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Stichwort: Die Herrschaft der Zahlen (1) - Institut für Sozialforschung ...

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<strong>Stichwort</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Herrschaft</strong> <strong>der</strong> <strong>Zahlen</strong> (1)<br />

Kalkulation ist ein allgegenwärtiger fact of life, <strong>der</strong> so tief in Alltagspraktiken, Organisationen<br />

und <strong>der</strong> institutionellen Infrastruktur unserer Gesellschaft verwurzelt ist,<br />

dass er sich <strong>der</strong> kritischen Reflexion bislang weitgehend hat entziehen können. Kalkulation<br />

scheint insofern ein fundamentaler und damit ein ebenso schwierig ergründbarer<br />

gesellschaftlicher Tatbestand wie die Sexualität (vgl. Foucault 1983) zu sein. Während<br />

sexuelle Praktiken seit dem Kinsey-Report durchaus Gegenstand alltäglicher und<br />

wissenschaftlicher Kalkulation sind (wer mit wem, wie oft, im Zeitalter des »erschöpften<br />

Selbst« [Ehrenberg 2004] und <strong>der</strong> turbokapitalistischen Beschleunigung zunehmend<br />

aber auch: wie oft nicht?), ist umgekehrt nicht wirklich offensichtlich, warum<br />

Kalkulieren sexy sein sollte. Dass Rechnen Spaß macht, ist eine These, die in <strong>der</strong> Unterprima<br />

wenige Anhänger finden wird. Und dass sich »etwas rechnet«, darüber freuen<br />

sich vor allem Buchhalter und <strong>der</strong> Autohändler an <strong>der</strong> Ecke, ein Personenkreis also,<br />

<strong>der</strong> sowieso mit Vorurteilen zu kämpfen hat (»dröge«; »Schlitzohr«). Während die Sexualität<br />

also mit subjektiven Vorlieben <strong>für</strong> eine Person und <strong>für</strong> bestimmte Praktiken<br />

verbunden ist, scheinen die Dinge im Falle kalkulativer Praktiken genau an<strong>der</strong>sherum<br />

zu liegen: Kalkulation wird in <strong>der</strong> Regel mit Objektivität, mit einer durch standardisierte<br />

Techniken ermöglichten Reproduzierbarkeit und mit <strong>der</strong> Vorstellung einer Distanz<br />

von messendem Subjekt und Messobjekt gleichgesetzt, welche Rückwirkungen<br />

des Gemessenen auf das Messsubjekt auszuschließen in <strong>der</strong> Lage sein soll. <strong>Die</strong> Zahl, so<br />

Horkheimer und Adorno (1969 [1947]: 13), sei <strong>der</strong> »Kanon <strong>der</strong> Aufklärung«. Für sie<br />

stellen Kalkulation, formale Logik und <strong>der</strong> Äquivalenztausch miteinan<strong>der</strong> verstrickte<br />

Aspekte <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne und eines aufklärerischen Denkens dar, welches zusammen mit<br />

<strong>der</strong> Zerstörung des Mythos die Zerstörung gesellschaftlicher Qualitäten betreibe:<br />

»Der Aufklärung wird zum Schein, was in <strong>Zahlen</strong>, zuletzt <strong>der</strong> Eins, nicht aufgeht<br />

[…].« (Ebd.)<br />

Ein Vierteljahrhun<strong>der</strong>t nach seinen Analysen zur historischen Durchsetzung des<br />

mo<strong>der</strong>nen »Tatsachenblicks« (Bonß 1982) verdeutlicht <strong>der</strong> aktuelle Beitrag von Wolfgang<br />

Bonß in diesem Heft, dass <strong>der</strong> lange Abschied von den klassisch mo<strong>der</strong>nen Vorstellungen<br />

einer objektiven, desinteressierten und gewissermaßen perspektivlosen Repräsentation<br />

<strong>der</strong> gesellschaftlichen Wirklichkeit durch organisierten <strong>Zahlen</strong>gebrauch<br />

mittlerweile selbst in <strong>der</strong> amtlichen Statistik vollzogen wird. Das Bild, das sich <strong>der</strong><br />

