Online-Ausgabe - Salzburg.at
Online-Ausgabe - Salzburg.at
Online-Ausgabe - Salzburg.at
- TAGS
- bildung.salzburg.at
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
für uns: wir wiederholen bloß seinen<br />
mentalen Proceß.” Das ist irreführend.<br />
Ein Text ist nicht sein Abdruck<br />
auf einer Pl<strong>at</strong>te in unserem Hirn.<br />
Schopenhauer vernachlässigt völlig<br />
die zentrale Rolle des Vorhersehen,<br />
Vorsagens, der „prediction”.<br />
Ich erzähle Ihnen eine frei erfundene<br />
Geschichte: „Der Mann stieg<br />
aus. Er sah zum Himmel, streckte die<br />
Hand aus, sah noch einmal hinauf,<br />
ging dann zum Kofferraum und öffnete<br />
ihn.” Wie geht es weiter? Mit<br />
hoher Wahrscheinlichkeit holt er einen<br />
Regenschirm heraus. Was ich<br />
Ihnen erzählt habe, ist – keine Angst<br />
vor Terminologie! – ein sogenanntes<br />
intentenionales S<strong>at</strong>zkorrel<strong>at</strong>, eine<br />
Kette von Sätzen, die in eine bestimmte<br />
Richtung weisen. Diese<br />
Verkettung erzeugt einen sogenannten<br />
semantischen Richtungsstrahl,<br />
nach dem wir, folgen wir dem<br />
Rezeptionstheoretiker Wolfgang<br />
Iser, eine sogenannte Protention erzeugen.<br />
Wenn nun der Mann, der<br />
aus dem Auto steigt, keinen Regenschirm<br />
heraus nimmt, sondern einen<br />
Strauß Blumen, müssen wir zurück<br />
gehen und einen anderen semantischen<br />
Richtungsstrahl entwerfen,<br />
zum Beispiel: Aha! Geburtstagsbesuch!<br />
Dieses Zurückgehen nennt<br />
Iser konsequenterweise Retention,<br />
auf die dann eine neue Protention<br />
folgt.<br />
Autor und Leser also teilen sich das<br />
Spiel der Phantasie, das überhaupt<br />
nicht in Gang käme, beanspruchte<br />
der Text mehr, als nur eine Spielregel<br />
zu sein. Denn das Lesen wird erst<br />
dann zum Vergnügen, wenn unsere<br />
Produktivität ins Spiel kommt, und<br />
das heißt, wo Texte eine Chance<br />
bieten, „unsere Vermögen zu betätigen.”<br />
Das klingt, wie sie sehen,<br />
ganz anders, als das bloße Aufnehmen<br />
des Denkens eines anderen,<br />
von dem Schopenhauer sprach.<br />
Eine besondere Rolle spielt in dem<br />
so verstandenen Lesen auch das<br />
Nichtgesagte in einem Text. Hier<br />
kommen die sogenannten Leerbzw<br />
Unbestimmtheitsstellen in einem<br />
Text zum Tragen. Wenn ein<br />
12<br />
Text bestimmte Züge an einem<br />
Menschen oder einer Sache besonders<br />
beleuchtet, ger<strong>at</strong>en andere Züge<br />
in den Sch<strong>at</strong>ten dieser besonderen<br />
Beleuchtung. Zit<strong>at</strong> 255: „Daraus<br />
entspringt ein dynamischer Vorgang,<br />
denn das Gesagte scheint erst<br />
dann wirklich zu sprechen, wenn es<br />
auf das verweist, was es verschweigt.”<br />
(... und.) Die Beziehung<br />
des Lesers zum Text wird durch eine<br />
Dynamik von Zeigen und Verschweigen<br />
in Gang gesetzt. „Das<br />
Verschwiegene bildet den Antrieb<br />
der Konstitutionsakte, zugleich wird<br />
dieser Produktivitätsanreiz durch das<br />
Gesagte kontrolliert (... )” In dieser<br />
Dynamik des Lesens, die sehr, sehr<br />
schnell abläuft, macht eine Leserin<br />
einen „Text” zu einem „Werk”.<br />
Deshalb unterscheidet man - siehe<br />
meine Überschrift – zwischen Text<br />
und Werk.<br />
Zit<strong>at</strong> 254: „Das Werk ist das Konstitutiertsein<br />
des Textes im Bewusstsein<br />
des Lesers.” Deshalb h<strong>at</strong> Jean-<br />
