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AUFSÄTZE<br />

AUFSATZ ZIVILRECHT · DER AUSSCHLUSS DER LEISTUNGSPFLICHT NACH § 275 BGB<br />

Professor Dr. Hans Joachim Musielak, Passau *<br />

Der Ausschluss der Leistungspflicht nach § 275 BGB<br />

§ 275 BGB gehört zu den umstrittensten Vorschriften, die im<br />

Rahmen der Schuldrechtsreform neu konzipiert worden sind.<br />

In einer Vielzahl von Veröffentlichungen sind die in dieser Vorschrift<br />

geregelten Tatbestände diskutiert worden. Wenn auch<br />

in letzter Zeit die kritischen Stimmen weniger werden, ist daraus<br />

nicht zu schließen, dass durchweg zufriedenstellende Lösungen<br />

gefunden worden sind. Wichtige Fragen sind nach wie<br />

vor ungeklärt oder zumindest umstritten. Auch die praktische<br />

Bedeutung, die der Unmöglichkeit innerhalb der verschiedenen<br />

Leistungsstörungen zukommt, wird unterschiedlich beurteilt. 1<br />

Offenkundig ist dagegen ihre Wichtigkeit für die universitäre<br />

Ausbildung. Jeder Studierende muss sich eingehend mit der<br />

Regelung befassen, die im BGB für diese Leistungsstörungsart<br />

getroffen wird. Die folgenden Ausführungen sollen dafür eine<br />

Hilfestellung geben.<br />

A. EINLEITENDE BEMERKUNGEN ZUR GESETZLICHEN RE-<br />

GELUNG<br />

§ 275 BGB begrenzt das Recht des Gläubigers, vom Schuldner<br />

die von ihm geschuldete Leistung zu verlangen. Abs. 1<br />

schließt den Anspruch auf Leistung aus, soweit sie für den<br />

Schuldner oder für jedermann unmöglich ist. Diese Regelung<br />

betrifft die primäre Leistungspflicht und lässt Ansprüche unberührt,<br />

die sich aus dem Schuldverhältnis deshalb ergeben,<br />

weil die geschuldete Leistung nicht erbracht wird. 2 Dies ergibt<br />

sich bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift und wird noch<br />

einmal durch Abs. 4 klargestellt. Im Gegensatz zu Abs. 1,<br />

nach dem die Befreiung von der Leistungspflicht kraft Gesetzes<br />

eintritt, 3 wird durch Abs. 2 und 3 dem Schuldner ein<br />

Leistungsverweigerungsrecht eingeräumt. Es handelt sich dabei<br />

um Fälle, in denen die Leistungserbringung entweder<br />

einen Aufwand erfordert, der im groben Missverhältnis zum<br />

Leistungsinteresse des Gläubigers steht, oder dem Schuldner<br />

die persönlich zu erbringende Leistung nicht zugemutet werden<br />

kann.<br />

B. DIE VERSCHIEDENEN FÄLLE DER UNMÖGLICHKEIT<br />

I. Objektive und subjektive Unmöglichkeit<br />

§ 275 I BGB regelt zwei Fälle: die objektive und die subjektive<br />

Unmöglichkeit (Unvermögen). Objektiv unmöglich ist<br />

HERAUSGEBER:<br />

Zivilrecht:<br />

RiBGH Dieter Maihold<br />

Professor Dr. Christian Wolf<br />

Strafrecht:<br />

Professor Dr. Bernd von Heintschel-Heinegg<br />

Professor Dr. Hans Kudlich<br />

Öffentliches Recht:<br />

Professor Dr. Stefan Muckel<br />

Professor Dr. Rüdiger Rubel<br />

Referendarausbildung:<br />

Professor Dr. Bernd von Heintschel-Heinegg<br />

Rechtsanwalt Torsten Kaiser www.ja-aktuell.de<br />

ZEITSCHRIFT FÜR STUDENTEN UND REFERENDARE HEFT 11/2011 SEITEN 801–880 43. JAHRGANG<br />

eine Leistung, die von niemand erbracht werden kann, während<br />

bei einer subjektiven Unmöglichkeit nur der Schuldner<br />

nicht leisten kann, dagegen ein Dritter durchaus in der Lage<br />

ist, die Leistung zu erbringen.<br />

Beispiele: Der verkaufte PKW verbrennt vor der Übergabe. Die nach<br />

dem Kaufvertrag geschuldete Leistung, die Übereignung und Übergabe<br />

der Kaufsache (§ 433 I 1 BGB), ist objektiv unmöglich, denn<br />

keiner kann diese Leistungspflichten erfüllen.<br />

Der verkaufte PKW wird vor der Übergabe von einem Unbekannten<br />

gestohlen. Der Verkäufer ist zur Übereignung des PKW <strong>weiter</strong>hin im<br />

Stande, dagegen nicht zur Übergabe. <strong>Sie</strong> kann aber der Dieb vornehmen.<br />

Deshalb handelt es sich insoweit um eine subjektive Unmöglichkeit<br />

für den Schuldner. 4<br />

Die beiden Beispielsfälle betreffen eine Stückschuld. Bei einer<br />

Gattungsschuld bleibt der Schuldner grundsätzlich zur Leistung<br />

verpflichtet, solange am Markt entsprechende Gattungssachen<br />

angeboten werden, die sich der Schuldner beschaffen<br />

kann. 5 Deshalb kann bei einer Gattungsschuld vor der Konkretisierung<br />

eine (objektive) Unmöglichkeit erst eintreten,<br />

wenn es die gesamte Gattung nicht mehr gibt. Etwas anderes<br />

gilt nur bei der sog. beschränkten Gattungsschuld, bei der sich<br />

der Schuldner nur verpflichtet hat, aus einer bestimmten Menge<br />

gleichartiger Gegenstände eine beschränkte Zahl zu liefern.<br />

Beispiele: Beschränkung der Leistungspflicht auf die am Lager des<br />

Schuldners befindlichen Sachen oder auf die eigene Produktion wäh-<br />

* Der Verfasser ist emeritierter ordentlicher Professor an der Universität Passau.<br />

1 Schmidt-Recla FS Laufs, 2006, S. 641 (643) (eher randständig); Canaris ZRP 2001,<br />

329 (330) (überaus wichtige Funktion).<br />

2 Fehre Unmöglichkeit und Unzumutbarkeit der Leistung, 2005, S. 31; MüKo-BGB/<br />

Ernst Münchener Kommentar zum BGB, 5. Aufl. 2007, § 275 Rn. 1; Prütting/<br />

Wegen/Weinreich/Schmidt-Kessel BGB, 6. Aufl. 2011, § 275 Rn. 5.<br />

3 OLG Koblenz NJW-RR 2008, 1232 (1233).<br />

4 Brox/Walker Allgemeines Schuldrecht, 35. Aufl. 2011, § 22 Rn. 7.<br />

5 Canaris FS Wiegand, 2005, S. 179 (192 f.), weist zu Recht darauf hin, dass sich der<br />

Begriff des Marktes als auslegungsfähig und auslegungsbedürftig erweist, denn es ist<br />

aufgrund der Umstände des Einzelfalles insbesondere durch Auslegung der vertraglichen<br />

Vereinbarungen zu klären, um welchen Markt es sich handelt, ob um den<br />

Weltmarkt oder um einen räumlich begrenzten Markt. Verpflichtet sich z.B. der<br />

Schuldner zur Lieferung holländischer Heringe, so dürfte regelmäßig nur der holländische<br />

Markt gemeint sein.<br />

11/2011 801


AUFSATZ<br />

AUFSATZ ZIVILRECHT · DER AUSSCHLUSS DER LEISTUNGSPFLICHT NACH § 275 BGB<br />

rend einer bestimmten Zeitspanne. 6 Eine solche Beschränkung kann<br />

ausdrücklich vereinbart werden oder sich aus den Umständen des<br />

Einzelfalles ableiten. 7<br />

Die objektive und subjektive Unmöglichkeit nach § 275 I<br />

BGB wird auch als „echte“ Unmöglichkeit bezeichnet. 8 Blickt<br />

man auf den Entstehungsgrund, dann lassen sich <strong>weiter</strong>e Differenzierungen<br />

vornehmen und zwischen der naturgesetzlichen<br />

(physischen) Unmöglichkeit und der rechtlichen (juristischen)<br />

Unmöglichkeit unterscheiden.<br />

Bei der naturgesetzlichen (physischen) Unmöglichkeit gibt<br />

es den Gegenstand nicht, auf den sich die Leistungspflicht des<br />

Schuldners bezieht, weil er vernichtet wurde (der verkaufte<br />

Pkw verbrennt), weil es ihn nie gegeben hat (die Forderung,<br />

deren Abtretung geschuldet wird, ist nicht entstanden) oder<br />

weil aus naturgesetzlichen Gründen die versprochene Leistung<br />

nicht erbracht werden kann (Verpflichtung zum Einsatz<br />

übernatürlicher magischer oder parapsychologischer Kräfte<br />

und Fähigkeiten zum Erreichen eines bestimmten Zieles 9 ).<br />

Von einer rechtlichen (juristischen) Unmöglichkeit spricht<br />

man, wenn die Vornahme der versprochenen Leistung verboten<br />

ist 10 oder aus rechtlichen Gründen scheitert (z.B. Verpflichtung<br />

zur Bestellung eines vererblichen Nießbrauchs entgegen<br />

§ 1061 BGB 11 ).<br />

Ein Fall naturgesetzlicher Unmöglichkeit ergibt sich auch<br />

in den Fällen des sog Zweckfortfalls, in denen der Leistungserfolg<br />

wegen Wegfalls des Leistungssubstrats oder wegen eines<br />

unüberwindbaren Leistungshindernisses im Bereich des<br />

Gläubigers dauernd unmöglich ist. 12<br />

Beispiele: Das vom Schuldner anzustreichende Haus brennt vor<br />

Beginn der Arbeiten ab. Vor Beginn der gebuchten Reise stirbt der<br />

Gläubiger.<br />

Tritt der geschuldete Leistungserfolg unabhängig von den<br />

Leistungshandlungen des Schuldners ein, dann spricht man<br />

von einer Zweckerreichung.<br />

Beispiel: Das vom Schuldner frei zu schleppende Schiff wird durch<br />

eine Welle wieder freigesetzt, bevor der Schuldner mit seinem<br />

Schlepper eintrifft.<br />

Zwar ist bei der Zweckerreichung die Leistungshandlung des<br />

Schuldners, im Beispielsfall das Schleppen des Schiffes, <strong>weiter</strong>hin<br />

