Regionen in Nordrhein-Westfalen Band 4: Ruhrgebiet ... - Aschendorff
Regionen in Nordrhein-Westfalen Band 4: Ruhrgebiet ... - Aschendorff
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<strong>Regionen</strong> <strong>in</strong> Nordrhe<strong>in</strong>-<strong>Westfalen</strong><br />
<strong>Band</strong> 4:<br />
<strong>Ruhrgebiet</strong><br />
Bearbeitet von Peter Kracht<br />
1
2<br />
<strong>Regionen</strong> <strong>in</strong> Nordrhe<strong>in</strong>-<strong>Westfalen</strong><br />
<strong>Band</strong> 1: Sauerland, Siegerland<br />
und Wittgenste<strong>in</strong>er Land<br />
<strong>Band</strong> 2: Münsterland und Hellweg<br />
<strong>Band</strong> 3: Ostwestfalen und Lippe<br />
<strong>Band</strong> 4: <strong>Ruhrgebiet</strong><br />
<strong>Band</strong> 5: Niederrhe<strong>in</strong><br />
<strong>Band</strong> 6: Das Rhe<strong>in</strong>land<br />
von Düsseldorf bis Bonn<br />
<strong>Band</strong> 7: Bergisches Land<br />
<strong>Band</strong> 8: Aachen und die Eifel
<strong>Ruhrgebiet</strong><br />
Peter Kracht<br />
ASCHENDORFF VERLAG<br />
3
4<br />
Impressum<br />
© 2008 <strong>Aschendorff</strong> Verlag GmbH & Co. KG, Münster<br />
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte,<br />
<strong>in</strong>sbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, der Entnahme von Abbildungen, der<br />
Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung<br />
<strong>in</strong> Datenverarbeitungsanlagen bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten.<br />
Die Vergütungsansprüche des § 54, Abs. 2, UrhG werden durch die<br />
Verwertungsgesellschaft Wort wahrgenommen.<br />
Der Verlag hat sich bemüht, alle Bildrechte zu klären. Sollte dies im E<strong>in</strong>zelfall nicht gelungen<br />
se<strong>in</strong>, wird um Nachricht an den Verlag gebeten.<br />
Lektorat und Satz: Dr. Burkhard Beyer<br />
Pr<strong>in</strong>ted <strong>in</strong> Germany<br />
ISBN: 978-3-402-05500-7
Inhalt<br />
E<strong>in</strong>leitung ....................... 7<br />
Bergkamen..................... 32<br />
Bochum ......................... 37<br />
Bönen ............................ 48<br />
Bottrop .......................... 51<br />
Castrop-Rauxel ............... 58<br />
Datteln .......................... 63<br />
Dorsten .......................... 67<br />
Dortmund ...................... 72<br />
Duisburg ........................ 87<br />
Essen ............................. 101<br />
Fröndenberg ................... 117<br />
Gelsenkirchen ................. 121<br />
Gladbeck ....................... 128<br />
Hamm ........................... 134<br />
Hatt<strong>in</strong>gen ....................... 144<br />
Herdecke ........................ 150<br />
Herne ............................ 154<br />
Herten ........................... 162<br />
Holzwickede ................... 166<br />
Kamen ........................... 170<br />
Lünen ............................ 175<br />
Marl .............................. 181<br />
Mülheim a. d. Ruhr ......... 187<br />
Oberhausen.................... 199<br />
Oer-Erkenschwick............ 211<br />
Reckl<strong>in</strong>ghausen .............. 215<br />
Schwerte ........................ 222<br />
Sprockhövel.................... 227<br />
Unna ............................. 231<br />
Waltrop.......................... 237<br />
Wetter ........................... 241<br />
Witten ........................... 245<br />
Bildnachweis .................. 251<br />
Register ......................... 252<br />
5
E<strong>in</strong>leitung<br />
Das <strong>Ruhrgebiet</strong> –<br />
Def<strong>in</strong>ition und Abgrenzung<br />
7<br />
„Boh glaubse – weiße wen ich<br />
neulich nach lange Zeit ma wiedergesehen<br />
hab? Den Paul Gonska!<br />
Dat war der Vatter von die<br />
Gonska-Sippe. Me<strong>in</strong>e Fresse war<br />
dat e<strong>in</strong>e Sippe! In me<strong>in</strong>e Jugendzeit<br />
ham die den ganzen Stadtteil<br />
dat Fürchten gelernt (…)<br />
Ich weiß noch, wie ich damals<br />
ganz stolz mit me<strong>in</strong>e erste Fußballbildersammlung<br />
e<strong>in</strong> Freund<br />
besuchen wollte. Da ham die<br />
Sausäcke mich anne Daniel-<br />
Moriang-Straße abgefangen. Da<br />
hieß et dann: Fußballbilder raus<br />
oder e<strong>in</strong> <strong>in</strong>ne Schnauze! Ja, da<br />
hab ich mir natürlich e<strong>in</strong> <strong>in</strong>ne<br />
Schnauze hauen lassen – und<br />
danach die Fußballbilder abgegeben<br />
…“<br />
Herbert Knebel, der bekannteste<br />
<strong>Ruhrgebiet</strong>s-Poet unserer Tage,<br />
br<strong>in</strong>gt die D<strong>in</strong>ge wie gewohnt<br />
auf den Punkt: Im <strong>Ruhrgebiet</strong><br />
herrscht manchmal e<strong>in</strong> rauer Ton,<br />
was aber nicht immer so geme<strong>in</strong>t<br />
ist, und der Fußball bestimmt das<br />
Leben. Von oben bis unten, von<br />
der Bundesliga bis h<strong>in</strong>unter zur<br />
Kreisliga C: Fußball ist Fußball –<br />
und Sonntag ist für alle nicht<br />
Bundesligisten „Fußballtag“. Da<br />
beißt die Maus ke<strong>in</strong>en Faden ab!<br />
Nun ja, nicht alle Menschen im<br />
<strong>Ruhrgebiet</strong> <strong>in</strong>teressieren sich für<br />
diesen Sport. Manche lassen<br />
auch Tauben fliegen – und hoffen,<br />
dass sie wieder zurückf<strong>in</strong>den.<br />
Wieder andere kümmern<br />
sich lieber um die Grillwürstchen<br />
im Schrebergarten. Zum Glück<br />
gibt es den heute trotz aller gegenteiligen<br />
Meldungen <strong>in</strong> den
8 E<strong>in</strong>leitung<br />
Das <strong>Ruhrgebiet</strong> <strong>in</strong> der dem<br />
vorliegenden <strong>Band</strong> zugrunde<br />
liegenden Def<strong>in</strong>ition. Die<br />
breiter hervorgehobenen<br />
Grenzen trennen die Regierungsbezirke<br />
Düsseldorf<br />
(Duisburg, Oberhausen,<br />
Mülheim und Essen),<br />
Münster (Bottrop, Gelsenkirchen,<br />
Kreis Reckl<strong>in</strong>ghausen)<br />
und<br />
Arnsberg (übrige).<br />
Hochglanzbroschüren der städtischen Market<strong>in</strong>ggesellschaften<br />
immer noch. Und e<strong>in</strong> Pils<br />
zur Bratwurst. Oder besser zwei, sagt Herbert<br />
Knebel, dann hat man nämlich unterm Strich<br />
e<strong>in</strong>s mehr …<br />
Im <strong>Ruhrgebiet</strong> ist alles etwas anders – nicht<br />
nur die Sprache und die Freizeitgestaltung. Es<br />
gibt deshalb e<strong>in</strong>e ganze Reihe markanter<br />
Merkmale für das, was als „typisch <strong>Ruhrgebiet</strong>“<br />
gilt – neben der Lebensweise ist es vor<br />
allem se<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>stmals herausragende Rolle als<br />
der deutsche Wirtschafts- und Ballungsraum<br />
schlechth<strong>in</strong>. Aber diese Merkmale werden am<br />
Rand des Reviers schwächer, verlässliche<br />
Grenzen lassen sich daraus nicht ableiten. Wo<br />
bef<strong>in</strong>det sich das <strong>Ruhrgebiet</strong> also überhaupt?<br />
Se<strong>in</strong>e Grenzen s<strong>in</strong>d durchaus umstritten,<br />
denn das <strong>Ruhrgebiet</strong> ist ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>heitlicher<br />
Naturraum. Die Region liegt, geographisch<br />
betrachtet, im Schnittpunkt des Rhe<strong>in</strong>ischen<br />
Schiefergebirges, der Westfälischen Tieflandsebene<br />
und der Niederrhe<strong>in</strong>ischen Ebene. Im<br />
Süden reicht das <strong>Ruhrgebiet</strong> bis <strong>in</strong>s Bergische<br />
Land und <strong>in</strong>s Märkische Sauerland, im Norden<br />
und Osten geht es ohne sicht- und hörbare<br />
Grenze <strong>in</strong>s Münsterland über, im Westen<br />
<strong>in</strong> den Niederrhe<strong>in</strong>.<br />
Was tun? Wilhelm Müller-Wille, e<strong>in</strong> bekannter<br />
Geograf der Universität Münster, schrieb<br />
schon Anfang der 1950er-Jahre <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />
<strong>Band</strong> „<strong>Westfalen</strong>“ (S. 262): „Die heutige<br />
Landschaftskunde ist noch weit davon entfernt,<br />
<strong>in</strong>dustrielle Landschaften methodisch<br />
und begrifflich e<strong>in</strong>wandfrei zu fassen. Was<br />
Größe und Ausdehnung anbelangt, so s<strong>in</strong>d<br />
die <strong>in</strong>dustriellen Ersche<strong>in</strong>ungen mehr punkt-
haft entwickelt: sie bestehen aus dem Werk<br />
mit Arbeitsstätten und Verwaltungsbauten,<br />
Lagerplätzen und Verkehrse<strong>in</strong>richtungen; aus<br />
der Wohnsiedlung mit Haus-, Pacht- und<br />
Schrebergärten, Spiel-, Sport- und Erholungsplätzen,<br />
Zu- und Abfahrtswegen.“ Und weiter<br />
schreibt Müller-Wille: „Das Industriesystem<br />
des Reviers wird getragen von der Ste<strong>in</strong>kohle,<br />
ihrem Abbau und ihrer Veredelung, und vom<br />
Eisen, se<strong>in</strong>er Erzeugung und Verbreitung (…)<br />
Zechen und Fördertürme, Hütten und Hochöfen<br />
beherrschen se<strong>in</strong>e Physiognomie, sie<br />
kennzeichnen se<strong>in</strong>e Auszeichnung und setzen<br />
se<strong>in</strong>e Außengrenzen.“ Endlich Grenzen! Im<br />
Klartext me<strong>in</strong>t Wilhelm Müller-Wille: „Heute<br />
reicht das Revier von der unteren Ruhr im<br />
Süden bis zur unteren Lippe im Norden, von<br />
kernmünsterländischen Kreis Beckum im<br />
Osten bis zum niederrhe<strong>in</strong>ischen Kreis Moers<br />
im Westen.“<br />
Damit sieht man schon e<strong>in</strong> Stück klarer: Vom<br />
Moers bis Ahlen gibt – oder besser: gab – es<br />
Zechen. Gehört also nun diese gesamte Region<br />
zum <strong>Ruhrgebiet</strong>? Wirtschaftlich vielleicht,<br />
E<strong>in</strong>leitung<br />
9<br />
aber geografisch sicher nicht.<br />
Auch <strong>in</strong> Selm und Werne hat es<br />
Zechen gegeben hat, wovon <strong>in</strong><br />
Selm-Beifang noch e<strong>in</strong>e Zechen-<br />
Kolonie zeugt. Doch: Fühlt sich<br />
e<strong>in</strong> Selmer Bürger als <strong>Ruhrgebiet</strong>smensch?<br />
Beileibe nicht –<br />
hier schlägt schon das Herz des<br />
Münsterlandes, aber kräftig!<br />
Ebenso <strong>in</strong> Moers und Disnlaken –<br />
hier dom<strong>in</strong>iert das Lebensgefühl des<br />
Niederrhe<strong>in</strong>s schon deutlich über dem<br />
des <strong>Ruhrgebiet</strong>lers.<br />
Für e<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>gültige Def<strong>in</strong>ition zieht<br />
