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Lesetext: Exposè J. Rauchenberger - MINORITEN KULTUR Graz ...

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<strong>Lesetext</strong>e zur Vorlesung J. <strong>Rauchenberger</strong>, Konfliktgeschichten zwischen Kunst und Religion in der Moderne, Uni Wien,<br />

Institut für Kirchengeschichte, WS 2005/06: EXPOSÉ 1<br />

EXPOSÉ<br />

Konfliktgeschichten zwischen Kunst und Religion in der Moderne: Eine<br />

zerbrochene Beziehung, gemeinsame Kinder und wie man mittlerweile<br />

trotzdem ganz gut miteinander kann<br />

Johannes <strong>Rauchenberger</strong>, <strong>Graz</strong><br />

I. Über die Interpretationen und über die Reflexionsstufen einer<br />

zerbrochenen Beziehung<br />

Kunst und Religion stehen in der Moderne nicht zuletzt aufgrund der Kollision ihrer<br />

Imaginationen in einem spannungsgeladenen, wenn nicht feindlichen, zumeist aber<br />

erkalteten Verhältnis gegenüber. Das Verhältnis ist das ganze 20. Jahrhundert über mit<br />

einem starken Syndrom belastet: „(...) dem Abstand, den die Kirche zur modernen Kunst<br />

gehalten hat, der Ablehnung, die sie ihr auf weite Strecken entgegenbrachte, entspricht<br />

beinahe spiegelbildlich die enorme Skepsis, mit der ein intellektuelles Publikum nicht nur<br />

den Hervorbringungen neuer christlicher Kunst begegnete, sondern auch alle Äußerungen<br />

von Künstlern der Avantgarde zu möglichen religiösen Zusammenhängen ihrer Arbeit<br />

ignorierte oder in Zweifel zog.“ 1<br />

Alle Versuche, das Verhältnis von Kunst und Christentum in der Moderne in eine für den<br />

geistigen Kommunikationsprozess der Gegenwart akzeptable und gegenseitig befruchtende<br />

Balance zu bringen, geraten in den Status von Sysiphos-Aktionen: „Die Trennung<br />

zwischen Kunst und Kirche ist eine Tatsache, an der es nichts zu deuten gibt. (...) Die<br />

Entwicklung ist unumkehrbar. Ein Problem ist sie nur für wenige.“ 2<br />

Unlösbare Probleme.<br />

Trennung ist eine viel benutzte Vokabel der Gegenwart und entstammt der Metaphorik<br />

einer Beziehung. Wer von Trennung spricht, hat eine zerrüttete Geschichte hinter sich, die<br />

1 W. Schmied, Die Fragestellung. Ein Vorwort, in: Ders. (Hg.), Zeichen des Glaubens – Geist der Avantgarde. Religiöse Tendenzen in<br />

der Kunst des 20. Jahrhunderts (Ausstellung zum 86. Deutschen Katholikentag, 1980, Berlin Schloß Charlottenburg) Das Buch zur<br />

Ausstellung, Stuttgart 1980, 4-10, 6.<br />

2 F. Mennekes, Zwischen Zweifel und Entzücken. Kunst und Kirche im 20. Jahrhundert, in: Stimmen der Zeit 124 (1999), 630-642, 630;<br />

u.a. wiederabgedruckt als „Das Geistige in der Kunst“ in: Ders., Begeisterung und Zweifel. Profane und Sakrale Kunst, Statement<br />

Reihe S. 37; Regensburg 2003, 211-233.<br />

1


<strong>Lesetext</strong>e zur Vorlesung J. <strong>Rauchenberger</strong>, Konfliktgeschichten zwischen Kunst und Religion in der Moderne, Uni Wien,<br />

Institut für Kirchengeschichte, WS 2005/06: EXPOSÉ 2<br />

es zu bewältigen gilt und die notwendigerweise – als Befreiung, Schatten, Belastung – in<br />

die neue Lebensetappe hineinwirkt. Die herkömmliche Beziehung von Religion und Kunst<br />

in der Moderne ist ohne Zweifel zerbrochen.<br />

Die rund 1500-jährige Beziehung hat zu einem überwiegenden Teil die europäische<br />

Kunstgeschichte geschrieben. Die Geschichte weist alle Merkmale einer<br />

Beziehungsgeschichte auf, die man beiden Partnern in ihren angestammten<br />

Aufenthaltsorten „Zwischen Tempel und Museum“ (A. Stock) 3 zugeschrieben und höchst<br />

komplex – in Theorien, Kunstgeschichtsschreibung, Museologien wie im<br />

Ausstellungsbetrieb – ausgefaltet hat: Identität und Differenz, gegenseitiges Anziehen,<br />

orgiastische Verschmelzung, gemeinsame und wechselseitige Positionierung, Abgrenzung,<br />

eigene Terraingewinnung, Trennung, Scheidungskämpfe, Besitz- und Erbansprüche,<br />

Schock, Gehässigkeit, Verfolgung, psychische Folgeschäden, Trauer – und die Zeit<br />

danach.<br />

Dennoch: Eine zerbrochene Beziehung umfasst nicht nur eine Konflikt-, sondern auch eine<br />

Liebesgeschichte: Sie bezieht sich in besonderer Weise auf die Imaginationen der Religion<br />

des Christentums in der Kunst und auf jene der Kunst, entfacht durch die christliche<br />

Religion.<br />

Konfliktpunkte: Aufruf der Kronzeugen<br />

Worin bestehen die Konfliktpunkte zwischen dem christlichen „Bild“ und der Moderne?<br />

Kronzeugen sind rasch aufgerufen: Hegels „Mögen wir die griechischen Götterbilder noch<br />

so vortrefflich finden und Gottvater, Christus, Maria noch so würdig und vollendet<br />

dargestellt sehen – es hilft nichts, unsere Knie beugen wir doch nicht mehr“ 4 , Wolfgang<br />

Schönes „Gott – der christliche Gott – hat im Abendland eine Bildgeschichte gehabt. Diese<br />

Bildgeschichte ist abgelaufen“ 5 , Nietzsches: „Gott ist und Gott bleibt tot! Und wir haben<br />

ihn getötet.’“ 6 Hans Sedlmayrs Zeitdiagnose für die Kunst des „Verlusts der Mitte“ 7 .<br />

(Bestrittene) Kultaspekte der Kunst, die Unklarheit über die entwickelte und vertraute<br />

Ikonografie, die Verknüpfung von Kunst und Metaphysik und alle damit verbundenen<br />

Erbfolgedebatten sowie der geistesgeschichtliche Horizont von Kunst und ihr Anspruch<br />

eröffnen sich als die wichtigsten Konfliktfelder.<br />

3<br />

A. Stock, Zwischen Tempel und Museum. Theologische Kunstkritik. Positionen der Moderne, Paderborn 1991.<br />

4<br />

Vgl. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I-III (Theorie-Werkausgabe Bd. 13-15). Frankfurt 1970, Werke 13, 142.<br />

5<br />

W. Schöne, Die Bildgeschichte der christlichen Gottesgestalten in der abendländischen Kunst, in: W. Schöne/J. Kollwitz/H. v.<br />

Campenhausen, Das Gottesbild im Abendland, Witten u. Berlin 1957, 7.<br />

6<br />

F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft (1882) KSA 3, §125.<br />

7<br />

H. Sedlmayr, Verlust der Mitte, Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symbol und Zeichen der Zeit, 10. Aufl., Salzburg<br />

o.J. Vgl. dazu: Stock, Tempel und Museum, 158-162.<br />

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<strong>Lesetext</strong>e zur Vorlesung J. <strong>Rauchenberger</strong>, Konfliktgeschichten zwischen Kunst und Religion in der Moderne, Uni Wien,<br />

Institut für Kirchengeschichte, WS 2005/06: EXPOSÉ 3<br />

Schuldzuschreibungen und Einsichten<br />

Konfliktgeschichten werden meist von Schuldzuschreibungen begleitet. Drei Äußerungen,<br />

die das Entlaufen einer Partnerin in einer Beziehung kommentieren: „Einer Kunst, die das<br />

‚non serviam’ (ich diene nicht) so ungescheut als Losungswort nimmt, wird die Kirche sich<br />

auch nicht bedienen können.“ 8 Das Zitat aus einem einflussreichen Handbuch eines<br />

Regensburger Prälaten Mitte des 19. Jahrhunderts steht auf der einen Seite, die Feststellung<br />

des am Anfang zitierten erfahrenen Kurators Wieland Schmied, der Ende des 20.<br />

Jahrhunderts das Feld zwischen zeitgenössischer Kunst und Religion völlig neu abgesteckt<br />

hat, auf der anderen: „Niemand wird behaupten wollen, dass die Kirche – abgesehen von<br />

wenigen herausragenden Vertretern, herausragend in ihrem geistigen Profil und in ihrem<br />

Amt, nicht in ihrem hierarchischen Rang, - den Experimenten der Künstler irgendeine<br />

Hilfestellung gegeben, sie auch nur mit Sympathie begleitet hätte. Die Kirche hat sich der<br />

Kunst dieses Jahrhunderts wie vielen anderen Phänomenen der modernen Welt fast völlig<br />

verschlossen.“ 9<br />

Zwischen diesen Positionen steht eine Einsicht von Konrad Weis aus dem Jahre 1914: „Es<br />

ist schwer, unter Katholiken über die neue Kunst in einer Sprache zu reden, die die<br />

gegenwärtigen Kunstprobleme und die ganze katholische und geschichtliche Weite<br />

zugleich erfasst; denn wir Katholiken haben in künstlerischen Dingen keine eigene<br />

Sprache mehr. (...) Es wird dort [in der Kunst] viel ehrliche Arbeit geleistet. Diese Arbeit<br />

ist aber nicht unsere Arbeit, und jene Ehrlichkeit ist für uns nicht Wahrheit.“ 10<br />

Die Niederungen des Alltags<br />

Konfliktgeschichten rühren aber oft weniger von großen Theorien als von den<br />

Niederungen des Alltags her, wo Gewohnheiten, Prägungen, Eigenarten eine viel größere<br />

Rolle spielen. Erst im Nachhinein lassen sich plausible Gründe anführen, die zu einer<br />

systematischen Erfassung des Problems führen. Das streng abgeschlossene Milieu der<br />

Kirche als Reaktion auf die „Gefahren der Moderne“ – ob sie nun als „die naturalistische<br />

Gefahr”, „Entartung der Kunst” oder „Erosion der Sakralität” 11 gesehen wurden - hat ihre<br />

eigene Entwicklungslogik und führte zur weiteren Entfremdung. Kirchliche<br />

8 G. Jakob, Die Kunst im Dienste der Kirchen. Ein Handbuch für Freunde der christlichen Kunst (1857), Landshut 3 1880, 543, zit. bei<br />

Stock, Katholisches Kunstgespräch in der Moderne, in: Ders., Keine Kunst, Aspekte der Bildtheologie, Paderborn 1996, 83-104, 87.<br />

9 Schmied, Die Fragestellung, in: Ders. (Hg.), Zeichen des Glaubens – Geist der Avantgarde, 6.<br />

10 K. Weiß, Zum geschichtlichen Gethsemane, Mainz 1919, 154., zit. bei Stock, Katholisches Kunstgespräch., 88.<br />

11 Unter diesen Überschriften lässt Alex Stock 100 Jahre jesuitischen Kunstkritik Revue passieren: In: Ders., Zwischen Tempel und<br />

Museum, 21-44.<br />

3


<strong>Lesetext</strong>e zur Vorlesung J. <strong>Rauchenberger</strong>, Konfliktgeschichten zwischen Kunst und Religion in der Moderne, Uni Wien,<br />

Institut für Kirchengeschichte, WS 2005/06: EXPOSÉ 4<br />

Gebrauchskunst war nach und nach von der Höhe der Kunstentwicklung ausgeschlossen<br />

bzw. schloss sich selbst aus. Attraktive Auftraggeber wurden immer rarer.<br />

Auftragskonflikte und, in der Folge eines entstehenden Gemeindebewusstseins,<br />

Gemeindekonflikte kamen auf. Die Ausbildung einer in sich fest geschlossenen und<br />

durchorganisierten katholischen Subkultur ließ der Sakralkunst einen Beigeschmack<br />

entstehen. 12 Als Diagnose kann jene Herbert Schades gelten: „In merkwürdiger<br />

Entsprechung geht Hand in Hand mit der Säkularisierung der Kunst eine künstlerische<br />

Aushöhlung der religiösen Thematik in kirchlichen Werken.“ 13<br />

II. Mediatoren<br />

Die Verteidigung in dieser Konfliktgeschichte ist, zugegeben, leiser, aber dennoch nicht zu<br />

überhören: „Diesseits und jenseits der Kunst“ 14 gibt es immer noch Leute, die das Knie<br />

beugen. Ob in Lourdes oder in Mariazell, oder– wenigstens mental ob der Überwältigung<br />

von einem ästhetischen Einfall – im Museum, in Galerien oder in Ausstellungen. Namhafte<br />

Kenner der Konfliktgeschichte verstehen ausgerechnet den „Tod Gottes“ Nietzsches als<br />

„Häutung“, hin zu einer „neuen Metaphysik“, „einer unablässigen Steigerung,<br />

Verdichtung, Überschreitung“ 15 – abzulesen in der Kunst des 20. Jahrhunderts.<br />

