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Maßschuhe - Wie eine zweite Haut - Wir lieben Schuhe

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<strong>Maßschuhe</strong> - <strong>Wie</strong> <strong>eine</strong> <strong>zweite</strong> <strong>Haut</strong><br />

Gudrun Eiden<br />

Auch nach <strong>eine</strong>m Vierteljahrhundert hat die Schuhmacherin Lampenfieber, wenn sie -wie eigentlich<br />

schon so oft in ihrem Leben - ein Paar maßgefertigte <strong>Schuhe</strong> ausliefert. Cäcilie Becker ist Schuh-<br />

macherin aus Leidenschaft und aus diesem Grunde nicht vor Nervosität gefeit, wenn ihr Kunde<br />

zum ersten Mal die fertigen <strong>Maßschuhe</strong> anprobiert. Es kommt sogar vor, dass die ausgeputzten<br />

<strong>Schuhe</strong> noch für <strong>eine</strong> kurze Zeit im Regal landen, bis die selbstständige Schuhmacherin bereit ist,<br />

das Paar auszuhändigen. Es ist nicht so, dass sie sich nicht von ihrem Produkt lösen könnte. Es ist<br />

vielmehr die Reaktion des Kunden, die diese Situation für Frau Becker so spannend macht. Tausend<br />

Fragen gehen ihr durch den Kopf: lst der Schuh so geworden, wie der Kunde ihn sich vorgestellt<br />

hat? Finden Fuß und Schuh zu <strong>eine</strong>r Einheit? lst der Schuh so, wie der Kunde es liebt, ihn zu tragen?<br />

Wenn dann <strong>eine</strong> überraschte Kundin sagt: ,,lch spüre den Schuh ja gar nicht", weiß Frau Becker,<br />

dass sie ihre Arbeit sehr gut gemacht hat.<br />

Der Faktot Mensch<br />

ln der Werkstatt von Frau Becker wird mit Hilfe <strong>eine</strong>s Scanners Maß genommen. Die Füße der<br />

Kunden werden von unten gescannt. Die Schuhmacherin nimmt ohne Belastung des Fußes Maß'<br />

Einige Schuhmacher nehmen unter Belastung Maß, das ist ganz von den Erfahrungen des ieweiligen<br />

Handwerkers abhängig, wie er den Fuß am besten beurteilen kann. Anhand der Abbildung kann die<br />

Fachkundige feststellen, ob es sich um <strong>eine</strong>n Hohl- oder Platffuß handelt, ob es Fußfehlstellungen<br />

gibt oder ob der Fuß abknickt. Der gescannte Fußabdruck stellt die erste Dimension des Maßneh-<br />

mens dar. Die <strong>zweite</strong> Dimension beinhaltet das Abmessen von Umfang, Spann, Fersenbreite und<br />

Knöchelhöhe. Diese Daten werden mit <strong>eine</strong>m einfachen Maßband und <strong>eine</strong>m Tastzirkel genommen.<br />

Die dritte Dimension ist eigentlich nicht messbar und somit am schwierigsten festzustellen - der<br />

Faktor Mensch. Hier sind besondere Menschenkenntnis und Einfühlungsvermögen gefragt. Was<br />

möchte der Kunde? <strong>Wie</strong> liebt er es, s<strong>eine</strong> <strong>Schuhe</strong> zu tragen? <strong>Wie</strong> sindsein Auftreten, sein Verhalten<br />

und sein Ausdruck? Gibt es Empfindlichkeiten an den Füßen oder gesundheitliche Probleme wie<br />

Kreislaufstörungen, rheumatische Beschwerden oderZuckerkrankheit?Welche Motivation steckt<br />

hinter dem Wunsch. <strong>Maßschuhe</strong> fertigen zu lassen? Diese und weiterfÜhrende Fragen ergeben die<br />

dritte Dimension des Maßnehmens. Die Schuhmacherin achtet beim Gespräch auf jede Information,<br />

die fur die handwerkliche Arbeit entscheidend ist und letztendlich dem Schuh s<strong>eine</strong> Form gibt.


