Kunstmuseum Bern - Ensuite
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es auch dem preisverliebten (Ballett-)Tanz ergehen.<br />
Auch diesen könnte die Ernüchterung nach einer<br />
Krise ereilen. «Immer schneller, immer besser» ist<br />
eben nicht nachhaltig. Technische Versiertheit kann<br />
forciert werden. Gesundheitliche Strapazen und Risiken<br />
nehmen ehrgeizige Schüler wie Schulen in Kauf,<br />
denn die Ausfallquoten tauchen in den Bilanzen nicht<br />
auf. Oder haben Sie schon irgendwo von der Zahl der<br />
Verletzten und Abbrecher in Akademien oder Schulen<br />
gelesen? Damit sich Schulen aus dem Profi lierungswahn<br />
über Preise lösen können und auf nachhaltige<br />
Werte setzen, sind geregelte Lehrerqualifi kationen<br />
nützlich. Nützlich sind sie auch, um andererseits dem<br />
Diletantismus im Amateurunterricht fehlhüpfender<br />
Kinder zu begegnen. Die Förderung der Freude der<br />
Kleinen am kreativen Schaffen ebenso wie die unspektakuläre<br />
technische Grundlagenarbeit hätten<br />
mit Zertifi katen unabhängige Legitimation.<br />
Was aber besorgte Väter letztlich in ihrem Zweifel<br />
umstimmen können wird ist die Perspektive auf eine<br />
Berufslehre mit eidgenössisch anerkanntem Fähigkeitszeugnis<br />
(EFZ) für BühnentänzerInnen. Erstmals<br />
angeboten ab Herbst 2009 in Zürich.<br />
Tanz oder Schule? Wie andere musische Fächer<br />
winkt auch der Tanz am Ende des Tunnels eines arbeitsamen<br />
Schülertages (Und dem Mama-Taxi davor<br />
der Stau). Musik oder Malerei brauchen aber keine<br />
Früherkennung von Talenten und keine tägliche Pilgerfahrt<br />
zum Ritual. Einzig der Tanz fordert Bühnenreife<br />
im Alter von Achtzehn, um in den besten Jahren<br />
zu ernten. Und nur der Tanz übt sich nicht allein. Und<br />
so verstopfen täglich hunderte Bewegungshungrige<br />
erst einmal die Strassen, bevor sie sich an die Ballettstange<br />
reihen. Wen wundert’s, wenn Schule und<br />
logistisch involvierte Eltern darunter leiden? Wenn<br />
Tanz und Schule unvereinbar wird? «Mit der täglichen<br />
Mittagspause, dem vierfachen Schulweg kann<br />
die Schweiz nicht das Arbeitspensum der Nachbarländer<br />
schaffen», meint Marjolaine Piguet, Leiterin<br />
der «Danses Etudes» in Lausanne. Sie hat während<br />
ihrer Ausbildungszeit im Ausland vorteilhaftere Tagesabläufe<br />
kennengelernt.<br />
Tanz und Schule sollen nun versöhnt werden, ganz<br />
nach dem Vorbild des Lausanner SAEF-Gymnasiums<br />
(Sport-Arts-Etudes-Formation), wo gute Schüler ihren<br />
musischen oder sportlichen Schwerpunkt in den leicht<br />
entschlackten Schulstundenplan integrieren können.<br />
Wenige hundert Meter entfernt hat Marjolaine<br />
Piguet dasselbe für den Tanz geschaffen: «Danse<br />
Etudes». Über dreissig Kinder besuchen tagsüber die<br />
Sekundarstufe (I und II) in nächster Nähe und schlüpfen<br />
im Tagesverlauf mehrmals in die Trainingshaut.<br />
Jedes Jahr schneidert sie als Mitverantwortliche<br />
des Collège Béthusy ihren Tanzschülern einzeln den<br />
Stundenplan zurecht und stopft Löcher bei Bedarf<br />
mit Mathematik- oder Deutschnachhilfe. Doch Schulleistungen<br />
seien nicht das Problem. 80 Prozent ihrer<br />
Schüler sind ohnehin auf dem Gymnasium oder der<br />
gymnasialen Mittelstufe. 2003 hat «Danse Etudes»<br />
begonnen und eine Tänzerin mit Matura bereits geliefert.<br />
Gleich im Anschluss wurde diese von Patrice<br />
Delay in das Genfer Ballet Junior übernommen.<br />