möglich, sie ist aber sinnlos, weil der Vertragszweck<br />

darin besteht, dass gestrandete Schiff wieder frei zu bekommen.<br />

Deshalb ist auch in diesem Fall Unmöglichkeit anzunehmen.<br />

13<br />

Dagegen ist § 275 I BGB bei einer Störung des Verwendungszweckes<br />

(Zweckvereitelung), bei der aufgrund besonderer<br />

Umstände der Gläubiger das Interesse an der Leistung<br />

verliert,<br />

Beispiel: Das Fußballspiel fällt aus, sodass der Fanclub auf die geplante<br />

und bereits vertraglich vereinbarte Busreise zum Spielort verzichtet.<br />

nicht anzuwenden. 14 Denn das Verwendungsrisiko trägt<br />

grundsätzlich der Gläubiger. Zu erwägen ist allenfalls, ob die<br />

veränderten Umstände zu einem Wegfall der Geschäftsgrundlage<br />

führen können. 15<br />

Für die Frage nach der Unmöglichkeit der Leistung ist es<br />

unerheblich, in welchem Zeitpunkt die Unmöglichkeit eintritt.<br />

Diese Unterscheidung ist jedoch für einen Anspruch auf<br />

802<br />

11/2011<br />

Schadensersatz bedeutsam (vgl. § 311 a II BGB zum einen,<br />

§§ 280 ff. BGB zum anderen). Deshalb wird der nachträglichen<br />

Unmöglichkeit die anfängliche (ursprüngliche) Unmöglichkeit<br />

gegenübergestellt, wobei den entscheidenden Zeitpunkt<br />

die Begründung des Schuldverhältnisses bildet.<br />

Beispiele: Der verkaufte Pkw verbrennt nach Abschluss des Kaufvertrages<br />

oder wird zu dieser Zeit gestohlen (Fall einer nachträglichen<br />

Unmöglichkeit).<br />

Volz verkauft seinen Pkw an Kunz, ohne zu wissen, dass der Wagen<br />

in der vorigen Nacht verbrannt oder gestohlen worden ist (Fall einer<br />

anfänglichen Unmöglichkeit).<br />

Ebenso tritt die Unmöglichkeit unabhängig davon ein, ob der<br />

Schuldner das Ereignis, das zur Unmöglichkeit führt, zu vertreten<br />

hat. Die Verantwortlichkeit des Schuldners für das Leistungshindernis<br />

ist vornehmlich für einen Anspruch auf Schadensersatz<br />

gegen ihn bedeutsam (vgl. aber auch § 275 II 2<br />

BGB).<br />

II. Faktische und persönliche Unmöglichkeit<br />

Eine faktische Unmöglichkeit, 16 die auch als praktische 17 oder<br />

normative 18 Unmöglichkeit bezeichnet wird, tritt ein, wenn<br />

zwar die Erbringung der Leistung nicht schlechthin ausgeschlossen<br />

ist, aber derartige Maßnahmen erfordert, die außerhalb<br />

jeder Vernunft liegen.<br />

Beispiel: V verkauft K eine Maschine, die mit dem Schiff über das<br />

Meer transportiert wird. Das Schiff geht unter. Es ist zwar technisch<br />

möglich, die Maschine zu bergen, aber die dabei entstehenden<br />

Kosten sind so hoch, dass kein vernünftiger Mensch auf diesen<br />

Gedanken verfällt.<br />

Nach der Gesetzesbegründung 19 soll die faktische Unmöglichkeit<br />

von der Regelung des § 275 II BGB erfasst werden.<br />

Beschränkt man jedoch die faktische Unmöglichkeit auf Tatbestände,<br />

in denen die Leistungserbringung außerhalb jeder<br />

Vernunft liegt, dann ist es nicht verständlich, warum dem<br />

Schuldner ein Leistungsverweigerungsrecht eingeräumt wird,<br />

das er mit einer Einrede geltend machen muss. Dies macht nur<br />

einen Sinn, wenn es Gründe geben kann, die den Schuldner<br />

veranlassen können, trotz der erschwerten Bedingungen die<br />

Leistung zu erbringen. Auf diese Frage wird noch zurückzukommen<br />

sein.<br />

In Fällen, in denen der Schuldner verpflichtet ist, die ihm<br />

obliegende Verbindlichkeit selbst zu erfüllen, in denen es sich<br />

6 Vgl. Canaris (Fn. 5) S. 194 f.; MüKo-BGB/Emmerich (Fn. 2) § 243 Rn. 11.<br />

7 Vgl. Musielak Grundkurs BGB, 12. Aufl. 2011, Rn. 415.<br />

8 Looschelders Schuldrecht Allgemeiner Teil, 7. Aufl. 2009, Rn. 456.<br />

9 BGH NJW 2011, 756 (757 Tz. 10); Fehre (Fn. 2) S. 29.<br />

10 Häufig wird der zugrunde liegende Vertrag bereits nach § 134 BGB nichtig sein.<br />

11 Medicus/Lorenz Schuldrecht I, 18. Aufl. 2008, Rn. 415; vgl. auch BGH NJW 1986,<br />

1605 (Unmöglichkeit der Bestellung eines Erbbaurechts entgegen der Regelung im<br />

Bebauungsplan).<br />

12 Fehre (Fn. 2) S. 74; Looschelders (Fn. 8) Rn. 458; PWW/Schmidt-Kessel (Fn. 2)<br />

Rn. 11.<br />

13 Eidenmüller Jura 2001, 824 (827); MüKo-BGB/Ernst (Fn. 2) Rn. 152; Palandt/<br />

Grüneberg BGB, 70. Aufl. 2011, § 275 Rn. 18.<br />

14 Looschelders (Fn. 8) Rn. 461; MüKo-BGB/Ernst (Fn. 2) Rn. 160.<br />

15 So z.B. in dem Fall, dass der Karnevalszug wegen eines plötzlich eintretenden<br />

Hindernisses umgeleitet wird und deshalb die Betrachtung des Zuges aus dem zu<br />

diesem Zweck gemieteten Fenster nicht möglich ist; vgl. dazu Fehre (Fn. 2) S. 75 ff.;<br />

Musielak (Fn. 7) Rn. 357 ff.<br />

16 Fikentscher/Heinemann Schuldrecht, 10. Aufl. 2006, Rn. 396.<br />

17 Looschelders (Fn. 8) Rn. 474.<br />

18 Schlüter ZGS 2003, 346 (348); Medicus/Lorenz (Fn. 11) Rn. 423.<br />

19 Begründung des Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung des Schuldrechts, BT-<br />

Drucks. 14/6040, S. 129 f.


AUFSATZ ZIVILRECHT · DER AUSSCHLUSS DER LEISTUNGSPFLICHT NACH § 275 BGB<br />

also um eine höchstpersönliche Verpflichtung handelt, wie<br />

dies vor allem bei Arbeits-, Dienst- und Werkverträgen vorkommt,<br />

können sich Gründe ergeben, die es für den Schuldner<br />

unzumutbar sein lassen, seine Leistungspflicht zu erfüllen.<br />

Beispiele: Das Kind der Schauspielerin ist lebensbedrohend erkrankt.<br />

<strong>Sie</strong> ist zwar in der Lage, entsprechend einem von ihr geschlossenen<br />

Vertrag aufzutreten, jedoch kann dies nicht von ihr verlangt<br />

werden.<br />

Der ausländische Arbeitnehmer wird in seinem Heimatland zum<br />

Wehrdienst einberufen und muss bei Nichtbefolgung des Einberufungsbefehls<br />

mit der Todesstrafe rechnen. Ihm muss es deshalb<br />

gestattet werden, zur Erfüllung der Wehrpflicht von seiner Arbeitsstelle<br />

fernzubleiben. 20<br />

Sachverhalte dieser Art werden im Schrifttum unterschiedlich<br />

benannt. So spricht man von „persönlicher“, 21 „sittlicher“, 22<br />

„moralischer“, 23 oder „psychischer“ 24 Unmöglichkeit oder<br />

einfach nur von „persönlicher Unzumutbarkeit“. 25 Die Unzumutbarkeit<br />

der Leistungserbringung rechtfertigt es, dem<br />

Schuldner zu gestatten, die Leistung zu verweigern. Die<br />

Rechtsgrundlage bildet § 275 III BGB. Diese Vorschrift ist<br />

auch anwendbar, wenn die Leistungsverweigerung aus Gewissensgründen<br />

geschieht. 26<br />

Beispiel: Der an einem Krankenhaus angestellte Arzt verweigert aus<br />

Gewissensgründen die Teilnahme an einem Schwangerschaftsabbruch.<br />

27<br />

Der in der Gesetzesbegründung geäußerten Meinung, dass<br />

Fälle der Leistungsverweigerung aus Gewissensgründen nur<br />

über § 313 oder § 242 BGB zu lösen sind, 28 ist schon im<br />

Hinblick auf die grundgesetzlich verbürgte Gewissensfreiheit<br />

(Art. 4 I GG) nicht zu folgen, die es gebietet, dem Schuldner<br />

ein Leistungsverweigerungsrecht einzuräumen. Einschränkend<br />

ist darauf hinzuweisen, dass bei Entscheidung über die<br />

Zumutbarkeit der Leistungserbringung für den Schuldner<br />

auch zu beachten ist, ob der Schuldner bei Übernahme der<br />

Verpflichtung zum Tätigwerden erkannt hat, dass er sich dadurch<br />

in eine Konfliktsituation bringt. Wer sich bewusst zu<br />

einer seinem Gewissen widersprechenden Tätigkeit verpflichtet,<br />

kann sich nicht nachträglich auf die Unzumutbarkeit berufen,<br />

diese Pflicht erfüllen zu müssen. 29 Auch muss ein Leistungsverweigerungsrecht<br />

ausgeschlossen werden, wenn dadurch<br />

höherwertige Interessen des Gläubigers oder Dritter<br />

gefährdet werden. Eine Güterabwägung kann deshalb dazu<br />

führen, dass dem Schuldner ein Handeln gegen die eigene<br />

Überzeugung zuzumuten ist. 30<br />

Beispiel: Der Schwangerschaftsabbruch ist zur Rettung des Lebens<br />

der Mutter zwingend geboten.<br />

III. Wirtschaftliche Unmöglichkeit<br />

Von einer wirtschaftlichen Unmöglichkeit 31 spricht man,<br />

wenn für die Leistungserbringung ein finanzieller Aufwand<br />

erforderlich wird, der billigerweise vom Schuldner nicht erwartet<br />

werden kann. Der Leistung des Schuldners stehen<br />

überobligationsmäßige Schwierigkeiten entgegen, die jenseits<br />

der Opfergrenze liegen. 32 Die wirtschaftliche Unmöglichkeit<br />

wird nicht von § 275 BGB erfasst; vielmehr sollen Fälle dieser<br />

Art nach den Grundsätzen des Wegfalls oder Fehlens der<br />

Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) gelöst werden. Die Abgrenzung<br />

zur faktischen Unmöglichkeit bereitet Schwierigkeiten,<br />

auf sie wird noch später eingegangen werden.<br />

IV. Endgültige und vorübergehende Unmöglichkeit<br />

Das Hindernis, das der Leistung des Schuldners entgegensteht,<br />

kann später wegfallen, sodass dann der Schuldner seine<br />

Leistungspflicht erfüllen kann. Es muss deshalb entschieden<br />

werden, ob die Leistungspflicht des Schuldners trotz des (vorübergehenden)<br />

Leistungshindernisses bestehen bleibt und eine<br />

(vom Schuldner zu vertretende) Verzögerung der Leistungserbringung<br />

lediglich unter dem Gesichtspunkt des Verzuges<br />

zu beurteilen ist. Dass die Leistungspflicht des Schuldners<br />

für die Zeit ausgeschlossen ist, in der das vorübergehende<br />

Hindernis die Erbringung der Leistung dem Schuldner unmöglich<br />

macht, kann auf der Grundlage des § 275 I BGB<br />

nicht zweifelhaft sein. 33 Jedoch kann auch nicht ausgeschlossen<br />

werden, dass ein zeitweiliges Leistungshindernis zur endgültigen<br />

Unmöglichkeit und damit zum Wegfall der Leistungspflicht<br />

des Schuldners führt. Das maßgebende Kriterium<br />

bildet der Vertragszweck. Es kommt darauf an, ob zu einem<br />

späteren Zeitpunkt der Zweck, der mit der Leistung des<br />

Schuldners erreicht werden soll, noch erfüllt werden kann.<br />

Keine Schwierigkeiten bereitet deshalb die Entscheidung in<br />

Fällen, in denen es nach dem Zweck des Vertrages entscheidend<br />

darauf ankommt, dass der Schuldner zu einem genau<br />

bestimmten Zeitpunkt leistet und danach eine Leistung nicht<br />

mehr zur Erfüllung führen kann.<br />

Beispiele: Der Fotograf verpflichtet sich vertraglich, Bilder von einer<br />

Hochzeit anzufertigen. Die Musiker einer Kapelle verpflichten sich,<br />

beim Sommerfest der örtlichen Feuerwehr zum Tanz aufzuspielen.<br />

Jemand vereinbart mit einem Taxiunternehmer, dass dieser ihn am<br />

nächsten Morgen zu einem bestimmten Zeitpunkt zum Flughafen<br />

fährt, damit er dort eine gebuchte Reise antreten kann. In allen<br />

diesen Fällen kann zu einem Zeitpunkt, der nach dem vereinbarten<br />

liegt, der Vertragszweck nicht mehr erreicht werden und die Leistungserbringung<br />

wird folglich unmöglich.<br />

Bei derartigen Fällen handelt es sich um ein absolutes oder<br />

uneigentliches Fixgeschäft. Bei ihnen bewirkt die Nichteinhaltung<br />

der Leistungszeit die Unmöglichkeit der Leistung. 34 Davon<br />

sind die sog. relativen oder einfachen Fixgeschäfte zu<br />

unterscheiden. Bei ihnen kann zwar anders als bei einem<br />

absoluten Fixgeschäft der Leistungszweck (theoretisch) auch<br />

noch zu einem späteren Zeitpunkt als vereinbart erfüllt werden,<br />

aber die Vertragsparteien messen dem von ihnen genau<br />

bestimmten Leistungszeitpunkt eine Bedeutung zu, die dazu<br />

20 Beispiele in der Gesetzesbegründung BT-Drucks. 14/6040, S. 130.<br />

21 Looschelders (Fn. 8) Rn. 480; Fikentscher/Heinemann (Fn. 16) Rn. 400.<br />

22 Lobinger Die Grenzen rechtsgeschäftlicher Leistungspflichten, 2004, S. 65.<br />

23 Brox/Walker (Fn. 4) Rn. 23; Eckert Schuldrecht Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 2003,<br />

Rn. 130.<br />

24 Kropholler BGB, 12. Aufl. 2010, § 275 Rn. 5; Medicus/Lorenz (Fn. 11) Rn. 426.<br />

25 PWW/Schmidt-Kessel (Fn. 2) Rn. 28.<br />

26 Looschelders (Fn. 8) Rn. 482; Fikentscher/Heinemann (Fn. 16) Rn. 401; Brox/Walker<br />

(Fn. 4) Rn. 23; Medicus/Lorenz (Fn. 11) Rn. 426; MüKo-BGB/Emmerich (Fn.<br />

2) Rn. 118.<br />

27 Fikentscher/Heinemann (Fn. 16) Rn. 401.<br />

28 Begründung des Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung des Schuldrechts, BT-<br />

Drucks. 14/6040, S. 129 f. Greiner Ideelle Unzumutbarkeit, 2004, S. 139 ff., will<br />

dieser Auffassung folgen, obwohl er sie für verfehlt hält, weil er glaubt, sich dem<br />