148<br />

Das passende Material zum passenden Modell<br />

Leder ist nach wie vor das geeigneteste Materialfür <strong>Schuhe</strong>. Es schützt den Fuß beijedem Wetter;<br />

es ist luftdurchlässig und gut zu verarbeiten. Die Auswahl an Ledersorten ist groß: Rind-, Pferde-,<br />

Ziegen- oder Hirschleder gehören eher zu den klassischen Sorten. Manche Kunden <strong>lieben</strong> exo-<br />

tische Ledersorten wie von Elefant, Krokodil, Eidechse oder Haifisch sowie von Straußen- oder<br />

Gänsebein. Der Kunde hat die Oual der Wahl. Dennoch ist darauf zu achten. dass Schuhmodell<br />

und Lederwahl zu <strong>eine</strong>r Einheit werden. Rind boxleder ist nicht das zweckmäßige Material für <strong>eine</strong>n<br />

f<strong>eine</strong>n Damenschuh. Für festeres Schuhwerk dagegen ist es bestens geeignet, da das robuste<br />

Leder aus sehrfesten Fasern besteht und in der Regel bis zu 20000 Beugungen aushält, bevor es<br />

reißt. Es gibt diverse Schuhmodelle, die der Kunde/die Kundin wählen kann. Bei den Herren ist es<br />

unter anderem der Budapester Ein klassischer Herrenschuh, der <strong>eine</strong> kräftige Sohle hat und sich in<br />

schwarzem Leder elegant, in braunem Leder rustikal gibt. Der Derbyistein schmuckloser, schlichter<br />

Schuh, der durch sein hervorragendes Leder wirkt. Der Monk hat k<strong>eine</strong> Schnürung; stattdessen<br />

verläuft über den Spann ein Riemen mit seitlich angebrachter Schnalle. Für den Futl Brogueist<br />

das aufwendige Lochmuster charakterisierend. Ebenfalls sehr elegant istder 1xforder, der durch<br />

s<strong>eine</strong> Schlichtheit besticht. Die klassischen Damenschuhe sind die Ballerinas mit niedrigem und die<br />

Pumpsmithohem Absatz, die beide sehrtief ausgeschnitten sind. Charakterisierend für die Sandale<br />

ist der Fersenriemen, ganz gleich, ob viel oder wenig Leder den Fuß umhüllt. Der klassisch-elegante<br />

Trotteur mit halbhohem Absatz passt gut zu Hosen, ist aber für die elegante Abendrobe ungünstig.<br />

Die Stiefelette ist knöchel- oder wadenhoch. Es gibt sie mit Schnürung, Reißverschluss oder zum<br />

Hineinschlüpfen. Ebenso wie Schuhmodell und Leder zusammenpassen sollten, müssen auch Fuß<br />

und Schuhmodellzueinanderfinden. Becker muss in manchen Fällen Kunden zurrlcämeisin. da deren<br />

Wünsche nicht mit den leweiligen Füßen in Einklang zu bringen sind. Kann <strong>eine</strong> Kundin ihre Füße<br />

nicht zu <strong>eine</strong>r Linie mit ihrem Bein strecken, dann sind geschlossene Stiefeletten für sie untauglich<br />

Ein in sich gewrungener Fuß wird nie in <strong>eine</strong>m Slipper ausreichend Haltfinden. Das Schuhpaar und<br />

die Füße des Kunden ergeben k<strong>eine</strong> Einheit, und die <strong>Schuhe</strong> werden letztendlich nicht getragen.<br />

,,Gehen ist ein biomechanischer Vorgang und mit <strong>eine</strong>m Paar gutsiZender <strong>Schuhe</strong> funktioniert dieser<br />