Es sind aber weniger Verteidiger einer scheinbar einseitig entschiedenen<br />

Konfliktgeschichte als vielmehr Mediatoren, die vermitteln. Es „sind immer nur wenige“ 16<br />

– doch ihre Vermittlungsarbeit wirkt, wie jede Kuratorentätigkeit, theoriebildend und<br />

geschichtskonstruierend.<br />

Vielleicht ist das nicht nur ein Kennzeichen der Moderne.<br />

12 Stock, Katholisches Kunstgespräch, 87.<br />

13 H. Schade, in: A. Stock, Zwischen Tempel und Museum, Vorworte.<br />

14 Vgl. dazu: A. Stock, Diesseits und jenseits der Kunst, in: Bilderfragen. Theologische Gesichtspunkte, Paderborn 2004, 17-22.<br />

15 W. Schmied, Religion und Bildende Künste am Ende des 20. Jahrhundert s, in: K. Lehmann/H. Maier (Hg.), Autonomie und<br />

Verantwortung. Religion und Künste am Ende des 20. Jahrhunderts, Regensburg 1995, 110-125, 115; wiederabgedruckt als<br />

„Spiritualität in der Kunst“, in: W. Schmied, Wohin geht die Reise der Kunst? Stuttgart 2003, 97-120.<br />

16 O. Mauer, zit. in A. Stock, Zwischen Tempel und Museum...<br />

4


<strong>Lesetext</strong>e zur Vorlesung J. <strong>Rauchenberger</strong>, Konfliktgeschichten zwischen Kunst und Religion in der Moderne, Uni Wien,<br />

Institut für Kirchengeschichte, WS 2005/06: EXPOSÉ 5<br />

III. Game is over, life goes on. Über neue Lebensformen, über Patchwork<br />

und das Blättern im Album<br />

Von der Selbstherrlichkeit der Streitpartner, aber auch von einer intensiven Streitkultur,<br />

sind wir heute, am Anfang des 21. Jahrhunderts, meist weit entfernt. Postmoderne<br />

Auspizien lassen die im 20. Jahrhundert geübten und teilweise ritualisierten<br />

Berührungsängste und Vereinnahmungsphobien zunehmend verschwinden. Die Trennung<br />

von Kunst und Kirche ist am Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts so weit<br />

vorangeschritten, dass sie kein Thema mehr ist, so fremd ist man einander, so weit entfernt<br />

voneinander, ja so skurril scheinen die verschiedenen Baukörper und Lebensformen zu<br />

sein. Worin die lange geübte Trennung eigentlich gründet, ist längst nicht mehr<br />

erörterungswürdig, ja schlichtweg uninteressant. Die Sprachfähigkeit auf beiden Seiten<br />

und die Dialogsituation sind so gut/so schlecht, wie eben ihre Darsteller und Vermittler<br />

sind. Die Nachfolgemodelle der Lebensformen einer alten Fragestellung sind aber allesamt<br />

leichter, unverfänglicher. Vielleicht auch deshalb, weil die Orte der Beziehung nicht mehr<br />

so eng sind wie früher. Sie sind insgesamt vielfältiger geworden. Sie haben aber auch ihre<br />

eigene Handlungs- und Wirkungslogik. Religion in der Kunst wird seltsamerweise längst<br />

nicht mehr in Kirchen gesucht, vielmehr in Museen und vor allem in Ausstellungen. Man<br />

kann teilweise sogar von einem Rollenwechsel sprechen: „Traditionell gehen Menschen in<br />

die Kirche, um Offenbarungen über Wahrheit und Glauben, ihre eigene persönliche<br />

Entscheidungsfindung und ihr Verhalten, ihr Leben zu erlangen. Traditionell gehen<br />

Menschen ins Museum, um sich glanzvolle Architektur und Bilder anzuschauen.<br />

Heutzutage gehen viele Menschen in ein Museum, um Offenbarungen, Reflexionen,<br />

Inspirationen und Einsichten jenseits ihres täglichen, indirekten Erfahrungsraumes zu<br />

erhalten. Viele Kirchen werden besucht, um ihre glanzvolle Architektur und ihre Bilder zu<br />

betrachten. Kunst hat parallel zu dem Bedeutungsverlust von Religion in vielen<br />

Bevölkerungsgruppen eine Rolle übernommen, der das Erhabene, Sublime, Wahre und<br />

Schöne, das Erhellende und Transzendente zugewiesen wird.“ 17<br />

Es ist daher angezeigt, die Konfliktgeschichten zwischen Kunst und Religion in der<br />

Moderne sowie die damit verbundene Strittigkeit des Bildes für die jüngere Gegenwart<br />

17 K. Biesenbach, Von Werten und Welten. Eine Ausstellung über Motivationen und Ideale, Regeln und Pflichten, Rechte und Freiheiten<br />

des Einzelnen Menschen in einer als Ganzes gedachten Welt, in: Die zehn Gebote, hg. von K. Biesenbach für das Deutsche Hygiene<br />

Museum Dresden, Ostfilder/Ruit 2004, 10-15, 11.<br />

5


<strong>Lesetext</strong>e zur Vorlesung J. <strong>Rauchenberger</strong>, Konfliktgeschichten zwischen Kunst und Religion in der Moderne, Uni Wien,<br />

Institut für Kirchengeschichte, WS 2005/06: EXPOSÉ 6<br />

nicht nur im Kultraum der Kirche, sondern in Ausstellungen zu betrachten, in denen neue<br />

Modelle von Lebensformen zum Ausdruck kommen.<br />

Viele Tagungen, Symposien und Ausstellungen zum Konfliktfeld Moderne Kunst und<br />

Kirche sind jedenfalls von der Erkenntnis geleitet, dass die lange Geschichte einer offenen<br />

oder geheimen Demütigung, von der Höhe der jeweiligen Avantgarde ausgeschlossen zu<br />

sein (wie man diese einst ausgeschlossen hatte), eigentlich nicht weiter geschrieben werden<br />

muss: Beide kommen auch in einer völligen Fremdheit durchaus gut miteinander zurecht.<br />

In der grundsätzlichen Egalität der kulturellen Player kommt jener verstärkt zum Zug, der<br />

die besseren Karten in seiner Präsentation hat. Die Stärken des Kulturraums der Kirchen<br />

sind nicht gering: sie bieten und waren Ideenlieferant für vielfältigste Bilder, die dem<br />

kulturellen Bildgedächtnis als höchst wertvoll gelten, sie sind als institutionalisierte<br />

gesellschaftliche Größen in Religionsdingen zumindest ein Reibebaum für die in freier<br />

Wildbahn entwickelten Religiositäten – auch der Kunst, sie bieten als langatmige<br />

Institutionen historische Räume, die für zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler ein<br />

hohes gestalterisches Potential haben, selbst als Institutionen bilden sie in einer völlig<br />

institutionskritischen Epoche mittlerweile so viel Fremdartigkeit, dass sie künstlerisch<br />

bearbeitet werden können.<br />

Doch die „neuen Lebensformen“ haben auch ihren Preis: Während frühere Diskussionen<br />

zwischen Kunst und Kirche noch im Nachkampf des Autonomieanspruchs der Kunst<br />

lagen, den die Kirchen schließlich bis zur völligen Sprachlosigkeit ihrer eigenen Themen<br />

zur Kenntnis zu nehmen hatten, liegen heutige Schwierigkeiten in der „Vielfalt<br />

individueller Konzepte [...], die ihre eigene Wirklichkeit behaupten und das bildnerische<br />

Material zwar zwanglos fortschreiben, sich aber dessen komplexer theologischer und<br />

kunstgeschichtlicher Substanz oftmals gar nicht mehr vergewissern wollen“ 18 .<br />

Ein Blick in die jüngere Vergangenheit der letzten 25 Jahre zeigt diese neue Situation der<br />

alten Konfliktgeschichte zwischen Kunst und Religion. Es sind neben Bestreitungen auch<br />

Wiederentdeckungen, konzeptionelle Renaissancen, Analogien und Transformationen in<br />

diesen „neuen Lebensformen“ zu beobachten. Sechs Aspekte sollen im Folgenden zu Wort<br />

kommen, die die Strittigkeit des Bildes für das Christentum für die Situation des 20. und<br />

21. Jahrhunderts beleuchten.<br />

18 M. Flügge/ F. Meschede, Warum Warum! In: Warum! Bilder diesseits und jenseits des Menschen, hg. von M. Flügge und F.<br />

Meschede im Auftrag der Guardini-Stiftung und der Stiftung St. Matthäus, Ostfildern/Ruit 2003, 12-19, 14<br />

6


<strong>Lesetext</strong>e zur Vorlesung J. <strong>Rauchenberger</strong>, Konfliktgeschichten zwischen Kunst und Religion in der Moderne, Uni Wien,<br />

Institut für Kirchengeschichte, WS 2005/06: EXPOSÉ 7<br />

1. Vergiss, was gestern war – und eine allmähliche Diagnose (Was<br />

„Spiritualität in der Kunst“ für das Christentum bedeuten könnte)<br />

Die moderne Konfliktgeschichte von Kunst und Religion hat vor allem einen gemeinsamen<br />

Namen: die Säkularisierung aller Bereiche – auch der Kunst. Religiös kann moderne Kunst<br />

wohl nicht bezeichnet werden, „Religion in der Kunst“ 19 wurde – jedenfalls in der<br />

vertrauten Weise – in der Moderne keinesfalls diagnostiziert. Ausgerechnet dieser common<br />

sense wurde durch eine Ausstellung im Jahre 1980 in Berlin epochentheoretisch radikal<br />

unter Streit gestellt: „Zeichen des Glaubens – Geist der Avantgarde“ versammelte 225<br />

Werke von 90 namhaften Künstlern aus der Zeit von 1890-1980: „Der Gedankenstrich<br />

zwischen dem Begriffspaar sollte die beiden Pole eines offenen Spannungsverhältnisses<br />

markieren – war es eher ein Binde- oder ein Trennungsstrich? Was trennte, was verband<br />

Glauben und Avantgarde?“ 20 Diesem Bannbruch folgten, einer Durchbrechung eines<br />

Syndroms gleich, in den darauffolgenden 25 Jahren viele Ausstellungen, die sich in der<br />

Folge von „Zeichen des Glaubens – Geist der Avantgarde“ lesen lassen. 21<br />

Wieland Schmied, der für diese Dialogsituation in seinen Ausstellungen für bahnbrechend<br />

gehalten werden kann, formulierte vor Jahren – noch ganz gegen den damaligen Zeitgeist:<br />

„Nur die Frage nach der Spiritualität wird – wie in jedem Jahrhundert menschlicher<br />

Geschichte so auch in diesem – uns ins Zentrum aller Kunst führen, nur von der Erkenntnis<br />

ihrer Spiritualität her wird sich die Kunst unseres Jahrhunderts in ihrer Substanz, wie in<br />

ihrer Qualität, wie in ihrer Fülle ganz erschließen.“ 22 Schmied widersprach damit der<br />

Herrschaft jener „orthodoxen Ästheten“, deren Begriff der Moderne „darauf hinauslief,<br />

dass die moderne Malerei angeblich nur noch ihre eigenen Mittel – Farbe, Formen, Umriss<br />

– reflektierte und sonst gar nichts“ 23 sei. Gegen die herrschende Meinung, einzig die „Idee<br />

der Innovation“ 24 , die Einführung und Erprobung immer neuer künstlerischer Medien und<br />

Materialien, sei die Leitlinie der Entwicklung der modernen Kunst wie ihrer adäquaten<br />

19 A. Stock, Religion in der Kunst. Zur Spiritualität der Avantgarde, in: Ders., Bilderfragen, 45-60.<br />

20 Ders., Zur Ausstellung, in: ders. (Hg.), Zeichen des Glaubens – Geist der Avantgarde, 3-5, 4.<br />

21 Vgl. W. Schmied (Hg.), Zeichen des Glaubens – Geist der Avantgarde. Religiöse Tendenzen in der Kunst des 20. Jahrhunderts<br />

(Ausstellung vom 86. Deutschen Katholikentag 1980, Berlin Schloß Charlottenburg)“; Nach Friedhelm Mennekes, der diesbezüglich<br />

eine Zusammenschau gezeigt hat, sind als weitere Ausstellungen internationalen Zuschnitts zu erwähnen: „Das Christusbild im 20.<br />

Jahrhundert“, Linz 1983; „The Spiritual in Art: Abstract Painting 1890-1980 (Los Angeles, 1986); „Museum und Kirche. Religiöse<br />

Aspekte moderner Kunst“ (Duisburg, Wilhelm Lehmbruck Museum); „L’Incanto e la trascendenza“, Trient 1994; „Negotiation<br />

Rapture. The Power of Art to Transform Lives“ (Chicago, Museum of Contemporary Art 1996), ENTGEGEN.<br />

Religion.Gedächtnis.Körper in Gegenwartskunst (<strong>Graz</strong>, Europäische Ökumenische Versammlung, 1997) „Beyond Belief. Modern Art<br />

and the Religious Imagination“ (Melbourne, National Gallery of Victoria, 1998), die Ausstellungstrilogie zum Millenium des<br />

Diözesanmuseums München-Freising: „Geistes Gegenwart“, (1998), „Schöpfung“ (1999) und „Himmelfahrt“ (2000). Ferner auch die<br />

Ausstellung „Unbedingt. Spirituelle Tendenzen in der jungen Kunst Österreichs“. Katalog zur Ausstellung in Salzburg, <strong>Graz</strong>, Hg. Von<br />

