkel bei ihrer Rede in<br />
der Knesset 2009 Israel Deutschlands<br />
bedingungslose Unterstützung zusagte,<br />
ohne die Palästinenser auch nur mit<br />
einem Wort zu erwähnen, halte ich für<br />
einen Fehler. Israel darf nicht mit einem<br />
Sondermaß gemessen werden. Ich erwarte<br />
von der deutschen Politik, dass sie dies klar<br />
zum Ausdruck bringt. Das liegt ja auch im<br />
Interesse von Israel selbst. Israel muss sein<br />
eigenes Überleben in der Region sichern,<br />
und es kann sich nicht allein auf die<br />
Macht der Waffen verlassen. Europa nach<br />
dem Zweiten Weltkrieg kann als Beispiel<br />
dienen. Die Gründung der Europäischen<br />
Gemeinschaft für Kohle und Stahl öffnete<br />
den Weg, mit den ehemaligen Feinden<br />
die Zukunft zu bauen. Stattdessen wird in<br />
Israel ausgegrenzt. Man muss sich Freunde<br />
schaffen in seiner Umgebung. Das scheint<br />
keine Leitlinie der israelischen Politik zu<br />
sein, was mir unverständlich ist.<br />
Ich vertraue auf die Wirkung von klaren<br />
Worten. Deutschland muss sagen: Wir<br />
erwarten, dass es in Israel rechtsstaatlich<br />
zugeht, dass die Siedlungspolitik und die<br />
Diskriminierung aufhören. Wir bieten<br />
Unterstützung an für ein sicheres Israel<br />
in sicheren Grenzen, aber eben auch für
<strong>PalästinaIsraelZeitung</strong> • Juli 2011 • Seite 5<br />
Westjordanland (Westbank)<br />
Legende<br />
Palästinensische<br />
Gebiete<br />
ein sicheres Palästina in sicheren Grenzen.<br />
Israel schadet sich selbst, und der ganze<br />
Westen schadet sich selbst, wenn die Dritte<br />
Welt den Vorwurf erheben kann, dass<br />
man auf dem Gebiet der Menschenrechte<br />
unterschiedlich im Sinne von „deux<br />
poids et deux mesures“, also nach einem<br />
Doppelstandard, handele.<br />
Zunächst einmal sollte es in Israel mehr<br />
Menschen geben, auch Politiker, die<br />
sich bewusst zu einer anderen Haltung<br />
bekennen und ihren Leuten sagen, dass<br />
sie so nicht weiter machen können. Das ist<br />
das Allerwichtigste.<br />
Map© Foundation for Middle East Peace. Jan de Jong<br />
Grüne Linie (1949/<br />
Grenzen von 1967)<br />
Mauer/Zaun<br />
(‚Sperranlage‘)<br />
Militärische<br />
Sperrzone<br />
Israelische Siedlungen/<br />
Siedlungsgebiete<br />
Dazu würden natürlich auch klare Stellungnahmen<br />
der Europäer nützen, die<br />
gleichzeitig sagen müssen: Israel, wir<br />
sind bereit, deine Sicherheit zu verbürgen<br />
– in den Grenzen von 1967 oder auf<br />
der Grundlage eines davon abgeleiteten<br />
Friedensvertrages. Da sind wir bereit,<br />
auch große Opfer zu bringen. Das würde<br />
allen Seiten gut tun.<br />
Haben Sie Hoffnung für eine friedliche<br />
Lösung in Nahost?<br />
Im Augenblick sehe ich nur Probleme.<br />
Ich würde wirklich sehr hoffen, dass ein<br />
Daten und Fakten zu Mauer und Siedlungen<br />
in Westbank und Jerusalem<br />
• Die ‚Sperranlage‘ ist 723 km lang. Sie<br />
besteht aus 30 km Betonmauern von 8- 10<br />
Metern Höhe und 693 km Trennzaun, zum<br />
Teil noch im Bau.<br />
• 11,9 % des Westjordanlandes sind durch<br />
den Verlauf von Mauer und Zaun abgetrennt<br />
worden, inklusive der wichtigsten<br />
unterirdischen Wasservorkommen.<br />
• Darin sind 49 Siedlungen enthalten, die<br />
Israel in sein Staatsgebiet einverleiben<br />
will.<br />
• Über 80% aller israelischen Siedlungen<br />
im Westjordanland liegen teilweise oder<br />
ganz auf Grund und Boden, das Palästinensern<br />
gehört.<br />
• Im Westjordanland (ohne Ostjerusalem)<br />
leben rund 286.000 israelische Siedler neben<br />
2,4 Mio Palästinensern.<br />
• In Ostjerusalem leben rund 194.000 israelische<br />
Siedler auf palästinensichem Gebiet.<br />
• Es gibt über 460 Straßensperren im<br />
Westjordanland und 63 Checkpoints, die<br />
mit Soldaten besetzt sind. Nur 35 davon<br />
liegen an den Übergängen nach Israel.<br />
• Durch das Westjordanland führen ca.<br />
700 km Straßen, die für Palästinenser verboten<br />
sind.<br />
Quelle: Peace Now, Israel;<br />
B‘tselem, Israel;<br />
Central Bureau of Statistics, Israel;<br />
www.ochaopt.org – Englische UN Website<br />
für aktuelle Karten und Statistiken<br />
„Die einzige Art von Sicherheit,<br />
die der Staat Israel erreichen<br />
kann ist die von den Völkern<br />
der Region akzeptiert zu werden,<br />
insbesondere von den Palästinensern.<br />