Staat von seinen Bürgern, seiner Umwelt und schließlich von sich selbst macht, werde,<br />

so Bonß, zunehmend uneindeutig, multiperspektivisch und reflexiv. Das Ende <strong>der</strong><br />

amtlichen Statistik verweist in diesem Zusammenhang auf die Möglichkeit des Endes<br />

<strong>der</strong> auf die Prinzipien <strong>der</strong> ersten Mo<strong>der</strong>ne gebauten Legitimitätsansprüche des gesellschaftlichen<br />

<strong>Zahlen</strong>gebrauchs überhaupt. Angesichts <strong>der</strong> Allgegenwart kalkulativer<br />

Praktiken und des »measurement of everything« (Michael Power) bedeutet dies vermutlich<br />

aber nicht das Ende <strong>der</strong> <strong>Herrschaft</strong> <strong>der</strong> <strong>Zahlen</strong>, son<strong>der</strong>n ist als eine Umstellung<br />

ihrer Legitimitätsbasis und ihrer Praxisformen zu untersuchen. Der Blick, den<br />

wir durch die <strong>Zahlen</strong> auf die Gesellschaft haben, wandelt sich demzufolge ebenso wie<br />

<strong>der</strong> Blick, den wir auf diesen Blick, das heißt auf die in diesem Zusammenhang ver-<br />

WestEnd Neue Zeitschrift <strong>für</strong> <strong>Sozialforschung</strong> · 4. Jg. · Heft 2, 2007: 57–63<br />

57


wendeten <strong>Zahlen</strong>, Zählkategorien und Zählweisen haben. So wie die unmittelbare<br />

sinnliche Erfahrung und die hierauf beruhenden Erzählungen, beide in je verschiedener<br />

Weise an den Augenblick gebunden, sich seit <strong>der</strong> frühen Mo<strong>der</strong>ne in den von Bonß<br />

diagnostizierten Tatsachenblick einer naturwissenschaftlich geprägten Erfahrungswirklichkeit<br />

als dominanter Form <strong>der</strong> Sozialerfahrung verwandelten, so scheint sich<br />

heute ein beinahe schon omnipräsenter <strong>Zahlen</strong>blick zu etablieren. <strong>Die</strong> soziale Konstruktion<br />

von Tatsachen ist seit <strong>der</strong> frühen Mo<strong>der</strong>ne immer schon an die Manipulation<br />

von und durch <strong>Zahlen</strong> gebunden, Tatsachen- und <strong>Zahlen</strong>blick sind genealogisch betrachtet<br />

also Zwillinge. Gleichwohl können mit Hilfe <strong>der</strong> Konstruktion, Manipulation<br />

und Bewertung sozialer Tatbestände mittels <strong>Zahlen</strong> qualitativ an<strong>der</strong>e Wirkungen erzielt<br />

werden als mit Hilfe <strong>der</strong> vor allem auf die Manipulation <strong>der</strong> äußeren Natur gerichteten<br />

Ingenieurskunst und <strong>der</strong> Naturwissenschaften. Wenn das <strong>Zahlen</strong>wissen vor<br />

dem Hintergrund <strong>der</strong> Abstraktifizierung von Arbeit, Leistung und Erfahrung, <strong>der</strong> allgegenwärtigen<br />

quantifizierenden Bewertung und Evaluation sowie <strong>der</strong> Informatisierung<br />

einer weltumspannenden Infrastruktur im gegenwärtigen Kapitalismus traditionelle<br />

Formen <strong>der</strong> naturwissenschaftlich beziehungsweise experimentell begründeten<br />

Naturempirie als hegemoniale Wissensform verdrängt, stellen sich drängen<strong>der</strong> denn je<br />

Fragen nach <strong>der</strong> gesellschaftlichen Produktion und Konsumtion von <strong>Zahlen</strong>, nach ihrer<br />

politischen und ökonomischen Relevanz sowie ihrer kulturellen Signifikanz. Man<br />

kann diese Fragen im Anschluss an Sombart und Weber unter dem <strong>Stichwort</strong> <strong>der</strong><br />