Anselm Wagner, <strong>Graz</strong> 1990<br />

22 W. Schmied, Spiritualität in der Kunst des 20.Jahrhunderts, in: IkaZ 12 (1983), 73-90, 73f.<br />

23 Ders., Zur Ausstellung, in: Ders. (Hg.), Zeichen des Glaubens Geist der Avantgarde, 3-5, 4.<br />

24 Ders., Spiritualität in der Kunst, 73.<br />

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<strong>Lesetext</strong>e zur Vorlesung J. <strong>Rauchenberger</strong>, Konfliktgeschichten zwischen Kunst und Religion in der Moderne, Uni Wien,<br />

Institut für Kirchengeschichte, WS 2005/06: EXPOSÉ 8<br />

Wahrnehmung und Beschreibung, wider dieses Konzept der „Autonomie der Mittel“ 25 , das<br />

über Bedeutung und Botschaft ein Tabu verhängt, war W. Schmieds These zuallererst<br />

gerichtet. „Spiritualität“ galt W. Schmied sogar „als das geheime Kennzeichen aller<br />

wahrhaft großen Kunst dieses Jahrhunderts.“ 26 Aber sowohl in dieser, 1980 gezeigten, als<br />

auch in der 1990 gezeigten Schau, die der Kunst seit den 50-er Jahren mit dem Titel<br />

„GegenwartEwigkeit. Spuren des Transzendenten in der Kunst unserer Zeit“ 27 gewidmet<br />

war, ging es ausdrücklich nicht um so genannte religiöse oder gar christliche Kunst! Der<br />

Schluss drängt sich auf: Strittig ist Kunst mit dem Etikett „christlich“, nicht die „Religion<br />

in der Kunst“ 28 .<br />

Hinter diesen Ausstellungen, die die Transzendenz in der modernen Kunst zeigen sollten,<br />

stand ein sehr weiter Religionsbegriff u.a. von Zen-Buddhismus bis zur Anthroposophie,<br />

gekennzeichnet mit der Diffundierung des Religiösen in andere Bereiche hinein, freilich<br />

verbunden mit deklarierter Institutionenkritik. Doch gibt sich Wieland Schmied nicht die<br />

Blöße einer konzeptionell-bedingten Verzerrung, statt dessen stellt er fest, „dass gerade in<br />

den Randbezirken christlichen Glaubens Echtes entsteht, indes das Christusbild selbst fast<br />

immer ärmlich wirkt“ 29 .<br />

Wieland Schmied versuchte damit– unterstützt in seinen theoretischen Äußerungen – sich<br />

dem Religiösen, das für ihn durchaus auch das Christliche bedeutet, vom Rand her zu<br />

nähern, im Zeigen von Bildern, die für ein Mysterium zeugen, mit Scheu und Scham, die<br />

Positionierung seiner Bilder gleicht eher der Hängung in den Vorhöfen des Heiligtums.<br />

„Das Verharren in den Randbezirken kommt nicht aus einer freventlichen Preisgabe der<br />

Mitte, wie H. Sedlmayr diagnostizierte, sondern aus der dem Mysterium gebührenden<br />

Scheu.“ 30 Die Bestreitung der vertrauten Ikonografie ist in dieser Sicht der<br />

Konfliktgeschichte sogar eine Aufwertung des vordergründig von der Bildfläche<br />

verschwundenen religiösen Themas, bestritten werden aber ausdrücklich die verflachten<br />

ikonografischen Formeln der Sonderabteilung „Christliche Kunst“, widersprochen wird auf<br />

der anderen Seite den „Formalästheten“ im Kunstbetrieb.<br />

25 Ebd. 73.<br />

26 Ebd. 90.<br />

27 W. Schmied (Hg.) „GegenwartEwigkeit. Spuren des Transzendenten in der Kunst unserer Zeit“ Ostfildern/Ruit 1990.<br />

28 A. Stock, Religion in der Kunst. Zur Spiritualität der Avantgarde, in: Ders., Bilderfragen, 45-60.<br />

29 Zit. bei A. Stock, Religion in der Kunst . Zur Spiritualität der Avantgarde, in: Ders., Bilderfragen. Theologische Gesichtspunkte,<br />

Paderborn 2004, 45-60, 50.<br />

30 Ebd., 50.<br />

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„Schwieriger und beunruhigender“ 31 ist die Strittigkeit der christlichen Bildsprache, ja ihre<br />

Ausblendung freilich dann, wenn sie als eine „religions- wenn nicht gottesgeschichtliche<br />

Diagnose“ 32 interpretiert wird. Das allgemein Spirituelle in der Kunst kann schließlich<br />

nicht einfach auf der Folie eines „anonymen Christentums“ gesehen werden – was bei<br />

Schmied sehr oft der Fall zu sein scheint. Es wäre nämlich nicht anders zu denken, als dass<br />

das Religiöse, das authentisch Spirituelle von seinen alten Institutionen und Verwaltern,<br />

die das Wort „Gott“ wie selbstverständlich im Munde führen, ausgezogen ist, anderswohin.<br />

„Dieses überall wohl, nur nicht, nicht mehr an jenem angestammten Ort der Religion, den<br />

die christliche Kirche mit ihren Tempeln und Kulten besetzt hält, ist es, was das<br />

theologisch Irritierende dieser Unternehmungen ausmacht.“ 33 Denn die heimliche Freude<br />

darüber, den Jahrhundertsieg der Säkularität aberkennen zu können, ist sehr zwiespältig.<br />

An den eigenen Aufenthaltsorten zurückgekehrt, tritt die Ernüchterung ein: „Die<br />

Theologen sind entzückt, überall im Geist der Avantgarde von Albers bis Wols Zeichen<br />

des Glaubens sehen zu dürfen, und, von ihrer Exkursion ins Offene heimgekehrt, bedrückt,<br />

dass all jene spirituell sensiblen Zeitgenossen St. Marien und St. Joseph so eifrig<br />

meiden.“ 34<br />

2. Eifersuchtsblicke und Einrichtungsprobleme (Über „christliche Kunst“ als<br />

ein Stigma)<br />

Die Meidung von Räumen, die eigentlich von ihrer Geschichte und Funktion her<br />

prädestiniert sind, den Geist der Religion auch ästhetisch zu fassen, durch spirituell<br />

sensible Zeitgenossen ist epochendiagnostisch alarmierend. Auch Ausstellungen in<br />

Kirchräumen 35 – nicht zuletzt in ihrem Bemühen, das Gesetz der Autonomie der Moderne<br />

zu befolgen – haben bislang tunlichst vermieden, in den Kern der sakralen Zonen<br />

vorzudringen und einzugreifen. Schließlich gibt es dort strenge Riten, festgelegte Symbole<br />

und liturgische Geräte.<br />

Dabei ist im Kern liturgischer Handlungen, Geräte und Gewänder, in der Ausstattung des<br />

Raums, im einfachen Einrichtungsproblem eine der drängendsten und strittigsten Fragen<br />

christlicher Bildkultur beheimatet. Verdichtete Symbolhandlungen, wie sie Liturgie leistet,<br />

sind als notwendig ästhetische Handlungen Prüfstein jeder Ästhetik.<br />

31 Ebd.<br />

32 Ebd.<br />

33 Stock, Religion in der Kunst, 53f.<br />

34 Ebd., 54.<br />

35 Vgl. nächster Abschnitt.<br />

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<strong>Lesetext</strong>e zur Vorlesung J. <strong>Rauchenberger</strong>, Konfliktgeschichten zwischen Kunst und Religion in der Moderne, Uni Wien,<br />

Institut für Kirchengeschichte, WS 2005/06: EXPOSÉ 10<br />

Bereits das II. Vatikanische Konzil hat, den realisierten Entfremdungen zwischen Kunst<br />

und Kirche entgegensteuernd und die „Freiheit der Kunst“ 36 noch versichernd, „innerhalb<br />

des Heiligtums“ 37 deutliche Grenzen für die Kunst markiert. Was allerdings als<br />

Verhinderung einer Grenzüberschreitung gedacht war, wurde in den die Moderne<br />

allmählich realisierenden Jahrzehnten einer bleibenden Notwendigkeit, das „Heiligtum“<br />

ästhetisch zu gestalten – verstärkt durch die Liturgiereform des II. Vaticanums – zum<br />

massiven Unter-Schreiten der Grenze. Was die einen noch feierlich proklamieren wollten,<br />

wurde im immanenten Kunstdiskurs unter umgekehrten Vorzeichen formuliert: Namhafte<br />

Künstler des 20. Jahrhunderts haben sich nämlich den Aufträgen für zeitgenössische<br />

Kirchenräume versagt. „Müssen denn unsere Bilder überhaupt in den Raum der Kirche?<br />

Sind sie in einem Museum, in einer Galerie nicht viel besser aufgehoben? Können sie dort<br />

nicht stärker wirken?“ 38 „Kirchenkunst“ bekam im 20. Jahrhundert einen Beigeschmack,<br />

der in ernsthaften Kunstkreisen oft rufschädigend ist. Der Name wurde zum Stigma, denn<br />

Strategien zur Aufrechterhaltung des Überlieferten 39 vertrugen sich nicht mit dem<br />

Gedanken der Freiheit. Die Strittigkeit des christlichen Bildes bezieht sich vor allem auf<br />

den als herkömmliche christliche Ikonografie entwickelten Formenkanon. Autonomie<br />

meint in dieser Hinsicht vor allem Ablösung inhaltlich-formaler Determinierung und<br />

Aufbruch zu formalen Neuentdeckungen. Unter „Kirchenkunst“ versteht man kraftlose,<br />

ärmliche, schwächliche, formal – meist mit pathetischem Expressionismus überhöhte –<br />

überholte Bilder, die sich ikonografischen Traditionen festschreiben, die längst nicht mehr<br />

so formulierbar sind.: 40 Durch die Liturgiereform des II. Vaticanums kollidieren<br />

notwendige funktionale Umgestaltung von Altar und Ambo mit den historischen<br />

Umgebungen nicht selten auf unsägliche Weise. 41<br />

Was dem Stigma der „Kirchenkunst“ anhaftet, ist das Unterschreiten der größten Stärke<br />

der Kunst: ihrer Mächtigkeit zur Form. Gemessen an den für die Kirche lange gewohnten<br />

Zeitmessungen von Stilen, sind die Halbwertszeiten von Formen im vielfältigen<br />

Entdeckungsspiel der Moderne freilich kürzer.<br />

36<br />

Sacrosanctum Concilium 123. Zu Konzilsaussagen zum theologischen Status des Bildes vgl. J. <strong>Rauchenberger</strong>, Biblische Bildlichkeit.<br />

Kunst – Raum theologischer Erkenntnis, Paderborn 1999, 100-184.<br />

37<br />

„In das Heiligtum aber sollen sie [die neuen Formen der Kunst] aufgenommen werden, wenn sie durch eine angemessene und den<br />

Erfordernissen der Liturgie entsprechende Aussageweise den Geist zu Gott erheben.“ Pastorale Konstitution über die Kirche in der<br />

Welt von heute, Art. 62, zit. nach: Das zweite Vatikanische Konzil. Dokumente und Kommentare III, 484.<br />

38<br />

Arnulf Rainer im Gespräch mit F. Mennekes, zit. in: W. Schmied, Wohin geht die Reise der Kunst?, 112.<br />

39<br />

Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts entstanden als Strategie einer deklarierten Milieubildung die ersten kirchlichen Museen, nicht nur<br />

als Auffangdepot für alte und außer Gebrauch gestellte Bilder aus den jeweiligen Landesteilen, sondern vor allem zum Zwecke der<br />

Didaktik, ebenfalls entstanden zur Forcierung der künstlerischen Produktion die ersten „Vereine für christliche Kunst“.<br />

40<br />

Fand die Zuschreibung des pejorativen Etiketts der „Kirchenkunst“ vor allem in den deutschsprachigen Länder statt, ist das faktische<br />

Einrichtungsproblem in den romanischen Ländern Europas noch viel virulenter, trotz zaghafter Versuche einer neuen<br />

Anschlussfähigkeit an die Höhe der Diskussion. Vgl. etwa der Kongress „Arte et Liturgia“ in Venedig, Oktober 2005.<br />

41<br />

Vgl. A. Stock, Die Bilderfrage nach dem II. Vaticanum, in: Ders., Keine Kunst, 105-117.<br />

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<strong>Lesetext</strong>e zur Vorlesung J. <strong>Rauchenberger</strong>, Konfliktgeschichten zwischen Kunst und Religion in der Moderne, Uni Wien,<br />

Institut für Kirchengeschichte, WS 2005/06: EXPOSÉ 11<br />

Sakralkunst, die notwendigerweise weiter besteht, so lange Liturgie gefeiert wird, wurde<br />

von der Kunsttheorie wie von der akademischen Theologie schmählich gemieden oder<br />

vernachlässigt.<br />

Hinter den groben Missständen liegt viel notwendig – und mit entsprechender Kenntnis<br />

und einigermaßen entwickeltem ästhetischen Gefühl – Korrigierbares. Es ist aber nicht<br />

alles der Inkompetenz und der fachlichen Vernachlässigung zuzuschreiben. Das Verhältnis<br />

von künstlerischer Inventio, spezifischer individueller Formensprache, künstlerischer<br />

Selbstdarstellung auf der einen Seite und Fremdbestimmung, Auftragssituation und<br />

darzustellender Geschichte auf der anderen stellt eine prekäre Balance und ein komplexes<br />