Wir haben einen Streit zwischen<br />
zwei Völkern, die glauben, dass<br />
sie beide das Recht haben, auf<br />
dem gleichen kleinen Stück<br />
Land zu leben. Also müssen wir<br />
lernen, mit ihnen zu leben, oder<br />
neben ihnen, aber nicht so, dass<br />
wir ihnen oder sie uns den Rücken<br />
zukehren.“<br />
Daniel Barenboim in Ha‘aretz,<br />
05. 05. 2011<br />
friedlicher Ausgang möglich ist, aber eine<br />
militärische Politik führt zu militärischen<br />
Reaktionen. Gewalt erzeugt Gewalt.<br />
Das ganze Interview ist nachzulesen unter<br />
www.palästina-israel-zeitung.de<br />
Palästinensische Jungs im Flüchtlingslager<br />
Qalandiya bei Ramallah (Fotografin Esther Erytropel)<br />
Ja, Musa ist zu Hause. Aber ihr müßt den Eingang<br />
auf der anderen Seite nehmen (Zeichnung Dudu Geva)<br />
Mauer um Bethlehem (Foto Caroline Borden)<br />
Israelische Siedlung Har Homa nahe Bethlehem<br />
(Foto Esther Erytropel)<br />
Trennungszaun mit Tor für palästinsische Bauern, deren<br />
Land auf der anderen Seite liegt (Foto C. Kercher)<br />
Checkpoint Huwarra vor Nablus (Foto Esther Erytropel)
Erkennen Sie Palästina an,<br />
Frau Merkel! Gemeinsamer Brief von<br />
Juden und Palästinensern<br />
Hannover, den 16.05.2011<br />
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin Dr.<br />
Merkel,<br />
die Meldungen aus dem Nahen Osten<br />
überschlagen sich in den letzten Wochen.<br />
Die arabischen Völker … bringen einen<br />
Diktator nach dem anderen zum Sturz. Die<br />
Palästinenser stellen ihre Einheit wieder<br />
her. Der Weg zu Demokratie, Freiheit und<br />
Frieden scheint geebnet zu sein.<br />
Die Schaffung eines echten Friedens im<br />
Nahen Osten ist von immenser Bedeutung,<br />
… auch weil hier die Ernsthaftigkeit des<br />
westlichen Diskurses von Demokratie,<br />
Menschenrechten und Völkerrecht auf<br />
dem Prüfstand steht und bisher diese Prüfung<br />
nicht bestanden hat. ... Ohne dass<br />
die Palästinenser endlich einen eigenen<br />
lebensfähigen und unabhängigen Staat<br />
bekommen, wird es keinen Frieden in<br />
dieser Region geben.<br />
Der UNO-Beschluss 181 aus dem Jahr<br />
1947 sah die Teilung Palästinas in einen<br />
arabischen und in einen jüdischen Teil<br />
vor. Es wurde nicht beschlossen, dass<br />
Palästina durch Israel ersetzt wird. Es<br />
wurde auch nicht beschlossen, dass ein<br />
unabhängiger palästinensischer Staat erst<br />
durch Verhandlungen oder gar Zustimmung<br />
Israels entsteht. ...<br />
Die Palästinenser unter Führung von<br />
Mahmud Abbas streben die Ausrufung<br />
dieses Staates an. ... Diesem die Anerkennung<br />
zu verweigern, ist nur Wasser<br />
auf die Mühlen von Extremisten. Mit<br />
Entsetzen stellen wir fest, dass die<br />
Bundesregierung, entgegen der seit Jahren<br />
offiziellen Position für eine Zwei-Staaten-<br />
Lösung, den auszurufenden palästinensischen<br />
Staat nicht anerkennen will.<br />
Wir, in Deutschland lebende Juden<br />
und Palästinenser, fordern gemeinsam<br />
unsere Bundesregierung auf, … den<br />
palästinensischen Staat nach seiner Ausrufung<br />
anzuerkennen. Wir haben kein<br />
Verständnis für Ihre Haltung, dass dieser<br />
seitens Deutschlands nur dann anerkannt<br />
wird, wenn dies durch Verhandlungen<br />
erreicht wird. Damit legen Sie, sehr geehrte<br />
Frau Bundeskanzlerin, das Schicksal der<br />
Palästinenser ausschließlich in israelische<br />
Hand. Seit 20 Jahren gibt es Verhandlungen<br />
zur Bildung eines palästinensischen<br />
Staates, ohne dass dies bis heute erreicht<br />
wurde. In dieser Zeit wurde das potentielle<br />
palästinensische Staatsgebiet durch israelische<br />
Besatzer zersiedelt, entflammte die<br />
zweite Intifada, wurde die Trennmauer<br />
mitten im potentiellen palästinensischen<br />
Staatsgebiet errichtet, und mehrere Kriege<br />
brachen aus, die tausenden Menschen<br />
das Leben kosteten. Mehrere europäische<br />
Staaten haben bereits konkrete Schritte<br />
in Vorbereitung zur Anerkennung eines<br />
palästinensischen Staates bekundet ... .<br />
Deutschland wird durch das Abweichen<br />
von der bisherigen Position viel an<br />
Glaubwürdigkeit verlieren. Wir sind<br />
sowohl Juden als auch Palästinenser, die<br />
in Deutschland leben. Das internationale<br />
Ansehen Deutschlands ist auch unser<br />
Ansehen.<br />
Erstunterzeichner:<br />
Dr. Yazid Shammout<br />
(Palästinensische Gemeinde Hannover)<br />