man häufig die Grenzen des „Regionalverbandes<br />
Ruhr“ (RVR) mit Sitz <strong>in</strong> Essen heran,<br />
die grenzüberschreitende – zwischen <strong>Westfalen</strong><br />
und dem Rhe<strong>in</strong>land – Nachfolge-Organisation<br />
des bekannten „Kommunalverbandes<br />
Ruhr“ (KVR). Zu den Schwerpunkt-Aufgaben<br />
der 350 Beschäftigten des Verbandes zählen<br />
unter anderem „die Erstellung von Masterplänen,<br />
der Emscher Landschaftspark und die<br />
Route der Industriekultur, die Sicherung und<br />
Weiterentwicklung von Grünflächen, die<br />
regionale Wirtschaftsförderung, das regionale<br />
Standortmarket<strong>in</strong>g, die regionale Tourismusförderung,<br />
die Öffentlichkeitsarbeit für das<br />
Verbandsgebiet sowie die Raumbeobachtung.“<br />
In der Tat: Den Raum muss man schon gut<br />
beobachten, denn so e<strong>in</strong>fach s<strong>in</strong>d die Verhältnisse<br />
nicht. Politisch sowieso nicht, denn <strong>in</strong><br />
der Regel geht Parteipolitik vor <strong>Ruhrgebiet</strong>spolitik.<br />
Das streitet auch ke<strong>in</strong> gestandener<br />
RVR-Mann ab – davon gibt es, das sei zur<br />
Ehrenrettung gesagt, immer noch etliche.<br />
Und die legen sich für ihr Revier mächtig <strong>in</strong>s<br />
Zeug! Aber das Dilemma geht schon los,<br />
wenn man sich das RVR-Gebiet näher ansieht.<br />
Was sich auf den ersten Blick harmlos<br />
liest, hat e<strong>in</strong>e Menge Sprengstoff <strong>in</strong> sich:<br />
„Das <strong>Ruhrgebiet</strong> liegt im Bundesland Nordrhe<strong>in</strong>-<strong>Westfalen</strong><br />
und bildet den größten Wirtschaftsraum<br />
<strong>in</strong> Europa. Es stellt weder e<strong>in</strong>e<br />
landschaftlich noch e<strong>in</strong>e historisch-politische<br />
E<strong>in</strong>heit dar, sondern eher e<strong>in</strong>en wirtschaftsgeographischen<br />
Raum. Als statistische und<br />
räumliche Grundlage wird allgeme<strong>in</strong> das<br />
Verbandsgebiet des ‚Regionalverband Ruhr‘<br />
(RVR) mit Sitz <strong>in</strong> Essen angesehen, der bereits
10 E<strong>in</strong>leitung<br />
1920 als ‚Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk‘<br />
gegründet wurde. „Das Gebiet umfasst<br />
53 selbstständige Geme<strong>in</strong>den. Im Regionalverband<br />
s<strong>in</strong>d die elf kreisfreien Städte Bochum,<br />
Bottrop, Dortmund, Duisburg, Essen,<br />
Gelsenkirchen, Hagen, Hamm, Herne, Mülheim<br />
an der Ruhr und Oberhausen sowie die<br />
Kreise Ennepe Ruhr, Reckl<strong>in</strong>ghausen, Unna<br />
und Wesel mit den kreisangehörigen Geme<strong>in</strong>den<br />
zusammengeschlossen“, schreibt der<br />
RVR auf se<strong>in</strong>er Homepage.<br />
Das hört sich zunächst e<strong>in</strong>mal konfliktfrei und<br />
e<strong>in</strong>fach an – doch die Realität sieht häufig<br />
anders aus. So gehören die genannten Kreise<br />
und Städte drei verschiedenen nordrhe<strong>in</strong>westfälischen<br />
Regierungsbezirken an, zudem<br />
s<strong>in</strong>d sie auch noch „geborene“ Mitglieder<br />
entweder im Landschaftsverband Rhe<strong>in</strong>land<br />
(LVR) oder im Landschaftsverband <strong>Westfalen</strong>-<br />
Lippe (LWL). Mit anderen Worten: Allen Beteuerungen<br />
von <strong>Ruhrgebiet</strong>s-Visionären zum<br />
Trotz verlaufen bis heute Grenzen mitten<br />
durch das RVR-Gebiet. Vor allem die Grenze<br />
zwischen dem Rhe<strong>in</strong>land und <strong>Westfalen</strong>, die<br />
im Revier selbst allenfalls noch im Unterbewusstse<strong>in</strong><br />
wahrgenommen wird, ist politisch<br />
weiterh<strong>in</strong> von Bedeutung. Die historischen<br />
Wurzeln dieser Grenze reichen <strong>in</strong>des weit<br />
zurück – viel weiter zum<strong>in</strong>dest als die Geschichte<br />
des heutigen Bundeslandes. Bekanntlich<br />
kamen nach dem Zweiten Weltkrieg<br />
„Nordrhe<strong>in</strong>er“ und „<strong>Westfalen</strong>“ samt den<br />
„Lippern“ ganz im Osten nicht ganz freiwillig<br />
zum neuen Bundesland Nordrhe<strong>in</strong>-<strong>Westfalen</strong><br />
zusammen. Damit kam im <strong>Ruhrgebiet</strong> zum<strong>in</strong>dest<br />
auf Landesebene adm<strong>in</strong>istrativ zusammen,<br />
was wirtschaftlich ohneh<strong>in</strong> längst zusammen<br />
gehörte.<br />
Die <strong>in</strong>ternen politischen Grenzen des Reviers<br />
s<strong>in</strong>d wieder auf die politische Tagesordnung<br />
gekommen. Vorangetrieben werden die Überlegungen<br />
nicht zuletzt durch den Auflösungsprozess<br />
des Regionalverbandes Ruhr. Bereits<br />
heute will der Kreis Wesel aus dem RVR – wo<br />
er ja selbst bei wohlwollender Betrachtung<br />
eigentlich nicht h<strong>in</strong>gehört – austreten, ebenso<br />
spielt auch die ehemalige „Freie Reichsund<br />
Hansestadt“ Dortmund mit dem Gedanken,<br />
sich aus dem Verband zu verabschieden.<br />
H<strong>in</strong>tergrund dieser sich erneut anbahnenden<br />
politischen Tragödie: Nach zwei erfolglosen<br />
Versuchen früherer SPD-Landesregierungen<br />
hat es nun die CDU/FDP-Regierung zu e<strong>in</strong>er<br />
ihrer Hauptaufgaben gemacht, das Land neu<br />
zu ordnen. Die Regierungspräsidien sollen<br />
durch Regionalverbände ersetzt werden.<br />
E<strong>in</strong>er soll Nordrhe<strong>in</strong> heißen, e<strong>in</strong>er <strong>Westfalen</strong>,<br />
e<strong>in</strong>er <strong>Ruhrgebiet</strong>!<br />
Als ob die Regierungsmannschaft <strong>in</strong> Düsseldorf<br />
nicht andere Sorgen genug hat – mit<br />
ihren Plänen f<strong>in</strong>det sie nicht e<strong>in</strong>mal überall<br />
die ihrer eigenen Parteifreunde. Das Thema ist<br />
noch lange nicht ausgestanden. Denn alles,<br />
was von oben verordnet, wird, ist erst e<strong>in</strong>mal<br />
suspekt: Den Rhe<strong>in</strong>ländern sowieso, aber<br />
auch den <strong>Westfalen</strong>, die immer noch fürchten,<br />
von den Düsseldorfern über den Tisch<br />
gezogen zu werden. Nach gegenwärtiger,<br />
also der Ende 2007 aktuellen Sprachregelung<br />
der Landesregierung soll das <strong>Ruhrgebiet</strong><br />
mehr oder weniger <strong>in</strong> den Grenzen des RVR<br />
den neuen Regionalverband „RVB <strong>Ruhrgebiet</strong>“<br />
bilden. Da drängt sich die Frage auf:<br />
Wer wird Sitz dieses neuen Verbandes werden<br />
– das rhe<strong>in</strong>ische Essen oder das westfälische<br />
Dortmund, dessen amtlich geprüfte<br />
E<strong>in</strong>wohnerzahl diejenige Essens <strong>in</strong>zwischen<br />
um e<strong>in</strong>ige Tausend übertrumpft.<br />
Das <strong>Ruhrgebiet</strong> hat also, je nachdem welches<br />
Kriterium man anlegt, durchaus verschiedene<br />
Grenzen. Für den vorliegenden <strong>Band</strong> war nur<br />
e<strong>in</strong>e pragmatische Abgrenzung möglich. E<strong>in</strong>e<br />
großzügige, alle Grenzbereiche „sicherheitshalber“<br />
mit e<strong>in</strong>beziehende Regelung war<br />
nicht möglich, da auch die angrenzenden<br />
Bände über das Münsterland, den Niederrhe<strong>in</strong>,<br />
das Bergische Land und das Sauerland<br />
e<strong>in</strong>er s<strong>in</strong>nvollen Abgrenzung bedürfen. In<br />
folgenden Fällen wird im vorliegenden <strong>Band</strong><br />
deshalb von den erwähnten Grenzen des<br />
Regionalverbandes Ruhr abgewichen:<br />
Der Kreis Wesel wird nicht zum <strong>Ruhrgebiet</strong>,<br />
sondern zum Niederrhe<strong>in</strong> gerechnet;<br />
Hagen gehört nicht mehr zum <strong>Ruhrgebiet</strong>,<br />
sondern bereits zum Sauerland;<br />
Die südliche Hälfte des Ennepe-Ruhr-Kreises<br />
(Breckerfeld, Ennepetal, Gevelsberg und<br />
Schwelm) gehört nicht zum <strong>Ruhrgebiet</strong>, sondern<br />
zum Sauerland bzw. Bergischen Land<br />
Haltern (Kreis Reckl<strong>in</strong>ghausen) gehört nicht<br />
zum <strong>Ruhrgebiet</strong>, sondern zum Münsterland
E<strong>in</strong>leitung<br />
Oben: Von den Höhenzügen der Ruhr<br />
schweift der Blick nach Norden – auf die<br />
Skyl<strong>in</strong>e von Essen und die dah<strong>in</strong>ter liegende<br />
Emscherregion. Unten: Im Emscherbruch<br />
selbst sorgen nur noch künstliche Erhebungen<br />
für Aussichtspunkte. Hier der Blick von<br />
der zum Naherholungsgebiet umgewidmeten<br />
Halde Hoppenbruch im Süden der Stadt<br />
Herten auf das Kraftwerk <strong>in</strong> Herne.<br />
11<br />
Selm und Werne (Kreis Unna) gehören nicht<br />
zum <strong>Ruhrgebiet</strong>, sondern zum Münsterland.<br />
Damit ergibt sich für das hier beschriebene<br />
„<strong>Ruhrgebiet</strong>“ e<strong>in</strong>e Fläche von rund 3.300<br />
Quadratkilometern und e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>wohnerzahl<br />
von etwa 4,7 Millionen. Das s<strong>in</strong>d deutlich<br />
mehr, als die deutsche Hauptstadt Berl<strong>in</strong> an<br />
E<strong>in</strong>wohnern hat …
12 E<strong>in</strong>leitung<br />
Geographie<br />
Das <strong>Ruhrgebiet</strong> <strong>in</strong> den vorbezeichneten Grenzen<br />
ist, wie dargelegt, bis heute ke<strong>in</strong>e historisch-politische<br />
E<strong>in</strong>heit. Aber es ist auch ke<strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>heitlicher Naturraum, denn die tief unter<br />
der Erde liegende Kohle als verb<strong>in</strong>dendes, die<br />
Wirtschaft der Region prägendes Element<br />
entstand lange Zeit, bevor die Erdoberfläche<br />
ihre heutige, durchaus verschiedene Form<br />
annahm. Das <strong>Ruhrgebiet</strong> gehört geographisch<br />
gesehen <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er südlichen Hälfte<br />
zum Rhe<strong>in</strong>ischen Schiefergebirge, im Norden<br />
und Osten zur Westfälischen Tieflandebene<br />
und im Westen zur Niederrhe<strong>in</strong>ischen Ebene.<br />
Wurden früher die beiden Flüsse Ruhr und<br />
Lippe als südliche und nördliche Begrenzung<br />
des <strong>Ruhrgebiet</strong>s genannt, so trifft auch dies<br />
nur bed<strong>in</strong>gt zu: Mehrere Zechen lagen schon<br />
im 19. Jahrhundert südlich der Ruhr, und im<br />
20. Jahrhundert ist der Bergbau über die<br />
Lippe weit h<strong>in</strong>ausgegangen – ihre Standorte<br />
würden nach der „Ruhr-Lippe-Def<strong>in</strong>ition“<br />
also schon nicht mehr zum <strong>Ruhrgebiet</strong> gehö-<br />