Beziehungsnetz dar, was in jeder Situation neu durchdekliniert werden muss.<br />

Strittig bleibt: In wie weit war die Kunst der Moderne bzw. ist Gegenwartskunst in der<br />

Lage, die Einrichtungsanforderungen eines modernen Kirchenraums mit seinen meist<br />

verdrängten Bildwünschen zu befrieden und die bleibende Funktionalität des Bildes für<br />

einen Kultraum in die Moderne bzw. in die Gegenwart zu verlängern: Wie kann auf der<br />

Höhe ihrer zeitgenössischen Form die alte Predigtfunktion der Bilder in der Illustration von<br />

Texten und Geschichten (in der Tradition der Erzählzyklen in Kirchenräumen) eingelöst<br />

werden? Das Christentum bleibt eine Religion, die aus einer Großerzählung gespeist wird.<br />

Bleibt deren Bebilderung aus, werden seine Imaginationen ins religionsgeschichtliche<br />

Museum abgestellt. In welcher Weise gelingt es Gegenwartskunst, private Devotion (in<br />

der Tradition der Andachtsbilder) zu stimulieren? Wie gelingt die zeitgenössische<br />

Repräsentation von Abbildern (etwa in der Darstellung eines Kruzifixes oder eines<br />

Patroziniums)? Was bedeutet es, wenn die christlichen Imaginationen, sofern sie<br />

kultischem Gebrauch unterliegen, in ihren wesentlichen Äußerungen wie dem Kreuz, dem<br />

Christusbild, dem Gottesbild, dem Marienbild etc. fast nur mehr im Modus des<br />

Vergangenen darstellbar sind?<br />

Es gibt Glanzbeispiele gelungener ästhetischer Gestaltung – Ronchamp, Vence, Assy,<br />

Audincourt leuchten für die klassische Moderne voran – und auch Glanzbeispiele der<br />

Ablehnung 42 . Kennzeichnend all dieser und jüngerer Beispiele einer formalen Erneuerung<br />

ist die kreative Durchbrechung des tradierten Formenkanons.<br />

Diese Durchbrechung kollidiert nicht nur mit dem Überlieferten im herkömmlichen Sinne,<br />

sondern sie kollidiert vor allem in der kultisch-rituellen Gebrauchsfunktion, die durch<br />

Wiederholbarkeit und Wiedererkennung ausgewiesen ist. Deshalb haben viele gelungene<br />

42 Vgl. Gerhard Richters malerische Gestaltung der fünf Wundmale für die von Renzo Piano erbaute Kathedrale für Pater Pio in Italien<br />

oder Willem de Koonings 1984 im Auftrag der evangelisch-lutherischen Gemeinde von St. Peters in New York gemalte und von<br />

dieser abgelehnte „Triptych 1985“(vgl. F. Meschede, Rot, Gelb und Blau, in: Warum?, 158-167.<br />

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auch ikonografische Innovationen im kultischen Kontext den Status einer Einmaligkeit, die<br />

als solche Geschichte geschrieben hat. Drei markante und historisch einmalige und nicht<br />

wiederholbare Beispiele sollen dies verdeutlichen: James Lee Byars „The White Mass“,<br />

die Friedhelm Mennekes vor rund 10 Jahren feierte, ist auf diesen einmaligen Zeitpunkt<br />

(und wohl auch auf diese eine Person) beschränkt. Würden in dieser Art mehrere den<br />

katholischen Mess-Ritus feiern, hätte die Regulierungsbehörde von Riten zu Recht ihre<br />

Probleme. Die dreiteilige Altarskulptur von Edourdo Chillida in St. Peter in Köln ist mit<br />

dem Namen des Künstlers und seinem Konzept von Gravitation, Leere und Raum<br />

untrennbar verbunden, würde sich eine solche Altarlösung vervielfachen, würde man dem<br />

römischen Entscheid 2004, wonach die Altarskulptur wegen einer fehlenden verbindenden<br />

Platte als Altar entfernt werden musste, zustimmen – sonst nicht.<br />

Neben der „White Mass“ von Lee Byars, in der selbst kein Altar mehr notwendig war, ist<br />

in der Einrichtungsfrage bislang das zunächst als Ausstellung bezeichnete Projekt „General<br />

Systems“ 43 von Manfred Erjautz in der Wiener Jesuitenkirche 2004 unter der Obhut von<br />

Gustav Schörghofer SJ am weitesten gegangen. Kreuz, Patene und Kelch wurden aus Lego<br />

gestaltet: Nicht nur im Material, das an die Spiel- und Fantasiewelten von Kindern<br />

anknüpft, wurde radikal mit dem Überlieferten gebrochen, auch in den als liturgisches<br />

Gerät überlieferten Formen: Im Querbalken des Kreuzes ein Lastwagen mit offenen Türen<br />

als Vehikel zur Überwindung des Todes, komplementär die Patene ebenfalls als Lastwagen<br />

und Vehikel, auf dem die Hostie geführt wird, der Kelch als oben offenes Haus, das von<br />

Wein durchflutet wird.<br />

Als Fazit kann festgehalten werden, dass gelungene Innovationen auf Personen, Orte und<br />

Zeiten beschränkt bleiben: Man kann freilich fragen, ob wirkliche Bildinnovationen, die<br />

christliche Ikongrafie eigentlich ausmachen – in den Buchmalereien des Mittelalters, in der<br />

Sixtinischen Kapelle Michelangelos, in den Modellen Berninis oder den Malereien Pozzos<br />

– anders waren: Sie waren es nicht. Ihnen folgte vielleicht eine andere Bildpolitik. Worin<br />

wir in der Beurteilung von Bildern im Gegensatz zu damals durch moderne Bildaneignung<br />

voraus sind, ist höchstens das Ausmaß an Fähigkeit historischer Differenzierung.<br />

43 G. Schörghofer SJ, Liturgie mit Lego und Beton. Kunst und Ästhetik der Gegenwart im „heiligen“ Raum des Barock: Ein radikales<br />

Projekt in der Wiener Jesuitenkirche, in: Die Furche 2004/42, 18.10. 2004, 24.<br />

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3. Temporäre Bleibe in fremder Wohnung (Über zeitgenössische<br />

Resonanzräume mit dem religiös Überlieferten)<br />

Nicht als bleibende Einrichtung in den von der Religion bestimmten Räumen, sondern als<br />

temporäre Bleibe in ihrem Resonanzraum – als temporäre Installationen in historischen<br />

Kirchenräumen – hat sich zeitgenössische Kunst in den letzten Jahrzehnten vor allem im<br />

deutschsprachigen Raum – vermehrt eingenistet: Dies ist ein völlig neues Kapitel in der<br />

Gebrauchsgeschichte des Bildes im Christentum. Intendiert ist nicht die herkömmliche<br />

Ausstattung von Kulträumen, sondern das zeitweilige Befragen des Raumes von<br />

zeitgenössischen KünstlerInnen, ohne im engeren Sinne einen kultischen, aber auch nicht<br />

den althergebrachten bildpädagogischen Zweck damit zu verfolgen. Installationen sind<br />

temporär, singulär und meist nicht wiederholbar. Damit unterscheiden sie sich<br />

grundsätzlich von rituellen Merkmalen im christlichen Bildergebrauch.<br />

Raumbezogene Arbeiten, durch die Kunstentwicklung seit den 60-er Jahren des 20.<br />

Jahrhunderts überhaupt erst ermöglicht, sind eine Erweiterung künstlerischer Artikulation<br />

über den aus dem white cube definierten Museumsraum hinaus. Wichtige Momente in<br />

solchen für die Kunst interessanten Orten, die nicht selten durch deren Gebrauchsverlust<br />

oder Verwendungskrise gekennzeichnet sind (etwa leeren Fabrikshallen, Ruinen, Kirchen),<br />

sind das Neuvermessen von Raumerfahrung, Ausloten von Geschichte bzw. deren<br />

Neudefinition.<br />

Innovationsmomente für Gegenwartskunst liegen vor allem im Kontrast mit den bisherigen<br />

oder gegenwärtigen Funktionsweisen solcher Räume. 44<br />

Eine weitgehende Vorbildfunktion mit dieser Art, zeitgenössische Kunst in Kirchen<br />

aufzunehmen, ohne im engeren Sinne christliche Kunst damit perpetuieren zu wollen, hatte<br />

in den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die Ausstellungstätigkeit in der von<br />

Friedhelm Mennekes SJ in der spätgotischen Kölner City-Kirche betriebenen „Kunst-<br />

Station St. Peter“ 45 . Diese Ausstellungen hatten nicht nur Vorbildfunktion, sondern einen<br />

weitgehenden Signalcharakter einer neuen Begegnung von zeitgenössischer Kunst und<br />

Kirche auch in der internationalen Kunstwelt. Internationale KünstlerInnen der ersten<br />

Reihe, wie etwa Christian Boltanski, Anish Kapoor, Jannis Kounellis, James Lee Byars<br />

Morio Nishimura, Jannis Kounellis, Anna und Bernhard Blume, Otto Zitko , Antony<br />

Gormley u.a. hatten hier wie anderswo 46 größtes Interesse, nicht nur ihr Werk in sakralen<br />

44<br />

Vgl. J. <strong>Rauchenberger</strong> / A. Kölbl, LOSUS ISTE. Raum und Rührung, in: Raumkonzepte, Kunst und Kirche 3/2005, 172-177.<br />

45<br />

Eine Zusammenfassung der Ausstellungsprojekte in St. Peter erschien in: F. Mennekes, Begeisterung und Zweifel. Profane und<br />

sakrale Kunst, Statement Reihe S 37, Regensburg 2003.<br />

46<br />

Vgl. z.b. die Ausstellungsprojekte von Gerhard und Elisabeth Larcher in Tirol: KunstRaumKirche (Stiftskirche Wilten, Dom zu<br />

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Räumen zu zeigen, sondern sich mit diesen Räumen auch in einzigartiger Qualität<br />

auseinanderzusetzen. Ob der Geruch des Heus (Boltanski 47 ), Brillenmassen in zum Kreuz<br />

gestellten Regentonnen (Kounellis 48 ), große Hohlspiegel (Kapoor 49 ), oranges Gekritzel an<br />

der Kapellendecke (Zitko 50 ) – stets sind es spezifische Raumerfahrungen, die inhaltliche<br />

Neuentdeckungen eröffnen, weil sie mit der Kraft ästhetischer Reibung zum bestehenden<br />

Raum, mit der Geschichte und der Raumatmosphäre ihre Wirkung entfalten. Das<br />

freiwerdende ästhetische Moment entsteht aus der Reibung und teilweise auch aus<br />

Bestreitung verschiedener Raum- und Weltkonzepte. Mennekes ging in seiner Bildpolitik<br />

so weit, den historischen Kirchenraum von allen alten Bildern zu säubern, um temporär<br />

Platz zu machen für zeitgenössische Bilder zum Zwecke der gegenseitigen radikalen<br />

Befragung: „Neue Kunstwerke sollten nur zeitlich begrenzt in die Kirche Eingang finden:<br />

(Georg Baselitz: ‚Bilder, die nicht neu sind, sieht man nicht’). [...] Kunst und Glaube<br />

sollten sich gegenseitig in Frage stellen, eher robust als zimperlich.“ 51 .<br />

Dem „Bild“ als Installation, das als Modell viele Gemeinden im deutschsprachigen Raum<br />

aufgenommen haben, wird im Kultraum viel zugetraut: Nicht als Thematisierung seiner<br />

eigenen Strittigkeit, sondern als Befragung des Raums, der selbst strittig geworden ist.<br />

Hinter zeitgenössischen Kunstinstallationen stehen auch praktische Konzepte einer<br />

Öffnung des Kirchenraumes hin auf ein ganz anderes, meist kirchenfremdes Publikum. Die<br />

Metapher der Ruine wurde deshalb in jüngster Zeit nicht von ungefähr groß gemacht.<br />

„Ruinen sind immer Ruinen von etwas, doch dieses etwas ist nur mehr als Bild einer<br />

zerbrochenen Vergangenheit gegenwärtig. […] Ruinen konstituieren keinen eigenen Raum<br />

mehr, sondern sind Elemente ‚unter freiem Himmel’. Das ehemals ausgesperrte oder nur<br />

kontrolliert zugelassene Außen ist nun ständig sichtbar, dringt ein, eröffnet Weite.“ 52<br />

Zudem interessieren sich Künstler in solchen Installationen nicht selten für das<br />

Abgewohnte, Außer-Gebrauch-Gestellte, weniger für die Glanzpunkte des Raumes. Sie<br />

arbeiten mit Raum an sich, mit Leere, mit Spiegelungen. Die in zeitgenössischen<br />

Ausstellungsprojekten in Kirchen pastoralpraktische Erfahrung, dass Künstler den zur<br />

Innsbruck) etc..., von Joseph Meyer zu Schlochtern in der Universitätskirche in Paderborn, die Installationen im Rahmen der<br />

Ausstellung ENTGEGEN. Religion Gedächtnis Körper in Gegenwartskunst, 1997 in <strong>Graz</strong>, anlässlich der II. Europäischen<br />

Ökumenischen Versammlung (Leo Zogmayer, Anish Kapoor); das Projekt KunstKirche zur Milleniumswende in Vorarlberg (Hg. von<br />