Prof. Dr. Rolf Verleger (Jüdische Stimme<br />
für einen gerechten Frieden in Nahost)<br />
Um als Mitunterzeichner aufgeführt zu werden, senden<br />
Sie eine E-Mail mit Ihrem Namen und Wohnort an:<br />
propalaestina@googlemail.com<br />
Kämpfer für den Frieden<br />
Ehemalige palästinensische Freiheitskämpfer<br />
und ehemalige israelische<br />
Soldaten haben der Gewalt abgeschworen,<br />
um sich gemeinsam für den Frieden<br />
einzusetzen: Die Combatants for<br />
Peace finden Gehör, wenn sie – immer<br />
zu zweit – vor ihr Publikum treten,<br />
weil Soldaten in Israel und Widerstandskämpfer<br />
gegen die Besatzung in<br />
Palästina als Helden gelten. Ein ehemaliger<br />
Soldat aus Tel Aviv erzählt seine<br />
Geschichte.<br />
von Idan Barir<br />
Als Kind wusste ich genau, was Patriotismus<br />
ist. Ich wuchs mit Bildern des glorreichen<br />
Kampfes von 1967 auf und wünschte<br />
mir, einer der großen Helden Israels zu<br />
sein, der damals die Altstadt von Jerusalem<br />
betrat. 1999 – ein Jahr nachdem ich<br />
zum Militärdienst musste, wurde ich zum<br />
1. Mal in die besetzten Gebiete, nördlich<br />
von Nablus gesandt. Es war sehr ruhig.<br />
Das nächste Mal jedoch war es anders.<br />
Die zweite Intifada war gerade ausgebrochen.<br />
Unsere Basis war eine fast verlassene<br />
Siedlung, Kadim. Wenn man von dieser<br />
Hügelkuppe nach unten in die Stadt Jenin<br />
ging, war es, als ob man vom Himmel<br />
in die Hölle kam. Es war eine völlig verrückte<br />
Zeit. Bewaffnet mussten wir hinter<br />
Jungen mit Steinen durch Gewächshäuser<br />
voller Tomaten und Auberginenpflanzen<br />
herjagen.<br />
Uns war eingeprägt worden, zu glauben,<br />
dass jeder Palästinenser eine Bedrohung<br />
ist. In der 5. Woche, nachdem alle palästinensischen<br />
Gewächshäuser zertrampelt<br />
und zerstört waren, baute das Militär Gräben<br />
– wo einst Tomaten und Auberginen<br />
gediehen. Als ich meinen Armeedienst<br />
beendet hatte, kam ich zu einer Reserve-Einheit<br />
und 2006 wurden wir wieder<br />
nach Jenin beordert. Unser Einsatzort war<br />
ein Kontrollpunkt auf einem kleinen Hügel,<br />
der von hohen Zementwällen umgeben<br />
war. Wir sollten nächtliche Überfälle<br />
machen und Tränengas abfeuern - nur so<br />
zum Spaß. Später wurde ich nach Qalqilya<br />
an einen landwirtschaftlichen Checkpoint<br />
geschickt. Jeden Morgen hatten wir Appell<br />
auf einer großen Terrasse. Mein Kommandeur<br />
wies auf das Land und versuchte, uns<br />
glauben zu machen, dass wir dies verteidigen<br />
sollten. Sie mussten uns ja einen<br />
Grund geben. Er sagte uns, dass wir vielen<br />
Gefahren während unseres Dienstes<br />
ausgesetzt seien, einschließlich Messerattacken<br />
und Schüssen. Die größte Gefahr<br />
aber seien die Machsom Watch Frauen<br />
– israelische Frauen, die ruhig neben den<br />
Kontrollpunkten stünden aus Protest gegen<br />
die israelische Besatzung. Mein Offizier<br />
sagte: „Wenn dich ein Palästinenser<br />
bedroht, dann kann man ihm einfach in<br />
den Kopf schießen, aber leider kannst du<br />
eine Machsom Watch - Frau nicht einfach<br />
erschießen.“ Genau an diesem Tag kam<br />
eine dieser Frauen an meinen Checkpoint<br />
und ich begann mit der sehr netten grauhaarigen<br />
Dame, die mich an meine Großmutter<br />
erinnerte, ein Gespräch. Ich konnte<br />
ihr nicht bei allem zustimmen, aber ich<br />
war stolz, dass sie dort war.<br />
Einige Monate später reiste ich in Deutschland<br />
und traf dort einen Palästinenser aus<br />
Ramallah, der als Kellner arbeitete. Er hieß<br />
Ahmed. Er erzählte mir eine schreckliche<br />
Geschichte, wie er von israelischen Sicherheitsleuten<br />
verhaftet wurde und 10 Tage<br />
lang an einem geheimen Ort festgehalten<br />
wurde. Der Verhörende steckte ihn in einen<br />
Sarg, der halb mit Wasser gefüllt war<br />
und ließ ihn sechs Tage lang darin. Er sagte,<br />
am ersten Tag glaubte er, sie könnten<br />
ihn nicht brechen, am zweiten Tag kotete<br />
er sich ein und urinierte über sich, und<br />
seine Füße begannen zu erfrieren, (...) am<br />
vierten Tag bettelte er um sein Leben und<br />
versprach, alles zu sagen, was sie wollten.<br />
Er war sehr wütend auf die Israelis, und er<br />
sagte mir, anderswo und zu einem anderen<br />
Zeitpunkt hätte er mich umgebracht.<br />
Was mich schließlich zu der Erkenntnis<br />