„Wo Zechen s<strong>in</strong>d – da ist <strong>Ruhrgebiet</strong>.“<br />
Gilt diese alte Abgrenzung<br />
noch, wenn an den Bergbau<br />
nur noch Relikte er<strong>in</strong>nern?<br />
E<strong>in</strong> solches Denkmal ist der<br />
Doppelblock der Zeche „Consolidation“<br />
<strong>in</strong> Gelsenkirchen.<br />
ren. Pr<strong>in</strong>zipiell s<strong>in</strong>nvoller ist da<br />
schon die Zechendef<strong>in</strong>ition<br />
(„wo Zechen s<strong>in</strong>d, ist <strong>Ruhrgebiet</strong>!“),<br />
die angesichts der<br />
wenigen noch aktiven Bergwerke<br />
aber nur noch rückblikkend<br />
von Bedeutung se<strong>in</strong><br />
kann. Ohneh<strong>in</strong> würden dann –<br />
wie erwähnt – auch Orte zum<br />
<strong>Ruhrgebiet</strong> gerechnet, die wie<br />
Ahlen und Werne treffender<br />
zum Münsterland oder wie<br />
Moers besser zum Niederrhe<strong>in</strong><br />
gerechnet werden.<br />
Die ersten Bergwerke entstanden<br />
an der Ruhr, weil hier die<br />
Kohle oberflächennah und ohne aufwändige<br />
Wasserhaltung zu fördern war. Der entscheidende<br />
technische und wirtschaftliche Durchbruch<br />
waren die ersten etwas weiter nördlich<br />
<strong>in</strong> der Hellweg-Region errichteten Zechen, die<br />
ab den 1830er-Jahren die dicke Mergelschicht<br />
durchstoßen hatten und an die dickeren<br />
Flöze mit Fett-Kohle herankamen, die sich<br />
besonders gut für den E<strong>in</strong>satz im Hochofen<br />
eignete. Je weiter der Bergbau nach Norden<br />
wanderte, um so tiefer mussten die Schächte<br />
<strong>in</strong> die Erde getrieben werden, um an das<br />
„schwarze Gold“ zu gelangen – an der Lippe<br />
wurden schließlich Teufen von mehr als tausend<br />
Metern notwendig!<br />
Nördlich der Ruhr schließen sich an die Ausläufer<br />
des Rhe<strong>in</strong>ischen Schiefergebirges die<br />
fruchtbaren Lößebenen der Hellwegzone und<br />
die Emscherniederung an, die über Jahrhunderte<br />
e<strong>in</strong>e eher lebensfe<strong>in</strong>dliche, sumpfige<br />
Bruchlandschaft darstellte – für die Industrie<br />
nicht immer leichte Baubed<strong>in</strong>gungen, dafür<br />
waren hier aber ke<strong>in</strong>e wertvollen Ackerflächen<br />
zu überbauen. Nördlich des Lippetals
E<strong>in</strong>leitung<br />
Katasterflächen am 31. Dezember 2006 (Auswahl, Angaben <strong>in</strong> Hektar)<br />
Stadt/Geme<strong>in</strong>de Fläche Gebäude-, Betriebs- u. Landwirt- Wald- Wasser<strong>in</strong>sgesamt<br />
(Siedlungs-)Freiflächen schaftsfläche fläche fläche<br />
Bergkamen 4.484 1.470 1.757 532 201<br />
Bochum 14.544 6.451 3.224 927 167<br />
Bönen 3.802 579 2.660 238 40<br />
Bottrop 10.061 2.689 3.118 2.159 223<br />
Castrop-Rauxel 5.166 1.769 1.458 788 195<br />
Datteln 6.608 900 3.436 1.367 322<br />
Dorsten 17.119 2.077 8.496 4.588 358<br />
Dortmund 28.040 10.851 7.840 2.947 510<br />
Duisburg 23.281 8.780 4.470 1.956 2.398<br />
Essen 21.037 8.684 3.459 2.650 605<br />
Fröndenberg 5.621 766 3.755 569 57<br />
Gelsenkirchen 10.486 4.969 1.606 775 315<br />
Gladbeck 3.590 1.481 989 316 71<br />
Hamm 22.624 4.718 12.680 1.868 589<br />
Hatt<strong>in</strong>gen 7.139 1.333 3.204 1.908 139<br />
Herdecke 2.240 550 501 878 66<br />
Herne 5.141 2.474 792 218 228<br />
Herten 3.733 1.489 964 531 56<br />
Holzwickede 2.236 695 1.032 172 49<br />
Kamen 4.093 1.035 2.146 211 83<br />
Lünen 5.919 1.945 2.158 721 219<br />
Marl 8.763 2.635 2.913 1.811 218<br />
Mülheim a. d. Ruhr 9.129 3.175 2.140 1.577 227<br />
Oberhausen 7.704 3.575 753 965 174<br />
Oer-Erkenschwick 3.869 633 1.120 1.755 22<br />
Reckl<strong>in</strong>ghausen 6.643 2.262 2.447 464 80<br />
Schwerte 5.620 1.124 2.237 1.461 99<br />
Sprockhövel 4.779 767 2.367 1.129 17<br />
Unna 8.853 1.549 5.824 423 85<br />
Waltrop 4.699 773 2.650 591 246<br />
Wetter 3.147 694 1.272 783 85<br />
Witten 7.237 2.099 2.296 1.591 182<br />
Quelle: Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik NRW<br />
geht das Revier dann <strong>in</strong> die Münsterländische<br />
Bucht über.<br />
Im Süden reicht das <strong>Ruhrgebiet</strong> bis an die<br />
Ausläufer des Sauerlandes wie auch des Bergischen<br />
Landes heran. Hier s<strong>in</strong>d jedoch ke<strong>in</strong>e<br />
so großen Städte entstanden wie <strong>in</strong> der Hellwegzone.<br />
Nach Rückzug der letzten Zechen<br />
ist die Region l<strong>in</strong>ks und rechts der Ruhr heute<br />
sehr grün und wird noch immer zu erheblichen<br />
Teilen landwirtschaftlich genutzt. Der<br />
13<br />
Ennepe-Ruhr-Kreis vere<strong>in</strong>t Geme<strong>in</strong>den aus<br />
beiderlei <strong>Regionen</strong> – die nördlichen Teile<br />
können noch zum Revier gerechnet werden,<br />
die südlichen Orte jedoch nicht. Die nördlichen<br />
Orte s<strong>in</strong>d stolz auf Ihre Bergbautradition<br />
– hier soll sich die berühmte Sage der Entdeckung<br />
der Ste<strong>in</strong>kohle durch e<strong>in</strong>en Schwe<strong>in</strong>ehirten<br />
zugetragen haben. Witten und<br />
Sprockhövel fühlen sich stolz – und mit e<strong>in</strong>igem<br />
Recht – als „Wiegen des <strong>Ruhrgebiet</strong>s“.
e<br />
gt.<br />
h<br />
14<br />
Herzogtum<br />
Kleve<br />
Wesel<br />
Erkelenz<br />
Kurfürstentum<br />
Köln<br />
Jülich<br />
D<br />
Coesfeld Münster<br />
Rheda<br />
zum<br />
Gemen<br />
Dülmen<br />
Fürstbistum<br />
Fürstbistum Münster<br />
Osnabrück<br />
Köln<br />
Reckl<strong>in</strong>ghausen<br />
(Zu Köln)<br />
Dortmund<br />
Geldern<br />
Bochum<br />
Hzgt. Moers<br />
Essen<br />
Schwerte<br />
Geldern<br />
Kempen Duisburg<br />
Limburg<br />
Krefeld<br />
Werden<br />
Kaiserswerth<br />
Grafschaft<br />
Düsseldorf<br />
Mark<br />
Lennep<br />
Sol<strong>in</strong>gen<br />
Herzogtum<br />
Berg<br />
Im Westen setzt der Rhe<strong>in</strong> dem <strong>Ruhrgebiet</strong><br />
e<strong>in</strong>e markante Grenze, obwohl auch l<strong>in</strong>ksrhe<strong>in</strong>isch<br />
Kohle und Stahl zu Hause waren –<br />
der Kmapf um das Hüttenwerk <strong>in</strong> Rhe<strong>in</strong>hausen<br />
hat das der deutschen Öffentlichkeit<br />
deutlich <strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerung gerufen. Im Osten<br />
endet das Revier ziemlich abrupt östlich des<br />
Kreises Unna mit dem Übergang <strong>in</strong> die Soester<br />
Börde.<br />
In stadt-geographischer H<strong>in</strong>sicht ist das Revier<br />
das Ergebnis e<strong>in</strong>es Jahrzehnte langen<br />
Zusammenwachsens mehrerer Großstädte,<br />
vor allem entlang des Hellwegs. Im Gegensatz<br />
zu gewachsenen „Metropolen“ wie<br />
Paris, Berl<strong>in</strong> oder London hat die „Metropole<br />
Ruhr“ logischerweise zahlreiche Zentren. Die<br />
Übergänge zwischen den Städten können<br />
durch e<strong>in</strong>e lockere Vorortbebauung, gelegentlich<br />
auch durch landwirtschaftlich genutzte<br />
oder unbebaute Gebiete geprägt se<strong>in</strong> – häufig<br />
s<strong>in</strong>d die Stadtgrenzen <strong>in</strong> der Kernzone des<br />
<strong>Ruhrgebiet</strong>s aber kaum zu erkennen, da sie<br />
quer durch dichte Besiedlung verlaufen. Was<br />
Außenstehende als verwirrend und bedrohlich<br />
empf<strong>in</strong>den, hat für die Region vor allem<br />
Vorteile: Das Angebot gleich mehrerer Großstädte<br />
liegt den Bewohnern des Reviers gewissermaßen<br />
zu Füßen – mit dem Auto oder<br />
der S-Bahn leicht zu erreichen.<br />
Gimborn<br />
Homburg<br />
Hamm<br />
Werl<br />
Soest<br />
Arnsberg<br />
Olpe<br />
Geschichte<br />
Schmallenberg<br />
berg<br />
Herzogtum<br />
<strong>Westfalen</strong><br />
Siegen<br />
E<strong>in</strong>leitung<br />
Rietberg<br />
Paderborn<br />
Ft. Lippe<br />
Detmold<br />
Lippstadt<br />
Fürstbistum<br />
Paderborn<br />
Brilon<br />
Marsberg<br />
Karte des heutigen <strong>Ruhrgebiet</strong>es mit den<br />
Herrschaftsgebieten im Jahr 1789. Die heute<br />
niederländischen bzw. hessischen Gebiete<br />
s<strong>in</strong>d weiß abgesetzt. Kle<strong>in</strong>e weltliche Herrschaftsgebiete<br />
s<strong>in</strong>d grün, kle<strong>in</strong>e geistliche<br />
Herrschaftsgebiete violett gekennzeichnet.<br />
Senkrecht gestreift: geme<strong>in</strong>same Verwaltung,<br />
quer gestreift: umstrittene Gebiete.<br />
Das erste wichtige Ereignis <strong>in</strong> der Geschichte<br />
des <strong>Ruhrgebiet</strong>s liegt schon e<strong>in</strong> paar Jahre<br />
zurück, besser gesagt: Etwa 350 Millionen<br />
Jahre! In der Zeit des Karbons entstand das,<br />
was den „Pott“ ausmacht: Die Ste<strong>in</strong>kohle, die<br />
an der Ruhr bis an die Erdoberfläche reicht.<br />
Deshalb f<strong>in</strong>den sich hier auch die ersten Zechen,<br />
<strong>in</strong> denen im Tagebau Kohle gefördert<br />
wurde. Die erste gesicherte Nachricht über<br />
den Abbau von Kohle datiert <strong>in</strong>s Jahr 1296,<br />
als der Sohn e<strong>in</strong>es „colcure“ aus Schüren,<br />
also e<strong>in</strong>es Kohlegräbers, <strong>in</strong> Dortmund als<br />
Bürger aufgenommen wurde.<br />
Wann der Wert der Kohle als Heizmaterial<br />
entdeckt wurde, lässt sich nicht ermitteln. Es<br />
geht jedenfalls die oft zitierte Mär, dass e<strong>in</strong><br />
Schwe<strong>in</strong>ehirte plötzlich feststellte, dass die<br />
„schwarzen Ste<strong>in</strong>e“ an se<strong>in</strong>em Lagerfeuer zu
E<strong>in</strong>leitung<br />
Die Gebe<strong>in</strong>e des heiligen<br />
Liudger liegen, wie von ihm<br />
gewünscht, <strong>in</strong> der Kirche des<br />
von ihm gegründeten Klosters<br />
Werden. Der Schre<strong>in</strong> aus Bronze<br />
stammt aus jüngster Zeit , die<br />
Form ist an die heutige Werdener<br />
Kirche angelehnt.<br />
glühen begannen und Wärme<br />
abgaben. Das kl<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong> wenig<br />
nach Karl May und Old Shatterhand.<br />
An den Lagerfeuern <strong>in</strong><br />
den Weiten des Wilden Westens<br />
wurde auch so manche Geschichte<br />
erzählt und mit Fantasie<br />
reichlich ausgeschmückt …<br />
Das Gebiet des heutigen <strong>Ruhrgebiet</strong>s<br />
tritt erstmals <strong>in</strong>s Rampenlicht<br />
der Weltgeschichte, als<br />
die Römer versuchten, das<br />
rechtsrhe<strong>in</strong>ische Gebiet ihrem<br />
Imperium e<strong>in</strong>zuverleiben. Kurz<br />
vor Christi Geburt unternahm<br />