W.L. Buder/W. Schmolly, Mainz 2001), die raumbezogenen Arbeiten von HIMMELSCHWER. Transformationen der Schwerkraft ,<br />

<strong>Graz</strong> 2003 – Kulturhauptstadt Europas (Otto Zitko, Elke Maier, Werner Hofmeister).<br />

47<br />

Christian Boltanski: licht mesz. Ein Gespräch, in: Mennekes, Begeisterung und Zweifel, 46-55.<br />

48<br />

F. Mennekes, Neue Kunst in alter Kirche, in: Ders., Begeisterung und Zweifel, 30-45, hier: 38-40.<br />

49<br />

Anish Kapoor: Bewegte Brennpunkte, in: Mennekes Begeisterung und Zweifel, 156-166.<br />

50<br />

Ausgeführt 2003 in der Andreaskapelle der Kirche St. Andrä/<strong>Graz</strong>, Abb. in: HIMMELSCHWER, 118f.<br />

51<br />

F. Mennekes, Neue Kunst in alter Kirche, in: Ders., Profane und sakrale Kunst, 31-45, 33.<br />

52<br />

R. Bucher, Auferstehung in Ruinen – der Weg der christlichen Kirchen. Auf der Suche nach neuer Glaubwürdigkeit, in : SOWI. Das<br />

Journal für Geschichte, Politik, Wirtschaft und Kultur, 4/03: „Religiosität ohne Religion?, 10-19.<br />

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Verfügung gestellten Raum oft interessanter finden, als die Gläubigen selbst, deckt die<br />

Strittigkeit und wohl auch geistige Ruinensituation auf. Die Unfähigkeit, Räume adäquat<br />

bespielen zu können, trifft freilich keineswegs nur die Kirchen, sie trifft auch auf alle<br />

anderen Gehäuse ehemaliger Repräsentation zu. Deren gegenwärtige Schwäche ist der<br />

Resonanzraum künstlerischer Kreativität.<br />

Weniger strittig in solchen Unternehmungen ist das Problem der Vereinnahmung.<br />

Normalerweise wurden die Künstler für eine Ausstellung solchen Zuschnitts gefragt.<br />

Strittiger ist manchmal, ob die Kunst unzuträglich an der Macht des Raums partizipiert, die<br />

sie nämlich auch aufwertet. Wer lädt wen auf: die Gegenwartskunst den sakralen Raum<br />

oder umgekehrt? Verwalter geistiger Ruinen sind manchmal über jedes neue Leben<br />

glücklich, auch wenn die Verhältnisse aus dem Lot geraten, Künstler sind klarerweise über<br />

Räume glücklich, in denen ihre Kunst am besten zur Wirkung kommt. Damit ist freilich<br />

noch nicht die notwendige Höhe geistiger Auseinandersetzung berührt.<br />

4. Inspiration für sich selbst, Blättern im Album „verlöschender Urbilder“<br />

(Über „Ikonografie“ als künstlerisches Material)<br />

„Die Geschichte der christlichen Ikonografie schien eindeutig abgelaufen.“ 53 Das Résumée<br />

zu den Ausstellungen von Wieland Schmied in Berlin 1980 und 1990 ist nicht<br />

unbegründet: Zumindest bleibt die unmittelbare Inspiration durch die christliche Religion<br />

im 20. Jahrhundert in jenen Bildern, die den Eingang ins Museum gefunden haben,<br />

schwach. Es gibt zu denken, dass im Rückblick auf die Jahrhunderte christlicher Kultur das<br />

Christentum in seiner Inspirationskraft sich vielleicht erschöpft hat – weil und obwohl<br />

keine Religion der Menschheitsgeschichte quantitativ und qualitativ eine so überbordende<br />

Bilderkultur entwickelt wie das Christentum.<br />

Christliche Ikonografie ist, so scheint es, im Zuge der Entdeckungsreisen künstlerischer<br />

Entwicklungen in der Moderne unter die Räder gekommen, als „Sonderbezirk“ 54<br />

verkommen, der von der Höhe der Avantgarde und umgekehrt stigmatisiert wurde.<br />

„Christliche Kunst stand – teils Relikt, teils Refugium – einer Moderne gegenüber, deren<br />

komplexe Tendenzen und Zielsetzungen aus dieser Sicht zumindest säkularisiert, wenn<br />

nicht inhaltsleer, zufällig oder gar als Ausdruck von Verhängnis, Verzweiflung oder<br />

Verderben begriffen wurden.“ 55<br />

53 F. Mennekes, Das Geistige in der Kunst, 219.<br />

54 W. Schmied, Die Fragestellung, 4.<br />

55 W. Schmied, Die Fragestellung, 3.<br />

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Die Strittigkeit christlicher Ikonografie in der Hochkunst der Avantgarde bedeutet nicht<br />

ihre vollkommene Meidung. Sie bleibt bis in die Höhe von Biennalen Gegenstand<br />

künstlerischer Auseinandersetzung, freilich primär als Kunst- und nicht als<br />

Glaubensdiskurs. Zahlreiche weitere Ausstellungen 56 zeigen, etwa Werner Hofmanns groß<br />

angelegte Schau zum Lutherjahr 1983 in der Hamburger Kunsthalle „Luther und die<br />

Folgen für die Kunst“ 57 oder Günter Rombolds und Peter Baums „Das Christusbild im 20.<br />

Jahrhundert“ 58 in Linz 1983 oder Nissan Perrez’ „Geschichte des Christusbildes in der<br />

Photographie von 1850-2002“ 59 in den Hamburger Deichtorhallen 2004, dass es<br />

eindrucksvolle Belege der Auseinandersetzungen mit dem Christusbild in der Moderne<br />

gibt (etwa bei Max Beckmann, Lovis Corinth, Alexej Jawlensky, Alfred Manessier,<br />

Georges Rouault, Marc Chagall, Alfred Kubin, Margret Bilger, Arnulf Rainer, Alfred<br />

Hrdlicka, Walter Pichler bis zu Antoni Tàpies, Günter Uecker, Joseph Beuys, Andres<br />

Serrano u.a.). Diese Werke sind freilich meist außerhalb der alten Beziehung entstanden,<br />

meist ohne Auftrag, sondern als künstlerische Herausforderung. Sie lagern meist nicht in<br />

Kirchen, sondern in Sammlungen von Museen.<br />

Auch wenn es gelungene Beispiele neuer Auseinandersetzung gibt, in der Moderne liegt<br />

über christlicher Ikonografie – selbst wenn sie auf der Höhe der jeweiligen formalen<br />

Äußerung stattfindet – als Seismograf ihrer Strittigkeit ein dichter Schatten, ausgedrückt<br />

vielleicht am besten von Joseph Beuys, der wie kein anderer die deutsche Nachkriegskunst<br />

in seinen formalen Ausdrucksfähigkeiten erweitert und den „Christusimpuls“ aus frühen<br />

Versuchen mit christlicher Ikonografie entwickelt hat: „Bei diesen frühen Versuchen kam<br />

ich mir eigentlich vor wie ein Mensch, der nur noch versucht, ein Motiv aufzugreifen, das<br />

längst besser und gültiger und in angemesseneren geistigen Zusammenhängen gemacht<br />

worden war. Ich hatte den Eindruck, mich auf einen Irrweg zu befinden.“ 60 Das Aufgreifen<br />

eines Motivs, das schon einmal besser – „in angemesseneren Zeiten“ – bearbeitet worden<br />

ist, rührt an die These, dass das Ablaufen christlicher Ikonografie auch Erschöpfung heißen<br />

kann, nicht nur Emanzipation.<br />

56<br />

Vgl. etwa O. Breicha (Hg.), Der Biblische Weg. Zyklische Druckgraphik moderner Künstler zu biblischen Themen. Katalogbuch zu<br />

einer Ausstellung des „steirischen Herbstes“ in Zusammenarbeit mit dem Kulturreferat der Stadt <strong>Graz</strong>, <strong>Graz</strong> 1983; F. Mennekes/F.J.<br />

v.d Grinten (Hg.), Menschenbild- Christusbild (Frankfurt 1984/85); „Sacred Images in Secular Art“ (New York 1986); Arte Santa<br />

(Ravenna 1986); „Der geschundene Mensch“ (Frankfurt 1989).<br />

57<br />

W. Hofmann (Hg.), Luther und die Folgen für die Kunst (Ausst. Kat. Hamburg 1983), München 1983.<br />

58<br />

G. Rombold / H. Schwebel, Das Christusbild im 20. Jahrhundert, Freiburg 1983; G. Rombold, Der Streit um das Bild. Zum Verhältnis<br />

von moderner Kunst und Religion, Stuttgart 1988; Ders., Ästhetik und Spiritualität, Stuttgart 1998.<br />

59<br />

Vgl. N. Perrez, „Corpus Christi. Das Christusbild in der Photographie von 1890-2001“, (Ausstellungskatalog Deichtorhallen<br />

Hamburg), 2003.<br />

60<br />

Zit. nach FJ van der Grinten/F.Mennekes, Menschenbild. Christusbild. Auseinandersetzung mit einem Thema der Gegenwartskunst,<br />

Stuttgart 1984, 104.<br />

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Erschöpfung meint nicht nur eine geistige, sondern ein Ausschöpfen aller künstlerischen<br />

Möglichkeiten zu einem Thema. Das, was wir gelungene christliche Ikonografie nennen,<br />

erfordert die ausgewiesene Balance der inhaltlichen Interessen (der Auftraggeber) und der<br />

künstlerischen Interessen einer formalen Erneuerung. Diese Balance ist in der Moderne<br />

strittig und ohne Zweifel aus dem Lot geraten: Während die einen diesen Prozess als<br />

Niedergang 61 beurteilten, feierten ihn die anderen als „Befreiung der Künste zur<br />

Profanität“ 62 . Mit dem Aufkommen der abstrakten Malerei ist zudem die textliche<br />

Referenz, die im Begriff „Ikonografie“ notwendig mitschwingt, großteils in den<br />

Hintergrund getreten. Der Bestreitung dieser textlichen Referenz wurde mit<br />

bildhermeneutischen Begründungsverfahren zum „Weg der Theologie zum Verständnis<br />

gegenstandsloser Malerei“ (Reinhard Hoeps ) 63 begegnet. Abstraktion blieb allerdings<br />

keineswegs bei reiner Referenzverweigerung, ikonografisch anmutende Bildtitel findet<br />

man selbst bei so radikalen abstrakten Positionen wie Barnett Newmann (Stations of the<br />

Cross, „Jericho“, „Chartres“ 64 etc…).<br />

Am Beginn des 21. Jahrhunderts erscheint die Debatte über die Strittigkeit christlicher<br />

Ikonografie veraltet. Ihren ursprünglichen Verwendungszusammenhang hat sie längst<br />

eingebüßt, in historischen Ausstellungen wird sie statt dessen umso intensiver und<br />

publikumswirksamer bedacht. Emanzipationen wie noch vor 30 Jahren sind nicht mehr<br />

notwendig. Der Rest ihrer allgemeingesellschaftlichen Lesbarkeit wird in der<br />

Gegenwartserfahrung einer dominierenden Bilderflut primär in der Werbeästhetik 65<br />

eingesetzt, die wiederum zum künstlerischen Thema werden kann. 66 Doch kein Vehikel<br />

zum Transport christlichen Überlieferungsgutes sind diese Bilder, vielmehr Vehikel eines<br />

eigenen werbeästhetischen oder künstlerischen Konzepts.<br />

Die Fremdheit christlichen Bildvokabulars in der zeitgenössischen Kunstszene geht so<br />

weit, dass das dezidierte Verwenden seiner Formen den künstlerischen Fremdheitsbonus<br />

beanspruchen kann. So hat beispielsweise der britische Kunststar Mark Wallinger nicht nur<br />

61<br />

Am deutlichsten H. Sedlmayr, Verlust der Mitte, Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symbol und Zeichen der Zeit,<br />

10. Aufl., Salzburg o.J. Vgl. dazu: Stock, Tempel und Museum, 158-162 und A. Kölbl, Die Kunst im demiurgischen Zeitalter. Zu<br />

Hans Sedlmayrs Modernekritik, in: Larcher (Hg.), Gott-Bild, 26-35.<br />

62<br />

Vgl. etwa K. Marti, Christus, die Befreiung der bildenden Künste zur Profanität, in: EvTh 18 (1958), 371-375; oder H. Schwebels<br />

theologische Begründung des Christusbildes aus der abstrakten Kunst, in.... A. Mertin / H. Schwebel, Kirche und moderne Kunst,<br />

Frankfurt 1988.<br />

63<br />

Vgl. R. Hoeps, Bildsinn und religiöse Erfahrung. Hermeneutische Grundlagen für einen Weg der Theologie zum Verständnis<br />

gegenstandsloser Malerei, (Disputat iones Theologicae 16), Frankfurt 1984.<br />

64<br />

Vgl. Schmied, Zeichen des Glaubens; vgl. Barnett Newman, Bilder-Skulpturen-Grafik, hgg. v. Armin Zweite, Kunststammlung<br />

Nordrhein Westfalen Düsseldorf, Ostfildern/Ruit, 2003, 58.59.<br />

65<br />

Vgl. z.B. die sehr erfolgreiche Ausstellung von Bettina Rheims/Serge Bramly, I.N.R.I., Deutsches Historisches Museum Berlin, 1999<br />

mit weiteren Stationen.<br />

66<br />

Vgl. Plötzlich nicht nur Spiel. Pathos und Emotion in der aktuellen Kunst. Kunst und Kirche 2/2002, Darmstadt 2002, darin bes. J.<br />