»Kulturbedeutung des Kalkulativen« zusammenfassen. Der Vorteil dieser Terminologie<br />

liegt insbeson<strong>der</strong>e in <strong>der</strong> Vermeidung <strong>der</strong> Gefahr, das Kalkulative exklusiv den<br />

Funktionssystemen mo<strong>der</strong>ner Gesellschaften zuzuordnen und sie dadurch in einen<br />

Gegensatz zu normativ integrierten Lebenswelten zu setzen. Das <strong>Zahlen</strong>wissen ist<br />

nicht nur ein <strong>Herrschaft</strong>swissen gesellschaftlicher Funktionseliten. Es ist auch ein Alltagswissen,<br />

wie Werron (2007) kürzlich am Beispiel des Sports zeigen konnte. Das<br />

Spiel »Macht <strong>der</strong> <strong>Zahlen</strong>« gegen »Ohnmacht <strong>der</strong> Menschen« ist abgepfiffen. Zumindest<br />

lohnt es, den Blick auch auf an<strong>der</strong>e Spielfel<strong>der</strong> zu richten, auf denen wesentlich<br />

unübersichtlichere Verhältnisse herrschen.<br />

Angesichts <strong>der</strong> heutigen Selbstverständlichkeit, mit <strong>der</strong> kalkulative Konstrukte<br />

zur Grundlage von Wirklichkeitsdeutungen gemacht werden, wird leicht vergessen,<br />

»that the urge to quantify and to measure has a long and complex history« (Power 2004:<br />

766). Dabei ist es plausibel anzunehmen, dass sich das Verhältnis von lebensweltlichem<br />

und organisiertem <strong>Zahlen</strong>gebrauch historisch zunächst wi<strong>der</strong>sprüchlich entwickelte.<br />

Quantifizierend-objektivierende Formen des Messens, <strong>der</strong> Berechnung und<br />

des Vergleichs stießen zunächst auf starke, traditional und religiös begründete Vorbehalte.<br />

<strong>Die</strong> kulturelle Legitimität des <strong>Zahlen</strong>blicks musste in langwierigen Einübungsprozessen<br />

zunächst noch etabliert werden, was das folgende Zitat, das sich auf das<br />

Staatsgebiet des heutigen Polen in <strong>der</strong> zweiten Hälfte des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts bezieht, anschaulich<br />

zu illustrieren vermag: »In the Vladimir gubernaya, at the beginning of the<br />

second half of the nineteenth century, peasants were inimical to the practice of calculation<br />

what they had harvested: ›What the Lord has provided, even without counting,<br />

will find its way into our bans; it is not for us to assess the verdicts of Providence. There<br />

is no way in which you can summon God to a court of law. He who calculates the yield<br />

of the harvest from our fields, sins. We gain nothing by counting.‹« (Kula 1986: 13)<br />

58 WestEnd Neue Zeitschrift <strong>für</strong> <strong>Sozialforschung</strong> · Heft 2, 2007


<strong>Die</strong> Praxis des Zählens und eines tauschaktorientierten zahlenbasierten Vergleichens<br />

wird hier in einen direkten Wi<strong>der</strong>spruch zu religiösen Moralvorstellungen gestellt.<br />

Kula (ebd.: 14) führt in seiner weit gespannten Analyse historisch distinkter<br />

Kalkulationsweisen ein weiteres Beispiel an: In <strong>der</strong> Region Warschau bevorzugte die<br />

lokale Bevölkerung beim Kauf von Medikamenten, dass diese nach Augenmaß – und<br />

nicht auf <strong>der</strong> Grundlage exakter Messung – in Flaschen abgefüllt wurden, »for the sick<br />

man will get well only if the medicine for him has been given with a free hand and<br />

honest heart – unmeasured«. Kalkulation wird in diesem Zusammenhang also nicht als<br />