General Drusus e<strong>in</strong>en ersten<br />
Feldzug entlang der Lippe und<br />
legte dabei das Lager im heutigen<br />
Bergkamener Stadtteil<br />
Oberaden an. Auf weiteren Heereszügen<br />
entstanden die Lager <strong>in</strong> Dorsten-Holsterhausen<br />
sowie <strong>in</strong> Haltern. Die Römer nutzten die<br />
Lippe (nicht die Ruhr!) als Transportweg. Die<br />
römische Expansionspolitik erhielt e<strong>in</strong>en<br />
schweren Schlag durch die Niederlage des<br />
Varus <strong>in</strong> der berühmten „Schlacht im Teutoburger<br />
Wald“ im Jahr 9 n. Chr. Danach fiel<br />
das Mäntelchen der Geschichte über die<br />
Region, schriftliche Quellen fehlen für Jahrhunderte.<br />
Allerd<strong>in</strong>gs bestanden auch weiterh<strong>in</strong><br />
Ortschaften <strong>in</strong> der Region, wie etwa die<br />
germanische Siedlung <strong>in</strong> Kamen-Westick<br />
belegt.<br />
Erst kurz vor 700 passierte wieder etwas<br />
Berichtenswertes: Im <strong>Ruhrgebiet</strong> siedelten<br />
mittlerweile sächsische Bauern, die sich zunächst<br />
erfolgreich der Christianisierung widersetzten.<br />
Missionare waren mit hohem<br />
Risiko unterwegs, um den Sachsen die „richtige“<br />
Religion beizubr<strong>in</strong>gen. So sollen der<br />
„Schwarze und der Weiße Ewald“ bei Apler-<br />
15<br />
beck erschlagen worden se<strong>in</strong>. Mit den Feldzügen<br />
Karls des Großen gegen die Sachsen tritt<br />
das <strong>Ruhrgebiet</strong> wieder auf die Bühne der<br />
Geschichte: Die Sachsen hatten mehrere<br />
Burgen („Fliehburgen“) angelegt, darunter<br />
e<strong>in</strong>e auf der Hohensyburg. Die Truppen Karls<br />
eroberten die „Sigiburg“ und sollen dort e<strong>in</strong>e<br />
erste christliche Kirche erbaut haben. Noch<br />
bevor die Sachsen endgültig besiegt waren,<br />
gründete der Friese Liudger um das Jahr 800<br />
das Kloster Werden. Die „Heberegister“, die<br />
die Abgaben e<strong>in</strong>zelner Höfe an das Kloster<br />
festhalten, s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e wichtige Quelle für das<br />
frühe Mittelalter: Etliche Ortschaften tauchen<br />
hier zum ersten Mal schriftlich auf. Keimzelle<br />
mancher der heutigen Städte vor allem entlang<br />
des Hellwegs waren die karol<strong>in</strong>gischen<br />
Königshöfe, die sowohl Verwaltungssitz wie<br />
auch Militärstation waren.<br />
Seit dem Spätmittelalter stieg die Macht regionaler<br />
Fürsten deutlich an: Die Kölner Erzbischöfe<br />
gelangten nicht nur <strong>in</strong> den Besitz des
16 E<strong>in</strong>leitung<br />
„Vestes Reckl<strong>in</strong>ghausen“, sondern übernahmen<br />
auch die Herrschaft im „kurkölnischen“<br />
Sauerland (dem Herzogtum <strong>Westfalen</strong>). Ihre<br />
Gegenspieler waren <strong>in</strong>sbesondere die Grafen<br />
von der Mark. Die Zeiten waren alles andere<br />
als friedlich, das musste der Kölner Erzbischof<br />
Engelbert I. von Berg am eigenen Leib erfahren:<br />
1225 wurde er von se<strong>in</strong>em Neffen Friedrich<br />
von Isenberg bei Gevelsberg umgebracht.<br />
E<strong>in</strong> Jahr später wurde der Übeltäter <strong>in</strong> Köln<br />
h<strong>in</strong>gerichtet.<br />
Im Westen des <strong>Ruhrgebiet</strong>s lagen die Herrschaftsbereiche<br />
der Grafen von Kleve, Jülich<br />
(Herzogtum seit 1356) und Berg (Herzogtum<br />
seit 1380). Am nördlichen Rand grenzte das<br />
<strong>Ruhrgebiet</strong> an das Bistum Münster. Neben<br />
der Abtei Werden fand sich auch noch der<br />
M<strong>in</strong>iaturstaat des Essener Damenstifts auf<br />
der politischen Landkarte. E<strong>in</strong>zige Freie<br />
Reichsstadt <strong>in</strong> <strong>Westfalen</strong> war Dortmund. Angesichts<br />
dieser politischen „Gemengelage“<br />
war die Anlage von Burgen e<strong>in</strong>e Notwendig-<br />
Geschichtsträchtiges Industriedenkmal:<br />
Der „Malakow-Turm“<br />
der Zeche Prosper <strong>in</strong> Bottrop.<br />
Diese massiven, burgartigen<br />
Fördertürme aus der zweiten<br />
Hälfte des 19. Jahrhunderts waren<br />
benannt nach e<strong>in</strong>em russischen<br />
Fort aus dem Krimkrieg.<br />
In den Turm der Zeche Prosper<br />
wurde später e<strong>in</strong> Förderturm<br />
e<strong>in</strong>gebaut – heute stehen beide<br />
unter Denkmalschutz.<br />
keit. Sie sollten den jeweiligen<br />
Nachbarn davon abhalten, se<strong>in</strong><br />
Herrschaftsgebiet ausweiten zu<br />
wollen.<br />
Durch Erbfall übernahmen die<br />
Grafen von der Mark ab 1398<br />
die Grafschaft Kleve, 1521 fiel<br />
auch das Herzogtum Berg an<br />
Kleve-Mark – doch nach dem<br />
Tod des letzten Herzogs, Johann<br />
Wilhelm, wurden die Herrschaften<br />
im Jahr 1614 wieder getrennt:<br />
Berg kam an die pfälzischen<br />
Wittelsbacher, Kleve und<br />
Mark fielen an Brandenburg-Preußen.<br />
Die Stadtkultur des <strong>Ruhrgebiet</strong>s war bis <strong>in</strong>s<br />
19. Jahrhundert h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> nur bescheiden ausgeprägt.<br />
E<strong>in</strong>e gewisse Bedeutung hatten allerd<strong>in</strong>gs<br />
bereits im Mittelalter die Städte entlang<br />
des Hellwegs, doch war deren E<strong>in</strong>wohnerzahl<br />
weit ger<strong>in</strong>ger als etwa die von Köln. Zu nennen<br />
s<strong>in</strong>d Duisburg, Essen, Wattenscheid, Bochum,<br />
Dortmund und Unna. Entlang der Lippe<br />
gab es ebenfalls e<strong>in</strong>e Reihe von Siedlungen:<br />
Wesel, Dorsten, Haltern, Lünen, Werne<br />
und Hamm. Zwischen Hellweg und Lippe gab<br />
es – abgesehen von Kamen und Reckl<strong>in</strong>ghausen<br />
– jahrhundertelang ke<strong>in</strong>e nennenswerten<br />
Städte.<br />
Die Säkularisation brachte e<strong>in</strong>e nachhaltige<br />
Veränderung der politischen Landkarte der<br />
Region. Nach dem Intermezzo des „Königreichs<br />
Westphalen“ mit Sitz <strong>in</strong> Kassel kam<br />
das gesamte Gebiet an Preußen. Die Orte<br />
wurden der Rhe<strong>in</strong>prov<strong>in</strong>z bzw. der Prov<strong>in</strong>z<br />
<strong>Westfalen</strong> zugeordnet. Um die Mitte des 19.
E<strong>in</strong>leitung<br />
Oben: Von der mittelalterlichen Burg <strong>in</strong> Dortmund-Hörde<br />
blieb nicht viel, zu oft wurde das<br />
Gebäude umgebaut. Auf der Brachfläche im<br />
H<strong>in</strong>tergrund stand das Stahlwerk „Phoenix“<br />
– bald soll hier e<strong>in</strong> See entstehen.<br />
Unten: Bereits realisiert ist die Umnutzung<br />
der alten „VIII. Mechanischen Werkstatt“ der<br />
Essener Gussstahlfabrik. Im „Colosseum<br />
Theater“ werden Musicals gezeigt.<br />
17<br />
Jahrhunderts setzte mit der Eröffnung mehrerer<br />
Eisenbahnl<strong>in</strong>ien und der beg<strong>in</strong>nenden<br />
Industrialisierung e<strong>in</strong>e dramatische Entwicklung<br />
e<strong>in</strong>: Aus e<strong>in</strong>er zum großen Teil landwirtschaftlich<br />
geprägten Region wurde gleichsam<br />
über Nacht e<strong>in</strong> Industrierevier, wie es ke<strong>in</strong><br />
zweites <strong>in</strong> Europa gab oder gibt.<br />
Kohle und Stahl bestimmten die wirtschaftliche<br />
Entwicklung <strong>in</strong> nahezu allen Städten des
18<br />
Reviers, die wie Pilze aus dem Boden schossen<br />
und explosionsartige Bevölkerungszuwächse<br />
verzeichneten – und das bis <strong>in</strong> die<br />
1960er-Jahre h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>. Schon bald nach dem<br />
Ende des Zweiten Weltkriegs wurden auf den<br />
Zechen des <strong>Ruhrgebiet</strong>s wieder volle Schichten<br />
gefahren, das „Wirtschaftswunder“ sorgte<br />
für Vollbeschäftigung. Die Gefahren e<strong>in</strong>er<br />
solchen monostrukturierten Wirtschaft zogen<br />
aber bald schon am Horizont heran. 1957<br />
begann die große Kohlekrise, das folgende<br />
„Zechensterben“ zwang Zehntausende von<br />
Bergleuten zur Neuorientierung – was <strong>in</strong> den<br />
1960er-Jahren aber noch ke<strong>in</strong>e Schwierigkeit<br />
war. Auch die Stahl<strong>in</strong>dustrie erlebte e<strong>in</strong>en<br />
tiefgreifenden Wandel, die Produktion wurde<br />
<strong>in</strong> immer weniger, immer größeren Werken<br />
konzentriert. Nach und nach wurden immer<br />
mehr Hochöfen ausgeblasen – <strong>in</strong> Gelsenkirchen,<br />
Oberhausen, Dortmund, Rhe<strong>in</strong>hausen<br />
und Hatt<strong>in</strong>gen wurde die Roheisenproduktion<br />
ganz aufgegeben. Für die betroffenen Städte<br />
waren die Berichte über Produktionsverlagerungen<br />
Schreckensmeldungen. Schwarze<br />
Fahnen wehten, das Revier stand unter<br />
Schock.<br />
Diese Zeiten des Umbruchs s<strong>in</strong>d mittlerweile<br />
auch schon Geschichte: Auf etlichen Brachflächen<br />
haben sich neue, zukunftsorientierte<br />
Unternehmen angesiedelt, die Bildungse<strong>in</strong>-<br />
E<strong>in</strong>leitung<br />
Sitzung des Stadtrates <strong>in</strong> Dortmund<br />
richtungen der Region können sich bundesweit<br />
sehen lassen, die Freizeit- und Kulture<strong>in</strong>richtungen<br />
des <strong>Ruhrgebiet</strong>s f<strong>in</strong>den auch über<br />
die Grenzen des Reviers h<strong>in</strong>aus Beachtung.<br />
Der Strukturwandel hat manches Opfer verlangt.<br />
Aber der „echte“ <strong>Ruhrgebiet</strong>smensch<br />
lässt sich so leicht nicht „umhauen“ …<br />
Wahlen<br />
Im <strong>Ruhrgebiet</strong> war die SPD jahrzehntelang<br />
die führende politische Kraft. Doch die Kommunalwahlen<br />
von 1999 brachten e<strong>in</strong>en Umschwung:<br />
Vielerorts wurden Bürgermeister<br />
der CDU oder Parteilose gewählt. Bei der<br />
Wahl des Jahres 2004 ist das Pendel zum<strong>in</strong>dest<br />
teilweise wieder zugunsten der SPD<br />
zurückgeschlagen. Am 26. September fand<br />
der erste Wahlgang statt, <strong>in</strong> den meisten<br />
Städten und Kreisen war am 10. Oktober e<strong>in</strong>e<br />
Stichwahl um das Amt des Bürgermeisters<br />
bzw. Landrates nötig. Die SPD stellt demnach<br />
bis 2009 nicht nur die Mehrheit <strong>in</strong> den meisten<br />
Räten, sondern auch den Großteil der<br />
(Ober-)Bürgermeister und Landräte. Allerd<strong>in</strong>gs<br />
wurden <strong>in</strong> zwei Großstädten die CDU-Bürgermeister<br />
durch Wiederwahl im Amt bestätigt.