<strong>Rauchenberger</strong>/A. Kölbl: "Präzise Mehrdeutigkeiten, um die Frage offen zu halten..." Ein Gespräch mit Muntean/Rosenblum, 102-<br />

105.<br />

17


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Institut für Kirchengeschichte, WS 2005/06: EXPOSÉ 18<br />

mit einer lebensgroßen Ecce-Homo-Figur den Hauptraum des britischen Pavillons auf der<br />

Biennale in Venedig 2001 ausgefüllt, sondern dieselbe Figur zwei Jahre vorher als<br />

„Milleniumsprojekt“ auf dem Trafalgar Square gezeigt. „Ich machte also etwas, was für<br />

mich wirklich absolut auf der Hand lag [das Millenium als die Wiederkehr des 2000.<br />

Geburtstages Christi], aber anscheinend niemand zu tun wagte“ 67 . Mit einem ähnlichen<br />

Effekt operierten die Künstlergruppen Kamera Skura und Kunst Fu im tschechischen und<br />

slowakischen Pavillon auf der Biennale in Venedig 2003, wo ein überlebensgroßer<br />

Ringturner, flankiert von zwei Videoprojektionen anfeuernder Fans, mit der<br />

Christusikonografie gekennzeichnet war. 68 Der Hiatus funktionierte nur, weil sich Bilder in<br />

ihren Bedeutungsebenen kreuzten, sich gegenseitig bestritten und miteinander kollidierten.<br />

Das sukzessive Wiederauftreten von Elementen aus christlicher Ikonografie im<br />

zeitgenössischen Kunstdiskurs 69 wurde in der anlässlich des 1. ökumenischen Kirchentages<br />

in Berlin im Jahre 2003 ausgerichteten Ausstellung „Warum! Bilder diesseits und jenseits<br />

des Menschen“, kuratiert von Friedrich Meschede und Matthias Flügge, explizit zum<br />

Thema gemacht. 70<br />

Nach 25 Jahren Ausstellungsgeschichte von Kunst und Religion positionierten die beiden<br />

Kuratoren ihre „Nachfolgeausstellung“ von Wieland Schmied mit Bildern, die „von<br />

christlichen Texten und Symbolen hervorgerufen“ [wurden], „in denen existenzielle<br />

Fragen und Erfahrungen der Menschen angesprochen werden“ 71 ; sie wollten das Thema<br />

des Religiösen weniger im Sinne von Spiritualität fassen, als „vielmehr ikonografisch und<br />

sucht nach heutigen künstlerischen Interpretationen ‚verlöschender Urbilder’ (Hans<br />

Blumenberg) der Überlieferungen“ 72 . Thomas Struth, Gerhard Richter, Sophie Calle,<br />

Maria Lassnig, Louise Bourgeouse, Remy Zaugg, Mark Wallinger, Wolf Tillmanns/Isa<br />

Genzken u.a. waren um das Thema des aus christlichen Rahmenmotiven rückbezogenen<br />

Menschenbildes versammelt: „Die Ausstellung untersucht anhand ausgewählter Werke von<br />

internationalen Künstlern die heutige Virulenz christlicher Motive und Bildvorstellungen<br />

in den visuellen Künsten, ohne explizit deren religiösen Gehalt aufzusuchen oder gar per se<br />

zu unterstellen.“ 73<br />

67<br />

„Im Anfang war das Wort…“ Mark Wallinger im Gespräch mit Johannes <strong>Rauchenberger</strong> und Alois Kölbl, in: Plötzlich nicht nur<br />

Spiel. Pathos und Emotion in der aktuellen Kunst. Kunst und Kirche 2/2002, Darmstadt 2002, 97-101, 100.<br />

68<br />

Vgl. Jiri Sevcik, Kunst für den säkularisierten Menschen?, in: Sport&Kult (Kunst und Kirche 2/2004), Darmstadt 2004, 78-82.<br />

69<br />

„Die Zehn Gebote“, Hg. v. K. Biesenbach für das Deutsche Hygiene-Museum, Dresden Ostfildern/Ruit, 2004; „Abigal O’Brien: Die<br />

sieben Sakramente“, Haus der Kunst, München, 2003; Heiliger Sebastian. A Splendid Readiness For Death, Kunsthalle Wien<br />

2003/04; Bettina Rheims/Serge Bramly, I.N.R.I., Deutsches Historisches Museum Berlin, 1999 mit weiteren Stationen.<br />

70<br />

Vgl. Anm.18.<br />

71 M. Flügge/F. Meschede, Warum Warum!, 15.<br />

72 Ebd., 14.<br />

73 Ebd., 13.<br />

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<strong>Lesetext</strong>e zur Vorlesung J. <strong>Rauchenberger</strong>, Konfliktgeschichten zwischen Kunst und Religion in der Moderne, Uni Wien,<br />

Institut für Kirchengeschichte, WS 2005/06: EXPOSÉ 19<br />

Das bis dahin weggeschobene Problem der christlichen Ikonografie wurde wieder<br />

diskussionswürdig, wenn die Werke nur reflexiv etwas mit christlicher Ikonografie zu tun<br />

hatten. In der Erfahrung einer alles dominierenden Bilderflut wurde in dieser Fragestellung<br />

die Strittigkeit des Bildes am Bild selbst festgemacht: die Auseinandersetzung mit dem<br />

Bild wurde an Künstlern vorgeführt, deren Bilder mit Bildformeln von Urbildern, die<br />

zunehmend verlöschen, interpretiert werden können. Das Material, das Künstler hiezu<br />

verwenden, ist das aus dem kulturellen Reservoir entnommene Vokabular christlicher<br />

Bildsprache – als Facette ihrer eigenen künstlerischen Konzepte und als eine Möglichkeit,<br />

„verlöschende Urbilder“ (Blumenberg) künstlerisch zur Sprache zu bringen. Für eine<br />

existenzielle Verdichtung bieten sich die dem christlichen Bildstrom entlehnten Bilder<br />

auch in der Gegenwart an, wie diese Ausstellung eindrucksvoll dokumentierte.<br />

Die Ausstellung „Warum!“ mit ihrem Rekurs auf durch christliche Texte und Symbole<br />

hervorgerufene Bilder steht im Ausstellungsbetrieb am Anfang des 21. Jahrhunderts<br />

keineswegs alleine da.<br />

5. Schatten: Erbgeschichten, Systemaufstellungen, andere Ahnentheorien. (Der<br />

Versuch, Bildkonzeptionen eine Geschichte zu geben)<br />

Die Bestreitung heteronomer Bildentstehung ist die Voraussetzung künstlerischer<br />

Autonomie, Kennzeichen der Moderne: Deren autonome bildliche Errungenschaften in der<br />

Kunstentwicklung, die Erweiterung des Kunstbegriffs und die Steigerung seiner<br />

Komplexität konnten allerdings die allmähliche Reflexion ihrer möglichen eigenen<br />

Geschichtlichkeit nicht verhindern. Des eigenen Status nicht ganz sicher, wurden<br />

Erbgeschichten geschrieben, Systemaufstellungen konstruiert,<br />

Gedächtnisdifferenzierungen in Erwägung gezogen: eine 1500-jährige Beziehung wirft<br />

notwendigerweise Schatten auf neue, getrennte Lebensformen.<br />

Strittig bleibt lediglich, ob in alter Epochenmanier der Ablöse eines Zeitalters des Bildes<br />

durch jenes der Kunst 74 , ob in der Erbtheorie des Säkularisats im „unsichtbaren<br />

Meisterwerk“ 75 oder „der Geburt der Moderne aus dem Geist der Religion“ 76 , ob<br />

konfessionsgeschichtlich geprägt als „große Realistik“ und „große Abstraktion“ oder<br />

einfach als Betrachtung der „Moderne im Rückspiegel“ 77 .<br />

74 H. Belting, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1990.<br />

75 H. Belting, Das unsichtbare Meisterwerk. Die modernen Mythen der Kunst, München 1998.<br />

76 Vgl. W. Hofmann, Die Geburt der Moderne aus dem Geist der Religion, in: Ders. (Hg.), Luther und die Folgen für die Kunst (Ausst.<br />

Kat. Hamburg 1983), München 1983, 23-71.<br />

77 Vgl. W. Hofmann, Die Moderne im Rückspiegel. Hauptwege der Kunstgeschichte, München 1998.<br />

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Institut für Kirchengeschichte, WS 2005/06: EXPOSÉ 20<br />

Dass man plötzlich wieder ganz gut miteinander kann, darf die Fragen zu einer möglichen<br />

neuen fruchtbaren Streitkultur nicht verdrängen: Welche neuen Kulte wurden nach der<br />

Trennung von der alten Kultpartnerin eingeführt? Wie ausdifferenziert ist deren<br />

Gedächtnis? Welche Regeln haben die neuen Tempel? Wer sind ihre neuen Priester? 78 Ist<br />

es möglich, pure Autonomie, die Errungenschaft der modernen Trennung, ohne Geschichte<br />

zu verstehen? Und anders betrachtet: Wohin sind die so lange in der christlichen Bildwelt<br />

erschöpfend behandelten Themen in der modernen und zeitgenössischen Kunst gewandert?<br />

Von einer kulturellen Imprägnierung zu einer Entfesselung von Potenzen und deren Schatten<br />

Wieder sind es Ausstellungen, die unter dieser Perspektive ihre zusammengetragenen<br />

Werke befragten. In ihrer in der Kunsthalle in Wien 1994 gezeigten Ausstellung „Glaube<br />

Hoffnung Liebe Tod“ haben die beiden Kunsthistoriker Eleonora Louis und Christoph<br />

Geissmar-Brandi ihren Einleitungstext mit einer zentralen Irritation begonnen: „Irritierend:<br />

in den Überresten der populären Bildkultur vor 500 Jahren – sie besteht aus weithin<br />

unbekannter Druckgrafik – ist das dominierende Motiv ein an ein Kreuz genagelter Leib,<br />

der Körper Jesu Christi.“ 79 Diese Irritation setzt sich fort in allen großen Museen Europas<br />

mit ihren mächtigen Dokumenten christlicher Bildkultur: Kreuz, Schmerz, Passion,<br />

Martyrium, Lichtleib, sowie Mutter und Kind, der Engel vor einer jungen Frau, Geburt –<br />

die zentralen Motive, Dokumente christlicher Bildkultur, die die kulturelle Energie des<br />

Abendlandes gebündelt und personalisiert hatte: auf die Person Christi, Marias und der<br />

Heiligen. 80<br />

Irritation ist Ausdruck eines Unbehagens und ist ein emotionaler Gestus von Strittigkeit.<br />

Diesem irritierenden Befund einer Personalisierung zentraler menschlicher<br />

Grundbefindlichkeiten stellten die Kuratoren Körperkunstentwürfe der jüngeren<br />

Gegenwart gegenüber, vom Wiener Aktionismus (Rudolf Schwarzkogler, Günter Brus,<br />

Hermann Nitsch, Valie Export), über die Gedächtniskunst (Jochen Gerz, Bruce Naumann)<br />

bis zu Antony Gormley oder Bill Viola. Erkenntnisinteresse war die Behauptung eines<br />

gewissen historischen Kontinuums mit eigenen Erbgesetzen: „Die künstlerischen Energien,<br />

die jahrhundertelang in die Darstellung christlicher Glaubensinhalte geflossen wären,<br />

müssen dank ihrer geschichtlich erarbeiteten Potenz noch heute in der Moderne<br />

78 Vgl. A. Stock, Diesseits und jenseits der Kunst, in: Ders., Bilderfragen, 17-22, 19.<br />

79 Ch. Geissmar-Brandi,/E. Louis (Hg.), Glaube Hoffnung Liebe Tod. Die Beständigkeit einiger Bildkonzepte im 15., 16. und 20.<br />

Jahrhundert, in: Diess. (Hgg.), Glaube, Hoffnung, Liebe, Tod, (Ausstellungskatalog KUNSTHALLE Wien) Wien 1995, 6-12, 6<br />

80 Vgl. K. Oberhuber, Der Anfang der Bilderflut im Zeichen des Kreuzes, in: Geissmar-Brandi/Louis (Hgg.), Glaube Hoffnung Liebe<br />

Tod, 13-15, 15.<br />

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Institut für Kirchengeschichte, WS 2005/06: EXPOSÉ 21<br />

vorzufinden sein – ohne religiöse Bedeutung.“ 81 Die Ausstellung wollte keine allgemeine<br />

Transzendenz in der Moderne zeigen, sondern nahm die christliche Bildkultur aufgrund der<br />

vorliegenden Dokumente der Bildgrafik beim Schopf – in der Inkarnation des göttlichen<br />

Körpers. Dessen bis ins eigene Körpergefühl reichende Betrachtung und Kontemplation<br />

vollzog sich „in stärkerem Maße am gekreuzigten, gemarterten, durchstochenen oder toten<br />

Körper des Heilands, der in vielfältigerer Weise dem anbetenden Menschen vor Augen<br />

gestellt wird, als in der Betrachtung des Auferstandenen, in seiner göttlichen Schönheit,<br />

der aber ebenfalls bald in heroischer Nacktheit über den Grabstein schreitet oder um 1500<br />

auch zur Höhe schwebt“ 82 . Die Betrachtung des heiligsten Körpers und die Entwicklung<br />

des Körperempfindens, das aus dem am eigenen Körper entwickelten Mitgefühl an der<br />