Garant des Äquivalenztausches betrachtet, son<strong>der</strong>n im Gegenteil als etwas, das die<br />

notwendige moralische Qualität des Tauschaktes untergräbt.<br />

Nicht nur <strong>der</strong> Objektbereich kalkulativer Praktiken und ihre konkrete Praxis verän<strong>der</strong>n<br />

sich historisch, son<strong>der</strong>n auch ihr erkenntnispraktischer Status und damit ihre<br />

kulturelle und politische Legitimität. <strong>Die</strong> Durchsetzung kalkulativ-quantifizieren<strong>der</strong><br />

Verfahren <strong>der</strong> Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit wurde in weiten Kreisen<br />

zunächst ebenso abgelehnt wie die industrielle Zeit- und Arbeitsdisziplin. Cohen<br />

(1999 [1982]) zeigt jedoch, dass die Ausdehnung und Vertiefung kalkulativer Praktiken<br />

und eines quantifizierenden Umgangs mit <strong>der</strong> Welt nicht zwangsläufig Wi<strong>der</strong>stand<br />

hervorrufen muss. In einer Studie über die Verbreitung kalkulativer Praktiken<br />

und Dispositionen im England des späten 17. und im Amerika des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

belegt sie, dass auch das Gegenteil möglich war: eine verbreitete Neigung, ja Leidenschaft<br />

zu kalkulieren und die Welt kalkulierbar zu machen. Hier<strong>für</strong> gebe es zunächst<br />

ganz materiale Gründe: »Quantification as a method for or<strong>der</strong>ing reality was born in<br />

an era marked by disor<strong>der</strong> and sometimes outright chaos.« (Ebd.: 45) <strong>Die</strong> Vermessung<br />

<strong>der</strong> Welt erscheint als eine an kognitive Forschritte im Bereich <strong>der</strong> Mathematik, des<br />

Messens und <strong>der</strong> Statistik gebundene, aber hierauf nicht kausal zurückführbare Kulturtechnik,<br />

sich einer sich ausdehnenden und beschleunigenden Welt in neuer Weise<br />

zu vergewissern und diese beherrschbar zu machen. Quantifizierung bedeutete die<br />

neuartige Möglichkeit, die aufbrechende Heterogenität und Dynamik <strong>der</strong> neuzeitlichen<br />

Welt zu erfassen, nach zugrunde liegenden Tendenzen und Zusammenhängen zu<br />

forschen und diese zu ordnen, und zwar historisch in genau jenem Moment, in dem<br />

diese Dynamik nicht mehr primär religiös, son<strong>der</strong>n innerweltlich zu deuten versucht<br />

wurde. Das galt insbeson<strong>der</strong>e <strong>für</strong> die Auffassungen bezüglich Tod und Sterblichkeit.<br />

So brachten die ersten, lokalen und durch die extrem hohe Sterblichkeit unter den frühen<br />

Siedlern in Neuengland motivierten Censi zu Bewusstsein, dass Sterblichkeit keine<br />

universelle Konstante beziehungsweise nicht das Ergebnis eines göttlichen Ratschlusses,<br />

son<strong>der</strong>n regional verschieden ist, ja, sogar von dem Geschlecht und dem<br />

Verhalten <strong>der</strong> Einzelnen abhängt. »The gradual realization that man could, in theory,<br />

control mortality accelerated the decline of the notion of an omnipotent God and hastened<br />

the arrival of autonomous man, directing his own destiny.« (Ebd.: 84) <strong>Die</strong> zunehmende<br />

Quantifizierung stehe zwar durchaus mit den ökonomischen, politischen<br />

und religiösen Verän<strong>der</strong>ungen in <strong>der</strong> westlichen Kultur des 16. und 17. Jahrhun<strong>der</strong>ts in<br />

Verbindung, also mit <strong>der</strong> Zentralisierung <strong>der</strong> Staatsapparate, <strong>der</strong> Ausdehnung des<br />

Handels und des Marktes sowie <strong>der</strong> Regulierung <strong>der</strong>selben über Zölle und Steuern.<br />

Gleichwohl: »On a deeper level, quantification can be consi<strong>der</strong>ed as a peculiar mental<br />

activity, one that satisfies a need for precision and finitude […].« (Ebd.: 41)<br />