Vorgang besser", sagt Becker. Aus diesem Grund ist es bei der Wahl des Schuhmodells wichtig,


dass der Mensch auch in s<strong>eine</strong>n <strong>Schuhe</strong>n im Lot bleibt. Das Lot des Menschen befindet sich in<br />

der Mitte der Ferse. Der Absatz <strong>eine</strong>s Schuhs sollte nicht außerhalb des Lots liegen, da sonst der<br />

natürliche Gang behindert wird. ,,Der aufrechte Gang ist mit dem falschen Schuhwerk gar nicht so<br />

einfach", stellt die Fachfrau immer wieder fest.<br />

Det Leisten - die perfekte Kopie des Fußes<br />

Sind alle Daten rund um den Fuß zusammengetragen worden, Lederart und Schuhmodell festge-<br />

legt, modelliert die Schuhmacherin an maschinell vorgefertigten Leisten die perfekte Nachbildung<br />

der Füße des Kunden. Die Funktion des Leisten besteht darin, bei der Fertigung des Schuhs <strong>eine</strong><br />

Arbeitsfläche - anstatt des Fußes - zu bieten. Da die Füße <strong>eine</strong>s Menschen nie komplett identisch<br />

sind, werden asymmetrische Leisten gefertigt: <strong>eine</strong>r für den rechten und <strong>eine</strong>r für den linken Fuß.<br />

Asymmetrische Leisten wurden bereits in der griechischen und römischen Antike zur Schuhherstel-<br />

lung benutzt. lm damaligen Griechenland wurde über den Leisten das Riemenwerkfür die Sandalen<br />

geschnürt, im antiken Rom wurden bereits geschlossene <strong>Schuhe</strong> über asymmetrische Leisten<br />

genäht. Auf dem Weg ins Mittelalter verlor sich die Anwendung des ungleichseitigen Leistenbaus.<br />

Es wird vermutet, dass in diesem Zeitraum <strong>Schuhe</strong> ohne Leisten zusammengenäht wurden. Erst<br />

ab dem 16. Jahrhunderl finden sich 0uellen, die bezeugen, welche Werkzeuge zum Schuhbau<br />

verwendet wurden, unter anderem auch asymmetrische Leisten. Die damals beliebten und vom<br />

einfachen Volk getragenen groben Kuhmaulschuhe wurden über symmetrische Leisten, die f<strong>eine</strong>n<br />

Schnabelschuhe, die vornehmlich der Adel trug, über asymmetrische Leisten gearbeitet. lm Zuge<br />

der Aufklärung, als sich die Gesellschaft zunehmend an der natürlichen Freiheit des Menschen<br />

orientierte, wurde ab dem beginnenden 19. Jahrhundert der asymmetrische Leisten zum Standard<br />

in der Schuhproduktion.l In der Regelwird der passgenaue Leisten für mehrere Schuhfertigungen<br />

benutzt. In Beckers Werkstatt ist so über die Jahre ein hölzernes Archiv entstanden, wo jeder Leis-<br />

ten <strong>eine</strong>m Kunden zuzuordnen ist. Erneuert werden muss er, wenn das Holz zu sehr vom Zwicken<br />

durchlöchert ist beziehungsweise sich der Fuß oder die Fußstellung des Kunden geändert haben.<br />

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Buche ist idealfür die Herstellung von Leisten, da diese Holzart unempfindlich gegenüber Schwan-<br />

kungen von Luftfeuchtigkeit und Temperatur ist. Zudem ist Buche sehr druckbeständig und hält den<br />

Hammerschlägen der folgenden Arbeitsschritte stand. Es gibt zwei Methoden, den Leisten so z,<br />

perfektionieren, dass er hundertprozentig dem Fuß entspricht Bei der Aufsatz-Methode werden<br />

an den entsprechenden Stellen Lederstücke verschiedener Stärken aufgeklebt, um die korrekte<br />

Fußform nachzubilden. Bei der Abnahme-Methode erhält der Leisten s<strong>eine</strong> endgültige Form, indem<br />

die Schuhmacherin überschüssiges Material mit f<strong>eine</strong>n Raspeln abnimmt.2 Von diesem Leisten<br />

wird ein Probeschuh angefertigt. Dafür wird durchsichtige formstabile Plastikfolie mit Hilfe von<br />