brachte, dass Gewalt keine Lösung bringt,<br />
waren die Bilder im Fernsehen, wie die<br />
IDF [Israeli Defence Force] den Gazastrei-<br />
<strong>PalästinaIsraelZeitung</strong> • Juli 2011 • Seite 6<br />
Wer nicht hören will, muß fühlen<br />
Ehemalige Schwergewichte der europäischen Politik fordern neue Israel-Politk<br />
von Kian Ramezani<br />
(bearbeitet von C.Kercher)<br />
In einem ungewöhnlichen Brief rufen<br />
26 ehemalige Staatsoberhäupter, Minister<br />
und Vorsteher von europäischen Organisationen<br />
die EU zu einer anderen Politik<br />
gegenüber Israel auf.<br />
Unterzeichnet haben ihn Altkanzler<br />
Helmut Schmidt, Altbundespräsident<br />
Richard von Weizsäcker, der ehemalige<br />
EU-‘Außenminister‘ Javier Solana, der<br />
spanische Ex-Ministerpräsident Felipe<br />
Gonzalez, der frühere Präsident der EU-<br />
Kommission und ehemalige italienische<br />
Ministerpräsident Romano Prodi sowie<br />
die ehemalige irische Präsidentin<br />
Mary Robinson. Die Gruppe der ‚Elder<br />
Statesmen‘ verfasste das Schreiben auf<br />
einer Sitzung Mitte November 2010 in<br />
London. Darin raten sie der EU-Führung,<br />
mehr Verantwortung im Einsatz für<br />
einen gerechten Frieden in Nahost zu<br />
übernehmen. „Das erwarten nicht nur<br />
prominente Araber und Israelis, sondern<br />
auch US-Amerikaner von uns.“<br />
Israel soll wie jedes andere Land<br />
behandelt werden: „Die EU macht seit<br />
Helmut Schmidt, Javier Solana, Richard von Weizsäcker,<br />
Felipe Gonzalez, Romano Prodi und Mary Robinson<br />
(Fotograf: Keystone)<br />
Jahrzehnten unmissverständlich klar,<br />
dass sie die Siedlungen in den besetzten<br />
Gebieten als illegal erachtet, doch Israel<br />
baut sie weiter. Wie jedes andere Land<br />
sollte Israel für seine Handlungen zur<br />
Verantwortung gezogen werden. Die<br />
Glaubwürdigkeit der EU steht auf dem<br />
Spiel.“ Und nicht nur die Glaubwürdigkeit:<br />
„Unsere Gruppe möchte betonen, dass die<br />
EU in den vergangenen zwei Jahrzehnten<br />
sehr substantielle Investitionen in den<br />
Aufbau der Fundamente einer Zwei-<br />
Staaten-Lösung getätigt hat - nicht zuletzt<br />
mit dem Geld von EU-Steuerzahlern.“<br />
Die Blockade des Gaza-Streifens sei<br />
„unakzeptabel und kontraproduktiv“,<br />
heißt es in dem Schreiben. Der freie<br />
Idan Barir (Foto Dubi Roman)<br />
fen mit weißem Phosphor überschüttete.<br />
Während des Trainings wurde uns immer<br />
gesagt, das sei gegen die Genfer Konventionen.<br />
Aber ich sah hier, wie Tag für Tag<br />
diese Phosphor-Bomben benutzt wurden,<br />
um dann am Abend zu hören, wie das Militär<br />
es leugnete. Mein Moralkodex brach<br />
zusammen. Ich bin mit dem Gundsatz aufgewachsen:<br />
Die Armee lügt nie. Das war<br />
der Anfang für mein neues Denken. Ich<br />
schrieb meinem Kommandeur, dass ich<br />
nicht weiter gewillt sei, an irgendeinem<br />
Kampf in den besetzten Gebieten teilzunehmen.<br />
Als Israeli schäme ich mich so, dass unsere<br />
Armee lügt. Auch wegen Ahmeds<br />
Geschichte. Wenn ich ihm noch einmal<br />
begegnen könnte, würde ich ihm sagen:<br />
„Ich werde mit dir deinen Kampf kämpfen.<br />
Aber ich erwarte von dir, dass du andere<br />
davon überzeugst, dass Rache nicht<br />
der Weg in die Zukunft ist.“<br />
(deutsch von Ellen Rohlfs)<br />
www.combatantsforpeace.org<br />
Verkehr von Waren und Menschen, auch<br />
zwischen Gaza und der Westbank, müsse<br />
unverzüglich zugelassen werden.<br />
Die klarsten Worte betreffen die Zukunft<br />
der Friedensverhandlungen. Der Europäische<br />
Rat soll einen Zeitpunkt festlegen,<br />
um die Entwicklungen im Friedensprozess<br />
zu beurteilen. Sollten bis dann keine<br />
Fortschritte erzielt werden, „hat der Rat<br />
keine andere Wahl, als die Angelegenheit<br />
an die internationale Gemeinschaft<br />
weiterzuleiten“. Übersetzt heißt das:<br />
Keine direkten Gespräche mehr zwischen<br />
Palästinensern und Israelis und keine<br />
Vermittlung mehr seitens der USA. Die<br />
UNO soll entscheiden, was mit den<br />
besetzten Gebieten passiert. In letzter Konsequenz<br />
raten die ehemaligen Politiker<br />
der EU-Führung, das zu machen, was<br />
die USA nicht können oder nicht wollen:<br />
Israel zu bestrafen, wenn das Land sich<br />
den Forderungen der internationalen<br />
Staatengemeinschaft widersetzt. Nicht<br />
mit Anreizen, wie es zuletzt die USA<br />