Uwe Vormbusch · <strong>Stichwort</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Herrschaft</strong> <strong>der</strong> <strong>Zahlen</strong> (1)<br />

59


In dieser Lesart stellen Quantifizierung und Kalkulation einen grundlegenden way<br />

of knowing the world, eine mit <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, <strong>der</strong> Aufklärung und <strong>der</strong> instrumentellen<br />

Naturbeherrschung aufs engste verbundene Kulturtechnik dar. In den letzten Jahrzehnten<br />

ist allerdings die grundlegende Ambivalenz <strong>der</strong> kognitiven Lernerfolge fortgeschrittener<br />

Gesellschaften zunehmend ins Bewusstsein getreten, wodurch sich auch<br />

die <strong>der</strong> <strong>Zahlen</strong>herrschaft bislang zugrunde liegenden Prinzipien <strong>der</strong> Objektivität, <strong>der</strong><br />

Neutralität und <strong>der</strong> Eindeutigkeit transformiert haben. In Hinblick auf den gesellschaftlichen<br />

<strong>Zahlen</strong>gebrauch können wir dies als eine Dynamik beobachten, in <strong>der</strong> die<br />

abnehmende Geltung kalkulativer Praktiken eben durch ihre gesellschaftliche Entgrenzung<br />

hervorgebracht wird. <strong>Die</strong> historisch beispiellose Ausweitung kalkulativer<br />

Praktiken in gesellschaftliche Handlungsbereiche, die sich bislang durch eine funktional<br />

beziehungsweise normativ begründete Eigenlogik auszeichneten, ablesbar vor allem<br />

an <strong>der</strong> Restrukturierung des Bildungs- und des Gesundheitssystems, führt nicht<br />

nur zu einem Anschwellen <strong>der</strong> »Lawine von <strong>Zahlen</strong>« (Ian Hacking), son<strong>der</strong>n – aus <strong>der</strong><br />

Perspektive <strong>der</strong> normativen Grundlagen des klassisch-mo<strong>der</strong>nen <strong>Zahlen</strong>gebrauchs<br />

betrachtet – auch zu ihrer Entwertung. Immer mehr Akteure in immer mehr Bereichen<br />

<strong>der</strong> Gesellschaft verlangen nach <strong>Zahlen</strong>. Aber immer weniger dieser Akteure<br />

scheinen mit diesen noch das Verständnis eines objektiven, neutralen und distanzierten<br />

Tatsachenwissens zu verbinden. <strong>Die</strong>nten <strong>Zahlen</strong> als kalkulative Munition immer<br />

schon <strong>der</strong> partikularen Verfolgung von Erwerbs-, Macht- und Teilhabechancen, so<br />

werden sie im Zuge ihrer Verallgemeinerung zu einer kommunikativen Währung mit<br />

abnehmen<strong>der</strong> Halbwertszeit und einem durchlöcherten epistemologischen Status. Es<br />

ist paradoxerweise gerade <strong>der</strong> ubiquitäre Gebrauch von <strong>Zahlen</strong> und Kalkulationen mit<br />

einem starken Geltungsanspruch, <strong>der</strong> zu ihrer abnehmenden Geltung im Sinne einer<br />

objektiven Aussage über soziale Tatbestände führt. Empirisch scheint das momentan<br />

aber nicht zu einer quantitativen Abnahme des Gebrauchs von Kalkulationen zu führen,<br />

son<strong>der</strong>n im Gegenteil zu einem immer stärkeren Verlangen nach immer mehr<br />

<strong>Zahlen</strong>. Immer mehr gesellschaftliche Erwartungen werden in <strong>der</strong> Sprache <strong>der</strong> <strong>Zahlen</strong><br />

formuliert; Benchmarking, Evaluationen, Audits, Kennziffernsysteme und Leistungsbilanzen<br />

beruhen auf <strong>der</strong> Kategorisierung, Quantifizierung und vergleichenden Messung<br />

sozialer Objekte, welche im Zuge ihrer Messung als mess- und vergleichbare<br />

Wissensobjekte zum Teil erst hervorgebracht werden. Es gibt auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite<br />

jedoch nur mehr wenige kalkulativ formulierte und begründete Erwartungen, <strong>für</strong> <strong>der</strong>en<br />