„legislativen Willen“ unterordnen zu müssen.<br />

29 Greiner (Fn. 28) S. 121 f.; Scholl Jura 2006, 283 (288).<br />

30 PWW/Schmidt-Kessel (Fn. 2) Rn. 30.<br />

31 Wenn auch gegen diesen Begriff Bedenken geltend gemacht werden, weil es sich<br />

nicht um einen Unmöglichkeitsfall handelt (Helm Die Einordnung wirtschaftlicher<br />

Leistungserschwerungen in das Leistungsstörungsrecht nach der Schuldrechtsreform,<br />

2005, S. 61 f.; Stürner Jura 2010, 721 [725]) hat er sich doch auch im neuen<br />

Schuldrecht weitgehend durchgesetzt und wird deshalb <strong>hier</strong> auch verwendet.<br />

32 Brox/Walker (Fn. 4) Rn. 21.<br />

33 Looschelders (Fn. 8) Rn. 470; Brox/Walker (Fn. 4) Rn. 16.<br />

34 BGH NJW 2009, 2743 f. (Tz. 12).<br />

11/2011 803<br />

AUFSATZ


AUFSATZ<br />

AUFSATZ ZIVILRECHT · DER AUSSCHLUSS DER LEISTUNGSPFLICHT NACH § 275 BGB<br />

führt, dass mit der Einhaltung dieses Zeitpunkts das Geschäft<br />

„stehen und fallen“ soll.<br />

Beispiel: Rasch, der am 20.07. eine aus zwingenden Gründen terminlich<br />

nicht zu verschiebende Urlaubsreise nach Italien antreten<br />

möchte, will für diesen Zweck ein neues Auto erwerben. Er begibt<br />

sich deshalb zum Autohändler Handel und erklärt diesem, dass er<br />

einen bestimmten Wagentyp als Neuwagen kaufen möchte, dass<br />

aber in jedem Fall wegen seiner Urlaubspläne das Fahrzeug spätestens<br />

am 19.07. geliefert werden müsste. Dies verspricht Handel.<br />

Anfang Juli kommt es zu einem Brand im Herstellerwerk, der dazu<br />

führt, dass sich alle Liefertermine um drei Wochen verschieben. Dies<br />

teilt Handel Rasch mit und sagt ihm Lieferung des Wagens zum<br />

10.08. verbindlich zu. Rasch fragt, ob er sich vom Vertrag mit Handel<br />

lösen könnte. Zwar ist die Leistung nicht unmöglich, wenn sie nicht<br />

zum vereinbarten Termin erbracht wird, aber der 19.07. war für<br />

Rasch als Liefertermin so wichtig, dass er erkennbar den Fortbestand<br />

seines Leistungsinteresses an die Einhaltung dieses Termins gebunden<br />

hat.<br />

Bei einem relativen Fixgeschäft tritt keine Unmöglichkeit ein,<br />

denn die Leistung, im Beispiel die Lieferung des PKW, ist<br />

durchaus auch noch später möglich, sodass es dem Interesse<br />

des Gläubigers nicht zwangsläufig entsprechen muss, die primäre<br />

Leistungspflicht des Schuldners nach § 275 I BGB entfallen<br />

zu lassen. Vielmehr muss es in einem solchen Fall dem<br />

Gläubiger überlassen bleiben, ob er die Leistung des Schuldners<br />

zu einem späteren Zeitpunkt noch annehmen will. Nach<br />

§ 323 I i.V.m. II Nr. 2 BGB ist der Gläubiger ohne Fristsetzung<br />

zum Rücktritt vom Vertrag berechtigt. Im Beispielsfall<br />

kann folglich Rasch vom Kaufvertrag mit Handel zurücktreten,<br />

und zwar bereits Anfang Juli, da bereits zu diesem Termin<br />

feststeht, dass Handel die vereinbarte Leistungszeit nicht einhalten<br />

kann (§ 323 IV BGB).<br />

Die Frage, ob eine vorübergehende Unmöglichkeit der endgültigen<br />

gleichzustellen ist, kann sich auch außerhalb von Fixgeschäften<br />

stellen. Dabei ist von dem Grundsatz auszugehen,<br />

dass ein vorübergehendes Leistungshindernis zur endgültigen<br />

Unmöglichkeit der Leistung führt, wenn durch das Hindernis<br />

die Erreichung des Vertragszwecks infrage gestellt wird und<br />

deshalb einem Vertragspartner bei billiger Abwägung der beiderseitigen<br />

Interessen nicht zugemutet werden kann, die Leistung<br />

nach Beseitigung des Hindernisses noch zu fordern oder<br />

zu erbringen. 35<br />

Beispiel: Textilgroßhändler Groß vereinbart mit dem Fabrikanten<br />

Fertig, dass dieser ihm Anfang November 500 Damen-Sommerkleider<br />

verschiedener Modelle liefert. Ende Oktober teilt Fertig dem Groß<br />

mit, dass er leider den vereinbarten Liefertermin nicht einhalten<br />

könne, weil infolge einer Unvorsichtigkeit seines Lagerarbeiters die<br />

für die Herstellung benötigten Stoffe verdorben seien und er erst<br />

neue ordern müsse. Er hoffe aber, die Lieferung bis Ende <strong>Ja</strong>nuar<br />

nachholen zu können. Darauf erwidert Groß, Ende <strong>Ja</strong>nuar sei zu<br />

spät, zumal noch nicht einmal feststehe, ob dieser Termin auch<br />

eingehalten werden könne. Bekanntlich würde im Textilgroßhandel<br />

das Sommergeschäft bis etwa Mitte <strong>Ja</strong>nuar im Wesentlichen abgewickelt<br />

sein und er – Groß – müsse jetzt wissen, ob und wann er an<br />

seine Kunden liefern könne. Aus diesen Gründen lehne er die Lieferung<br />

zu einem späteren Zeitpunkt ab.<br />

Bei den bestellten Kleidern handelt es sich um saisonale Waren, für<br />

deren Veräußerung nur eine relativ kurze Zeit zur Verfügung steht.<br />

Danach kann die Ware zumindest nicht mehr zu gleichen Vertragsbedingungen<br />

insbesondere nicht zum gleichen Preis abgesetzt werden.<br />

Der Vertragszweck, der darin besteht, Groß mit Waren zu ver-<br />

804<br />

11/2011<br />

sehen, die er Einzelhändlern rechtzeitig, d.h. zum Beginn der Saison,<br />

anbieten kann, ist Ende <strong>Ja</strong>nuar nicht mehr zu erreichen, weil dieser<br />

Termin zu spät ist. Hinzu kommt noch, dass sogar ungewiss ist, ob<br />

überhaupt zu diesem Termin geliefert werden kann. Ein Abwarten<br />

bis zu dem Zeitpunkt, in dem Fertig zur Lieferung der bestellten<br />

Kleider in der Lage ist, kann Groß nicht zugemutet werden. Deshalb<br />

führt das vorübergehende Unvermögen des Fertig, die vertraglich<br />

vereinbarte Leistung zu erbringen, zur endgültigen Unmöglichkeit.<br />

Damit erlischt die primäre Leistungspflicht des Fertig nach § 275 I<br />

BGB. Ein Rücktrittsrecht des Groß ergibt sich somit aus § 326 V<br />

i.V.m. § 323 BGB. 36<br />

Auch auf Seiten des Gläubigers können sich Hindernisse ergeben,<br />

die es dem leistungsbereiten Schuldner unmöglich machen,<br />

die von ihm geschuldete Leistung zu erbringen, wie dies<br />

z.B. bei einer fehlenden Baugenehmigung der Fall ist, die der<br />

Bauausführung entgegensteht. Auch in einem solchen Fall ist<br />

danach zu fragen, ob dem Schuldner ein <strong>weiter</strong>es Warten auf<br />

die Beseitigung des Leistungshindernisses zugemutet werden<br />

kann. Dies ist zu verneinen, wenn es dem Schuldner darauf<br />

ankommt, seine Leistung innerhalb einer bestimmten Zeit zu<br />

erbringen. Im Beispielsfall der fehlenden Baugenehmigung<br />

kann dies durchaus zutreffen, wenn der Bauhandwerker zu<br />

einem späteren Zeitpunkt seine Arbeitskraft bereits durch<br />

andere Verpflichtungen gebunden hat. Dann spielt das Zeitmoment<br />

für die Erreichung des Vertragszwecks die entscheidende<br />

Rolle und führt dazu, dass ein vorübergehendes Leistungshindernis<br />

die Unmöglichkeit der Leistung des Schuldners<br />

bewirkt. 37<br />

C. ABGRENZUNGSFRAGEN<br />

I. Subjektive und faktische Unmöglichkeit<br />

Bei der Frage, ob ein Unvermögen des Schuldners zur Leistung<br />

zu bejahen ist, muss der Inhalt der Schuld beachtet<br />

werden. Es kommt entscheidend darauf an, welche Leistung<br />

der Schuldner versprochen hat. 38 Dies gilt nicht nur im Rahmen<br />

des § 275 II BGB, in dem ausdrücklich auf den Inhalt des<br />

Schuldverhältnisses hingewiesen und der vom Schuldner zu<br />

verlangende Aufwand zur Erbringung der Leistung in Beziehung<br />

zu der übernommenen Vertragspflicht gesetzt wird, 39<br />

sondern muss in gleicher Weise bei Beantwortung der Frage<br />

beachtet werden, welche Anstrengungen der Schuldner zur<br />

Herstellung seiner Leistungsfähigkeit zu unternehmen hat,<br />

um ein Unvermögen zur Leistung zu vermeiden oder zu<br />

beheben. Im Falle eines marktbezogenen (unbeschränkten)<br />

Gattungskaufs verspricht der Schuldner regelmäßig – vor-<br />

35 BGH NJW 2007, 3777 (3778 f. Tz. 24); OLG Karlsruhe NJW 2005, 989 (990);<br />

Medicus FS Heldrich, 2005, S. 347 (351); Dauner-Lieb/Konzen/Karsten Schmidt/<br />

Maier-Reimer Das neue Schuldrecht in der Praxis, 2003, S. 305; Palandt/Grüneberg<br />

(Fn. 13) Rn. 11; Looschelders (Fn. 8) Rn. 470; a.A. Arnold JZ 2002, 866, der die<br />

Folgen der vorübergehenden Unmöglichkeit nach den Regeln des Verzuges entscheiden<br />

und die Fälle, in denen einer Partei das Festhalten am Vertrag nicht<br />

zugemutet werden kann, auf der Grundlage des § 313 BGB lösen will; ablehnend<br />

gegenüber der Anwendung des § 313 BGB Staudinger/Löwisch/Caspers BGB, 2009,<br />

§ 275 Rn. 52.<br />

36 Vgl. zu diesen Fall auch Musielak (Fn. 7) Rn. 440.<br />

37 Auch andere Faktoren können für den Schuldner die Leistungserbringung unzumutbar<br />

werden lassen, so z.B. seine möglicherweise kostenintensive Erhaltung<br />

der Leistungsbereitschaft bis zum Wegfall des Leistungshindernisses; Medicus (Fn.<br />

35) S. 355.<br />

38 Lobinger (Fn. 22) S. 139 ff.; Unberath Die Vertragsverletzung, 2007, S. 273; Bernhard<br />

Jura 2006, 801 (806 f.); Staudinger/Löwisch/Caspers (Fn. 35) Rn. 82.<br />

39 Auch die Gesetzesbegründung BT-Drucks. 14/6040, S. 127 betont die Bedeutung<br />

der vertraglichen Vereinbarung für die vom Schuldner zu fordernden Anstrengungen,<br />

will jedoch offensichtlich Konsequenzen daraus nur für die Regelung des § 275<br />

II BGB ziehen.