versuchten, sondern mit Strafen soll Israel<br />
zum Einlenken bewegt werden.<br />
Der ganze Brief vom 2. Dezember 2010 steht<br />
unter: www.palästina-israel-zeitung.de
<strong>PalästinaIsraelZeitung</strong> • Juli 2011 • Seite 7<br />
Der Krimi von Itamar und Awarta<br />
Fünf Morde und die kollektive Bestrafung eines palästinensischen Dorfes<br />
von Theo Wettach<br />
Die Lage der Menschen in Awarta nahe<br />
Nablus ist schon seit der Gründung der<br />
israelischen Siedlung „Itamar“ im Jahr<br />
1984 schwierig genug gewesen. Ringsum<br />
auf den Hügeln entstehen ständig neue<br />
‚Outposts‘ (Ableger) auf dem Land des<br />
Dorfes. Aber nach dem Mord an fünf<br />
Mitgliedern der Familie Fogel in Itamar<br />
in der Nacht vom 11. März diesen Jahres<br />
werden die 2.000 Bewohner ihres Lebens<br />
nicht mehr froh.<br />
Awarta liegt laut Oslo- Vertrag in der<br />
Zone C. Hier ist ausschließlich die<br />
israelische Armee für Verwaltung und<br />
Rechtsfragen zuständig. Deshalb hat sie<br />
die Ermittlungen übernommen.<br />
Israelische Polizei sperrt den<br />
Verkehr nach Awarta (Foto: Petter Lydén)<br />
Aus meinen Tagebuchbericht vom<br />
16. April:<br />
Freitagmittag fuhren wir nach Awarta,<br />
dem so oft gequälten Dorf und besuchten<br />
eine Familie. Wir schauten uns ihr Haus und<br />
die Häuser von zwei nahen Verwandten<br />
an. Angeblich hatten die Soldaten nach<br />
Waffen und Terroristen gesucht. Also<br />
rissen sie nicht nur Bettwäsche und<br />
Kleider aus den Schränken, kippten<br />
Zucker, Reis, Olivenöl, Waschpulver<br />
auf den Fußboden, zerschlugen Bilder,<br />
Fernsehgerät, Waschmaschine, sondern<br />
auch die Wasserpumpe, die bisher<br />
für das Trinkwasser sorgte. Alles war<br />
durcheinander geschmissen. Schulhefte<br />
und Bücher der Kinder waren zerfetzt.<br />
Von Soldaten zerstörtes<br />
Wohnzimmer der Familie Awad (Foto: Petter Lydén)<br />
Der Vater der Familie, Mahmoud Noah<br />
Salim Awad, ein palästinensischer Krankenpfleger,<br />
ist seit einiger Zeit in Haft,<br />
irgendwo in Israel, immer noch ohne<br />
Anklage. Zwei Söhne sind ebenfalls im<br />
Gefängnis. Die Familie weiß nicht, wo<br />
sie sich befinden. Ein Anwalt kann nicht<br />
gestellt werden, solange nicht bekannt ist,<br />
wo sie einsitzen.<br />
Die Mutter wollte nicht mit uns sprechen.<br />
Sie hat Angst. Aber die 16-jährige Tochter<br />
Julia Mazan Awad erzählte uns ausführlich<br />
ihre Erlebnisse, oft in Englisch, manchmal<br />
in Arabisch. Zum Glück war ein Vetter da,<br />
der übersetzte: Julia war am vergangenen<br />
Sonntag verhaftet worden. Sie wurde an<br />
Händen und Füßen gefesselt, ihre Augen<br />
verbunden. Zunächst wurde sie in ein<br />
Militärgefängnis in Huwwara gebracht,<br />
ein paar Kilometer vor Nablus. Am Montag<br />
wurde sie dann in ein großes Gefängnis<br />
bei Haifa gebracht, wo sie stundenlang<br />
verhört wurde: „Wo sind die Terroristen,<br />
die die Familie in Itamar umgebracht<br />
haben? Wo sind deine Waffen?“ Immer<br />
wieder, immer von neuem. Einen ganzen<br />
Tag lang durfte sie nicht aufs Klo gehen,<br />
sie kriegte nichts zu essen, nur Wasser.<br />
Schließlich wurde sie vorgestern mit Gewalt<br />
gezwungen, ein hebräisch geschriebenes<br />
Papier zu unterschreiben. Sie kann kein<br />
Hebräisch. Niemand erklärte ihr, was sie<br />
zu unterschreiben hatte. Eine Kopie wurde<br />
ihr nicht gegeben. Zuhause fand sie ihre<br />
verzweifelte Mutter vor: Alles war kaputt.<br />
Geld, Laptops, Handys waren gestohlen.<br />
Auch ihre kleinen Schwestern hatten alles<br />
miterleben müssen und sind traumatisiert.<br />
Die jüngste ist gerade mal 3 Jahre alt.<br />
Außer uns beiden EAPPI-Mitarbeitern<br />
aus Yanoun waren noch eine Mitarbeiterin<br />
von ISM da (International Solidarity<br />
Movement), zwei Frauen aus Kanada und<br />
ein britischer Kameramann. Julia bat uns:<br />
„Bitte erzählt in euren Ländern, was ihr<br />
hier gesehen und erlebt habt. Helft uns!“<br />
Dann fragte sie: „Darf ich für euch, für<br />
meinen Vater und für meine Brüder ein<br />
Lied singen?“ Und Julia sang, zuerst auf<br />
Englisch, dann auf Arabisch ein Lied von<br />
Gerechtigkeit und Freiheit. Lieder, die sie<br />
sich im Gefängnis ausgedacht hatte. Ich<br />
habe das nicht mehr ausgehalten, bin raus<br />
gegangen und habe geheult, traurig und<br />
