Stichwort: Die Herrschaft der Zahlen (1) - Institut für Sozialforschung ...
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In dieser Lesart stellen Quantifizierung und Kalkulation einen grundlegenden way<br />
of knowing the world, eine mit <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, <strong>der</strong> Aufklärung und <strong>der</strong> instrumentellen<br />
Naturbeherrschung aufs engste verbundene Kulturtechnik dar. In den letzten Jahrzehnten<br />
ist allerdings die grundlegende Ambivalenz <strong>der</strong> kognitiven Lernerfolge fortgeschrittener<br />
Gesellschaften zunehmend ins Bewusstsein getreten, wodurch sich auch<br />
die <strong>der</strong> <strong>Zahlen</strong>herrschaft bislang zugrunde liegenden Prinzipien <strong>der</strong> Objektivität, <strong>der</strong><br />
Neutralität und <strong>der</strong> Eindeutigkeit transformiert haben. In Hinblick auf den gesellschaftlichen<br />
<strong>Zahlen</strong>gebrauch können wir dies als eine Dynamik beobachten, in <strong>der</strong> die<br />
abnehmende Geltung kalkulativer Praktiken eben durch ihre gesellschaftliche Entgrenzung<br />
hervorgebracht wird. <strong>Die</strong> historisch beispiellose Ausweitung kalkulativer<br />
Praktiken in gesellschaftliche Handlungsbereiche, die sich bislang durch eine funktional<br />
beziehungsweise normativ begründete Eigenlogik auszeichneten, ablesbar vor allem<br />
an <strong>der</strong> Restrukturierung des Bildungs- und des Gesundheitssystems, führt nicht<br />
nur zu einem Anschwellen <strong>der</strong> »Lawine von <strong>Zahlen</strong>« (Ian Hacking), son<strong>der</strong>n – aus <strong>der</strong><br />
Perspektive <strong>der</strong> normativen Grundlagen des klassisch-mo<strong>der</strong>nen <strong>Zahlen</strong>gebrauchs<br />
betrachtet – auch zu ihrer Entwertung. Immer mehr Akteure in immer mehr Bereichen<br />
<strong>der</strong> Gesellschaft verlangen nach <strong>Zahlen</strong>. Aber immer weniger dieser Akteure<br />
scheinen mit diesen noch das Verständnis eines objektiven, neutralen und distanzierten<br />
Tatsachenwissens zu verbinden. <strong>Die</strong>nten <strong>Zahlen</strong> als kalkulative Munition immer<br />
schon <strong>der</strong> partikularen Verfolgung von Erwerbs-, Macht- und Teilhabechancen, so<br />
werden sie im Zuge ihrer Verallgemeinerung zu einer kommunikativen Währung mit<br />
abnehmen<strong>der</strong> Halbwertszeit und einem durchlöcherten epistemologischen Status. Es<br />
ist paradoxerweise gerade <strong>der</strong> ubiquitäre Gebrauch von <strong>Zahlen</strong> und Kalkulationen mit<br />
einem starken Geltungsanspruch, <strong>der</strong> zu ihrer abnehmenden Geltung im Sinne einer<br />
objektiven Aussage über soziale Tatbestände führt. Empirisch scheint das momentan<br />
aber nicht zu einer quantitativen Abnahme des Gebrauchs von Kalkulationen zu führen,<br />
son<strong>der</strong>n im Gegenteil zu einem immer stärkeren Verlangen nach immer mehr<br />
<strong>Zahlen</strong>. Immer mehr gesellschaftliche Erwartungen werden in <strong>der</strong> Sprache <strong>der</strong> <strong>Zahlen</strong><br />
formuliert; Benchmarking, Evaluationen, Audits, Kennziffernsysteme und Leistungsbilanzen<br />
beruhen auf <strong>der</strong> Kategorisierung, Quantifizierung und vergleichenden Messung<br />
sozialer Objekte, welche im Zuge ihrer Messung als mess- und vergleichbare<br />
Wissensobjekte zum Teil erst hervorgebracht werden. Es gibt auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite<br />
jedoch nur mehr wenige kalkulativ formulierte und begründete Erwartungen, <strong>für</strong> <strong>der</strong>en<br />
Nichteintreffen Akteure – ausgestattet mit einer stetig wachsenden Kompetenz im<br />
Umgang mit <strong>Zahlen</strong> – nicht eine ebenfalls zahlenbasierte Rechtfertigung anzubieten<br />
hätten. In diesem Kreislauf einer ständig wachsenden Nachfrage nach zahlenbasiertem<br />
Wirklichkeitswissen und eines schier unerschöpflichen sowie institutionell immer weniger<br />
kontrollierbaren Angebots an <strong>Zahlen</strong> entstehen zum Teil rein legitimatorische<br />
beziehungsweise pathologische Form <strong>der</strong> <strong>Zahlen</strong>rhetorik. Michael Power (1997) hat<br />
anhand <strong>der</strong> um sich greifenden Praxis <strong>der</strong> Auditierung gezeigt, wie zahlenbasierte Bewertungs-<br />
und Evaluationstechniken in ihrer gegenwärtigen Form nicht zu einer Zunahme<br />
objektivierter Formen <strong>der</strong> Vergewisserung und einer komplementär sinkenden<br />
Abnahme von Personenvertrauen führen, son<strong>der</strong>n im Gegenteil zu einer Zunahme des<br />
Bedürfnisses nach personen- und institutionengebundenem Vertrauen. Obwohl die<br />
verbreitete Praxis <strong>der</strong> Auditierung mit den Ansprüchen <strong>der</strong> Objektivität und Neutra-<br />
60 WestEnd Neue Zeitschrift <strong>für</strong> <strong>Sozialforschung</strong> · Heft 2, 2007