E<strong>in</strong>leitung<br />
Ergebnisse der Kommunalwahl am 26. September 2004 (Prozent)<br />
Stadt/Geme<strong>in</strong>de Wahlbeteiligung SPD CDU FDP Grüne REP PDS Sonst.<br />
Bergkamen 51,3 51,7 32,0 3,7 - - - 12,6<br />
Bochum 53,7 40,9 32,3 4,3 12,0 - 3,4 7,1<br />
Bönen 61,7 56,1 28,3 - 9,5 - - 6,2<br />
Bottrop 56,4 41,2 37,1 3,3 5,0 0,1 - 13,3<br />
Castrop-Rauxel 52,7 43,1 35,6 3,4 6,7 - 3,3 7,8<br />
Datteln 56,8 44,1 34,2 5,7 - - - 16,0<br />
Dorsten 52,9 34,0 51,1 7,0 7,8 - - -<br />
Dortmund 50,3 41,3 32,7 3,8 11,5 - 2,8 7,8<br />
Duisburg 48,0 38,0 36,0 4,4 9,9 0,8 5,2 5,7<br />
Essen 49,5 34,2 39,4 4,0 10,7 2,3 3,1 6,3<br />
Fröndenberg 60,8 36,4 40,2 7,0 9,0 - - 7,3<br />
Gelsenkirchen 48,5 41,9 35,4 3,3 6,8 4,0 3,2 5,3<br />
Gladbeck 53,1 40,6 37,1 3,6 5,9 - - 12,8<br />
Hamm 53,8 34,5 47,3 3,0 7,5 1,8 - 5,8<br />
Hatt<strong>in</strong>gen 58,7 41,7 38,3 5,7 - - - 14,3<br />
Herdecke 61,8 45,1 33,3 7,5 14,2 - - -<br />
Herne 50,0 44,6 31,2 3,3 8,4 4,7 3,4 4,4<br />
Herten 58,2 45,7 33,9 2,7 6,7 - - 11,0<br />
Holzwickede 62,1 40,9 24,5 7,5 6,6 - - 20,5<br />
Kamen 53,1 49,0 30,1 4,4 8,1 - - 8,3<br />
Lünen 51,5 43,2 37,2 5,1 9,3 - - 5,1<br />
Marl 52,8 37,7 31,8 5,7 6,5 - 3,4 14,9<br />
Mülheim a. d. Ruhr 52,2 37,7 33,3 6,2 9,0 - - 13,7<br />
Oberhausen 49,6 50,4 32,0 4,1 7,6 - 6,0 -<br />
Oer-Erkenschwick 58,4 40,4 28,6 3,9 - - - 27,1<br />
Reckl<strong>in</strong>ghausen 53,4 34,5 44,0 4,3 7,8 - - 9,4<br />
Schwerte 59,8 35,1 42,0 4,1 10,9 - - 7,9<br />
Sprockhövel 59,7 37,3 36,4 11,5 14,8 - - -<br />
Unna 57,0 40,8 36,8 8,8 - - - 13,6<br />
Waltrop 59,0 39,0 36,8 7,7 - - - 16,5<br />
Wetter 56,2 41,2 29,0 8,4 11,0 - - 10,3<br />
Witten 52,5 38,0 29,3 5,6 11,2 - 2,1 13,7<br />
NRW 54,4 31,7 43,4 6,8 10,3 0,6 1,4 5,8<br />
Quelle: Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik NRW<br />
Thomas Hunsteger-Petermann gewann <strong>in</strong><br />
Hamm die Wahl schon im ersten Wahlgang,<br />
und <strong>in</strong> Essen gelang es Dr. Wolfgang Re<strong>in</strong>iger<br />
ebenfalls, se<strong>in</strong>en Posten als Oberbürgermeister<br />
gegenüber Re<strong>in</strong>hard Pass zu verteidigen.<br />
E<strong>in</strong>e große Überraschung gab es <strong>in</strong> Duisburg:<br />
Hier gab es bei der Oberbürgermeisterwahl<br />
erstmals seit 54 Jahren e<strong>in</strong>en Wechsel von<br />
SPD zu CDU: Mit großem Vorsprung vor Bär-<br />
19<br />
bel Ziel<strong>in</strong>g wurde Adolf Sauerland zum neuen<br />
Oberbürgermeister gewählt. Oliver Wittke,<br />
mittlerweile NRW-Verkehrsm<strong>in</strong>ister, konnte <strong>in</strong><br />
Gelsenkirchen im ersten Wahlgang etwas<br />
höhere Stimmenanteile verbuchen als se<strong>in</strong><br />
Herausforderer. In der Stichwahl musste er<br />
sich jedoch dem SPD-Kandidaten Frank Baranowski<br />
geschlagen geben. E<strong>in</strong> Ergebnis von<br />
über 60 Prozent der Stimmen erreichten <strong>in</strong>
20 E<strong>in</strong>leitung<br />
der Stichwahl die Oberbürgermeister/-<strong>in</strong>nen<br />
von Bochum, Dr. Ottilie Scholz (60,8 Prozent),<br />
der Dortmunder Amts<strong>in</strong>haber Dr. Gerhard<br />
Langemeyer (62,5 Prozent), der neue Duisburger<br />
Oberbürgermeister Adolf Sauerland<br />
(61,2 Prozent), der neue Herner Oberbürgermeister<br />
Horst Schiereck (63,2 Prozent) sowie<br />
Michael Makiolla, der neu antrat und mit<br />
62,9 Prozent der Stimmen Landrat im Kreis<br />
Unna wurde.<br />
In den kreisangehörigen Städten und Geme<strong>in</strong>den<br />
setzten sich 2004 gleich mehrere<br />
E<strong>in</strong>zelbewerber bzw. Kandidaten durch, die<br />
von freien Wählergruppen aufgestellt worden<br />
waren, e<strong>in</strong>ige davon schon im ersten Wahlgang.<br />
In den <strong>in</strong>sgesamt 42 kreisangehörigen<br />
Geme<strong>in</strong>den g<strong>in</strong>gen 20 Bürgermeisterposten<br />
an Kandidaten der SPD, 14 Bürgermeister<br />
bzw. Bürgermeister<strong>in</strong>nen stellte die CDU,<br />
immerh<strong>in</strong> acht g<strong>in</strong>gen an E<strong>in</strong>zelkandidaten<br />
bzw. Mitglieder von freien Wählergeme<strong>in</strong>schaften.<br />
Die Wahlbeteiligung lag im ganzen <strong>Ruhrgebiet</strong><br />
bei der Stichwahl am 10. Oktober deutlich<br />
unter dem Ergebnis vom 26. September.<br />
Nur <strong>in</strong> Bottrop g<strong>in</strong>gen mit 50,3 Prozent im<br />
zweiten Walgang mehr als die Hälfte der<br />
Wahlberechtigten zur Urne. Mit 42,0 Prozent<br />
erzielte Gelsenkirchen die zweithöchste Beteiligungsquote<br />
an der Stichwahl, während<br />
sie <strong>in</strong> Herne (35,5 Prozent) und im Kreis<br />
Reckl<strong>in</strong>ghausen (34,6 Prozent) besonders<br />
niedrig lag.<br />
Die Zusammensetzung der Stadträte und<br />
Kreistage folgte dem beschriebenen Trend –<br />
1999 hatte sich die politische Landkarte im<br />
<strong>Ruhrgebiet</strong> weitgehend schwarz e<strong>in</strong>gefärbt,<br />
2004 hatte die CDU dagegen Stimmenverluste<br />
von bis zu zehn Prozent zu verkraften.<br />
Ihr bestes Ergebnis erreichte die Union 2004<br />
<strong>in</strong> Hamm mit 47,4 Prozent. Es folgten Essen<br />
mit 39,4 Prozent und der Kreis Reckl<strong>in</strong>ghausen<br />
mit 39,1 Prozent; weiterh<strong>in</strong> ist die CDU <strong>in</strong><br />
Hamm, Essen und im Kreis Reckl<strong>in</strong>ghausen<br />
die stärkste politische Kraft. Dagegen g<strong>in</strong>gen<br />
die 1999 errungenen Mehrheiten <strong>in</strong> Dortmund,<br />
Gelsenkirchen, Bottrop und dem Kreis<br />
Unna wieder verloren. Die ger<strong>in</strong>gsten Stimmenanteile<br />
errang die CDU mit 31,2 Prozent<br />
<strong>in</strong> Herne.<br />
Die SPD musste 2004 <strong>in</strong> Duisburg (m<strong>in</strong>us 7,3<br />
Prozent) und Mülheim (m<strong>in</strong>us 4,6 Prozent)<br />
die höchsten Stimmverluste h<strong>in</strong>nehmen; e<strong>in</strong>e<br />
absolute Mehrheit erreichte die Partei nur<br />
noch <strong>in</strong> Oberhausen. Ihr zweitbestes Ergebnis<br />
erzielte die SPD mit 44,6 Prozent <strong>in</strong> Herne,<br />
gefolgt von Gelsenkirchen (42,0 Prozent);<br />
den ger<strong>in</strong>gsten Zuspruch gab es <strong>in</strong> Essen<br />
Das neue Rathaus <strong>in</strong> Gladbeck
E<strong>in</strong>leitung<br />
Naherholungsgebiet vor der Tür der Großstadt:<br />
Baldeneysee im Süden von Essen<br />
(34,2 Prozent) und <strong>in</strong> Hamm (34,5 Prozent).<br />
Die Grünen und die FDP gewannen bis auf<br />
Mülheim <strong>in</strong> allen kreisfreien Städten und<br />
Kreisen an Stimmen. E<strong>in</strong> zweistelliges Ergebnis<br />
erzielten die Grünen <strong>in</strong> Bochum, Dortmund<br />
und Essen sowie <strong>in</strong> den Kreisen Unna<br />
und im Ennepe-Ruhr-Kreis. Die FDP erreichte<br />
ihre besten Wahlergebnisse <strong>in</strong> den Kreisen<br />
sowie <strong>in</strong> Mülheim. Die PDS erzielte <strong>in</strong> Oberhausen<br />
e<strong>in</strong>en Spitzenwert von 6,0 Prozent,<br />
kam aber <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er weiteren <strong>Ruhrgebiet</strong>sstadt<br />
<strong>in</strong> den Stadtrat. Die Republikaner näherten<br />
sich <strong>in</strong> Herne (4,7) und Gelsenkirchen (4,0)<br />
der Fünf-Prozent-Hürde.<br />
In den kreisangehörigen Geme<strong>in</strong>den des<br />
<strong>Ruhrgebiet</strong>es erzielten Stimmenmehrheiten<br />
von über 50 Prozent die CDU <strong>in</strong> Dorsten im<br />
Kreis Reckl<strong>in</strong>ghausen, die SPD <strong>in</strong> Bergkamen<br />
und <strong>in</strong> Bönen im Kreis Unna. Ihre schlechtesten<br />
Ergebnisse erzielte die CDU mit knapp<br />
unter 30 Prozent <strong>in</strong> Witten, Wetter, Oer-Erkenschwick,<br />
Bönen und <strong>in</strong> Holzwickede mit<br />
24,5 Prozent. Die höchsten Wahlergebnisse<br />
erreichten die Grünen mit mehr als 14 Prozent<br />
<strong>in</strong> Sprockhövel und Herdecke; die FDP<br />
erreichte <strong>in</strong> Sprockhövel 12,6 Prozent. Besonders<br />
gut abgeschnitten haben freie Wählergeme<strong>in</strong>schaften<br />
<strong>in</strong> kreisangehörigem Geme<strong>in</strong>den,<br />
so etwa der BBL Bürgerblock Holzwickede<br />
mit 15,2 Prozent.<br />
Tourismus<br />
21<br />
Bei den Veranstaltern und Organisatoren im<br />
Bereich des Tourismus hört man den Begriff<br />
„<strong>Ruhrgebiet</strong>“ eigentlich gar nicht gern. Das<br />
kl<strong>in</strong>gt trocken, verstaubt, das riecht förmlich<br />