Fünf Minuten mit der Metro vom Bahnhof und<br />
12<br />
hundert Schritte von der Station Ours ist das mutige<br />
Projekt Realität geworden, das Tanz und Schule<br />
verknüpft. Mit dieser guten Lage möchte sie eine Lösung<br />
für Begabte der ganzen Westschweiz bieten. Ein<br />
Junge kommt etwa täglich aus Freiburg. Dass bisweilen<br />
nicht mehr als sechs pro Tanzklasse teilnehmen,<br />
erklärt die Leiterin so: «Viel grösser ist die Ausbeute<br />
wirklicher Talente der Region nicht.» Von der luxuriösen<br />
Überschaubarkeit solcher Klassen profi tiert das<br />
Ambiente und die Leistung. Aber auch die Schulaufgaben<br />
zwischendurch, denn Disziplin und Motivation<br />
stecken an. Mit zwei bis vier modernen beziehungsweise<br />
zeitgenössischen Tanzstunden die Woche ist<br />
die Ausbildung relativ fortschrittlich. Obwohl wie aus<br />
einem Munde die Schüler hier nach mehr rufen. Die<br />
Leiterin erwägt durchaus einen Ausbau, denn in der<br />
Region soll eine eidgenössisch anerkannte Berufslehre<br />
für zeitgenössischen Tanz entstehen. Falls, ja,<br />
falls deren stilistische Ausrichtung eine Vorbildung<br />
überhaupt vorsieht.<br />
Eidgenössisch anerkannt in der Westschweiz<br />
Wenn die Deutschschweiz die Berufslehre Bühnentanz<br />
klassischer Prägung haben wird, so die Westschweiz<br />
diejenige zeitgenössischer. Im Jahr 2010<br />
soll’s losgehen, doch Inhalt und Ort wird seitens des<br />
Bundesamtes für Berufsbildung und Technologie<br />
(BBT) erst dieser Tage publik. Ob Lausanne oder<br />
Genf ansteht, ist weniger entscheidend als der stilistische<br />
Anspruch. Während sich im modernen Tanz<br />
eine Methodik und ein fester Lehrkanon entwickeln<br />
konnte (z.B. mit der Limon- , Graham- und Cunningham-Technik),<br />
so sind die zeitgenössischen Stile noch<br />
nicht autonom «tänzerbildend». «Mit der Zeit haben<br />
die unterschiedlichsten Stile, auch der Jazztanz, den<br />
Trainingsablauf und viele Übungen des Balletts (von<br />
pliés über tendus bis grosse Sprünge) sich einverleibt»,<br />
meint Caroline Lam, diplomierte Lehrerin für<br />
zeitgenössischen Tanz. So widmete sie sich erst eingehend<br />
dem Jazz in Paris und konnte dennoch mit<br />
achtzehn Jahren in den klassischen Tanz einsteigen.<br />
Das klappt offensichtlich, denn nach ihrer Tanzausbildung<br />
zirkulierte sie «zeitgenössisch» in der freien<br />
Schweizer Szene.<br />
Doch beim neuen Lehrgang steht zur Diskussion,<br />
ob - ganz nach dem Vorbild des Choreografi ezentrums<br />
der Loirestadt Angers - überhaupt eine<br />
Vorbildung vonnöten sei. Bei der Mangelware «tanzender<br />
Mann» gab es solche Konzessionen schon<br />
immer. Doch die vielen fi eberhaft tanzenden Jugendlichen<br />
lockt eine solche Toleranzschwelle kaum.<br />
Im Alter von 15 bis 16 Jahren können sich viele gar<br />
nicht vorstellen, von ihrer täglich feilenden Arbeit zu<br />
lassen und mit Tanzunkundigen erst einmal zusammen<br />
zu improvisieren... Die scharfe Zweiteilung der<br />
Tanz(ausbildungs)landschaft klassisch versus zeitgenössisch<br />
kommt ihnen nicht gelegen.<br />
Durchlässigkeit quer Aus der Projektphase der<br />
neuen dreijährigen Berufslehre zeitgenössischer<br />
Tanz in der Westschweiz ist zu hören: «Die Kluft zwischen<br />
Klassik und Zeitgenössisch soll überbrückbar<br />
werden. Wer nach den ersten fünf Monaten merkt, er<br />
habe die falsche Ausrichtung gewählt, soll wechseln<br />
dürfen. Im Prinzip.» Es soll also nicht nur der Rös-<br />