empört über so viel Unmenschlichkeit, und<br />
gerührt über den Mut dieses Mädchens.<br />
Wir haben sie dann gefragt: Was wünschst<br />
du dir eigentlich?“ Und sie antwortete:<br />
„Ich möchte nur mit meinen Eltern und<br />
Geschwistern in Frieden leben, in einem<br />
freien Land Palästina.“<br />
Wir fragen uns:<br />
Foto Theo Wettach:<br />
Julia Mazan Awad (in schwarz)<br />
1. Warum werden Leute aus Awarta verdächtigt,<br />
obwohl festzustehen scheint,<br />
dass niemand von außen in die Siedlung<br />
eingedrungen ist, die durch Wachhunde,<br />
Stacheldraht, elektrische Zäune, Wachtürme<br />
und private Sicherheitsdienste gesichert<br />
ist?<br />
2. Nach etwa 3 Wochen wurde bekannt,<br />
dass ein asiatischer Gastarbeiter, vermutlich<br />
aus Thailand, über seinen jetzt ermordeten<br />
Chef wütend war, weil der Lohn zurückbehalten<br />
worden sei. Es stellte sich<br />
heraus, dass keine Palästinenser, sondern<br />
Asiaten in Itamar beschäftigt waren, alle<br />
ohne Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis.<br />
Alle wurden abgeschoben. Einer trotz<br />
dringenden Tatverdachts. Warum?<br />
3. Warum sind immer noch fast 30<br />
Personen in Haft, wenn angeblich die<br />
Schuldigen gefunden sind? Warum werden<br />
immer wieder Menschen aus dem Dorf<br />
verhaftet?<br />
4. Warum wurden die beiden jungen<br />
Männer am Tag nach dem Mord verhaftet,<br />
nach einigen Tagen frei gelassen, um dann<br />
wenige Tage später wieder verhaftet zu<br />
werden? Angeblich waren die Fußspuren<br />
vom Tatort zu den Wohnhäusern der<br />
beiden Verdächtigen unübersehbar.<br />
5. Wie war es möglich, fünf Personen<br />
mit einem Messer zu töten, ohne dass<br />
Nachbarn oder Sicherheitsleute aufmerksam<br />
wurden?<br />
6. Warum dürfen in Leserbriefen an<br />
israelische Medien die Angehörigen der<br />
beiden Verdächtigten als Tiere bezeichnet<br />
werden, für die jedes Mitleid falsch und<br />
mit denen jedes Gespräch schon ekelhaft<br />
sei?<br />
Inzwischen hat die israelische Armee<br />
bekannt gegeben, einer der Brüder Julias,<br />
der 19-jährige Hakim habe zusammen<br />
mit seinem 18-jährigen Freund Amjad<br />
Avad die schreckliche Tat begangen. Die<br />
Mutter Julias, Nouf Awad, beteuert, ihr<br />
Sohn sei nach einer schweren Operation<br />
gar nicht in der Lage gewesen, das Haus<br />
zu verlassen, und er sei in jener Nacht<br />
zuhause gewesen. Und die Eltern des<br />
anderen jungen Mannes sind bereit, unter<br />
Eid auszusagen, dass ihr Sohn in der<br />
Mordnacht das Elternhaus nicht verlassen<br />
habe.<br />
Fakten aus Awarta<br />
(Stand: 10. Mai 2011)<br />
Einwohnerzahl 2000<br />
Einwohner bis heute in Haft: 28<br />
Einwohner insgesamt, die<br />
verhaftet und<br />
weggebracht waren: 600-700<br />
Militärische Ausgangssperre: 11 Tage<br />
(5+1+2+1+1+1)<br />
Hausdurchsuchungen: 1500 (!)<br />
Häuser, die über Nacht<br />
von Soldaten besetzt waren: 30<br />
Theo Wettach (69) ist evangelischer<br />
Pfarrer in Ruhe aus Würzburg. Er hat<br />
bis zum 15. Mai 2011 als Freiwilliger<br />
drei Monate für den Friedensdienst von<br />
Weltkirchenrat und Pax Christi EAPPI<br />
gearbeitet (Ecumenical Accompaniment<br />
Programme in Palestine/Israel).<br />
Sein Team schützte Yanoun, das Nachbardorf<br />
von Awarta, vor den Übergriffen der<br />
israelischen Siedler von Itamar.<br />
(www.eappi.org)<br />
Es gibt zwei getrennte und ungleiche<br />
Rechtssysteme nebeneinander, eines<br />
für Israelis, eines für Palästinenser. (...)<br />
Die fast gänzliche Straflosigkeit, mittels<br />
derer die israelische Strafjustiz Siedlern<br />
erlaubt, Straftaten, einschließlich<br />
Mord gegen Palästinenser zu begehen,<br />
verletzt nicht nur grundlegende Menschenrechte,<br />
sondern zersetzt auch die<br />
Rechtsstaatlichkeit und stellt grundlegende<br />
moralische Werte in Frage.“<br />
The Palestinian Human Rights Monitor<br />
Ich habe es satt<br />
„...Siedlungen...“ Karikatur von Al-Ali<br />
Am 15. Mai 2011 feierte Israel seine<br />
Staatsgründung vor 63 Jahren. Die Palästinenser<br />
erinnern sich dabei an die<br />
Vertreibung aus ihrer alten Heinat, an die<br />
‚Nakba‘ (arabisch für ‚Katastrophe‘) und<br />
ihre Fortsetzung in Form von Besatzung<br />
und Diskriminierung. Das Gedicht ist ein<br />
Zitat aus dem palästinensischen Youtube-<br />
Video: „I am sick of - 63 years of Nakba“.<br />