nach Kohle und Stahl. Genau das Image also,<br />
das man der übrigen Welt lieber nicht vermitteln<br />
will. Auch „Revier“ und „Ruhrpott“ s<strong>in</strong>d<br />
für die Touristiker e<strong>in</strong> wahres Grauen. „Rhe<strong>in</strong>isch-Westfälisches<br />
Industriegebiet“ scheidet<br />
alle<strong>in</strong> schon wegen se<strong>in</strong>er Länge aus. Wenn<br />
man die D<strong>in</strong>ge genau betrachtet, haben die<br />
Touristiker gar nicht e<strong>in</strong>mal Unrecht: Die meisten<br />
Zechenstandorte lagen nicht an der<br />
Ruhr, sondern an der Emscher, also müsste<br />
man eigentlich „Emschergebiet“ sagen –<br />
aber auch das käme unter dem Blickw<strong>in</strong>kel<br />
des modernen Market<strong>in</strong>gs beim umworbenen<br />
Gast sicher nicht gut an …<br />
So ist man <strong>in</strong>zwischen dazu übergegangen,<br />
die „Metropole Ruhr“ <strong>in</strong> den Vordergrund<br />
des touristischen Bemühens zu rücken. Darum<br />
kümmert sich die 1998 gegründete<br />
„<strong>Ruhrgebiet</strong> Tourismus GmbH & Co. KG“<br />
(RTG), deren Ziel die „Bündelung von Produktentwicklung,<br />
Market<strong>in</strong>g und Vertrieb und<br />
der Entwicklung e<strong>in</strong>es eigenständigen touristischen<br />
Regionalprofils für die Metropole<br />
Ruhr“ ist.<br />
Bei der Beurteilung der Bemühungen und<br />
Schwierigkeiten, mehr Gäste <strong>in</strong> die Region zu<br />
locken, muss man immer <strong>in</strong> Rechnung stellen,
22 E<strong>in</strong>leitung<br />
Tourismus 2006/2007<br />
Stadt/Geme<strong>in</strong>de Beherber- Gäste- Gäste davon aus Übernach- davon aus<br />
gungsbetr. betten 2006 dem Ausland tungen dem Ausland<br />
Juni 2007 Juni 2007 (Ankünfte) 2006<br />
Bergkamen 5 114 3.668 329 6.313 705<br />
Bochum 38 3.353 284.509 43.793 509.818 88.864<br />
Bönen 1 11 - - - -<br />
Bottrop 13 634 28.381 5.758 46.130 8.950<br />
Castrop-Rauxel 7 408 27.164 2.753 48.105 5.439<br />
Datteln 6 296 21.116 650 51.152 1.957<br />
Dorsten 20 624 24.017 2.652 62.578 12.736<br />
Dortmund 65 5.469 489.198 102.164 773.274 173.019<br />
Duisburg 46 2.662 174.326 31.853 343.292 73.847<br />
Essen 84 6.472 461.892 85.470 989.061 185.384<br />
Fröndenberg 3 110 6.603 592 10.919 1.277<br />
Gelsenkirchen 22 1.823 122.475 22.390 278.286 47.700<br />
Gladbeck 5 473 51.184 14.624 86.191 26.821<br />
Hamm 25 992 78.990 17.958 125.243 26.864<br />
Hatt<strong>in</strong>gen 15 591 33.773 2.766 63.787 5.566<br />
Herdecke 6 413 21.574 1.909 53.069 4.232<br />
Herne 9 454 23.288 987 45.020 2.527<br />
Herten 7 267 16.540 1.469 29.594 3.006<br />
Holzwickede 3 211 - - - -<br />
Kamen 8 334 18.950 2.120 33.163 5.258<br />
Lünen 10 624 29.546 3.573 60.081 9.378<br />
Marl 12 459 27.565 4.245 48.447 9.734<br />
Mülheim a. d. Ruhr 28 1.369 85.208 11.918 156.926 29.579<br />
Oberhausen 19 1.556 138.826 24.931 230.951 44.100<br />
Oer-Erkenschwick 5 400 23.637 1.087 47.636 3.666<br />
Reckl<strong>in</strong>ghausen 13 726 37.921 6.225 70.519 12.725<br />
Schwerte 11 419 19.798 505 38.054 1.420<br />
Sprockhövel 6 415 16.806 784 43.575 1.970<br />
Unna 10 428 25.224 3.864 50.298 11.410<br />
Waltrop 4 92 5.989 536 10.539 1.201<br />
Wetter 5 205 13.845 1.161 21.730 2.155<br />
Witten 10 362 22.453 3.358 45.440 9.336<br />
Quelle: Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik NRW<br />
dass der Gedanke an sich noch recht jung ist.<br />
Hätte man vor 30 Jahren angeregt, Touristen<br />
<strong>in</strong>s <strong>Ruhrgebiet</strong> zu locken, man wäre milde<br />
belächelt worden. Was hätte man denen<br />
denn auch zeigen sollen? Kohle und Stahl<br />
galten nicht gerade als vorzeigbar, die Industriemuseen<br />
waren gerade erst gegründet und<br />
noch im Entstehen begriffen. Sie begannen<br />
erst damit, neues Leben <strong>in</strong> alte Gemäuer zu<br />
br<strong>in</strong>gen, Reiserouten auszuarbeiten und<br />
Wege zu beschildern. Der Aufbau e<strong>in</strong>er touristischen<br />
Infrastruktur erfolgte parallel zum<br />
Abbau der schwer<strong>in</strong>dustriellen Basis des<br />
Reviers.<br />
Dem Außenbild des <strong>Ruhrgebiet</strong>es hat der<br />
<strong>in</strong>dustrielle Wandel der letzten Jahrzehnte<br />
<strong>in</strong>des nichts anhaben können. Immer noch<br />
bestimmten rauchende Schlote, Fußball,
E<strong>in</strong>leitung<br />
Besuchermagnet im <strong>Ruhrgebiet</strong>: Die zum<br />
Weltkulturerbe zählende Zeche „Zollvere<strong>in</strong>“<br />
<strong>in</strong> Essen. Die im Bauhaus-Stil entworfene<br />
23<br />
Schachtanlage g<strong>in</strong>g im Jahr 1932 als „Musterzeche“<br />
<strong>in</strong> Betrieb und galt damals als<br />
„schönste Zeche der Welt“.
24 E<strong>in</strong>leitung<br />
Schrebergärten und Schimanski das Klischee<br />
des <strong>Ruhrgebiet</strong>s, das sich hartnäckig hält –<br />
und doch lange schon überholt ist. Kaum<br />
e<strong>in</strong>e Region <strong>in</strong> Mitteleuropa hat sich <strong>in</strong> den<br />
letzten Jahrzehnten so gewandelt wie das<br />
Revier. Statt Kohle und Stahl bestimmen heute<br />
Kultur und Technologie das Bild.<br />
Das Wechselspiel von Innen- und Außenansicht<br />
des Reviers illustrieren auch die wechselnden<br />
Werbeslogans des Reviers. 1985 kam<br />
die Parole „Das <strong>Ruhrgebiet</strong>. E<strong>in</strong> starkes Stück<br />
Deutschland“ auf, die über viele Jahre gepflegt<br />
wurde und den E<strong>in</strong>druck e<strong>in</strong>er ernsten,<br />
dynamischen Region vermitteln sollte. Touristisch<br />
war dieser Slogan aber eher ungeeignet,<br />
will doch niemand die neuen Gewerbegebiete<br />
e<strong>in</strong>er Stadt besichtigen. 1995 wurde<br />
die Kampagne e<strong>in</strong>gestellt, und nach e<strong>in</strong>igen<br />
glücklosen Versuchen folgte 1998 der neue<br />
Slogan: „Der Pott kocht“. Alte<strong>in</strong>gesessene<br />
<strong>Ruhrgebiet</strong>ler waren entsetzt, doch gerade<br />
jungen Menschen gefiel dieser witzige, leicht<br />
selbstironische Spruch. Denn er zeigte<br />
Selbstbewusstse<strong>in</strong> – und das kam an. Und<br />
gerade weil es „im Pott kocht“, gerade weil<br />
es hier „rund“ geht, lohnt es sich – so die<br />
Botschaft – auch hierher zu kommen. Ausruhen<br />
können Sie sich wenn Sie wollen im<br />
Sauerland – hier aber ist etwas los!<br />
Die touristischen Angebote der Region zeigen<br />
<strong>in</strong>zwischen dieses neue Selbstbewusstse<strong>in</strong>.<br />
Die Zeche Zollvere<strong>in</strong> zählt seit 2001 zum<br />
Weltkulturerbe. Die „Route der Industriekultur“erschließt<br />
die Highlights des <strong>in</strong>dustriellen<br />
Erbes – und ke<strong>in</strong>eswegs nur Zechen! Die<br />
Bauausstellung Emscher Park hat Fabriken<br />
auf höchst ungewöhnliche Art mit Leben<br />
erfüllt – man denke an den Landschaftspark<br />
<strong>in</strong> Duisburg – und mit Landmarken deutliche<br />
Zeichen gesetzt. Die <strong>Ruhrgebiet</strong> Tourismus<br />
GmbH (Gutenbergstraße 47, 45128 Essen,<br />
0201/17670, www.ruhrgebiettouristik.de)<br />
organisiert die „Extraschicht – die Nacht der<br />
Industriekultur“, an der jeweils mehr als hunderttausend<br />
Menschen teilnehmen. Zu erwähnen<br />
s<strong>in</strong>d auch die Initiative „Sportboot<br />
Revier<strong>Ruhrgebiet</strong>“ und der „RuhrtalRadweg“<br />
von W<strong>in</strong>terberg bis Duisburg-Ruhrort, der sich<br />
<strong>in</strong> kürzester Zeit zu e<strong>in</strong>em wahren Klassiker<br />
entwickelt. Im Ruhrtal fahren regelmäßig die<br />
Dampfzüge der „Ruhrtalbahn“. Die RTG hat<br />
schließlich auch entscheidend dazu beigetragen,<br />
die „Love-Parade“ für die nächsten<br />
Jahre von Berl<strong>in</strong> <strong>in</strong>s <strong>Ruhrgebiet</strong> zu holen –<br />
und damit ganze Scharen junger Menschen.<br />
Renommiertes Sprechtheater: Das Grillo-<br />
Theater <strong>in</strong> der Essener Innenstadt
E<strong>in</strong>leitung<br />
Anerkannter Klangraum: Das 2002 eröffnete<br />
Konzerthaus <strong>in</strong> Dortmund<br />
Kultur<br />
Dass die Kultur im Revier ihren festen Platz<br />
und e<strong>in</strong> hohes Niveau hat, ist längst unstrittig.<br />
Abfällige Bemerkungen über die Region,<br />
die angeblich außer alten Fördertürmen und<br />
Hochöfen nichts zu bieten habe, beweisen<br />
zwar immer noch e<strong>in</strong>e bemerkenswert zähe<br />
Hartnäckigkeit, zeugen heute aber nur noch<br />
von blankem Unwissen.<br />