AUFSATZ ZIVILRECHT · DER AUSSCHLUSS DER LEISTUNGSPFLICHT NACH § 275 BGB<br />

behaltlich abweichender Vereinbarungen – der Gattung nach<br />

bestimmte Sachen zu liefern und bleibt deshalb – wie bereits<br />

ausgeführt – solange verpflichtet, solange er solche Sachen aus<br />

ihm zugänglichen Quellen am betreffenden Markt 40 beschaffen<br />

kann. 41 Aber auch bei einer Stückschuld ist aufgrund der<br />

vertraglichen Vereinbarungen zu bestimmen, wie weit die<br />

Leistungspflicht des Schuldners reicht.<br />

Beispiel: V verkauft sein Cabrio für 10.000 € an K. Das Fahrzeug soll<br />

zu einem bestimmten Termin von V in dessen Garage übergeben<br />

werden. In der Nacht vor dem Übergabetermin wird das Cabrio<br />

gestohlen. Es taucht später in Murmansk auf. Die Rückführungskosten<br />

betragen gleichfalls 10.000 €. K hat nach dem Vertragsschluss<br />

mit V das Cabrio für 20.000 € an X <strong>weiter</strong>veräußert. K<br />

besteht auf Erfüllung des Vertrages mit V. 42<br />

Durch (ggf. ergänzende) Auslegung des Vertrages, den V und<br />

K geschlossen haben, muss ermittelt werden, ob daraus die<br />

Verpflichtung des V abzuleiten ist, den gestohlenen Wagen aus<br />

Murmansk zu holen und an dem für die Übergabe vereinbarten<br />

Ort K anzubieten. Ist dies zu verneinen – wofür in diesem<br />

Beispielsfall alles spricht –, dann tritt dadurch, dass V infolge<br />

des Diebstahls die Verfügungsgewalt über das Fahrzeug verliert,<br />

(subjektive) Unmöglichkeit ein und die primäre Leistungspflicht<br />

erlischt nach § 275 I BGB. 43 Nur wenn eine (bis<br />

nach Murmansk reichende 44 ) Beschaffungspflicht des V zu<br />

bejahen ist, kann sich die Frage ergeben, ob dann V ein Leistungsverweigerungsrecht<br />

nach § 275 II BGB zusteht. 45<br />

Grundsätzlich wird auch außerhalb der Übernahme eines Beschaffungsrisikos<br />

von einem Schuldner erwartet, dass er alles<br />

ihm Mögliche und Zumutbare unternimmt, um seine Leistungsfähigkeit<br />

zu erhalten und ggf. herzustellen.<br />

Beispiel: Galerist G bietet K das Gemälde Sonnenuntergang des<br />

Malers Farbenreich für 5.000 € zum Kauf an. K nimmt das Angebot<br />

an und bittet G, das Gemälde mit einem anderen Rahmen zu versehen.<br />

Zu diesem Zweck bleibt das Gemälde noch bei G. Der Angestellte<br />

A des G, der von dem Verkauf an K nicht informiert ist,<br />

verkauft und übergibt das Gemälde Sonnenuntergang dem B zum<br />

gleichen Preis. K besteht auf die Erfüllung des Kaufvertrages. G bittet<br />

deshalb B, ihm das Gemälde wieder zu verkaufen. Dieser ist dazu<br />

bereit, verlangt aber 10.000 €. 46<br />

Im Unterschied zum Cabrio-Fall ist die Pflicht des Galeristen<br />

zur Wiederbeschaffung des Bildes im Gemälde-Fall zu bejahen,<br />

denn nach dem Willen der Parteien kann der zweite Verkauf<br />

keinen Hinderungsgrund schaffen, der die Leistungspflicht<br />

des Verkäufers entfallen lässt. 47 Ein Unvermögen ist<br />

deshalb nur dann zu bejahen, wenn eine realistische Möglichkeit<br />

für den Schuldner zur Wiederbeschaffung ausgeschlossen<br />

werden muss. Dies wäre beispielsweise anzunehmen, wenn<br />

das Gemälde von A an einen Unbekannten veräußert worden<br />

wäre oder wenn der Dritte – im Beispielsfall B – nicht bereit<br />

ist, den von ihm erworbenen Gegenstand wieder zurückzugeben.<br />

Gleich zu behandeln ist der Fall, dass die Weigerung zur<br />

Rückgabe hinter völlig unsinnigen und deshalb unerfüllbaren<br />

Konditionen versteckt wird.<br />

Beispiel: Im Beispielsfall des zweifach verkauften Gemäldes verlangt<br />

B für die Rückgabe des Gemäldes eine Million Euro.<br />

Man könnte zwar daran denken, in diesem Fall den Galeristen<br />

auf ein sich aus § 275 II BGB ergebendes Leistungsverweigerungsrecht<br />

zu verweisen, jedoch ist diese Vorschrift sinnvol-<br />

lerweise auf Fälle zu beschränken, in denen der Aufwand zur<br />

Leistungserbringung für den Schuldner nicht jenseits aller vernünftigen<br />

Dimensionen liegt. 48 Denn nur dann besteht ein<br />

vernünftiger Grund, dem Schuldner ein Leistungsverweigerungsrecht<br />

einzuräumen. Die häufig gebrachten Beispielsfälle<br />

zur Erläuterung einer faktischen Unmöglichkeit, der in das<br />

Meer gefallene Ring oder der Münzschatz unter den Fundamenten<br />

eines Hochhauses, 49 begründen bei sinnvoller Bewertung<br />

die Unmöglichkeit der Leistung, wenn sich nicht der<br />

Schuldner in Kenntnis der bestehenden Schwierigkeiten zur<br />

Bergung des Ringes oder des Münzschatzes verpflichtet hat. 50<br />

Ganz überwiegend wird jedoch § 275 I BGB eng ausgelegt<br />

und diese Vorschrift nur auf Fälle angewendet, in denen der<br />

Schuldner nicht einmal theoretisch, also unter gar keinen Umständen,<br />

das Leistungshindernis beseitigen kann. 51 Dies geschieht<br />

– angeleitet durch die Gesetzesbegründung –, um<br />

§ 275 II BGB für die faktische Unmöglichkeit anwendbar sein<br />

zu lassen. Dabei muss der Inhalt der vertraglichen Leistungspflicht<br />

des Schuldners unbeachtet bleiben, denn es erscheint<br />

kaum vorstellbar, dass sich ein Schuldner zu Leistungen verpflichtet,<br />

die außerhalb jeder Vernunft liegen. Man kann sich<br />

nicht damit beruhigen, dass die praktischen Konsequenzen<br />

für den Schuldner deshalb nicht erheblich seien, weil letztlich<br />

die Leistungsverweigerung nach § 275 II BGB zu gleichen<br />

Rechtsfolgen führt, wie sie sich aus § 275 I BGB ergeben,<br />

nämlich zum Erlöschen der primären Leistungspflicht. Denn<br />

die Abhängigkeit von dem Geltendmachen einer Einrede in<br />

den Fällen des § 275 II BGB ist in ihren praktischen Auswirkungen<br />

keinesfalls gering zu achten. Denn ist beispielsweise<br />

der Schuldner in einem Rechtsstreit nicht vertreten,<br />

dann wird er infolge des Fehlens einer entsprechenden Einrede<br />

zur Leistung verurteilt, während ein Unvermögen i.S.v.<br />

40 Vgl. Fn. 5.<br />

41 MüKo-BGB/Grundmann (Fn. 2) § 276 Rn. 178.<br />

42 Dieses Beispiel stammt von Picker JZ 2003, 1035 (1036).<br />

43 So auch Lorenz Neues Leistungsstörungs- und Kaufrecht: Eine Zwischenbilanz,<br />

2004, S. 10; Unberath (Fn. 38) S. 276; Stürner Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit<br />

im Schuldvertragsrecht, 2010, S, 178 f,: Bernhard Jura 2006, 801 (805 ff.). In die<br />

gleiche Richtung gehen die Erwägungen von Picker JZ 2003, 1035 (1042), der in<br />

dem Beispielsfall zu Recht verneint, dass der den V treffende Mehraufwand durch<br />

die Rückholung des Cabrio dem Willen der Parteien entsprochen haben könne, weil<br />

sie ein „Platzgeschäft“ und nicht ein Beschaffungsgeschäft geschlossen hätten. Die<br />

Maßgeblichkeit des durch Auslegung zu gewinnenden Inhalts des Schuldverhältnisses<br />

betonen auch Wilhelm DB 2004, 1599 (1604) und Lobinger (Fn. 22) S. 139 ff.<br />

44 Dass V verpflichtet wäre, das verkaufte Cabrio zurückzuholen und es K in seiner<br />

Garage zu übergeben, wenn es in dem Nachbarort aufgefunden worden wäre, kann<br />

dagegen nicht zweifelhaft sein; so Staudinger/Löwisch/Caspers (Fn. 35) Rn. 82. Ein<br />

solches Verhalten ist zumutbar und Ausfluss der jeden Schuldner treffenden Pflicht,<br />

alles ihm Mögliche und Zumutbare zu tun, um seine Leistungspflicht zu erhalten<br />

oder wiederherzustellen; dazu sogleich. Dagegen meint Picker FS Konzen, 2006,<br />

S. 687 (697 Fn. 23), dass auch in diesem Fall § 275 I BGB anzuwenden sei, weil die<br />

Wiederbeschaffung Geld koste und mit dem Risiko eines Scheiterns belastet sei.<br />

45 Die Diskussion des Cabrio-Falles wird ganz überwiegend nur in Bezug auf § 275 II<br />

BGB geführt (vgl. z.B. Canaris JZ 2004, 214) ohne die <strong>hier</strong> aufgeworfene Frage nach<br />

dem Inhalt der Leistungspflicht angemessen zu berücksichtigen. Finn Erfüllungspflicht<br />

und Leistungshindernis, 2007, S. 249, will die Antwort auf die Frage nach<br />

der Reichweite der Beschaffungspflicht im Cabrio-Fall aus § 275 II BGB ableiten.<br />

46 Dieses Beispiel wird in verschiedenen Beiträgen erörtert, vgl. z.B. Fischer DB 2001,<br />

1923 (1924); Schwarze Jura 2002, 73 (74); Bernhard Jura 2006, 801.<br />

47 Ebenso Unberath (Fn. 38) S. 277.<br />

48 So auch Emmerich Das Recht der Leistungsstörungen, 6. Auflage 2005, § 3 Rn. 50.<br />

Überwiegend wird dies allerdings anders gesehen und § 275 II BGB vornehmlich<br />

bei „exorbitanten Kosten“ (so MüKo-BGB/Ernst [Fn. 2] § 275 Rn. 37) und bei<br />

einem „völlig unverhältnismäßigem Aufwand“ (so Looschelders [Fn. 8] Rn. 474)<br />

angewendet. Finn (Fn. 45) S. 467, bezeichnet es zu Recht als „wenig passend“, dem<br />

Schuldner „angesichts des extremen Charakters der Fallkonstellationen und der<br />

dadurch bedingten mangelnden Sinnhaftigkeit“ eine Wahlmöglichkeit gemäß § 275<br />

II BGB einzuräumen, will dies aber gleichwohl hinnehmen.<br />

49 Vgl. z.B. Emmerich (Fn. 48) § 3 Rn. 46.<br />

50 So auch Schmidt-Recla (Fn. 1) S. 661 (663); Huber FS Schlechtriem, 2003, 521 (560<br />

Fn. 105); Otto Jura 2002, 1 (3); Fischer DB 2001, 1923 (1925); Staudinger/Löwisch/<br />