tigraben samt Sprachbarrieren überwindbar sein,<br />
sondern auch der Graben zwischen (system-)freiem<br />
zeitgenössischen Tanz und dem Ballett à la Waganova<br />
russischer Prägung. Die Zukunft wird es zeigen...<br />
Und der Entscheid der künftigen Leitung.<br />
Anschluss nach oben Nichts weniger als die<br />
Entwicklung eines ganz eigenen Systems im zeitgenössischen<br />
Tanz verspricht die Leiterin des Bachelor-Programms<br />
in Zürich, Prof. Tina Mantel. Das BA<br />
(Bachelor of Arts) ist ein weiteres Zertifi kat, das das<br />
Bundesamt für Berufsbildung und Technologie BBT<br />
dem Tanz dieses Jahr vermacht. Der erste Studiengang<br />
beginnt kommenden Herbst an der Zürcher<br />
Hochschule der Künste. GaGa heisst das System und<br />
hat seine Wiege in Jerusalem, in der Batsheva Dance<br />
Company. Der berühmte Choreograf und Direktor<br />
Ohad Naharin liess seine (klassisch ausgebildeten)<br />
Tänzer anfangs einmal, mittlerweile fünfmal pro<br />
Woche, «GaGa werden», um sie aufzulockern. Diese<br />
Improvisationsmethode verhilft zur ganz eigenen<br />
Bewegungssprache, wenn man bereit ist, den angeeigneten<br />
Codex aufzubrechen. Géraldine Chollet,<br />
die künftige GaGa-Lehrerin des Studiengangs, die<br />
selbst den Weg nicht in die begehrte Companie fand,<br />
verfolgte unbeirrt diese Methode in Naharins Workshops.<br />
Sie überredete ihn, der Methode eine Methodik<br />
und ein System abringen zu lassen. Mit fast<br />
täglicher Anwendung und jährlichem Besuch aus der<br />
Batsheva Company möchte sie genau das in Zürich<br />
bewerkstelligen: Ein pädagogisches System. Zürich<br />
als Labor für die Batsheva Company? Prof. Tina<br />
Mantel lacht: «Ja, durchaus.» Wenn das Experiment<br />
klappt, wünscht man ihr auch das Patentrecht.<br />
Fast gleichwertig mit den praktischen Fächern<br />
der Tanzfertigkeit sind solche der Gestaltung/Produktion<br />
und Wissen/Refl exion, wie es im Studienplan<br />
heisst. Darunter fallen Performance Research, der<br />
akustische und der virtuelle Raum sowie transdisziplinäre<br />
Projekte, Kulturmanagement, Anatomie und<br />
Dramaturgie. Deshalb erwartet die Leiterin (Berufs-)<br />
Maturität von ihren Studenten und das Mindestalter<br />
von 18 Jahren. Da gute moderne und zeitgenössische<br />
Vorausbildung nur verstreut zu haben ist und kein<br />
brotbringender Beruf wartet, ist manch aufgenommener<br />
Bewerber ein fertiger Primarlehrer und auch<br />
mal 25 Jahre alt.<br />
Ob Prof. Tina Mantel sich auf die zertifi zierten Abgänger<br />
der neuen Berufslehre zeitgenössischer Tanz<br />
der Westschweiz freut? «Ja und nein», sagt sie, «die<br />
Besten werden wohl tanzen gehen und nur ehrgeizige,<br />
intellektuell Neugierige hängen weitere drei Jahre<br />
an.» Für welchen Beruf der Studiengang demnach<br />
vorbereitet, muss erneut die Zukunft zeigen.<br />
Junior-Ballette Nach der Gründung des NDT2<br />
1978, einer dem Nederlands Danse Theater angegliederten<br />
jungen Companie, verbreitet sich das Phänomen:<br />
Grosse Companien leisten sich eine Jugend<br />
- was heisst: Sie lagern die Jungen aus ihren Reihen<br />
aus. «Immer weniger Tanztruppen können sich die<br />
Betreuung und das Risiko mit unerfahrenem Nachwuchs<br />
leisten», meint der Genfer Junior-Ballet-Direktor<br />
Patrice Delay, der in den 80ern noch in den Genuss<br />
ebendieses Luxus des Königlichen Flämischen<br />
ensuite - kulturmagazin Nr. 78 | Juni/Juli 09