Die Entwicklungen der letzten Jahre sprechen<br />
e<strong>in</strong>e ganz andere Sprache. So hat die Stadt<br />
Dortmund seit 2002 e<strong>in</strong> neues Konzerthaus<br />
mitten <strong>in</strong> der Innenstadt, <strong>in</strong> Herne eröffnete,<br />
trotz Zeiten knapper Mittel, im März 2003<br />
der Landschaftsverband <strong>Westfalen</strong>-Lippe den<br />
Neubau des Museums für Archäologie, im<br />
Juni 2004 folgte <strong>in</strong> Essen die Philharmonie im<br />
vollständig umgebauten Saalbau. Neue Projekte<br />
stehen bereits an: Das Dortmunder „U“<br />
soll zu e<strong>in</strong>em Museumskomplex umgebaut<br />
werden, 2008 wird das „Ruhrmuseum“ <strong>in</strong><br />
der ehemaligen Kohlenwäsche auf der Zeche<br />
Zollvere<strong>in</strong> eröffnet, bis 2010 folgt der Neubau<br />
des Museums Folkwang <strong>in</strong> Essen.<br />
Überblickt man die Kulturlandschaft des Re-<br />
25<br />
viers, so kann sich diese <strong>in</strong> der Summe mit<br />
den großen Metropolen der Welt messen. So<br />
gibt es Konzerthäuser <strong>in</strong> Dortmund und Essen,<br />
Theater bzw. Festspielhäuser <strong>in</strong> Reckl<strong>in</strong>ghausen,<br />
Bochum, Duisburg, Opernhäuser <strong>in</strong><br />
Duisburg, Essen, Gelsenkirchen und Dortmund.<br />
Die Auflistung ließe sich fortsetzen mit<br />
etlichen Orchestern, Ballettkompagnien und<br />
Kulturzentren.<br />
Doch diese „Hochkultur“ des Reviers f<strong>in</strong>det<br />
nicht nur <strong>in</strong> den Theatern und Konzerthäusern<br />
statt. Längst haben sich die Künstler mit dem<br />
<strong>in</strong>dustriellen Erbe der Region arrangiert und<br />
nutzen auch ungewöhnliche Orte für ihre<br />
Aufführungen. Besondere Erwähnung verdient<br />
die „RuhrTriennale“, die den Besuchern<br />
jeweils drei Jahre lang unter e<strong>in</strong>er Intendanz<br />
zeitgenössische Interpretationen von Oper,<br />
Schauspiel, Musik und bildender Kunst an<br />
außergewöhnlichen Orten bietet – vor allem<br />
<strong>in</strong> Fabrikhallen unterschiedlichster Art. Das<br />
ehrgeizige Ziel des Gründungs<strong>in</strong>tendanten<br />
Gerard Mortier, mit hochrangigen Werken<br />
und Interpreten e<strong>in</strong> <strong>in</strong>teressiertes Publikum<br />
von nah und fern <strong>in</strong> <strong>in</strong>dustriegeschichtlich<br />
bedeutsame Spielstätten zu locken, ist voll<br />
aufgegangen.<br />
Breit ist das Kulturangebot – und voller Impulse:<br />
Die Ruhrfestspiele <strong>in</strong> Reckl<strong>in</strong>ghausen
26 E<strong>in</strong>leitung<br />
genießen e<strong>in</strong>en Ruf, der weit über die Region<br />
h<strong>in</strong>ausreicht, ebenso die Theaterfestivals <strong>in</strong><br />
Mülheim und Duisburg. Das Adolf-Grimme-<br />
Institut lädt nach Marl e<strong>in</strong>, die von der Kulturstiftung<br />
Ruhr getragenen Ausstellungen <strong>in</strong><br />
der Villa Hügel <strong>in</strong> Essen. Die Aufzählung ließe<br />
sich fast beliebig fortsetzen.<br />
Natürlich gibt es auch Industriekultur im<br />
<strong>Ruhrgebiet</strong>. Herzstück und wichtige Impulsgeber<strong>in</strong><br />
für das gewachsene Selbstbewusstse<strong>in</strong><br />
vom „neuen <strong>Ruhrgebiet</strong>“ ist die „Route<br />
der Industriekultur“, e<strong>in</strong>e ausgeschilderte<br />
240 Kilometer lange Rundtour durchs Revier.<br />
Eröffnet wurde sie 1999 zum Abschluss der<br />
Internationalen Bauausstellung Emscher Park.<br />
Gegliedert <strong>in</strong> mehrere spezielle „Themenrouten“<br />
führt sie zu <strong>in</strong>sgesamt 19 Ankerpunkten<br />
mit bee<strong>in</strong>druckender, zum Teil sogar monumentaler<br />
Architektur. Herausragende Beispiele<br />
s<strong>in</strong>d neben „Zollvere<strong>in</strong>“ <strong>in</strong> Essen der Landschaftspark<br />
Duisburg-Nord und die Kokerei<br />
Hansa <strong>in</strong> Dortmund.<br />
E<strong>in</strong> wahrer Leuchtturm der Industriekultur ist<br />
die Kulturlandschaft Zollvere<strong>in</strong> <strong>in</strong> Essen, von<br />
der UNESCO 2001 zum Weltkulturerbe erklärt.<br />
Der Schacht 12, architektonisch vom<br />
Bauhausstil getragen, g<strong>in</strong>g 1932 <strong>in</strong> Betrieb –<br />
als Teil der zu dieser Zeit weltweit modernsten<br />
und größten Schachtanlage. 1986 wurde<br />
die letzte Schicht gefahren, und zum Glück<br />
blieben die Denkmalschützer im R<strong>in</strong>gen um<br />
den alten Pütt Sieger. Zum Denkmalkomplex<br />
gehört auch die nahe gelegene Kokerei, die<br />
<strong>in</strong> den Jahren 1957 bis 1961 entstand. Bei<br />
e<strong>in</strong>em Besuch steht man zunächst fassungslos<br />
und staunend vor dem Gewirr aus Hallen,<br />
Masch<strong>in</strong>enhäusern, Gleisanlagen und Kühltürmen.<br />
„Zollvere<strong>in</strong>“ soll e<strong>in</strong> imponierender<br />
Empfangsort und Drehscheibe für die Besucher<br />
der Kulturhauptstadt 2010 werden.<br />
Kulturhauptstadt Europas 2010<br />
Groß war die Freude im November 2006, als<br />
das Ergebnis bekannt gegeben wurde: Essen<br />
und das <strong>Ruhrgebiet</strong> wurden neben Pécs (Ungarn)<br />
und Istanbul (Türkei) zur Kulturhauptstadt<br />
Europas 2010 bestimmt. Essen hatte<br />
sich, stellvertretend für das <strong>Ruhrgebiet</strong>, um<br />
den Titel beworben und war <strong>in</strong> die engere<br />
Wahl gekommen, der Europäische Rat entschied<br />
sich dann für Essen und gegen Görlitz.<br />
(Der zweite Titel für 2010 stand, wie schon<br />
lange zuvor festgelegt, Ungarn zu; Istanbul<br />
hat als Stadt außerhalb der EU e<strong>in</strong>en Sonderstatus.)<br />
Der Titel bedeutet für die Region e<strong>in</strong>e<br />
große Auszeichnung, zeigt er doch, dass der<br />
Wandel vom <strong>in</strong>dustriellen zum neuen <strong>Ruhrgebiet</strong><br />
nicht nur weit fortgeschritten ist, sondern<br />
auch <strong>in</strong>ternational als erfolgreich wahrgenommen<br />
und honoriert wird.<br />
Die eigens für das Großereignis gegründete<br />
„Ruhr 2010 GmbH“ hat im Frühjahr 2007<br />
ihre Arbeit aufgenommen. Zum Vorsitzenden<br />
der Geschäftsführung wurde Dr. h. c. Fritz<br />
Pleitgen bestellt, e<strong>in</strong>e vierköpfige künstlerische<br />
Leitung hat die Verantwortung für das<br />
Programm übernommen. Zahlreiche Projekte<br />
aus der Region sollen unterschiedliche Aspekte<br />
der Kultur aufgreifen. Nicht zuletzt sollen<br />
sie den kreativen Umgang mit schrumpfenden<br />
Städten zeigen, Möglichkeiten zur Verbesserung<br />
des urbanen Angebotes für ältere<br />
Menschen entwerfen und den kulturellen<br />
Wandel durch Migration verdeutlichen.<br />
Für das Jahr 2010 s<strong>in</strong>d schon jetzt zahlreiche<br />
Veranstaltungen <strong>in</strong> Vorbereitung. Sie sollen<br />
nicht nur auf das <strong>Ruhrgebiet</strong> aufmerksam<br />
machen, sondern vielmehr dazu animieren,<br />
diese lebendige Städtelandschaft selbst <strong>in</strong><br />
Augensche<strong>in</strong> zu nehmen. Zu den Angeboten<br />
werden hochkarätige Ausstellungen <strong>in</strong> mehreren<br />
Museen ebenso gehören wie außergewöhnliche<br />
Kunstprojekte. So soll etwa brachliegendes<br />
„Ruhrland“ entlang der Emscher<br />
und des Rhe<strong>in</strong>-Herne-Kanals Raum für die<br />
Verwirklichung <strong>in</strong>dividueller Lebensträume<br />
bieten. E<strong>in</strong> Performanceprojekt wird die B 1<br />
bzw. A 40, die zentrale Ost-West-Verkehrsverb<strong>in</strong>dung<br />
mitten durch das Revier, zu e<strong>in</strong>em<br />
sehr ungewöhnlichen Kunstraum machen.<br />
Und auch das Projekt „Odyssee Europa“ wird<br />
große Beachtung erfahren: Auf die Spur des<br />
ältesten europäischen Reisenden begeben<br />
sich die Theater Dortmund, Bochum, Mülheim,<br />
Moers und Essen. Jedes der beteiligten<br />
Häuser erzählt und <strong>in</strong>szeniert e<strong>in</strong>en Teil der<br />
Odyssee, der von e<strong>in</strong>em zeitgenössischen<br />
Autor neu bearbeitet wird. (Informationen<br />
zum Stand der Vorbereitungen: www.<br />
kulturhauptstadt-europas.de)
E<strong>in</strong>leitung<br />
Selbstbewusst präsentierte sich das <strong>Ruhrgebiet</strong><br />
bei der Bewerbung als europäische Kulturhauptstadt<br />
2010. In Essen wurde die<br />
27<br />
Hauptverwaltung der RAG – gut sichtbar für<br />
Bahnreisende und die Nutzer der A 40 – mit<br />
e<strong>in</strong>em entsprechenden H<strong>in</strong>weis versehen.