Caspers (Fn. 35) Rn. 25.<br />

51 Helm (Fn. 31) S. 55 (60) (93); Finn (Fn. 45) S. 134; Brox/Walker (Fn. 4) Rn. 3.<br />

11/2011 805<br />

AUFSATZ


AUFSATZ<br />

AUFSATZ ZIVILRECHT · DER AUSSCHLUSS DER LEISTUNGSPFLICHT NACH § 275 BGB<br />

§ 275 I BGB vom Richter von Amts wegen zu berücksichtigen<br />

ist. 52 Auch für den Gläubiger kann es durchaus einen<br />

bedeutsamen Unterschied machen, ob eine echte Unmöglichkeit<br />

i.S.v. § 275 I BGB anzunehmen ist oder dem Schuldner<br />

ein Leistungsverweigerungsrecht nach § 275 II BGB zusteht.<br />

Denn im zweiten Fall ist der Anspruch des Gläubigers auf<br />

Herausgabe des stellvertretenden commodum gemäß § 285 I<br />

BGB davon abhängig, dass der Schuldner die Leistung verweigert.<br />

53<br />

Verlangt in dem Beispielsfall der zweite Käufer 10.000 €,<br />

also das Doppelte des Kaufpreises, den der Galerist beim Verkauf<br />

des Bildes erzielt hat, dann handelt es sich nicht um einen<br />

Fall faktischer Unmöglichkeit, denn der Aufwand, den der<br />

Galerist als Schuldner aus dem Kaufvertrag mit K zur Herstellung<br />

seiner Leistungsfähigkeit tätigen muss, erreicht keinesfalls<br />

eine außerhalb jeder Vernunft liegende Größenordnung.<br />

Deshalb ist auf der Grundlage des § 275 II BGB zu<br />

entscheiden, ob zwischen erforderlichem Aufwand und Leistungsinteresse<br />

des Gläubigers ein grobes Missverhältnis zu<br />

bejahen ist, wobei auch zu berücksichtigen sein wird, dass der<br />

zweite Verkauf auf einen dem Schuldner zuzurechnenden<br />

Organisationsmangel zurückzuführen ist; dies ist nach § 275<br />

II 2 BGB für die Bestimmung der zumutbaren Anstrengungen<br />

des Schuldners zur Herstellung seiner Leistungsfähigkeit bedeutsam.<br />

II. Faktische und wirtschaftliche Unmöglichkeit<br />

1. Die Regelungsabsicht des Gesetzgebers<br />

Folgt man der in der Gesetzesbegründung 54 aufgestellten These,<br />

dass die faktische Unmöglichkeit der Regelung des § 275<br />

II BGB unterfällt, während über die wirtschaftliche Unmöglichkeit<br />

auf der Grundlage des § 313 BGB zu entscheiden ist,<br />

dann lässt die Abgrenzungsfrage zwischen diesen Leistungsstörungsarten<br />

zugleich auch eine Stellungnahme zum Verhältnis<br />

zwischen den beiden genannten Vorschriften erforderlich<br />

werden. In der Gesetzesbegründung finden sich Ausführungen,<br />

die Aufschluss über die Vorstellungen des Gesetzgebers<br />

in dieser Frage geben sollen. Es heißt dort, dass Abs. 2 S. 1<br />

(jetzt § 275 II BGB)<br />

„allein auf das Leistungsinteresse des Gläubigers abstellt und die<br />

eigenen Interessen des Schuldners, um deren Berücksichtigung es in<br />

diesen Fällen, (d.h. denen der wirtschaftlichen Unmöglichkeit) typischerweise<br />

geht, nicht in den Blick nimmt… Dies ist vielmehr Gegenstand<br />

des § 313“. 55<br />

Der Wortlaut des § 275 II BGB widerspricht jedoch dieser<br />

Unterscheidung, denn in ihm wird keinesfalls allein auf das<br />

Leistungsinteresse des Gläubigers abgestellt und es werden<br />

die Interessen des Schuldners durchaus auch in den Blick<br />

genommen. Dies zeigt sich darin, dass dem Leistungsinteresse<br />

des Gläubigers der Leistungsaufwand des Schuldners gegenübergestellt<br />

und in Beziehung zum Inhalt des Schuldverhältnisses<br />

und zum Gebot von Treu und Glauben gesetzt wird.<br />

Die einseitige Hervorhebung des gläuberischen Leistungsinteresses<br />

in der Gesetzesbegründung als maßgebendes Kriterium<br />

für die durch § 275 II BGB geregelte Fallgruppe, die offensichtlich<br />

auf Canaris 56 zurückzuführen ist, erscheint deshalb<br />

als verfehlt. 57 Andererseits darf nicht übersehen werden, dass<br />

die in § 275 II BGB genannten Abgrenzungskriterien durchaus<br />

auch bei Anwendung des § 313 BGB Bedeutung erlangen<br />

können. Denn bei der Entscheidung, welche Umstände zur<br />

Grundlage des Vertrages geworden sind, ob es sich um eine<br />

806<br />

11/2011<br />

schwerwiegende Veränderung dieser Grundlage handelt und<br />

ob ein Festhalten am Vertrag der benachteiligten Partei zuzumuten<br />

ist, kommt es auf den Inhalt des Schuldverhältnisses<br />

und auf die Gebote von Treu und Glauben entscheidend an.<br />

Wer die Voraussetzungen einer wirtschaftlichen Unmöglichkeit<br />

zu ermitteln hat, muss auch das Gläubigerinteresse gebührend<br />

berücksichtigen. 58 Dass schließlich ein grobes Missverhältnis<br />

zwischen dem Leistungsaufwand des Schuldners<br />

und dem Leistungsinteresse des Gläubigers zu einer Störung<br />

der Geschäftsgrundlage führen kann, dürfte kaum in Abrede<br />

zu stellen sein. Dies alles bestätigt die Meinung, dass sich die<br />

Tatbestände beider Vorschriften überschneiden und deshalb<br />

ein und derselbe Sachverhalt zumindest nach dem Wortlaut<br />

von beiden Vorschriften erfasst werden kann. 59 Die klare<br />

Grenzlinie zwischen der in § 275 II BGB getroffenen Regelung<br />

und der Vorschrift des § 313 BGB, von der offensichtlich<br />

die Verfasser der Gesetzesbegründung ausgegangen sind, besteht<br />

also nicht. Es muss deshalb nach anderen Kriterien<br />

gesucht werden, um die aufgeworfene Abgrenzungsfrage zu<br />

lösen.<br />

2. Zum Anwendungsbereich des § 275 II BGB<br />

Bereits die Gesetzesbegründung lässt zweifeln, ob sich die<br />

Vorschrift des § 275 II BGB nach der Absicht der Gesetzesredaktoren<br />

tatsächlich ausschließlich auf die faktische Unmöglichkeit<br />

beziehen soll. Denn in ihr wird davon gesprochen,<br />

dass tatbestandlich und funktionell mit Abs. 2 zwei<br />

unterschiedliche Fallgruppen erfasst würden. Welche zweite<br />

Fallgruppe gemeint ist, bleibt unklar. 60 Erst recht spricht der<br />

Wortlaut der Vorschrift dafür, dass sie nicht auf Leistungshindernisse<br />

zu beschränken ist, deren Überwindung einen<br />

Aufwand erfordert, der vernünftige Dimensionen übersteigt.<br />

Nach diesem Wortlaut kommt es auf den Aufwand an, der für<br />

den Schuldner erforderlich wird, um die geschuldete Leistung<br />

zu erbringen. Erreicht dieser Aufwand eine Größe, die in<br />

einem groben Missverhältnis zum Leistungsinteresse des<br />

Gläubigers steht, dann ist der Schuldner berechtigt, die Leis-<br />

52 PWW/Schmidt-Kessel (Fn. 2) Rn. 18; Staudinger/Löwisch/Caspers (Fn. 35) Rn. 25;<br />

a.A. hinsichtlich der praktischen Bedeutung dieses Unterschiedes Finn (Fn. 45)<br />

S. 136 f.<br />

53 Bereits vor Inkrafttreten des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes hat Stoll JZ 2001,<br />

589 (591), darauf aufmerksam gemacht, dass die Einrede-Regelung des § 275 II<br />

BGB den Anspruch des Gläubigers auf das stellvertretende commodum aushebeln<br />

könne.<br />

54 BT-Drucks. 14/6040, S. 130.<br />

55 BT-Drucks. 14/6040, S. 130.<br />

56 JZ 2001, 499 (501 f.) (505). Der Einfluss Canaris auf die Gesetzesbegründung erklärt<br />

sich dadurch, dass er als Mitglied der vom Bundesministerium der Justiz eingesetzten<br />

Kommission zur Überarbeitung des vom Ministerium vorgelegten Gesetzentwurfs<br />

tätig war und als geistiger Vater der im Schuldrechtmodernisierungsgesetz<br />

getroffenen Regelung über die Unmöglichkeit gilt.<br />

57 So auch Fischer DB 2001, 1923 (1924); Zimmer NJW 2002, 1, (3 f.); Greiner (Fn. 28)<br />

S. 375 Fn. 75; Finn (Fn. 45) S. 514 f.<br />

58 Stoll JZ 2001, 589 (591 Fn. 15); Schlüter ZGS 2003, 346 (350).<br />

59 Zimmer NJW 2002, 1, (11 f.); Lobinger (Fn. 22) S. 76; Greiner (Fn. 28) S. 74;<br />

Köndgen FS Hans-Bernd Schäfer, 2008, S. 275 (278); MüKo-BGB/Ernst (Fn. 2)<br />

Rn. 23; Palandt/Grüneberg (Fn. 13) Rn. 29. Schmidt-Recla (Fn. 1) S. 668, ist sogar<br />

der Auffassung, dass bei richtiger Zuordnung aller praktisch relevanten Fälle entweder<br />

zu § 275 I BGB oder zu § 313 BGB für § 275 II BGB kein Anwendungsbereich<br />

bleibt.<br />

60 Der Gesetzentwurf, der der Begründung zugrunde lag, umfasste in seinem § 275 II<br />

1 BGB die im geltenden Recht in § 275 II BGB getroffene Regelung und in S. 2 die<br />

jetzt in § 275 III BGB enthaltene Vorschrift. Die erwähnte zweite Fallgruppe könnte<br />

sich also auf die persönliche Unmöglichkeit beziehen. Dagegen spricht jedoch, dass<br />

es sich ausweislich der Überschrift um die Begründung des S. 1 handeln soll. Finn<br />

(Fn. 45) S. 176, meint, die zweite Fallgruppe betreffe Sachverhalte, in denen der<br />

Schuldner die Kooperationsbereitschaft eines Dritten erkaufen müsse, um leisten zu<br />

können. Canaris JZ 2001, 499 (501), will durch § 275 II BGB neben der faktischen<br />

Unmöglichkeit, der er die Bedeutung von Lehrbuchfällen zuweist, „die Fälle, in<br />

denen rechtlich zweifelhaft ist, ob sie als Unvermögen zu qualifizieren sind oder<br />

nicht“ erfassen.


AUFSATZ ZIVILRECHT · DER AUSSCHLUSS DER LEISTUNGSPFLICHT NACH § 275 BGB<br />

tung zu verweigern. Bei der Entscheidung, ob dieser Grad der<br />

Leistungserschwerung für den Schuldner erreicht wird, sind<br />

der Inhalt des Schuldverhältnisses und die Gebote von Treu<br />

und Glauben zu beachten. Der Grundsatz der Privatautonomie<br />

als elementares Ordnungsprinzip unseres Privatrechts<br />

gebietet es, besondere Rücksicht auf die vom Schuldner übernommene<br />

Leistungspflicht zu nehmen. Es ist stets danach zu<br />

fragen, welche Verpflichtung der Schuldner freiwillig übernommen<br />

hat, wenn entschieden werden soll, welche Leistungsanstrengungen<br />

ihm billigerweise zuzumuten sind. 61 Verpflichtet<br />

sich ein auf Tauchgänge spezialisiertes Unternehmen,<br />

Gegenstände aus einem im Meer gesunkenen Schiff zu bergen,<br />

dann kann selbstverständlich nicht von einer faktischen Unmöglichkeit<br />

gesprochen werden, wenn es um die Erfüllung<br />

dieser Leistungspflicht geht. Die sieht völlig anders aus, wenn<br />

zu entscheiden ist, ob ein Handelsunternehmen, das eine Maschine<br />

nach Übersee verkauft hat, zur Beschaffung der verkauften<br />

Maschine verpflichtet ist, wenn das Schiff, das die<br />

Maschine transportiert, im Meer versinkt. Die sich aus dem<br />

Kaufvertrag ergebende Pflicht zur Übereignung und Übergabe<br />

der Kaufsache erstreckt sich offensichtlich nicht auf Anstrengungen,<br />

die zur Bergung der Maschine aus dem versunkenen<br />

Schiff erforderlich würden. Die Erfüllung der vertraglichen<br />

Pflicht aus dem Kaufvertrag, die Maschine dem Gläubiger<br />

zu übergeben, ist in einem solchen Fall dem Schuldner<br />

unmöglich und er wird deshalb von seiner Leistungspflicht<br />

frei, und zwar nicht auf der Grundlage des § 275 II BGB,<br />

sondern wegen echter Unmöglichkeit im Sinne des § 275 I<br />

BGB.<br />

Das gewählte Beispiel der im Meer versunkenen Maschine<br />

lässt deutlich sein, dass bei Anwendung des § 275 BGB als<br />

erstes zu ermitteln ist, welche Pflicht der Schuldner übernommen<br />

hat und ob die Erfüllung dieser Pflicht ihm möglich ist.<br />

Nur wenn die Möglichkeit der Pflichterfüllung bejaht werden<br />

kann, ist Raum für die Anwendung des § 275 II BGB.<br />

Beispiel: Das auf Bergung von Gegenständen aus versunkenen<br />

Schiffen spezialisierte Unternehmen verpflichtet sich, aus einem im<br />

Meer liegenden Schiffswrack hochwertige Güter zu bergen, die sich<br />

in dem Schiff befinden. Nach Vertragsschluss wird das Schiffswrack<br />

durch ein Seebeben zu einer wesentlich tieferen Stelle befördert. Die<br />

Bergungskosten steigen deshalb auf das Doppelte des zuvor aufzuwendenden<br />

Betrages.<br />

Die Erfüllung der übernommenen Vertragspflicht, die sich auf die<br />

Bergung bestimmter Gegenstände aus einem Schiffswrack bezieht,<br />

bleibt <strong>weiter</strong>hin möglich, verteuert sich jedoch erheblich. Deshalb ist<br />