Nichteintreffen Akteure – ausgestattet mit einer stetig wachsenden Kompetenz im<br />

Umgang mit <strong>Zahlen</strong> – nicht eine ebenfalls zahlenbasierte Rechtfertigung anzubieten<br />

hätten. In diesem Kreislauf einer ständig wachsenden Nachfrage nach zahlenbasiertem<br />

Wirklichkeitswissen und eines schier unerschöpflichen sowie institutionell immer weniger<br />

kontrollierbaren Angebots an <strong>Zahlen</strong> entstehen zum Teil rein legitimatorische<br />

beziehungsweise pathologische Form <strong>der</strong> <strong>Zahlen</strong>rhetorik. Michael Power (1997) hat<br />

anhand <strong>der</strong> um sich greifenden Praxis <strong>der</strong> Auditierung gezeigt, wie zahlenbasierte Bewertungs-<br />

und Evaluationstechniken in ihrer gegenwärtigen Form nicht zu einer Zunahme<br />

objektivierter Formen <strong>der</strong> Vergewisserung und einer komplementär sinkenden<br />

Abnahme von Personenvertrauen führen, son<strong>der</strong>n im Gegenteil zu einer Zunahme des<br />

Bedürfnisses nach personen- und institutionengebundenem Vertrauen. Obwohl die<br />

verbreitete Praxis <strong>der</strong> Auditierung mit den Ansprüchen <strong>der</strong> Objektivität und Neutra-<br />

60 WestEnd Neue Zeitschrift <strong>für</strong> <strong>Sozialforschung</strong> · Heft 2, 2007


lität durchgeführt wird, ist sie, in seinen Worten, lediglich eine kosmetische Praxis, »a<br />

ritual of verification«.<br />

<strong>Die</strong> Frage drängt sich auf, ob mit diesen Tendenzen bereits das Ende <strong>der</strong> <strong>Zahlen</strong>herrschaft<br />

im Moment ihrer maximalen gesellschaftlichen Ausdehnung eingeläutet ist.<br />

O<strong>der</strong> sind mit dem Nie<strong>der</strong>gang des starken epistemologischen Kalkulationsprogramms<br />

nicht insbeson<strong>der</strong>e auch in <strong>Zahlen</strong>welten erhebliche Chancen, zum Beispiel<br />

auf eine Rückgewinnung ihres rationalen und emanzipativen Potenzials in verän<strong>der</strong>ter<br />

Form, verbunden? In einigen Bereichen deutet sich in dieser Hinsicht ein reflexiver<br />

Umgang mit <strong>Zahlen</strong> an. <strong>Die</strong> Einsicht in ihre Konstruktivität und Performativität stellt<br />

die Grundlage eines neuen, gewissermaßen ab- statt aufgeklärten Umgangs mit ihnen<br />

dar. Bis in die jüngste Vergangenheit hinein galt, dass die mo<strong>der</strong>nen Gegenwartsgesellschaften<br />

durch <strong>Zahlen</strong> »gemacht« werden. <strong>Die</strong>se Macht <strong>der</strong> <strong>Zahlen</strong> beruhte jedoch in<br />

weiten Teilen darauf, dass die gesellschaftliche Gemachtheit des Kalkulativen selbst<br />

verborgen blieb. Mit an<strong>der</strong>en Worten: Dass Gesellschaften im Medium des organisierten<br />

<strong>Zahlen</strong>gebrauchs über sich reflektieren können, war in <strong>der</strong> klassischen Mo<strong>der</strong>ne<br />

noch an die Voraussetzung gebunden, diesen <strong>Zahlen</strong>gebrauch als blinden Fleck <strong>der</strong><br />