Hitze um den Leisten geformt. Anhand dieses Probeschuhs kann die Schuhmacherin feststellen,<br />

ob die Form des Leisten dem Fuß korrekt entspricht und für die folgenden Produktionsschritte als<br />

Arbeitsfläche dienen kann.<br />

Schaftbau - ein Stück Leder wird in Form gebracht<br />

Für den Schaftbau muss die dreidimensionale Form des Leisten zurück in die Eindimensionalität<br />

<strong>eine</strong>r Schablone. Der Leisten wird jeweils auf die Seite gelegt, um den Umriss auf Papier oder<br />

Plastikfolie zu übertragen. Mit Hilfe dieser Modellschablone entstehen weitere Schablonen die alle<br />

Einzelheiten der Schaft- und Futterteile dokumentieren. Je nach Schuhmodell können bis zu sieben<br />

Schablonen notwendig sein. Anhand dieser Matrizen wird das ausgesuchte Leder zugeschnitten,<br />

Die Motivation, <strong>eine</strong>n Maßschuh fertigen zu lassen, ist von Kunde zu Kunde ganz unterschiedlich<br />

Viele Kunden kommen aus beruflichen Gründen in die Schuhmacherwerkstatt, da ein Maßschun<br />

<strong>eine</strong> bestimmte Position im Berufsleben unterstreichen kann. ,,<strong>Schuhe</strong> sind nur ein kl<strong>eine</strong>s Detail,<br />

aber mit ihnen steht und fällt die <strong>Wir</strong>kung <strong>eine</strong>s Anzugs oder <strong>eine</strong>s Kostüms",sagt Becker. Demzu-<br />

folge kommen viele Geschäftsleute zu ihr, wobei die Zahl der männlichen Kunden - insbesondere


der unter 40-Jährigen - in den letzten Jahren stetig zugenommen hat. Besondere Ereignisse, wie<br />

<strong>eine</strong> Hochzeit oder ein öffentlicher Auftritt werden gerne zum Anlass genommen, <strong>Maßschuhe</strong> in<br />

Auftrag zu geben. Ein weiterer Beweggrund ist für einige Kunden prof an der, dass jeder bisher ge-<br />

kaufte Schuh <strong>eine</strong>n Komoromiss darstellte. Aus diesem Grund hat Frau Becker erwachsene Kunden<br />

leden Alters, und diejenigen, die <strong>eine</strong> ganz besondere Wertschätzung sich selbst und dem Produkt<br />

gegenüber haben, sind ihre liebsten Kunden. Einige Kunden - vorwiegend männliche - stilisieren<br />

den Maßschuh in höhere Sphären, indem sie m<strong>eine</strong>n, ihre <strong>Schuhe</strong> zum Berspiel mit Champagner<br />

putzen zu müssen.BeckErmag diese Mythenbildung um das Handwerk nichr: ,,M<strong>eine</strong> Arbeit ist<br />

als Statussymbolvöllig ungeeignet, dafür ist sie zu bodenständig," Insgesamt ist in den letzten<br />

Jahren zu bemerken, dass <strong>Schuhe</strong> immer mehr ins Bewusstsein der Leute gelangen und sich der<br />

Prozentsatz der männlichen und weiblichen Kunden die Waage hält. Die Jahresproduktion lag vor<br />

zehn Jahren beietwa fünfzig Schuhpaaren, gegenwärtig sind es um die achtzig.<br />

Um den Schaft aufbauen zu können, müssen die zugeschnittenen Lederteile noch vorbereitet<br />

werden. Die Kanten der Lederstücke werden dazu ausgeschärft. Das heißt, die Ränder werden<br />

mit <strong>eine</strong>m Skalpellverjüngt, um zu vermeiden, dass beim Zusammenfügen der Lederstücke dicke<br />