Ich bin sie leid, die Mauer<br />
Ich bin sie leid, die Checkpoints zwischen<br />
palästinensischen Städten<br />
Ich bin sie leid, die illegalen israelischen<br />
Siedler und Siedlungen<br />
Ich bin sie leid, die hebräische Schrift in<br />
meinem Personalausweis<br />
Ich bin die Leute leid, die keine Ahnung von<br />
unserer Geschichte haben, aber so viel über<br />
die jüdische Geschichte wissen<br />
Ich bin die Leute leid, die sich einen Dreck<br />
um das Rückkehrrecht der Palästinenser<br />
scheren, aber den Juden das Rückkehrrecht<br />
nach Israel per Gesetz garantieren<br />
Ich bin das Oslo-Abkommen leid, das keiner<br />
hier je gewollt hat<br />
Ich bin die Palästinensische Autonomiebehörde<br />
leid, die null Autonomie hat<br />
Ich bin es leid mit anzusehen, wie mein Vater<br />
am Checkpoint gedemütigt wird von Leuten,<br />
die so alt sind wie ich oder jünger<br />
Ich bin es leid, dass meine ausländischen<br />
Freunde lügen müssen, wenn sie mich<br />
besuchen wollen. Sie werden verhört,<br />
müssen sich ausziehen. Manchmal werden<br />
sie ausgewiesen.<br />
Ich bin die Leute leid, die nicht kapieren, was<br />
‚Besatzung‘ bedeutet<br />
Ich bin es leid, dauernd Angst zu haben<br />
Ich bin es leid, das post-traumatische<br />
Stress-Syndrom, das hier in Palästina der<br />
Normalzustand ist.<br />
Ich bin es leid, wie erfolglos die UN<br />
inzwischen ist<br />
Ich bin es leid, dass das humanitäre<br />
Völkerrecht für Israel nicht gilt<br />
Ich bin es leid, dass der Einsatz für die<br />
Grundrechte der Palästinenser oder Kritik<br />
an der Politik Israels so oft ‚antisemitisch‘<br />
genannt wird<br />
Ich bin es leid, dass alle immer vergessen,<br />
dass ich Semit bin<br />
Ich bin es leid, Israelis über Diskriminierung<br />
klagen zu hören, verfolgen sie doch das Ziel<br />
eines rein jüdischen Staates<br />
Ich bin es leid, dauernd verdächtigt zu<br />
werden<br />
Ich bin es leid, wie die meisten Medien uns<br />
und unsere Lage darstellen<br />
Ich bin es leid: Die ganze Welt sorgt sich um<br />
Gilad Shalit und mehr als 7.000 Palästinenser<br />
sitzen in israelischen Gefängnissen<br />
Ich bin es leid: Wenn ich mich selbst, meine<br />
Freunde oder meine Landsleute verteidige,<br />
bin ich ein „Terrorist“.<br />
Ich bin es leid: Überall wo ich hingehe, kriege<br />
ich die Mauer, eine Siedlung oder einen<br />
israelischen Soldaten zu sehen.<br />
63 Jahre – ich bin sie leid<br />
(Deutsch von Ulrike Vestring)
Buchbesprechungen<br />
Alexander Flores, Der Palästinakonflikt,<br />
Verlag Herder 2009, 120 Seiten,<br />
mit einem Anhang zur Chronologie<br />
1882 bis 2009, 8,95 Euro<br />
Dass sich der Herder-Verlag an das Thema<br />
herantraut, ist beachtlich. Denn die<br />
Christenheit hat immer noch grundlegende<br />
Schwierigkeiten, „das biblische Israel“<br />
oder „das Israel des Glaubens“ vom heutigen<br />
Staat „Israel“ zu trennen. In Alexander<br />
Flores, dem Bremer Nahosthistoriker und<br />
Islamwissenschaftler, hat der Verlag einen<br />
hervorragenden Autor gefunden: In kurzen<br />
Abschnitten beschreibt er prägnant<br />
und präzise Geschichte und Gegenwart<br />
des Nahostkonflikts.<br />
Eine kleine Schwäche besteht darin, dass<br />
Flores die zionistische Politik nur in der<br />
europäischen Judenverfolgung und im Holocaust<br />
begründet sieht und nicht zugleich<br />
in der säkularen Krankheit des Nationalismus,<br />
die unter bestimmten Umständen<br />
jedes Volk der Erde befallen kann und<br />
schwer heilbar ist, erst recht nicht, wenn<br />
sie sich mit religiösem Fundamentalismus<br />
verbindet. Dieses Buch gibt in der Kürze<br />
einen so fundierten Überblick, dass man<br />
nur empfehlen kann, es zu lesen und zu<br />
verschenken.<br />
Peter Bingel<br />
Naim Stifan Ateek, Gerechtigkeit und<br />
Versöhnung, Eine palästinensische<br />
Stimme AphorismaA Verlag, Berlin<br />
2010, 280 Seiten, 15,00 Euro<br />
„Was sehe und höre ich aus dem Heiligen<br />
Land? Einige Menschen können sich<br />
nicht frei von einem Ort zum anderen<br />
bewegen. Eine Mauer trennt sie von ihren<br />
Familien und von ihrer wirtschaftlichen<br />
Grundlage, sie können ihre Gärten<br />
nicht erreichen oder den Unterricht in<br />
der Schule. Sie werden an den Kontrollpunkten<br />
beliebig erniedrigt, sind der<br />
launenhaften Willkür der Bürokratie<br />
ausgesetzt. Ich weine um den Schaden,<br />