Selbstbeobachtung kritischer Reflexion zu entziehen. Für die nähere Zukunft wird<br />

dagegen zu fragen sein, ob und inwieweit die gesellschaftliche <strong>Herrschaft</strong> <strong>der</strong> <strong>Zahlen</strong><br />

zunehmend auf eine neue epistemologische Grundlage gestellt wird, welche am besten<br />

als »reflexiver <strong>Zahlen</strong>gebrauch« bezeichnet werden kann und sowohl mit spezifischen<br />

Organisations- und Legitimationsweisen als auch mit einer verän<strong>der</strong>ten <strong>Zahlen</strong>rhetorik<br />

verbunden ist.<br />

<strong>Die</strong>se und die folgende Ausgabe von WestEnd beschäftigen sich mit verschiedenen<br />

Aspekten <strong>der</strong> gesellschaftlichen <strong>Herrschaft</strong> <strong>der</strong> <strong>Zahlen</strong>. Wir schließen hierbei an die<br />

zusammen mit dem Münchener <strong>Institut</strong> <strong>für</strong> Sozialwissenschaftliche Forschung im<br />

November 2006 durchgeführte Tagung <strong>Die</strong> gesellschaftliche <strong>Herrschaft</strong> <strong>der</strong> <strong>Zahlen</strong> an.<br />

<strong>Die</strong> Absicht besteht in <strong>der</strong> theorieorientierten Auslotung <strong>der</strong> Ambivalenzen und Wi<strong>der</strong>sprüche,<br />

<strong>der</strong> Pathologien und Paradoxien des gesellschaftlichen <strong>Zahlen</strong>gebrauchs.<br />

Bereits im Schwerpunktheft Marktexzesse wurde Prozessen <strong>der</strong> Vermarktlichung<br />

über die Sphäre des im engeren Sinne Ökonomischen hinaus nachgegangen. Analog<br />

sollen die Beiträge dieser zwei Hefte kalkulative Praktiken auch jenseits <strong>der</strong> Sphäre<br />

von Erwerbsarbeit, des Marktes und des Unternehmens untersuchen. Es geht um den<br />

sicherlich noch am Anfang stehenden Versuch, <strong>der</strong> gesellschaftlichen Relevanz kalkulativer<br />

Praktiken aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven nachzuspüren.<br />

Den Auftakt bilden zwei Aufsätze ganz unterschiedlicher Provenienz. Während Wolfgang<br />

Bonß sich vor dem Hintergrund <strong>der</strong> Theorie <strong>der</strong> reflexiven Mo<strong>der</strong>nisierung mit<br />

dem Wandel <strong>der</strong> amtlichen Statistik in <strong>der</strong> Zweiten Mo<strong>der</strong>ne auseinan<strong>der</strong>setzt, untersucht<br />

Eve Chiapello die Bedeutung <strong>der</strong> doppelten Buchführung <strong>für</strong> die Formulierung<br />

des Konzepts des Kapitalismus durch Karl Marx. Sie verfolgt hierbei eine relativ einfache<br />

These: das Konzept des Kapitalismus, wie Marx es entwickelte, sei ein Spiegelbild<br />

des Kreislaufs des Kapitals, welchen er durch die Augen von Engels anhand <strong>der</strong> Accounting-Praktiken<br />

des Manchester-Kapitalismus glaubte beobachten zu können. Am<br />

Anfang <strong>der</strong> Formulierung des Konzepts des Kapitalismus stehe die Rezeption des<br />

zeitgenössischen Accounting durch Marx. <strong>Die</strong>se These stellt die zumindest in den<br />

Uwe Vormbusch · <strong>Stichwort</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Herrschaft</strong> <strong>der</strong> <strong>Zahlen</strong> (1)<br />

61


Wirtschaftswissenschaften vorherrschende Auffassung, das Accounting sei lediglich<br />

ein technisches Hilfsmittel ökonomischer Praxis, auf den Kopf. Chiapellos Aufsatz<br />

unterscheidet sich von den einschlägigen Arbeiten Sombarts und Webers darin, dass<br />

sie nicht die Genese des Kapitalismus als empirisches Wirtschafts- und Gesellschaftssystem<br />

untersuchen will, son<strong>der</strong>n die Genese des Konzepts des Kapitalismus. <strong>Die</strong><br />

doppelte Buchführung als zeitgenössische Form des Accounting und die durch sie erst<br />

ermöglichte theoretische Beschreibung <strong>der</strong> kapitalistischen Wirtschaft als Kapitalkreislauf<br />

bilde den Kern von Marx’ Konzept des Kapitalismus und aller später auf ihn<br />

rekurrierenden Theoretiker. Wolfgang Bonß bezieht sich dagegen sowohl auf ein an<strong>der</strong>es<br />