28 E<strong>in</strong>leitung<br />
Fußball im Revier<br />
Als <strong>Ruhrgebiet</strong>smensch hat man für vieles<br />
Verständnis, ist tolerant und weltoffen. Das<br />
muss auch so se<strong>in</strong>, denn schließlich wurde<br />
die Region erst durch Zuwanderer zu dem,<br />
was sie heute ist. Erst kamen die Zuwanderer<br />
aus den armen ländlichen Gegenden des<br />
Rhe<strong>in</strong>landes und <strong>Westfalen</strong>s, dann aus den<br />
östlichen Prov<strong>in</strong>zen des Deutschen Reiches,<br />
später Flüchtl<strong>in</strong>ge und Vertriebene, schließlich<br />
Gastarbeiter, die auch auf dem Pütt „malochten“<br />
oder im Stahlwerk ihren Mann standen.<br />
Gegen sie alle hat der „normale“ <strong>Ruhrgebiet</strong>smensch<br />
nichts – wie auch, kommen<br />
se<strong>in</strong>e Vorfahren doch selbst aus Schlesien,<br />
Pommern oder Anatolien. Doch es gibt e<strong>in</strong>en<br />
Bereich des täglichen Lebens, da muss man<br />
wahrhaftig vorsichtig se<strong>in</strong> – und das ist der<br />
Fußball. In ke<strong>in</strong>em anderen Bereich des<br />
menschlichen Zusammenlebens kann man<br />
sich – sei es als Besucher, als Kumpel „auf<br />
Schicht“, als Tischnachbar, im Büro oder als<br />
Pendler <strong>in</strong> der S-Bahn – so sehr <strong>in</strong> die Nesseln<br />
setzen wie bei der Bewertung der<br />
zurückligenden Sportereignisse. Unpassende<br />
Bemerkungen über die mehr oder weniger<br />
eleganten Bewegungen von 22 Mann – über<br />
den Damen-Fußball wird trotz se<strong>in</strong>er Erfolge<br />
meist das Mäntelchen des Schweigens ausgebreitet<br />
– auf dem grünen Rasen oder dem<br />
staubigen Aschenplatz können mir nichts dir<br />
nichts zu heftigen Turbulenzen führen.<br />
Zunächst: Die Schreibweise von „Fußball“ ist<br />
e<strong>in</strong>deutig e<strong>in</strong> Fall für die FIFA! Die müsste<br />
sich, da s<strong>in</strong>d sich nahezu alle Fans im Revier<br />
e<strong>in</strong>ig, dr<strong>in</strong>gend mit dem Fall befassen. Laut<br />
neuer deutscher Rechtschreibung werden<br />
Wörter mit kurzem Vokal mit „ss“, und nicht<br />
mit ß“ geschrieben! Aber sagt denn wirklich<br />
irgend jemand „Fuußball“? Oder nicht eher,<br />
kurz und knapp: „Fussball“, so ähnlich wie<br />
„Spass“ – auch das ist übrigens e<strong>in</strong> Fall für<br />
die FIFA, denn „Fussball“ und „Spass“ gehören<br />
doch immer zusammen!<br />
Na ja, nicht immer. Fast an jedem Wochenende<br />
steht irgendwo im <strong>Ruhrgebiet</strong> e<strong>in</strong> Derby<br />
an – Rot-Weiß gegen Blau-Weiß, Schwarz-<br />
Gelb gegen Grün-Weiß. Da kennt man ke<strong>in</strong>e<br />
Freunde mehr. Die Sache zwischen Borussia<br />
Volles Haus: Der BVB spielt <strong>in</strong> Dortmund.
E<strong>in</strong>leitung<br />
„Nie wieder Kreisliga“ –<br />
Aufstiegsfeier e<strong>in</strong>er DJK-<br />
Mannschaft im Essener<br />
Stadtteil Bergeborbeck<br />
Dortmund und Schalke 04<br />
ist schon tragisch: Da vermasseln<br />
die Schwarz-Gelben<br />
doch tatsächlich den<br />
„Knappen“ die Meisterschaft<br />
und die BVB-Fans<br />
s<strong>in</strong>d aus dem Häuschen.<br />
Hätte Dortmund verloren,<br />
wäre die Meisterschale<br />
endlich mal wieder <strong>in</strong>s<br />
Revier gekommen, vielleicht<br />
sogar über den Flughafen<br />
Dortmund. Aber das<br />
wäre für schwarz-gelbe<br />
Anhänger das Schlimmste,<br />
sozusagen die Höchststrafe gewesen…<br />
Außer den beiden „Großen“ gab und gibt es<br />
selbstverständlich etliche hundert Mannschaften,<br />
die jeden Samstag oder Sonntag<br />
mit wechselndem Erfolg dem Leder nachjagen.<br />
In der Bundesliga kicken noch der VfL<br />
Bochum und die „Zebras“, die sich heute<br />
MSV Duisburg nennen. Rot-Weiß Oberhausen<br />
und Rot-Weiß Essen kämpfen <strong>in</strong> der Regionalliga<br />
um Punkte, <strong>in</strong> der Oberliga pöhlen<br />
(dieses Wort gibt es nur im <strong>Ruhrgebiet</strong>) Klubs<br />
aus Hamm, Sprockhövel, Gladbeck, Oer-<br />
Erkenschwick, Essen (Schwarz-Weiß) und<br />
Herne. Apropos Herne: Hier dom<strong>in</strong>ierte zu<br />
Oberliga-West-Zeiten Westfalia das Fußball-<br />
Früh übt sich:<br />
Spiel zweier<br />
Jugendmannschaften<br />
des DJK auf<br />
staubigem<br />
Sandplatz<br />
29<br />
geschehen – bis der „Bergkammsklub“ SV<br />
Sod<strong>in</strong>gen zum „Durchmarsch“ ansetzte. Hans<br />
Tilkowski, Westfalias Torhüter, er<strong>in</strong>nerte sich<br />
<strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Biografie an die packenden Spiele<br />
zwischen den beiden Teams: „Unter den<br />
Vere<strong>in</strong>en im Revier herrscht e<strong>in</strong>e prickelnde<br />
Rivalität. Wenn die so genannten Derbys auf<br />
der Tagesordnung stehen, brennt die Luft.<br />
Schalke gegen Dortmund, Rot-Weiß Essen<br />
gegen Schwarz-Weiß Essen oder Westfalia<br />
Herne gegen den SV Sod<strong>in</strong>gen aus dem<br />
gleichnamigen Herner Stadtteil – da knistert<br />
es auf den Rängen. Und auf dem Spielfeld.<br />
Ich kann mich noch gut an me<strong>in</strong> erstes Herner<br />
Ortsderby er<strong>in</strong>nern. Es ist die Saison
30 E<strong>in</strong>leitung<br />
1955/56, wir müssen zur Sportanlage unserer<br />
Konkurrenz am Mont Cenis. Die Sod<strong>in</strong>ger<br />
waren <strong>in</strong> der Spielzeit zuvor, als Westfalia<br />
gegen den Abstieg kämpfte, als Zweite der<br />
Oberliga West zusammen mit dem späteren<br />
Deutschen Meister Rot-Weiß Essen <strong>in</strong> die<br />
Endrunde e<strong>in</strong>gezogen (…). Auf dem Papier<br />
s<strong>in</strong>d die Hausherren klare Favoriten. Ortsderby<br />
bedeutet: volles Haus, aufgeheizte<br />
Atmosphäre. Wir liefern uns e<strong>in</strong>en Kampf auf<br />
Biegen und Brechen. Es geht 4:4 aus.“<br />
Irgendwo im <strong>Ruhrgebiet</strong> gibt es an jedem<br />
Wochenende e<strong>in</strong> solches Ortsderby, das die<br />
Gemüter <strong>in</strong> Wallung br<strong>in</strong>gt. Am Montag wird<br />
das Geschehen anhand der Zeitungsberichte<br />
nochmals analysiert und <strong>in</strong>terpretiert. Ahnung<br />
vom Fußball hat (fast) jeder im <strong>Ruhrgebiet</strong>.<br />
Und fast jeder kennt auch die alten Geschichten,<br />
die immer noch erzählt werden – am<br />
Würstchenstand oder an der Bierbude während<br />
der Halbzeit. Oder nach dem Spiel im<br />
Vere<strong>in</strong>slokal. Erzählt wurde immer wieder<br />
vom legendären Tor Helmut Rahns zum 3:2<br />
im WM-F<strong>in</strong>ale von Bern. Unauslöschlich ist<br />
auch das Tor von „Emma“ Emmerich aus<br />
dem Jahr 1966 von der Torausl<strong>in</strong>ie im WM-<br />
Spiel gegen Spanien – und das „Wembley-<br />
Tor“, das natürlich ke<strong>in</strong>s war …<br />
Selbstverständlich spielen Fußballer nicht nur<br />
auf dem grünen Rasen Fußball, sondern werden<br />
befragt, und äußern sich zu diesem oder<br />
jenem – meist, naturgemäß, zu ihrem Arbeits-<br />
In der „Velt<strong>in</strong>s-<br />
Arena“ auf Schalke<br />
gibt es sogar e<strong>in</strong>e<br />
Stadion-Kapelle,<br />
echte Fans können<br />
sich hier trauen<br />
lassen. Allerd<strong>in</strong>gs ist<br />
die Kapelle farblich<br />
bewusst neutral<br />
gehalten, blau und<br />
weiß sucht man hier<br />
vergebens – vor<br />
Gott s<strong>in</strong>d eben alle<br />
Fans gleich.<br />
gerät. Ernst Kuzorra, der alte Haudegen des<br />
FC Schalke 04, verriet sogar se<strong>in</strong>e geheime<br />
Taktik: „Wenn ich nicht wusste, woh<strong>in</strong> mit<br />
dem Ball, hab ich ihn e<strong>in</strong>fach re<strong>in</strong>gewichst!“<br />
Politisch korrekte Zeitgenossen haben e<strong>in</strong>mal<br />
gefordert, Stadien auch nach Frauen zu benennen.<br />
Der frühere M<strong>in</strong>isterpräsident und<br />
spätere Bundespräsident Johannes Rau hatte<br />
die schlagfertige Antwort parat: „Und wie<br />
soll das dann heißen? Ernst-Kuzorra-se<strong>in</strong>e-<br />
Frau-ihr-Stadion?“<br />
Um den Fußball im Revier ranken sich manche<br />
Anekdoten, manche s<strong>in</strong>d wahr, manche<br />
vielleicht halb-wahr. Fußball ist im <strong>Ruhrgebiet</strong><br />
e<strong>in</strong>e ernste Glaubenssache, fast schon e<strong>in</strong>e<br />
Religion, auf jeden Fall e<strong>in</strong>e Philosophie. Wer<br />
könnte das besser ausdrücken als der frühere<br />
BVB-Spieler Adi Preißler: „Entscheidend is<br />
auf´m Platz“. In diesem Satz steckt alles, was<br />
den Fußball ausmacht.<br />
Die Aussichten zur Bekehrung Andersgläubiger<br />
gehen übrigens gegen Null. Wer als<br />
Schalke-Fan aufgewachsen ist, meidet e<strong>in</strong>en<br />
schwarz-gelben Schal wie der Teufel das<br />
Weihwasser. Umgekehrt ist das nicht anders:<br />
E<strong>in</strong> „echter“ Schwarz-Gelber würde nie im<br />
Leben e<strong>in</strong>e blau-weiße Mütze aufsetzen –<br />
nicht mal an Karneval …<br />
Fußball verb<strong>in</strong>det. Auch wenn es nicht immer<br />
e<strong>in</strong>fach ist. Fußball ist kommunikativ, auch<br />
wenn es manchmal Verständigungsschwierigkeiten<br />
gibt. „Herr Lippens, ich verwarne
E<strong>in</strong>leitung<br />
E<strong>in</strong> Traum wird wahr: Meisterfeier<br />
des BVB im Jahr 2002<br />
Ihnen“, soll e<strong>in</strong> Schiedsrichter zu<br />
„Ente“ Lippens, dem niederländischen<br />
Dribbelkönig <strong>in</strong> Diensten<br />
von Borussia Dortmund gesagt<br />
haben. „Herr Schiedsrichter, ich<br />
danke Sie“, kam als prompte<br />
Antwort, ehe der „Schwarzkittel“<br />
Lippens vorzeitig zum Duschen<br />
schickte…<br />
Worüber lässt sich besser philosophieren<br />
als über das runde<br />
Leder? Von der untersten Klasse<br />
bis <strong>in</strong>s Oberhaus gibt es ja Tabellen,<br />
die an der Theke streng neutral<br />
ausgewertet und beurteilt<br />
werden können. Jedes Jahr geht<br />
es um Auf- oder Abstieg, um<br />
Punkte, Tore und Meisterschaft. Jedes Jahr<br />
auf’s Neue Herzrasen, Jubel, Trauer, Heiterkeit,<br />
Enttäuschung, e<strong>in</strong> Meer der Gefühle.<br />
Manchmal setzt der Fußball auch die Prioritäten<br />
<strong>in</strong>nerhalb ganzer Familien, wie die nachfolgende,<br />
wahre Begebenheit e<strong>in</strong>drucksvoll<br />
dokumentiert. Vor e<strong>in</strong>igen Jahren nahm Onkel<br />
Antonius an e<strong>in</strong>er sonntäglichen Konfirma-<br />
Schmetterl<strong>in</strong>ge im Bauch: BVB-Fan<br />
31<br />
tionsfeier <strong>in</strong> Kamen-Heeren teil. Gefeiert<br />
wurde direkt neben dem Stadion. Als es zum<br />
Kaffeetr<strong>in</strong>ken g<strong>in</strong>g, sagte Antonius zum Vater<br />
des Konfirmanden: „Lass die Tanten und<br />
Omas Kaffee tr<strong>in</strong>ken, komm, wir gehen Pöhlen<br />
gucken“. Zur Ehrenrettung muss gesagt<br />
werden, dass das sonntägliche Spiel um des<br />
Familienfriedens willen ausnahmsweise ohne<br />
Onkel Antonius stattfand – aber verpassen<br />
durfte man es deshalb noch lange nicht …