gemäß § 275 II BGB zu entscheiden, ob bereits ein grobes Missverhältnis<br />

zwischen dem vom Schuldner zu erbringenden Aufwand und<br />

dem Gläubigerinteresse erreicht ist, das dem Schuldner ein Leistungsverweigerungsrecht<br />

gibt. 62<br />

Folgt man der <strong>hier</strong> vertretenen Auffassung und entscheidet<br />

man über die vom Schuldner zu erbringenden Leistungsanstrengungen<br />

nach dem Inhalt der von ihm übernommenen<br />

Pflicht, dann muss es im Gegensatz zu der in der Gesetzesbegründung<br />

vertretenen Auffassung ausgeschlossen werden,<br />

dass die Fälle der faktischen Unmöglichkeit von § 275 II BGB<br />

erfasst werden. 63 Denn es ist – wie bereits bemerkt – nicht<br />

vorstellbar, dass sich ein Schuldner zu Leistungen verpflichtet,<br />

deren Erfüllung lediglich theoretisch möglich ist, die aber<br />

Maßnahmen erfordern, die außerhalb jeder Vernunft liegen.<br />

Diese Feststellung muss sich mit zwei nahe liegenden Einwendungen<br />

auseinandersetzen, nämlich zum einen mit der Zulässigkeit,<br />

die gegenteilige Auffassung der Verfasser der Geset-<br />

zesbegründung zu ignorieren, zum anderen mit der Ausklammerung<br />

gesetzlicher Schuldverhältnisse, für die ebenfalls § 275<br />

BGB gilt, 64 bei denen es aber keine vom Schuldner freiwillig<br />

übernommene Pflicht geben kann, die das Maß der schuldnerischen<br />

Leistungsanstrengungen bestimmt.<br />

Die Regelungsabsicht des Gesetzgebers, die sich aus den<br />

Gesetzesmaterialien erschließt, stellt sicherlich ein wichtiges<br />

Kriterium für die Auslegung einer Rechtsnorm dar. Allerdings<br />

kann dies nur für die Grundabsicht gelten und nicht für die in<br />

einer Gesetzesbegründung geäußerten Vorstellungen über die<br />

genaue Bedeutung und Reichweite einer einzelnen Bestimmung.<br />

Denn derartige Normvorstellungen stammen von den<br />

Verfassern des Gesetzestextes, im konkreten Fall von den<br />

zuständigen Ministerialbeamten und den Mitgliedern der sie<br />

beratenden Kommission. Diese Personen sind aber weder<br />

einzeln noch in ihrer Gesamtheit der Gesetzgeber. 65 Den Gesetzesredaktoren<br />

kommt keinesfalls das Recht einer authentischen<br />

Interpretation des Gesetzes zu. 66 Allenfalls bei Auslegungszweifeln<br />

kann ein Rückgriff auf die Gesetzesmaterialien<br />

infrage kommen, wobei allerdings unzutreffende Wertungen<br />

in einer Gesetzesbegründung gegenüber anderen<br />

Auslegungsergebnissen als bedeutungslos anzusehen sind. 67<br />

Die Auffassung, § 275 II BGB sei auf Fälle der faktischen<br />

Unmöglichkeit anzuwenden, erweist sich aus den genannten<br />

Gründen 68 als eine derartige unzutreffende Wertung.<br />

Mit dem zweiten Einwand, einer mangelnden Berücksichtigung<br />

gesetzlicher Schuldverhältnisse bei der Interpretation<br />

des § 275 II BGB, hat sich besonders Lobinger 69 auseinandergesetzt<br />

und darauf hingewiesen, dass für die wichtigsten gesetzlichen<br />

Schuldverhältnisse eigene Befreiungsregelungen<br />

gelten, sodass sich der Anwendungsbereich von § 275 BGB<br />

grundsätzlich auf rechtsgeschäftlich begründete Leistungspflichten<br />

beschränkt. Aber selbst wenn im Einzelfall entschieden<br />

werden muss, welche Leistungsanstrengungen zur Erfüllung<br />

einer gesetzlich begründeten Pflicht vom Schuldner zu<br />

verlangen sind, ist dabei ebenfalls auf Umfang und Inhalt der<br />

Pflicht abzustellen, für deren Ermittlung selbstverständlich<br />

dann nicht eine vertragliche Abrede, sondern die sich aus dem<br />

Gesetz ergebenden Hinweise maßgebend sind.<br />

Für den Anwendungsbereich des § 275 II BGB bleiben also<br />

die Fälle, bei denen die erforderlichen Leistungsanstrengungen<br />

des Schuldners unterhalb der Größenordnung einer faktischen<br />

Unmöglichkeit liegen und bei denen durchaus vorstellbar<br />

ist, dass sich der Schuldner nicht auf ein ihm zustehendes<br />

Leistungsverweigerungsrecht beruft, sondern zu Anstrengungen<br />

bereit ist, zu denen er nach dem Schuldverhältnis<br />

nicht verpflichtet ist. Wenn man für diese Fallgruppe die<br />

Bezeichnung „überobligationsmäßige Leistungserschwerungen“<br />

wählt, dann wird mit diesem Begriff zum einen zum<br />

Ausdruck gebracht, dass es sich dabei nicht um einen Fall der<br />

Unmöglichkeit handelt und zum anderen dadurch auch Bezug<br />

auf die Pflicht des Schuldners genommen, die für die geschuldeten<br />

Leistungsanstrengungen maßgebend ist. Auf diese Weise<br />

erhält die Vorschrift des § 275 II BGB eine für die prakti-<br />

61 So auch Lobinger (Fn. 22) S. 166 ff.; Finn (Fn. 45) S. 251 ff.; Fehre (Fn. 2) S. 46 f.;<br />

Fikentscher/Heinemann (Fn. 16) Rn. 397.<br />

62 So auch zu einem ähnlichen Fall Stürner Jura 2010, 721 (725).<br />

63 So auch Stürner (Fn. 43) S. 188.<br />

64 BGH NJW 2008, 3122 (3123 Tz. 17).<br />

65 Larenz Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 329.<br />

66 Huber (Fn. 50) S. 564; Stürner (Fn. 43) S. 188.<br />

67 BGH NJW 1998, 1868 (1869); 1998, 2673 (2674).<br />

68 Zu <strong>weiter</strong>en Ungereimtheiten in der Gesetzesbegründung zu § 275 II BGB vgl. Finn<br />

(Fn. 45) S. 188 (341 f.).<br />

69 Lobinger (Fn. 22) S. 168 f.<br />

11/2011 807<br />

AUFSATZ


AUFSATZ<br />

AUFSATZ ZIVILRECHT · DER AUSSCHLUSS DER LEISTUNGSPFLICHT NACH § 275 BGB<br />

sche Anwendung brauchbare Funktion und wird nicht zu<br />

einer „nur selten anwendbaren Ausnahmevorschrift“. 70<br />

3. Die Voraussetzungen einer Leistungsverweigerung<br />

nach § 275 II BGB<br />

Dem nach § 275 II BGB vorzunehmenden Vergleich zwischen<br />

Leistungsaufwand des Schuldners und Gläubigerinteresse<br />

ist, wie bereits ausgeführt, stets die Frage vorgelagert, ob<br />

die Anstrengungen, die zur Leistungserbringung erforderlich<br />

werden, noch innerhalb des Pflichtenprogrammes des konkreten<br />

Schuldverhältnisses liegen. Ist diese Frage zu verneinen,<br />

dann ist dem Schuldner die Erfüllung seiner primären Leistungspflicht<br />

unmöglich und er wird von dieser Leistungspflicht<br />

nach § 275 I BGB frei. Nur wenn zur Überwindung<br />

eines Leistungshindernisses ein Aufwand notwendig wird, der<br />

noch innerhalb der Grenzen liegt, die von dem schuldnerischen<br />

Leistungsversprechen gezogen werden, findet die Vorschrift<br />

des § 275 II BGB Anwendung und ist dementsprechend<br />

zu entscheiden, ob die erforderlichen Anstrengungen<br />

das Maß eines groben Missverhältnisses zwischen Leistungsaufwand<br />

und Gläubigerinteresse erreichen. 71<br />

Bei Ermittlung des Gläubigerinteresses ist aufgrund der<br />

gebotenen Beachtung des Grundsatzes von Treu und Glauben<br />

von den Leistungserwartungen eines redlich handelnden<br />

Gläubigers auszugehen. Diese Erwartungen sind regelmäßig<br />

darauf gerichtet, den Leistungsgegenstand ordnungsgemäß in<br />

Natur zu erhalten. Geschieht dies nicht, dann geht das Interesse<br />

des Gläubigers dahin, die Nachteile auszugleichen, die<br />

durch die Nichterfüllung entstehen. Man kann deshalb als<br />

Richtgröße den Betrag ansetzen, den der Gläubiger als Schadensersatz<br />

statt der Leistung geltend machen kann. 72 In die<br />

insoweit vorzunehmende Berechnung sind insbesondere die<br />

Kosten einzustellen, die bei einer Ersatzbeschaffung entstehen,<br />

und ebenso alle Schäden, die verursacht werden, weil der<br />

Gläubiger die Leistung nicht erhält. Hierzu zählt insbesondere<br />

ein dem Gläubiger entgangener Gewinn. 73 Fast ausnahmslos<br />

wird auch die Berücksichtigung von Nichtvermögensschäden<br />

des Gläubigers befürwortet. 74 Dagegen spricht jedoch,<br />

dass der Gläubiger bei behebbaren Leistungshindernissen besser<br />

gestellt würde wie in dem Fall der vorsätzlichen Vernichtung<br />

des Leistungsgegenstandes durch den Schuldner. Denn<br />

bei dem in einem solchen Fall dem Gläubiger zustehenden<br />

Schadensersatzanspruch finden immaterielle Interessen keine<br />

Berücksichtigung. Eine Auseinandersetzung mit diesem Widerspruch<br />

findet sich indes kaum. 75<br />

Die zweite Bezugsgröße, der Leistungsaufwand, ergibt sich<br />

aus der Summe aller Kosten, die durch die Maßnahmen verursacht<br />

werden, die zur Erbringung der Leistung erforderlich<br />

werden. Dabei ist der Gesamtaufwand maßgebend und nicht<br />

allein der Mehraufwand, der durch die Überwindung des<br />

Leistungshindernisses entsteht. 76 Ob sich die Differenz zwischen<br />

Leistungsaufwand und Gläubigerinteresse als ein grobes<br />

Missverhältnis darstellt, ist aufgrund einer wertenden Betrachtung<br />

zu entscheiden, wobei auch <strong>hier</strong>bei der Inhalt des jeweiligen<br />