Feld kalkulatorischer Praxis, den Staat, als auch auf eine spätere Epoche. Er untersucht<br />

den Wandel <strong>der</strong> amtlichen Statistik zur »postamtlichen« Statistik vor dem<br />

Hintergrund des Übergangs von <strong>der</strong> einfachen zur reflexiven Mo<strong>der</strong>nisierung. Empirisch<br />

lassen sich, so Bonß, sieben Trends identifizieren, welche die <strong>der</strong> amtlichen Statistik<br />

zugrunde liegenden mo<strong>der</strong>nen Prinzipien <strong>der</strong> Wissenschaftlichkeit und Objektivität<br />

untergraben und damit einerseits den auf sie gerichteten Legitimitätsglauben<br />

erschüttern, an<strong>der</strong>erseits jedoch in Gestalt sich differenzieren<strong>der</strong> Produktions- und<br />

Konsumtionsmuster statistischer Daten neue Aneignungs- und Gebrauchsformen ermöglichen.<br />

<strong>Die</strong> Aufsätze von Eve Chiapello und Wolfgang Bonß stellen mit je unterschiedlicher<br />

Stoßrichtung theoriegeschichtliche Beiträge dar. <strong>Die</strong>se sollen im folgenden Heft<br />

1/2008 durch Studien ergänzt werden, welche sich aus einer an konkreten Praktiken,<br />

das heißt aus einer am doing numbers orientierten Perspektive mit dem gesellschaftlichen<br />

<strong>Zahlen</strong>gebrauch in zeitdiagnostischer Absicht auseinan<strong>der</strong>setzen.<br />

Literatur<br />

Uwe Vormbusch<br />

Bonß, Wolfgang 1982: <strong>Die</strong> Einübung des Tatsachenblicks: Zur Struktur und Verän<strong>der</strong>ung<br />

empirischer <strong>Sozialforschung</strong>. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.<br />

Cohen, Patricia Cline 1999 [1982]: A Calculating People. The Spread of Numeracy in Early<br />

America. New York und London: Routledge.<br />

Ehrenberg, Alain 2004: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in <strong>der</strong> Gegenwart.<br />

Frankfurt a. M. und New York: Campus.<br />

Foucault, Michel 1983: Sexualität und Wahrheit. Der Wille zum Wissen. Frankfurt a. M.:<br />

Suhrkamp.<br />

Horkheimer, Max und Theodor W. Adorno 1969 [1947]: Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung. Philosophische<br />

Fragmente. Frankfurt a. M.: S. Fischer.<br />

Kula, Witold 1986: Measures and Men. Princeton: Princeton University Press.<br />

Power, Michael 1997: The Audit Society. Rituals of Verification. Oxford: Oxford University<br />

Press.<br />

Power, Michael 2004: Counting, Control and Calculation: Reflections on Measuring and<br />

Measurement, in: Human Relations 57. 6, 765–783.<br />

62 WestEnd Neue Zeitschrift <strong>für</strong> <strong>Sozialforschung</strong> · Heft 2, 2007


Werron, Tobias 2007: <strong>Die</strong> zwei Wirklichkeiten des mo<strong>der</strong>nen Sports: Soziologische Thesen<br />

zur Sportstatistik, in: Andrea Mennicken und Hendrik Vollmer (Hg.): <strong>Zahlen</strong>werk. Kalkulation,<br />

Organisation und Gesellschaft. Wiesbaden: VS-Verlag, 247–270.<br />

Uwe Vormbusch · <strong>Stichwort</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Herrschaft</strong> <strong>der</strong> <strong>Zahlen</strong> (1)<br />

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