Stichwort: Die Herrschaft der Zahlen (1) - Institut für Sozialforschung ...
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wendeten <strong>Zahlen</strong>, Zählkategorien und Zählweisen haben. So wie die unmittelbare<br />
sinnliche Erfahrung und die hierauf beruhenden Erzählungen, beide in je verschiedener<br />
Weise an den Augenblick gebunden, sich seit <strong>der</strong> frühen Mo<strong>der</strong>ne in den von Bonß<br />
diagnostizierten Tatsachenblick einer naturwissenschaftlich geprägten Erfahrungswirklichkeit<br />
als dominanter Form <strong>der</strong> Sozialerfahrung verwandelten, so scheint sich<br />
heute ein beinahe schon omnipräsenter <strong>Zahlen</strong>blick zu etablieren. <strong>Die</strong> soziale Konstruktion<br />
von Tatsachen ist seit <strong>der</strong> frühen Mo<strong>der</strong>ne immer schon an die Manipulation<br />
von und durch <strong>Zahlen</strong> gebunden, Tatsachen- und <strong>Zahlen</strong>blick sind genealogisch betrachtet<br />
also Zwillinge. Gleichwohl können mit Hilfe <strong>der</strong> Konstruktion, Manipulation<br />
und Bewertung sozialer Tatbestände mittels <strong>Zahlen</strong> qualitativ an<strong>der</strong>e Wirkungen erzielt<br />
werden als mit Hilfe <strong>der</strong> vor allem auf die Manipulation <strong>der</strong> äußeren Natur gerichteten<br />
Ingenieurskunst und <strong>der</strong> Naturwissenschaften. Wenn das <strong>Zahlen</strong>wissen vor<br />
dem Hintergrund <strong>der</strong> Abstraktifizierung von Arbeit, Leistung und Erfahrung, <strong>der</strong> allgegenwärtigen<br />
quantifizierenden Bewertung und Evaluation sowie <strong>der</strong> Informatisierung<br />
einer weltumspannenden Infrastruktur im gegenwärtigen Kapitalismus traditionelle<br />
Formen <strong>der</strong> naturwissenschaftlich beziehungsweise experimentell begründeten<br />
Naturempirie als hegemoniale Wissensform verdrängt, stellen sich drängen<strong>der</strong> denn je<br />
Fragen nach <strong>der</strong> gesellschaftlichen Produktion und Konsumtion von <strong>Zahlen</strong>, nach ihrer<br />
politischen und ökonomischen Relevanz sowie ihrer kulturellen Signifikanz. Man<br />
kann diese Fragen im Anschluss an Sombart und Weber unter dem <strong>Stichwort</strong> <strong>der</strong><br />
»Kulturbedeutung des Kalkulativen« zusammenfassen. Der Vorteil dieser Terminologie<br />
liegt insbeson<strong>der</strong>e in <strong>der</strong> Vermeidung <strong>der</strong> Gefahr, das Kalkulative exklusiv den<br />
Funktionssystemen mo<strong>der</strong>ner Gesellschaften zuzuordnen und sie dadurch in einen<br />
Gegensatz zu normativ integrierten Lebenswelten zu setzen. Das <strong>Zahlen</strong>wissen ist<br />
nicht nur ein <strong>Herrschaft</strong>swissen gesellschaftlicher Funktionseliten. Es ist auch ein Alltagswissen,<br />
wie Werron (2007) kürzlich am Beispiel des Sports zeigen konnte. Das<br />
Spiel »Macht <strong>der</strong> <strong>Zahlen</strong>« gegen »Ohnmacht <strong>der</strong> Menschen« ist abgepfiffen. Zumindest<br />
lohnt es, den Blick auch auf an<strong>der</strong>e Spielfel<strong>der</strong> zu richten, auf denen wesentlich<br />
unübersichtlichere Verhältnisse herrschen.<br />
Angesichts <strong>der</strong> heutigen Selbstverständlichkeit, mit <strong>der</strong> kalkulative Konstrukte<br />
zur Grundlage von Wirklichkeitsdeutungen gemacht werden, wird leicht vergessen,<br />
»that the urge to quantify and to measure has a long and complex history« (Power 2004:<br />
766). Dabei ist es plausibel anzunehmen, dass sich das Verhältnis von lebensweltlichem<br />
und organisiertem <strong>Zahlen</strong>gebrauch historisch zunächst wi<strong>der</strong>sprüchlich entwickelte.<br />
Quantifizierend-objektivierende Formen des Messens, <strong>der</strong> Berechnung und<br />
des Vergleichs stießen zunächst auf starke, traditional und religiös begründete Vorbehalte.<br />
<strong>Die</strong> kulturelle Legitimität des <strong>Zahlen</strong>blicks musste in langwierigen Einübungsprozessen<br />
zunächst noch etabliert werden, was das folgende Zitat, das sich auf das<br />
Staatsgebiet des heutigen Polen in <strong>der</strong> zweiten Hälfte des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts bezieht, anschaulich<br />
zu illustrieren vermag: »In the Vladimir gubernaya, at the beginning of the<br />
second half of the nineteenth century, peasants were inimical to the practice of calculation<br />
what they had harvested: ›What the Lord has provided, even without counting,<br />
will find its way into our bans; it is not for us to assess the verdicts of Providence. There<br />
is no way in which you can summon God to a court of law. He who calculates the yield<br />
of the harvest from our fields, sins. We gain nothing by counting.‹« (Kula 1986: 13)<br />
58 WestEnd Neue Zeitschrift <strong>für</strong> <strong>Sozialforschung</strong> · Heft 2, 2007