Schuldverhältnisses und die Gebote von Treu und Glauben<br />

zu beachten sind. Daraus folgt insbesondere, dass es für<br />

die an den schuldnerischen Aufwand zu stellenden Anforderungen<br />

bedeutsam erscheint, ob der Schuldner eine Gegenleistung<br />

und in welcher Höhe erhält 77 und ob der Eintritt des<br />

Leistungshindernisses für eine der Parteien voraussehbar war.<br />

Ausdrücklich werden im Gesetz durch § 275 II 2 BGB die<br />

vom Schuldner zu verlangenden Anstrengungen davon abhängig<br />

gemacht, ob der Schuldner das Leistungshindernis<br />

gemäß § 276 BGB zu vertreten hat. Insoweit wirkt sich neben<br />

808<br />

11/2011<br />

vorsätzlich oder fahrlässig herbeigeführten Leistungshindernissen<br />

die Risikohaftung aus, die sich aus der Beschaffungspflicht<br />

beim marktbezogenen Gattungskauf und dem Herstellungsrisiko<br />

beim Werkvertrag (§ 644 BGB) 78 ergibt. Geht<br />

man mit der überwiegenden Auffassung davon aus, dass bei<br />

nicht zu vertretenden Leistungshindernissen geringere Anforderungen<br />

an den vom Schuldner zu leistenden Aufwand zu<br />

stellen sind, 79 dann ist dieses geminderte Maß unterhalb der<br />

Grenze anzusetzen, die für einen schuldhaft handelnden oder<br />

mit einer Risikohaftung belasteten Schuldner gilt, nämlich die<br />

Höhe des Anspruchs auf Schadensersatz statt der Leistung. 80<br />

Die Ermittlung der Grenze, bei deren Überschreitung von<br />

einem groben Missverhältnis zu sprechen ist, erweist sich im<br />

Einzelfall als eine nicht einfach zu entscheidende Frage, die in<br />

das Ermessen des Rechtsanwenders gestellt ist. In einer Vielzahl<br />

von Vorschlägen wird versucht, dem Rechtsanwender für<br />

die Beantwortung dieser Frage Orientierungspunkte zu geben.<br />

Hierbei wirken sich die unterschiedlichen Auffassungen<br />

über den Anwendungsbereich des § 275 II BGB aus. Wer<br />

diese Vorschrift nur in extremen Ausnahmefällen anwenden<br />

will, bejaht ein grobes Missverhältnis erst dann, wenn die<br />

Erbringung der Leistung von niemandem ernsthaft in Betracht<br />

gezogen wird und die Forderung des Gläubigers auf<br />

Erfüllung offensichtlich als rechtsmissbräuchlich zu werten<br />

ist. 81 Andere wollen klare Richtwerte durch die Angabe von<br />

Prozentzahlen schaffen, wobei Abstufungen danach vorgenommen<br />

werden, ob und ggf. mit welchem Verschuldensgrad<br />

der Schuldner das Leistungshindernis zu vertreten hat. 82<br />

Überwiegend wird es zu Recht abgelehnt, durch willkürlich<br />

gesetzte Prozentzahlen eine dogmatisch nicht begründbare<br />

Rechtssicherheit zu fingieren. 83 Dagegen lässt sich durch eine<br />

Orientierung an den jeweils geltenden Gefahrtragungsregeln<br />

eine Lösung finden, die sich wesentlich besser dogmatisch<br />

begründen lässt. Will man einen Wertungswiderspruch vermeiden,<br />

dann darf ein Schuldner, der das Leistungshindernis<br />

nicht zu vertreten hat, durch überobligationsmäßige Leistungserschwerungen<br />

bei einer Stückschuld nicht stärker belas-<br />

70 So aber BGH NJW 2009, 1660 (1662 Tz. 18); ebenso Brandenburgisches OLG<br />

BeckRS 2010, 21340; Canaris JZ 2001, 499 (502); Palandt/Grüneberg (Fn. 13)<br />

Rn. 27; Schlüter ZGS 2003, 346 (351).<br />

71 Picker (Fn. 44) S. 698.<br />

72 Ehmann/Sutschet Modernisiertes Schuldrecht, 2002, S. 53; Fehre (Fn. 2) S. 42 (70);<br />

Bernhard Jura 2006, 801 (802); MüKo-BGB/Ernst (Fn. 2) § 275 Rn. 79.<br />

73 Bernhard Jura 2006, 801 (803).<br />

74 MüKo-BGB/Ernst (Fn. 2) Rn. 80; Palandt/Grüneberg (Fn. 13) Rn. 28.<br />

75 Anders nur Köndgen (Fn. 59) S. 283 f., der sich allerdings damit begnügt, auf die<br />

Schutzwürdigkeit von immateriellen Interessen zu verweisen. Bernhard Jura 2006,<br />

801 (803), äußert Bedenken hinsichtlich der Bewertung solcher Interessen. Ehmann/<br />

Sutschet (Fn. 72) S. 53 f. lehnen dagegen die Berücksichtigung des Affektionsinteresses<br />

des Gläubigers ab.<br />

76 Helm (Fn. 31) S. 92 f.; Fehre (Fn. 2) S. 41 (44); Löhnig ZGS 2005, 459 (460); MüKo-<br />

BGB/Ernst (Fn. 2) Rn. 83; a.A. Stürner (Fn. 43) S. 174.<br />

77 Staudinger/Löwisch (Fn. 35) Rn. 100.<br />

78 Vgl. dazu Huber (Fn. 50) S. 553 ff.<br />

79 Looschelders (Fn. 8) Rn. 476; Fikentscher/Heinemann (Fn. 16) Rn. 397; Brox/Walker<br />

(Fn. 4) § 22 Rn. 19; MüKo-BGB/Ernst (Fn. 2) Rn. 102.<br />

80 Bei dieser Interpretation muss sich allerdings derjenige, der dem Gläubigerinteresse<br />

bei Bestimmung des groben Missverhältnisses eine bevorzugte Bedeutung beimisst,<br />

über einen inneren Widerspruch hinwegsetzen, auf den Schmidt-Recla (Fn. 1)<br />

S. 665 f. hinweist. Denn der Gläubiger hat in dem Fall, dass der Schuldner das<br />

Leistungshindernis nicht zu vertreten hat, ein größeres Interesse an dem Erhalt des<br />

Leistungsgegenstandes und damit an der Überwindung des Leistungshindernisses.<br />

In diesem Fall muss nämlich der Schuldner beim Ausbleiben der Leistung keinen<br />

Schadensersatz leisten und der Gläubiger geht folglich leer aus.<br />

81 Brox/Walker (Fn. 4) § 12 Rn. 19 (Missverhältnis muss ein geradezu untragbares<br />

Ausmaß erreichen); ebenso MüKo-BGB/Ernst (Fn. 2) Rn. 89.<br />

82 Fehre (Fn. 2) S. 50 ff. (180% des Leistungsinteresses des Gläubigers bei dem nicht<br />

zu vertretenden Leistungshindernis, 200% bei einfacher Fahrlässigkeit, 210% bei<br />

grober Fahrlässigkeit und 220% bei Vorsatz).<br />

83 Stürner (Fn. 43) S. 179 f.; Unberath (Fn. 38) S. 280 Fn. 199; Köndgen (Fn. 59)<br />

S. 279; Picker (Fn. 44) S. 690.


AUFSATZ ZIVILRECHT · DER AUSSCHLUSS DER LEISTUNGSPFLICHT NACH § 275 BGB<br />

tet werden als bei einem zufälligen Untergang des Leistungsgegenstandes.<br />

84 Bei einem synallagmatischen Vertrag, bei dem<br />

die Leistungsgefahr der Gläubiger trägt, verliert der Schuldner,<br />

dem die Gegenleistungsgefahr zufällt, im Fall einer Unmöglichkeit<br />

der Leistungserbringung die Gegenleistung. 85 Eine<br />

finanzielle Belastung des Schuldners bis zur Höhe dieser<br />

Gegenleistung erscheint folglich zumutbar, sodass ihm ein<br />

Leistungsverweigerungsrecht nach § 275 II BGB auch nur<br />

beim Überschreiten dieser Grenze zugestanden werden<br />

kann. 86 Bei einseitigen Leistungspflichten braucht der Schuldner,<br />

der das Leistungshindernis nicht zu vertreten hat, entsprechend<br />

der Verteilung der Leistungsgefahr überhaupt keine<br />

zusätzlichen Anstrengungen zur Überwindung des Leistungshindernisses<br />

zu unternehmen. 87 Der Einwand, das Gläubigerinteresse<br />

könne bei synallagmatischen Verträgen im Einzelfall<br />

die Gegenleistung sowohl überschreiten als auch unterschreiten,<br />

folglich könne die Gegenleistung keine Richtgröße darstellen,<br />

88 ist deshalb nicht stichhaltig, weil durch die Gefahrtragungsregeln<br />

das Leistungsinteresse eines redlich handelnden<br />

Gläubigers, auf den im Rahmen des § 275 II BGB abzustellen<br />

ist, angemessen begrenzt wird. Es entspricht der<br />

Regelung des § 275 II 2 BGB, dass ein Schuldner, der das<br />

Leistungshindernis zu vertreten hat, höhere finanzielle Mittel<br />

zur Überwindung des Leistungshindernisses einsetzen muss<br />

und dass die Grenze durch die Höhe des Schadens gebildet<br />

wird, deren Ersatz der Gläubiger als Schadensersatz statt der<br />

Leistung fordern kann.<br />

4. Das Verhältnis des § 275 II BGB zu § 313 BGB<br />

Wer die Anwendung des § 275 II BGB auf extreme Ausnahmefälle<br />

beschränken will 89 und damit ihr einen „virtuellen,<br />

nur in der Vorstellung des Gesetzgebers existierenden Anwendungsbereich“<br />

90 schafft, hat kaum Schwierigkeiten bei der<br />

Abgrenzung beider Vorschriften voneinander. Alle praktisch<br />

relevanten Fälle müssen dann auf der Grundlage des § 313<br />

BGB gelöst werden. Ein anderer Ansatz besteht darin, vorrangig<br />

auf das Gläubigerinteresse abzustellen. In Fällen, in<br />

denen sich dieses Interesse aufgrund des Umstandes, der die<br />

Geschäftsgrundlage bildet, ebenfalls erhöht, wie dies im Fall<br />

einer Steigerung von Marktpreisen vorkommt, die eine Äquivalenzstörung<br />

bei synallagmatischen Verträgen verursacht,<br />

soll nur § 313 BGB angewendet werden. Wegen der Erhöhung<br />

des Gläubigerinteresses komme es nicht zu einem groben<br />

Missverhältnis und zur Anwendung des § 275 II BGB. 91<br />

Unter der Voraussetzung, dass man das Gläubigerinteresse auf<br />

den Wert der Gegenleistung bezieht, trifft dies in Fällen einer<br />

Äquivalenzstörung zu, gilt dann aber auch in anderen Fällen,<br />

sodass der Anwendungsbereich des § 275 II BGB auf diese<br />

Weise ganz erheblich eingeschränkt würde.<br />

Dies lässt sich an dem Beispielsfall der Bergung von Gegenständen<br />

aus einem Schiffswrack zeigen. Handelt es sich bei den zu bergenden<br />

Gegenständen um singuläre Einzelstücke, die nicht am Markt<br />

erhältlich sind, wie z.B. Kunstgegenstände, oder um Dokumente, die<br />

sich in wasserdichten Behältnissen befinden, dann steigt mit der<br />

Verteuerung der Leistung des Schuldners auch das darauf gerichtete<br />

Interesse des Gläubigers, und zwar in gleicher Weise, wie dies festzustellen<br />

ist, wenn sich der Marktpreis vom Schuldner zu beschaffender<br />

Gattungssachen erhöht. 92 Auf den Beispielsfall wäre dann ausschließlich<br />

§ 313 BGB anzuwenden.<br />

Es gibt eine ganze Reihe von anderen Vorschlägen, die sich<br />

darum bemühen, eine Trennungslinie zwischen § 275 II und<br />

§ 313 BGB zu ziehen. Zu diesen Vorschlägen kann <strong>hier</strong> im<br />

Einzelnen nicht Stellung genommen werden. Es muss die<br />

Feststellung genügen, dass sie durchweg keine überzeugenden<br />

Lösungen anbieten können. 93 Dies gilt auch für die Meinung,<br />

§ 275 II BGB sei nur auf vertragsimmanente Risiken anwendbar.<br />

94 Der Begriff des vertragsimmanenten Risikos ist recht<br />

unbestimmt und hängt im Wesentlichen von der im Einzelfall<br />

vorzunehmenden Auslegung der vertraglichen Vereinbarungen<br />

ab, sodass sich auf diese Weise kaum ein sicheres und<br />

allgemein geltendes Abgrenzungsmerkmal finden lässt. Eine<br />

Unterscheidung danach zu treffen, ob der Aufwand, der zur<br />

Überwindung des Leistungshindernisses erforderlich wird,<br />

zur Erhöhung des Leistungswertes führt, um dann § 313<br />

BGB heranzuziehen, oder ob dadurch lediglich eine Belastung<br />

des Schuldners eintritt, um in diesem Fall § 275 II BGB anzuwenden,<br />

95 lässt sich aus dem Gesetz nicht begründen und<br />

führt in der praktischen Konsequenz zu gleichen Ergebnissen<br />

wie die bereits abgelehnte Meinung, die bei dieser Frage das<br />

Gläubigerinteresse maßgebend sein lassen will.<br />

Nach der <strong>hier</strong> befürworteten Interpretation des § 275 II<br />

BGB lassen sich dagegen Überschneidungen nicht vermeiden.<br />

Dies lässt sich an dem oben gebrachten Beispiel der Bergung<br />

von Gegenständen aus einem Schiffswrack aufzeigen.<br />

Die Erwartung, dass sich die Bedingungen zur Bergung der zu beschaffenden<br />

Gegenstände nicht erheblich verändern, lässt sich als<br />

ein Umstand auffassen, der zur Grundlage des Vertrages i.S.v. § 313<br />

I BGB geworden ist. Die negative Voraussetzung, dass dieser Umstand<br />

nicht Vertragsinhalt geworden ist, 96 wird offensichtlich erfüllt,<br />

denn in dem Vertrag fehlt eine Regelung über die Folgen für die<br />

Vergütung bei einer außergewöhnlichen Änderung der Bedingungen<br />

für die Bergung. Eine <strong>weiter</strong>e, positive Voraussetzung besteht<br />