Passion Christi entsteht, sei die Basis für die „Geburt des neuen Welt- und<br />

Körperempfindens“, die „im Schoße der Religion statt fand“ 83 .<br />

Der Körper in der kulturellen Imprägnierung des Christentums wurde in der<br />

Gegenwartskunst vor allem in seiner leidvollen Qual, in der Entfesselung seiner Sexualität<br />

und den Potenzräumen des eigenen Inneren gezeigt. Die Bindung an den ursprünglich<br />

religiösen Impuls, wie er in der Druckgrafik vorkam, wurde gelöst. Die Ablöse wurde als<br />

ein Wandern interpretiert: „So löst sich auch der religiöse Impuls wieder von der<br />

Körpergebundenheit ab und erobert sich andersartige Bereiche des Erlebens.“ 84 Zurück<br />

aber bleiben ausdrücklich „kulturelle Imprägnierungen“ 85 . Die intensiven Reflexionen der<br />

Transformationen von Wunden, Schmerz und Todeserfahrung in den zahlreichen Passions-<br />

, Kreuzigungs- und Märtyrerbildern, aber auch des Lebensbeginns in den Verkündigungs-,<br />

Geburts- und Madonnabildern sind eine historische Kulturleistung, die Destruktion,<br />

Gewalt und Lebenserhalt als Basis für eine gemeinsame kulturelle Stabilität zu integrieren<br />

imstande war.<br />

Der Differenzierungsprozess in der Moderne wurde in den Spitzenwerken der<br />

Gegenwartskunst mit der Brille der „historischen Wirkungsmacht“ 86 der Bilder gesucht:<br />

„Die Bedeutung des menschlichen Körpers in der bildenden Kunst ist dem 20. Jahrhundert<br />

erhalten geblieben – selbst ex negativo. Der Leib ist damit aber als Thema nicht<br />

verschwunden. Er selbst wird thematisiert (wenn auch unter anderen Vorzeichen als um<br />

1500), und kann schließlich das Bild verlassen, um den (Künstler-)Körper selbst – sei es<br />

81<br />

Geissmar-Brandi,/Louis, Die Beständigkeit einiger Bildkonzepte, 6.<br />

82<br />

Oberhuber, Der Anfang der Bilderflut im Zeichen des Kreuzes, 15.<br />

83<br />

Ebd.<br />

84<br />

Oberhuber, Der Anfang der Bilderflut im Zeichen des Kreuzes, 15.<br />

85<br />

Geissmar-Brandi,/Louis, Die Beständigkeit einiger Bildkonzepte, 6.<br />

86 Ebd., 6.<br />

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Institut für Kirchengeschichte, WS 2005/06: EXPOSÉ 22<br />

auf einer performativen Ebene, sei es als jenes Material, das dem Kunstwerk seine direkt<br />

an den individuellen Körper gebundene Form und Farbe gibt – zum Teil von Kunst werden<br />

zu lassen. Die Kunst bleibt Katalysator: für ein (uneingelöstes) kirchliches<br />

Heilsversprechen war sie es, für die Ausweitung unseres Kulturbegriffs bleibt sie es.“ 87<br />

Die Konfliktgeschichte von Kunst und Religion in der Moderne wird in dieser<br />

Fragestellung systemtheoretisch gelöst: Autonomie, lange wichtigster Konfliktauslöser<br />

zwischen Kunst und Religion, wird ausdrücklich auf der Basis einer geschichtlich<br />

erarbeiteten Prägung verstanden, sodass eine „Beständigkeit einiger Bildkonzepte des 15.,<br />

16. und 20. Jahrhunderts“ neu entdeckt wurde. Nicht die Bestreitung christlicher<br />

Bildsprache war in dieser Ausstellung das Thema, vielmehr ihre Entfesselung – nach ihrem<br />

Ende. Was gezeigt wurde, ist nicht bloß ein Auswandern der an die christlichen Bildkultur<br />

lange gebundenen Imaginationen, sondern deren Abstammung, Mitprägung und kulturelle<br />

Imprägnierung.<br />

Die Bildsprache jeder Zeit, so die These der Kuratoren, sei nicht bloß das Deckblatt<br />

(Cover) allgemeiner menschlicher Grundbefindlichkeiten, das jeweils neu erfunden werde,<br />

oder auf bleibenden Urbildern aufbaue, sondern stehe in der Kontinuität einer geschichtlich<br />

erarbeiteten Potentialität. Diese wiederum sei ganz wesentlich abhängig von ihrem<br />

kulturellen, geistigen, religiösen Umfeld. Die christliche Bildkultur habe in ihrer intensiven<br />

Betrachtung des heiligsten Körpers wesentliche Körperempfindungen kulturell<br />

imprägniert.<br />

Dabei kam – als Konfliktstoff für das Verhältnis von zeitgenössischer Kunst und<br />

theologischer Reflexion – in der christlichen Imagination Verdrängtes, überwunden<br />

Geglaubtes, und auch Bestrittenes wieder hoch: Opfer, Gewalt, Sexualität, Wunder, Magie,<br />

Himmelfahrt, kosmische Vorstellungen waren plötzlich Thema künstlerischen Interesses<br />

und wurden in ihrer zeitgenössischen Formulierung gezeigt. Die Entfesselung ihrer<br />

bildlicher Potentialität hat neue Kultpriester hervorgebracht, die neue Konflikte herauf<br />

beschworen. Die Selbstverständlichkeit, wie etwa Hermann Nitsch das Wort „Religion“ für<br />

sich in Anspruch nimmt, drängt die theologische Reflexion ihren nicht nur<br />

zeitgenössischen, sondern auch kulturell geprägten und in Bildern nachweisbaren<br />

Opferbegriff zu klären. Die Konflikte, die in der breiten Öffentlichkeit mit diesen neuen<br />

Erbansprüchen und den damit verbundenen Tabuverletzungen in den späten 60-er, 70-er<br />

und noch 80-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ausgelöst wurden, sind ein Dokument<br />

87 Geissmar-Brandi,/Louis, Die Beständigkeit einiger Bildkonzepte, 8.<br />

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nicht geklärter Rivalitäten: Die Spannung von zeitgenössischer Kunst und Religion wurde<br />

in dieser Zeit vor allem mit der Etikette des Skandals belegt.<br />

Ähnliches gilt auch für andere mit dem Körper-Thema verbundenen Themen wie Tabu und<br />

Sexualität, Reinheit und Befleckung, Scham und Perversion, Peinigung und Gewalt. Die<br />

Reflexion darüber, was eine Entfesselung der christlichen Imaginationen im Entdeckungs-<br />

und Kreativitätskosmos der Kunst bedeutet, steht für die Standortbestimmung der Religion<br />

großteils noch aus. 88<br />

Bilderscheitern als Voraussetzung für ungewöhnliche Generationendiskurse<br />

Dass die Bestreitung der Plausibilität christlicher Ikonografie in der Moderne<br />

Voraussetzung für ungewöhnliche Epochendiskurse sein kann, wurde unter den<br />

Bedingungen radikaler Säkularität und der Breitenwirksamkeit einer „Kulturhauptstadt<br />

Europas“ in der Ausstellung „HIMMELSCHWER. Transformationen der Schwerkraft“ 89<br />

2003 in <strong>Graz</strong> gezeigt. Konzeptionelle Voraussetzung war die Strittigkeit christlicher<br />

Ikonografie in der Moderne, aber in einem mindestens gleichen Maße die Strittigkeit der<br />

christlichen Bilder für das moderne Christentum selbst.<br />

Konzeptionelle Voraussetzung war ebenso die künstlerische Autonomie der Moderne, die<br />

als Begriff aber auch auf die alten Bilder übertragen wurde. Entstanden ist mit<br />

ausgewählten Werken ein Diskurs von Epochen, versammelt um Bildfindungen zur<br />

Schwerkraft. Durchgehender roter Faden war das Interesse der formalen Bewältigung in<br />

der Kunst zur Thematik der Schwerkraft. Wie der paradoxe Titel bereits andeutete, wurden<br />

theologische, kunstgeschichtliche, physikalische, kosmologische Nuancen der<br />

Schwerkraftthematik mutwillig vermischt und rund 250 Werke von 130 Künstlern von Fra<br />

Angelico, Albrecht Dürer, Gianlorenzo Bernini bis Wassily Kandinsky, Kasimir<br />

Malewitsch bis hin zu Antony Gormley, Anish Kapoor, Panamarenko und Maaria<br />

Wirkkala kreuz und quer miteinander vermischt und unter betont neutralen<br />

Erfahrungsbegriffen zur Schwerkraft wie „Schwere und Levitation“, „Rotation und Sturz“,<br />

„Schweben und Balance“ und „Aufstieg und Anziehung“ gegliedert. Behauptet wurde<br />

88 Vgl. die fundamentaltheologischen Ansätze von G. Larcher, die teilweise auf dieses Spektrum gelesen werden können: G. Larcher,<br />

Vom Hörer des Wortes als „homo aesthet icus“, in: G. Larcher/K. Müller/Th. Pröpper (Hgg.), Hoffnung, die Gründe nennt. Zu<br />

Hansjürgen Verweyens Projekt einer erstphilosophischen Glaubensverantwortung, Regensburg 1996, 99-111. Ders., Memoria<br />

zwischen Ethik und Ästhetik. Eine fundamentaltheologische Programmskizze, in: M. Liebmann/E. Renhart/K. Woschitz (Hgg.),<br />

Metamorphosen des Eingedenkens, <strong>Graz</strong> 1995, 231-240; Ders., Bildende Kunst und Kirche. Fundamentaltheologisches zu ihrem<br />

Verhältnis heute, in: W. Geerlings/M. Seckler (Hgg.) Kirche sein. Nachkonziliare Theologie im Dienst der Kirchenreform (FS H. J.<br />

Pottmeyer), Freiburg 1994, 431-442.<br />

89 HIMMELSCHWER. Transformationen der Schwerkraft, hg. v. R. Hoeps/E. Louis/A. Kölbl/J. <strong>Rauchenberger</strong>, Wilhelm-Fink Verlag<br />

München 2003. Als Nachlese zur Ausstellung vgl. J. <strong>Rauchenberger</strong>, Mehrzeitenräume: Wo starke Bilder auszuloten sind.<br />

HIMMELSCHWER. Transformationen der Schwerkraft – eine Nachlese zu <strong>Graz</strong> 2003 - Kulturhauptstadt Europas, in: G. Larcher<br />

(Hg.) Die Stadt als Fokus, im Druck; Bilder unter: www.minoriten.austro.net/himmelschwer.<br />

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Institut für Kirchengeschichte, WS 2005/06: EXPOSÉ 24<br />

dabei auf den ersten Blick ein kunstgeschichtlicher Parcours zur Schwerkraftthematik, wie<br />

er sich unterschiedlich in den verschiedenen Epochen der letzten 600 Jahre an<br />

ausgewählten – und für eine Ausstellung zu erreichenden – Werken manifestierte. Doch<br />

schon das Fehlen der heidnischen Motive in der sog. „alten Kunst“ zeigte die bewusste<br />

konzeptionelle Schieflage. Das Interesse galt den im engeren Sinne christlichen<br />

Imaginationen zur Schwerkraft und ihrer Überwindung, die gerade in für heutige Blicke<br />

skurrilen Bildern wie z.B. von Schwebeheiligen, energetisch atemberaubend gesteuerten<br />

Himmelfahrten und gefährlichen Wolkenbalancen von Himmelswesen usw. festgemacht<br />

wurden. Christliche Bildfindungen wurden vor allem mit der Brille ihrer modernen<br />

theologischen Strittigkeit ausgewählt.<br />

Deshalb wurden sie unverkennbar in den Status einer vormodernen, aber deshalb nicht<br />

weniger faszinierenden Museumswelt zurückverwiesen; der Schwerpunkt war zudem der<br />

Barock, der an der Grenze zum modernen Bewusstsein, zum Projekt der Aufklärung, das<br />

„durchwegs als Aufforderung zur Entmythologisierung der Bilder verstanden“ 90 wurde,<br />

und zum neuzeitlichen Differenzierungsprozesses steht.<br />

Neuere ikonografische Formulierungen einer christlich konnotierten Überwindung der<br />

Schwerkraft fehlten in der Ausstellung völlig. Stattdessen waren die Kunstwerke der<br />

Moderne und der zeitgenössischen Kunst streng an dem Begriff von „Gravitation“<br />

orientiert, wie er als künstlerische Herausforderung für die zeitgenössische Kunst<br />

erscheint.<br />

Aus diesen unterschiedlichen Auswahlverfahren wurden Konstellationen zwischen alter<br />

und neuer Kunst entworfen, die genuine bildliche Verfahren der Bearbeitung von<br />

Schwerkraft aufdeckten. Diese genuine Bildlichkeit, an den Leitbegriffen von Schwere,<br />

Levitation, Sturz, Rotation, Balance, Schweben, Anziehung und Aufstieg orientiert,<br />

beanspruchte die seherische und entdeckerische Arbeit am Werk selbst, am Vergleich aus<br />

den Konstellationen, beispielsweise zwischen dem Flugapparat von Panamarenko und<br />

einem barocken Schwebeheiligen (Joseph von Copertino), zwischen einem in prekärer<br />

Schwere positionierten Werk Richard Serras und einer Kreuzabnahme, zwischen einer<br />

unendlichen Säule Constantin Brancusis und einem barocken Auferstehungsbild.<br />