der jeden Tag den menschlichen Seelen<br />
und Körpern angetan wird. Ich muss<br />
Rechts: Tal von Yanoun nahe Nablus, nördliches West-<br />
Jordanland - Das Dorf wird von israelischen Siedlern<br />
eingekesselt. Auf der Höhe links sind die Stromleitungen<br />
des Außenpostens zu erkennen, der mit der Siedlungskolonie<br />
‚Itamar‘ verbunden ist. (Foto C. Kercher)<br />
Mauer-Graffiti bei Ramallah<br />
(Foto Nicolaus Raßloff)<br />
die Wahrheit sagen: Alles erinnert mich<br />
an das Joch der Unterdrückung, das<br />
einst unsere Last in Südafrika war.“ So<br />
beginnt Erzbischof Desmond Tutu sein<br />
Geleitwort. Was er damit beschreibt, ist<br />
der bedrückende Hintergrund für die<br />
„Theologie und Theopraxis der gewaltfreien<br />
Gerechtigkeit und Liebe“, die der<br />
anglikanische Pfarrer Dr. Naim Ateek in<br />
seinem Buch entwickelt. Er leitet in Ost-<br />
Jerusalem ‚Sabeel‘ (arab. Quelle, Weg),<br />
das ökumenische Zentrum für palästinensische<br />
Befreiungstheologie. Ateek ist einer<br />
der Autoren des Appells „Kairos- Palästina<br />
- Die Stunde der Wahrheit“, mit der sich<br />
prominente palästinensische Christen aus<br />
Protest gegen die Besetzung ihres Landes<br />
im Dezember 2009 an die Weltöffentlichkeit<br />
wandten. Ateek widerlegt das Bibelverständnis<br />
der „christlichen Zionisten“,<br />
die das Land zwischen Mittelmeer und<br />
Jordan allein den Juden bzw. dem Staat<br />
Israel zusprechen. Im Mittelpunkt seiner<br />
Theologie steht Jesus Christus als der leidende<br />
Gottesknecht (Jesaja 53) und sein<br />
Weg der Gewaltfreiheit und der leidenden<br />
Liebe. Jede Befreiungstheologie kann in<br />
ihrer Ausformulierung immer nur von den<br />
betroffenen Gefangenen authentisch vertreten<br />
werden. Aber als Anteilnehmende<br />
können wir theologisch und menschlich<br />
viel davon lernen.<br />
Peter Bingel<br />
Impressum<br />
Burghard Bock, Wil Tondok, Reiseführer<br />
Palästina - Reisen zu den<br />
Menschen, Reise Know-How 2011,<br />
244 Seiten, 10 Euro<br />
Einmal zu sehen ist besser als hundertmal<br />
zu hören, sagt ein chinesisches Sprichwort.<br />
Das gilt besonders für die Schönheit und<br />
die Geplagtheit Palästinas. Der erste<br />
deutschsprachige Palästina-Führer lädt ein,<br />
die Westbank kennenzulernen. Nicht nur<br />
einen Tagesausflug lang nach Bethlehem<br />
oder Jericho, sondern eine richtige Reise<br />
lang. Das überschaubare Risiko liegt nicht<br />
höher als eine deutsche Autobahn zu<br />
befahren.<br />
Dieser Reisebegleiter führt nicht nur zu<br />
Sehenswürdigkeiten und Übernachtungsmöglichkeiten,<br />
sondern auch direkt zu<br />
den Menschen: Adressen für Besuchs- und<br />
Gesprächsmöglichkeiten in Gemeinden,<br />
Friedensprojekten, bei Menschenrechtsorganisationen<br />
und politischen Gruppierungen<br />
ermöglichen Begegnungen mit<br />
Palästinensern. Außerdem führt die Inanspruchnahme<br />
der Dienstleistungen von<br />
spezialisierten Reiseunternehmen und<br />
Reiseführern, Familienpensionen und<br />
Taxifahrern dazu, die gastfreundliche<br />
Bevölkerung zu unterstützen.<br />
<strong>PalästinaIsraelZeitung</strong> • Juli 2011 • Seite 8<br />
Christian Kercher<br />
Eine Journalistin interviewt einen alten<br />
frommen Juden, der seit 40 Jahren<br />
täglich zur Klagemauer kommt, um zu<br />
beten:<br />
- Wofür beten Sie eigentlich?<br />
- Um Frieden zwischen Israelis<br />
und Palästinensern.<br />
- Und wie fühlen Sie sich dabei?<br />
- Als wenn ich gegen eine Wand<br />
rede.<br />
Die Palästina-Israel-Zeitung wird herausgegeben von einer Initiativgruppe für die Entwicklung eines deutschsprachigen Informationsblattes zu Nahostfragen.<br />
Redaktion: Peter Bingel, Christian Kercher (viSdP), Dr. Karl-Otto Körber<br />
Redaktionsadresse: c/o Christian Kercher, Christstr. 42, 14059 Berlin, kontakt@palästina-israel-zeitung.de • www.palästina-israel-zeitung.de<br />
Die einzelnen Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung der Redaktion wieder.<br />
Gestaltung: Peter Swoboda, Benita Tholl, Jens Patermann<br />
Druck: diedruckerei.de • Auflage: 4000<br />
Die Zeitung wird kostenlos abgegeben und auf Bestellung zugeschickt, mit der Bitte um Spenden auf das Konto (bis zur e.V.-Gründung): Peter Bingel, Konto Nr. 0117 024 778, BLZ 370 502 99, Kreissparkasse Köln.<br />
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