darin, dass dieser Umstand für beide Parteien oder zumindest für<br />

eine von ihnen erkennbar für die andere 97 so wichtig ist, dass sie den<br />

Vertrag bei Kenntnis oder Voraussicht des Wegfalls oder des Fehlens<br />

des Umstandes nicht oder mit einem anderen Inhalt geschlossen<br />

hätte. Auch diese Voraussetzung ist im Beispielsfall zu bejahen, denn<br />

das Bergungsunternehmen ging offensichtlich, also erkennbar für<br />

den Auftraggeber, nicht davon aus, dass durch ein Seebeben eine<br />

unerwartete, kostspielige Leistungserschwerung ausgelöst werden<br />

könne. Auch bei Berücksichtigung der vertraglichen oder gesetzlichen<br />

Risikoverteilung ist dem Bergungsunternehmen ein Festhalten<br />

am unveränderten Vertrag nicht zuzumuten. Denn die Zuweisung<br />

eines derartig ungewöhnlichen Risikos, wie dies durch ein Seebeben<br />

geschaffen wird, an eine Vertragspartei, folgt weder aus dem Vertrag<br />

noch aus dem Gesetz.<br />

84 Picker (Fn. 44) S. 697 Fn. 24 meint zu Recht, dass sonst der Schuldner geradezu<br />

hoffen müsste, dass „Glück im Unglück“ einer völligen Zerstörung des Leistungsgegenstandes<br />

zu haben mit der Folge völliger Befreiung nach § 275 I BGB.<br />

85 Vgl. Musielak (Fn. 7) Rn. 507 f.<br />

86 Ackermann JZ 2002, 378 (383 f.). Die h.M. sieht es allerdings anders und verlangt<br />

wesentlich größere Leistungsanstrengung vom Schuldner; vgl. nur für viele Schlechtriem/Schmidt-Kessel<br />

Schuldrecht Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 2005, Rn. 480.<br />

87 Huber (Fn. 50) S. 552.<br />

88 Köndgen (Fn. 59) S. 279.<br />

89 Vgl. die in Fn. 70 Zitierten.<br />

90 Schmidt-Recla (Fn. 1) S. 668.<br />

91 Lorenz/Riehm Lehrbuch zum neuen Schuldrecht, 2002, Rn. 408; Finn (Fn. 45)<br />

S. 474 f.; Medicus/Lorenz (Fn. 11) Rn. 424; Looschelders (Fn. 8) Rn. 479; MüKo-<br />

BGB/Ernst (Fn. 2) Rn. 21.<br />

92 Lobinger (Fn. 22) S. 78.<br />

93 Dies kann nicht überraschen, denn beide Vorschriften betreffen eng verwandte Tatbestände<br />

einer „materiellen-wirtschaftlichen Unzumutbarkeit“, soGreiner (Fn. 28)<br />

S. 174; ähnlich auch Schlechtriem/Schmidt-Kessel (Fn. 86) Rn. 482.<br />

94 Stürner Jura 2010, 721 (724 ff.).<br />

95 Finn (Fn. 45) S. 518 f.<br />

96 Vgl. PWW/Medicus/Stürner (Fn. 2) § 313 Rn. 8.<br />

97 BGH NJW 2010, 1663 Tz. 17; vgl. auch Musielak (Fn. 7) Rn. 362.<br />

11/2011 809<br />

AUFSATZ


AUFSATZ<br />

AUFSATZ ZIVILRECHT · DER AUSSCHLUSS DER LEISTUNGSPFLICHT NACH § 275 BGB<br />

Auf die Frage, wie bei Überschneidungen der Anwendungsbereiche<br />

beider Vorschriften vorzugehen ist, werden unterschiedliche<br />

Antworten gegeben. <strong>Sie</strong> reichen von der Annahme<br />

eines Vorrangs des § 275 II BGB vor § 313 BGB 98 oder umgekehrt<br />

99 bis hin zu einem Gleichrang beider Vorschriften und<br />

der damit verbundenen rechtlichen Möglichkeit einer freien<br />

Auswahl des Schuldners zwischen ihnen. 100 Der letztgenannten<br />

Auffassung ist der Vorzug zu geben. Denn treffen beide<br />

Vorschriften tatbestandlich auf einen Sachverhalt zu, dann gibt<br />

es keinen überzeugenden Grund, warum nicht beide Vorschriften<br />

auch nebeneinander anwendbar sein sollen, denn es<br />

kann dann kein Spezialitätsverhältnis zwischen ihnen festgestellt<br />

werden. Dies bedeutet, dass in einem solchen Fall der<br />

Schuldner wählen kann, ob er sich auf ein Leistungsverweigerungsrecht<br />

beruft oder ob er den Weg des § 313 BGB gehen<br />

will. Sofern er sich allerdings für das Leistungsverweigerungsrecht<br />

entscheidet, tritt als Rechtsfolge der Wegfall der primären<br />

Leistungspflicht ein und es bleibt dann kein Raum mehr<br />

für die Anwendung des § 313 BGB.<br />

D. FAZIT<br />

Die Schwierigkeiten bei der Anwendung des § 275 BGB ergeben<br />

sich aus der Notwendigkeit, zwischen verschiedenen in<br />

dieser Vorschrift enthaltenen Tatbeständen mit unterschiedlichen<br />

Rechtsfolgen zu unterscheiden. Hierfür kommt es bei<br />

vertraglichen Schuldverhältnissen entscheidend auf das vom<br />

Schuldner abgegebene Leistungsversprechen an. Sind die zur<br />

Überwindung des Hindernisses erforderlichen Anstrengungen<br />

nicht mehr vom Leistungsversprechen des Schuldners<br />

gedeckt, dann ist ihm die Erfüllung seiner Leistungspflicht<br />

unmöglich und der Anspruch des Gläubigers auf die ursprünglich<br />

geschuldete Leistung ist nach § 275 I BGB ausgeschlossen.<br />

Hieraus folgt, dass entgegen der überwiegenden<br />

Auffassung die Fälle einer faktischen Unmöglichkeit nicht<br />

AUFSATZ ÖFFENTLICHES RECHT · DIE ZWEISTUFENTHEORIE IM VERWALTUNGSRECHT<br />

unter § 275 II BGB, sondern unter § 275 I BGB zu subsumieren<br />

sind. Denn es ist regelmäßig auszuschließen, dass ein<br />

Schuldner verspricht, ein Leistungshindernis zu überwinden,<br />

das Maßnahmen erfordert, die außerhalb jeder Vernunft liegen.<br />

§ 275 II BGB bezieht sich auf Sachverhalte, in denen der<br />

Schuldner vor überobligationsmäßige Leistungserschwerungen<br />

gestellt wird. Darunter sind solche Sachverhalte zu verstehen,<br />

in denen es um Leistungshindernisse geht, die zwar<br />

unter das zum Schuldverhältnis gehörende Pflichtenprogramm<br />

fallen, deren Überwindung jedoch vom Schuldner Anstrengungen<br />

erfordert, die über das hinausgehen, was er bei<br />

Übernahme dieser Verpflichtung versprochen hat oder was<br />

ihm von Gesetzes wegen obliegt. Welche Anstrengungen vom<br />

Schuldner zu erwarten sind, richtet sich danach, ob er das<br />

Leistungshindernis zu vertreten hat. Ist dies nicht der Fall,<br />

dann ist eine Orientierung an den Gefahrtragungsregeln geboten.<br />

Dies bedeutet, dass bei synallagmatischen Verträgen der<br />

Schuldner einen Aufwand zu leisten hat, der bis zur Höhe des<br />

Werts der Gegenleistung geht, weil er die Gegenleistungsgefahr<br />

trägt. Bei einseitigen Verpflichtungen hat der Schuldner<br />

keine zusätzlichen Anstrengungen zu unternehmen, denn die<br />

Leistungsgefahr fällt dem Gläubiger zu. Wer das Leistungshindernis<br />

zu vertreten hat, schuldet Anstrengungen bis zur<br />

Wertgrenze eines Anspruchs auf Schadensersatz statt der Leistung.<br />

Bei diesen Differenzierungen wird vermieden, dass sich<br />

Widersprüche zu der Rechtslage ergeben, die besteht, wenn<br />

der Leistungsgegenstand untergegangen ist.<br />

98 Helm (Fn. 31) S. 173 f.; MüKo-BGB/Roth (Fn. 2) § 313 Rn. 140.<br />

99 Schlüter ZGS 2003, 346 (351).<br />

100 Schwarze Jura 2002, 73 (78); Löhnig ZGS 2003, 459 (460 Fn. 13); Emmerich (Fn. 48)<br />

§ 3 Rn. 68; MüKo-BGB/Ernst (Fn. 2) Rn. 23.<br />

Professor Dr. Urs Kramer, cand. iur. Melanie Bayer, cand. iur. Verena Fiebig, cand. iur Katrin Freudenreich, Universität<br />

Passau *<br />

Die Zweistufentheorie im Verwaltungsrecht oder: Die immer noch bedeutsame<br />

Frage nach dem Ob und Wie<br />

Die Zweistufentheorie spielt im Verwaltungsrecht eine bedeutsame<br />

Rolle; sie wird in letzter Zeit (zuletzt durch ein Urteil des<br />

BVerfG) aber vermehrt in Frage gestellt. Deshalb soll neben<br />

ihrer Entstehung und den Anwendungsfällen auch die Kritik an<br />

ihr und deren Berechtigung näher untersucht werden.<br />

A. EINLEITUNG<br />

Im Öffentlichen Recht, insbesondere im Verwaltungsrecht,<br />

stößt man immer wieder auf verschiedene „Stufen“: Differenziert<br />

wird dabei zwischen einer ersten Stufe: der Frage nach<br />

dem „Ob“ und einer zweiten, nachgelagerten Stufe: der Frage<br />

nach dem „Wie“. Man denke z.B. nur an die Unterscheidung<br />

zwischen dem Entschließungs- und dem Auswahlermessen<br />

für die Behörde, 1 die durch zahlreiche Ermessensermächtigungen<br />

vorgezeichnet ist. Besondere Bedeutung erlangt die<br />

Unterscheidung zwischen dem „Ob“ und „Wie“ jedoch in<br />

solchen Sachverhalten, in denen öffentliches und privates<br />

Recht gleichsam ineinanderfließen, nämlich dann, wenn sich<br />

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11/2011<br />

die öffentliche Hand bei der Regelung eines grundsätzlich<br />

öffentlich-rechtlichen Sachverhaltes privatrechtlicher Formen<br />

oder Strukturen bedient. Relevant wird das insbesondere im<br />

Bereich der Leistungsverwaltung, wo der Staat ein Wahlrecht<br />

hat, in welcher (Rechts-)Form und durch wen er seine (Leistungs-)Aufgaben<br />

erfüllt. 2 Hier will ihm die nachfolgend näher<br />

betrachtete Zweistufentheorie letztlich die sonst mögliche und<br />

oft befürchtete „Flucht ins Privatrecht“ abschneiden.<br />

Die Zweistufentheorie leistet in diesem Zusammenhang<br />

* Der Verfasser Kramer ist Inhaber der Lehrprofessur für Öffentliches Recht und<br />

Sprecher des Instituts für Rechtsdidaktik an der Universität Passau; die Verfasserinnen<br />

Bayer, Fiebig und Freudenreich sind studentische Hilfskräfte an diesem<br />

Institut.<br />

1 Vgl. nur Kramer Allgemeines Verwaltungsrecht, 2010, Rn. 316. Ähnlich ist die<br />

Situation bei der Vollzugshilfe, vgl. Sodan/Ziekow Grundkurs Öffentliches Recht,<br />

4. Aufl. 2010, § 72 Rn. 12 f.<br />

2 So Wallerath Allgemeines Verwaltungsrecht, 6. Aufl. 2009, § 3 Rn. 11 (allg. Ansicht).

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