Die aus der aufgeklärten Vernunft bestrittenen Bilder des Himmels, der Himmelfahrt, der<br />

Auferstehung etc. sind in dieser Sicht Dokumente des Scheiterns. Ihr Ablauf und ihr Ende<br />

sind in dieser Sicht logisch, ja notwendig. Aber was ist mit diesen Bildern zu tun? Soll man<br />

es dabei belassen, sie ins religionsgeschichtliche Depot abzustellen? Könnte man sie<br />

90 R. Hoeps, Vom Himmel nichts als Bilder? Vortrag beim Symposium: HIMMEL-WOHIN? Anlässlich der Ausstellung<br />

„Himmelschwer. Transformationen der Schwerkraft, 30./31. Mai 2003, <strong>Graz</strong>, Unveröffentlichtes Manuskript<br />

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vielleicht als Symbole lesen? Die Ratlosigkeit mit diesen Bildlösungen, die neuzeitliche<br />

Bildlogik sprengen, sei – so Reinhard Hoeps – mit den „Sackgassen symbolischer<br />

Entschlüsselung“ 91 nicht zu lösen. Symbolische Deutungen machten „das theologische<br />

Dilemma der Gegenwart erst vollends deutlich: Nicht nur steht oft der erhebliche<br />

imaginative Aufwand in einem enttäuschenden Missverhältnis zum kargen theologischen<br />

Gehalt. Schwerer noch wiegt, dass der bedeutete Gehalt durch den Akt des Symbolisierens<br />

nicht unbedingt deutlicher wird: Wofür ist das Bild des Himmlischen Jerusalems ein Bild?<br />

Was eigentlich symbolisiert eine Marienkrönung im Himmel eines barocken<br />

Kuppelgewölbes?“ 92 Das moderne Scheitern an den Bildern des Christentums, die mit den<br />

modernen Erkenntnissen von Körper und Technik nicht kombinierbar sind, ist<br />

Voraussetzung für eine „Fülle von Imaginationsangeboten, der eine theologische<br />

Übersetzungsarbeit gar nicht nachkommen“ 93 kann.<br />

Statt dessen ist eine bildanalytische Arbeit am Werk selbst geboten sowie die Freilegung<br />

der künstlerischen Reflexionsverfahren zwischen christlichen Bildfindungen zur<br />

Schwerkraft und autonomer moderner und zeitgenössischer Kunst. Dies wurde in den<br />

Konstellationen von „HIMMELSCHWER“ versucht. Aus dem Vergleich verschiedener<br />

Werke aus verschiedenen zeitlichen Epochen wurden Analogien, Interferenzen,<br />

gegenseitige Aufladungen ersichtlich: Das kulturgeschichtlich geprägte Bildrepertoire<br />

wurde so zu einem lebendigen Mehrzeitendiskurs. Die Voraussetzung für dieses<br />

Verfahren, an den Bildern selbst auf dem Weg formaler Diskurse zu Diskursen religiöser<br />

Imagination zu kommen, ist das Scheitern an seiner ikonografischen Vertrautheit und in<br />

gewisser Weise ein Scheitern am Bild selbst. 94<br />

6. Schluss: Dokumentensicht (Wie produktiv Verbote sind)<br />

Am wenigstens strittig war in der jüngeren Gegenwart zum Bilddiskurs ausgerechnet das<br />

älteste Dokument, das die Strittigkeit des Bildes thematisiert: Das hebräische Bilderverbot.<br />

Ausstellungen, theoretische Auseinandersetzungen, Symposien gab es zum Thema des<br />

91<br />

R. Hoeps, Vom Himmel nichts als Bilder? Vortrag beim Symposium: HIMMEL-WOHIN? Anlässlich der Ausstellung<br />

„Himmelschwer. Transformationen der Schwerkraft, 30./31. Mai 2003, <strong>Graz</strong>, Unveröffentlichtes Manuskript, 4.<br />

92<br />

Ebd., 5.<br />

93<br />

Ebd.<br />

94<br />

Ein ähnliches Verfahren hat Hoeps an den Korrespondenzen zwischen dem kulturgeschichtlich prägenden Bildrepertoire des<br />

Christentums und dem Ungenügen an dieser Tradition in der Malerei Arnulf Rainers angewandt: Reinhard Hoeps (Hg.) Arnulf<br />

Rainer: Auslöschung und Inkarnation. Ausstellung anlässlich der Ehrenpromotion durch die Katholisch-Theologische Fakultät der<br />

Westfälischen Wilhelms-Universität Münster im Westfälischen Landesmuseum für Kunst- und Kulturgeschichte Münster, IKON.<br />

Bild+Theologie, Paderborn 2004.<br />

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Bilderstreits wie kaum zuvor. 95 Das Bilderverbot, näher das ikonoklastische Moment, sei<br />

sogar für jenen Prozess verantwortlich, der „ein Bild zum Bild macht“ 96 (G. Boehm).<br />

Dabei gelte es, in den Bildern einen „inneren Bilderstreit“ 97 selbst auszumachen.<br />

Mehr noch als in der Bildtheorie aber ist das Bilderverbot in den gegenwärtigen mächtigen<br />

Visualisierungsprozessen und der medialen Bilderflut, die letztlich zu ihrer eigenen<br />

Negierung führt, verankert. Darin liegt der bedrohliche Kern der Debatte, die längst<br />

jenseits von Konfliktgeschichten liegt. Das Bilderverbot kommt zur Sprache am Verlust an<br />

Bildern, der paradoxerweise aus der Schwemme resultiert, oder aber an der gegenseitigen<br />

Kreuzung und ihrer Kollision. Bruno Latour fand für diese Situation den Terminus<br />

ikonoclash 98 (im Unterschied zum gewaltsamen Ikonoklasmus). Das Bild selbst steht,<br />

obwohl produziert wie niemals zuvor, radikal unter Streit.<br />

Doch das hebräische Bilderverbot ist zunächst vor allem eine theologische Kategorie, die<br />

auf die Unfassbarkeit und Unmöglichkeit, das Ganze Gottes darstellen zu können, abzielt:<br />

Ein Verbot als Korrektiv in permanenter Bildproduktion. Das Bilderverbot markiert die<br />

Alterität (des Heiligen): Eckhard Nordhofen hat dafür den Begriff „Alteritätsmarkierung“ 99<br />

eingeführt, der im Anschluss an die Bildlichkeit des Bilderverbotes eine geschichtlich<br />

immer wieder aufweisbare Beschreibungskategorie meint, die die Alterität (des Heiligen)<br />

kraft ihrer künstlerischen Form markiert. Die ikonoklastischen Impulse seien ferner ein<br />

Anstoß, die Zunahme an Realistik in der Entwicklung der christlichen Formensprache als<br />

„Abschleifen von Alterität“ in den Blick zu nehmen. 100<br />

Das Bild ist einer bleibenden Strittigkeit unterworfen. Diese ist vermutlich die<br />

Voraussetzung für seinen weiteren Bestand. Im Rückblick auf die Konfliktgeschichte des<br />

Bildes mit dem Christentum in der Moderne gleicht die Dokumentensicht auf das<br />

Bilderverbot der Verfolgung eines Ariadnefadens.<br />

Ihm nachzugehen ist produktiv, auch wenn nicht nur ikonoklastische Imperative sondern<br />

auch strittige Fragen nebeneinander bestehen bleiben können:<br />

95<br />

Am ausführlichsten in jüngster Zeit: ICONOCLASH. Beyond the Image Wars in Science, Religion, and Art, ed. By Bruno Latour and<br />

Peter Weibel, ZKM Karlsruhe und The MIT Press, Cambridge, Massachusetts, 2002.<br />

96<br />

G. Boehm, Die Wiederkehr der Bilder, in: Ders. (Hg.), Was ist ein Bild? (Bild und Text. Hg. von G. Boehm und K. H. Stierle),<br />

München 2 1997 (1994), 11-38.<br />

97<br />

Vgl. G. Boehm, Ikonoklastik und Transzendenz, in: W. Schmied (Hg.), GegenwartEwigkeit, 27-34; ders. Die Lehre des<br />

Bilderverbotes in: Bilderverbot und Gottesbilder KuKi 1/93, 26-31.<br />

98<br />

B. Latour, Ikonoclash. Gibt es eine Welt jenseits des Bilderkrieges?, Berlin 2002.<br />

99<br />

Vgl. Nordhofen, Flüchtige Materie, in: Ders., Engel der Bestreitung. Über den verdeckten Zusammenhang von Kunst und negativer<br />

Theologie, Würzburg 1993, 88-101, wo der Begriff noch „Alteritätssicherung“ heißt. Vgl. auch: Ders, Die Lehre vom Berge Sinai.<br />

Über die Wurzeln der ästhetischen Moderne im Alten Testament, in: ebd., 76-87.<br />

100<br />

Ebd., 101.<br />

26


<strong>Lesetext</strong>e zur Vorlesung J. <strong>Rauchenberger</strong>, Konfliktgeschichten zwischen Kunst und Religion in der Moderne, Uni Wien,<br />

Institut für Kirchengeschichte, WS 2005/06: EXPOSÉ 27<br />

Die weitgehende Verweigerung des christlichen Formenkanons in der „Spiritualität in der<br />

Kunst der Moderne“ (vgl. III.1) ist ein Prozess einer notwendigen Bild-Läuterung,<br />

teilweise sogar ein Ausweis von Scheu. 101 Offen bleibt, ob es auch einer der Diffundierung<br />

oder Transformation hin zu einer neuen religionsgeschichtlichen Konstellation ist.<br />

Die Einrichtungsprobleme in den für die verfasste Religion vorgesehenen Räumen (vgl.<br />

III.2) sind ein Indiz für einen notwendigen Prozess der Vernichtung kitschiger Möbel und<br />

kitschigen Inventars für formale und inhaltliche Neulösungen. Offen bleibt, in welchem<br />

Verhältnis Musealität und Gegenwartslösungen zueinander stehen.<br />

Die „temporäre Bleibe in fremder Wohnung“ (vgl. III.3) ist ein ästhetisches In-Frage-<br />

Stellen bisheriger Bilder und fest gefügter Vorstellungen: Die Reibung und die Bestreitung<br />

verschiedener Raum- und Weltkonzepte kommt aus dem freiwerdenden ästhetischen<br />

Moment.<br />

Das oft beschworene Ende christlicher Ikonografie wurde lange als Emanzipation gelesen.<br />

Es war aber auch Erschöpfung. Freilich nur so lange, wie neue künstlerische Lösungen<br />

einer kreativen Neu-Verwendung auftauchten.<br />

Urbildern, die verlöschen (vgl. III.4), entfliegt das Präfix, und sie enden früher oder später<br />

im Nichts: Verlöschende Bilder sind nicht mehr bestrittene Bilder. Die gegenwärtige<br />

künstlerische Verwendung von Aufnahmen von Zitaten aus der christlichen Bilderwelt<br />

deuten in die Richtung der Kollision und Durchkreuzung überkommener Bilder: 102 Neue,<br />

übertragene Bedeutungen entstehen durch die Bestreitung. Offen bleibt, wie weit sich die<br />

alten tradierten Bilder als zeitgenössische aufrechterhalten lassen, oder ob sie im Status<br />

ihrer Musealität zu verharren haben. Offen bleibt, ob die Schönheit der Bilder, die das<br />

Christentum entfacht hat, nicht nur das moderne Körperempfinden nachhaltig stimuliert<br />

hat, sondern die westliche Bildkultur überhaupt nachhaltig kulturell imprägniert hat (vgl.<br />

III.5). Offen bleibt auch, wie weit vom Christentum inspirierte Kunst weiterhin lesbar<br />

bleibt. Sie verweist auf große Themen, die nie ablaufen können, sondern den Status von<br />

Urbildern beanspruchen: Geburt eines Kindes, Liebe, Gewalt, Rache, Leiden, Heilung,<br />

Tod, Trauer; Grab, Verwandlung, Auferstehung, Wunder. Diese Themen wurden und<br />

werden auch in der Moderne bearbeitet, zum Teil mit anderen Ausdrucksmitteln, die oft –<br />

außer bei schmalen Eliten – noch keinem eingeübten Blick begegnen.<br />

Was Bilder an Imaginationen hervorgebracht haben, ist ihre Stärke und zugleich auch ihre<br />

Strittigkeit: Gerade die interessantesten christlichen Imaginationen sind gleichzeitig<br />

Dokumente des Scheiterns für moderne Rationalität. Ihre Imaginationsangebote nicht<br />

101 Vgl. Anm. 30.<br />

102 Vgl. etwa die Christusfigur als Ringturner von Kamera Skura und Kung Fu auf der Biennale von Venedig 2003. Vgl. dazu Anm. 68.<br />

27


<strong>Lesetext</strong>e zur Vorlesung J. <strong>Rauchenberger</strong>, Konfliktgeschichten zwischen Kunst und Religion in der Moderne, Uni Wien,<br />

Institut für Kirchengeschichte, WS 2005/06: EXPOSÉ 28<br />

kreativ anzunehmen, kommt einer kulturgeschichtlichen und theologischen Verwahrlosung<br />

gleich. Im ästhetischen Prozess ist aber Scheitern ein Moment für Innovation. Vielleicht ist<br />

deshalb der wichtigste Faktor für diese Dialektik die Bestreitung des Bildes.<br />

28

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