Paul Sartre das Lesen ein „gelenktes<br />
Schaffen” genannt.<br />
Ich möchte nun einen solchen sehr,<br />
sehr schnellen Vorgang vorführen,<br />
aber, gedehnt verlangsamt, gleichsam<br />
in Super-Zeitlupe, am Beispiel<br />
einer weniger bekannten Erzählung<br />
– das gehört zur Vermittlungsabsicht<br />
– von Adalbert Stifter. Sie heißt „Der<br />
beschriebene Tännling”. In den frühen<br />
Erzählungen Stifters bzw. in den<br />
Frühfassungen von später umgearbeiteten<br />
Erzählungen finden sich<br />
durchaus Erzähler, die kommentieren,<br />
allwissende Einblicke in das Innen<br />
ihrer Personen tun, philosophische<br />
Betrachtungen anstellen. Aber<br />
sehr bald beginnt jene Entwicklung<br />
Stifters, die zu immer stärkerer „Außensicht”<br />
führt und die die angelsächsische<br />
Liter<strong>at</strong>urkritik „external<br />
point of view” nennt. Es ist ein Erzählmittel,<br />
das nicht psychologisiert,<br />
nicht analysiert, nicht das Innere der<br />
Personen offenlegt. Das könnte man<br />
zum Beispiel an den Vergleichen zwischen<br />
den vier Fassungen der Erzählung<br />
„Aus der Mappe meines Urgroßv<strong>at</strong>ers”<br />
sehr schön zeigen.<br />
Im Roman „Der Nachsommer” reflektiert<br />
der Freiherr von Risach über<br />
diese Darstellungsweise, als er über<br />
die für die Entwicklung der Hauptfigur<br />
Heinrich Drendorf so wichtige<br />
antike Marmorst<strong>at</strong>ue sagt: Mit Hilfe<br />
eines Gewandes, in diesem Falle des<br />
Faltenwurfs, den jedermann sehen<br />
kann, könne man den Körper darstellen,<br />
ohne ihn direkt zu zeigen: In<br />
Analogie dazu sei der Körper „das<br />
Gewand der Seele”, und die Seele<br />
werde durch ihn darstellbar (und n<strong>at</strong>ürlich<br />
auch durch die ihn umgebende<br />
Gegenstandswelt). In einem von<br />
der Stifter-Forschung gründlich vergessenen<br />
Aufs<strong>at</strong>z aus dem Jahre<br />
1962 sagte der Liter<strong>at</strong>urwissenschafter<br />
Paul Böckmann über Stifters<br />
Erzählen: „Im Sagen des Objektiven<br />
bleibt das Bewusstsein als das<br />
Nichtgesagte ständig gegenwärtig.”<br />
Das ist, lange, bevor Rezeptionsästhetik<br />
so genannt wurde, ein rezeptionsästhetischer<br />
Ans<strong>at</strong>z bei der Lektüre<br />
Stifters.<br />
Stifter veröffentlichte die Erzählung<br />
„Der beschriebene Tänling” im Jahre<br />
1845, in Buchform 1850. Ihr<br />
Schaupl<strong>at</strong>z ist Oberplan, der Geburtsort<br />
Stifters. Wichtige Schauplätze<br />
sind, neben dem Titel-Baum,<br />
den die Leute in der Erzählung so<br />
nennen, obwohl er kein Tännling<br />
mehr ist, sondern eine ausgewachsene<br />
Tanne, auch noch das sogenannte<br />
Kirchlein der schmerzhaften<br />
Muttergottes zum guten Wasser<br />
und eine mit zwei Holzhäuschen<br />
überbaute Quelle, eben dieses „gute<br />
Wasser”. Die Leute der Gegend<br />
glauben daran, dass Gebete und Bitten<br />
an die Muttergottes Wünsche<br />
erfüllen können und dass das Wasser<br />
der Quelle Gebrechen, zum Beispiel<br />
Blindheit, heilen könne. So will<br />
es nämlich die Legende wissen: Ein<br />
Mann wurde von seiner Blindheit<br />
geheilt, als er mit diesem Wasser<br />
seine Augen benetzte. Die Erzählung<br />
selbst ist die Geschichte eines<br />
Holzfällers namens Hanns, der während<br />
der Woche in einem Holzschlag<br />
arbeitet und an den Samstagen<br />
ins Dorf kommt, um sein ihm<br />
versprochenes Mädchen, die schöne