Nähte entstehen. Bei sichtbaren Kanten wird das Leder zusätzlich mit <strong>eine</strong>m Schusterhammer<br />

weichgeklopft und eingeschnitten, um die Kanten sauber umklappen zu können. Das Innenleder,<br />

auch Futterleder genannt, wird in dieser Arbeitsphase ebenfalls nach dieser Methode gefertigt.<br />

lmmerwiederwird das Leder um den Leisten gelegt, so kann die Meisterin kontrollieren, ob alles<br />

passend ist. Jeder Schuh des Paares wird synchron gefertigt, das heißt,leder Arbeitsschritt wird<br />

doppelt ausgeführt, um im Resultat zwei identisch gearbeitete <strong>Schuhe</strong> zu bekommen.<br />

,,ln unserer Gesellschaft ist es üblich, für Autos oder Fernsehapparate viel Geld auszugeben, aber<br />

es ist absolut unüblich, dasselbe für <strong>Schuhe</strong> zu tun." Für manche Leute ist es <strong>eine</strong> Medaille mit<br />

151


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zwei Seiten - zum <strong>eine</strong>n möchten sie ein Paar <strong>Maßschuhe</strong> besitzen und zum anderen finden sie<br />

es dekadent, viel Geld für Schuhwerk auszugeben. Das Minimum für ein Paar <strong>Maßschuhe</strong> liegt<br />

zwischen 1000 und 1200 Euro. So kommt es vor, dass die Schuhmacherin recht geheimnisvolle<br />

Wege gehen muSS; um Kontakt mit dem Kunden aufzunehmen. Manche Kunden darf sie nur auf<br />

ihrem Mobiltelefon, andere nur an ihrem Arbeitsplatz, wieder andere gar nicht anrufen. Männer<br />

verheimlichen es ihren Frauen und umgekehrt. Für die Schuhmacherin ist es unerklärlich, dass es<br />

in unserer Konsumgesellschaft immer noch außergewöhnlich ist, <strong>Maßschuhe</strong> fertigen zu lassen.<br />

Die Brandsohle - das Fundament des Schuhs<br />

Bevor der Schaft auf den Leisten gezwickt wird, muss zuerst die Brandsohle mit Schusternägeln<br />

daran fixiertwerden. Die Brandsohle ist das eigentliche Fundament des Schuhs, da an ihr der Schaft<br />

sowie die Laufsohle befestigt werden. Es handelt sich hierbei um pflanzlich gegerbtes Leder von<br />

<strong>eine</strong>r Stärke bis zu vier Millimetern. Zum Gerben wird ein Stoff benötigt, der sich mit den auf der<br />

Terhaut befindlichen Prot<strong>eine</strong>n verbindet. So wird die <strong>Haut</strong> zu <strong>eine</strong>m wasserunlöslichen, nicht<br />

quellenden und strapazierfähigen Leder. Pflanzliche Gerbstoffe werden unter anderem aus der<br />

Baumrinde von Kastanien oder Eichen extrahiert. Das Leder wird dem Leisten entsprechend zuge-<br />

schnitten. Die oberste Schicht der Innenseite wird abgeschabt, um zu vermeiden, dass die Sohle<br />

durch Fußschweiß, Reibung und Körperwärme brüchig wird. Die Sohle wird gewässert, um sie zum<br />

<strong>eine</strong>n formbarer zu machen, zum anderen, um die letzten vorhandenen Gerbstoffe auszuwaschen,3<br />

Reste von Gerbstoffen oder brüchige Sohlen können ein Gefühl des Brennens an den Füßen auslö-<br />

sen. 0b sich der Begriff Brandsohle davon herleiten lässt oder daher, dass das für die Brandsohle<br />

verwendete Leder aus dem Teil stammt, wo das Brandzeichen sitzt, ist nicht eindeutig belegt.<br />

Für manche Kunden haben <strong>Schuhe</strong> weit mehr Bedeutung als nur das Produkt an sich. Sie erzählen<br />

Geschichten des Lebens. Eine Kundin von Frau Becker hat ihren sechzigsten Geburtstag zum Anlass<br />

genommen, sich ein Paar <strong>Maßschuhe</strong> fertigen zu lassen. lhrVaterverstarb im Altervon sechzig<br />

Jahren und sie suchte nach <strong>eine</strong>r passenden Möglichkeit, mit der analogen Alterssituation umge-<br />

hen zu können. DerVaterwar orthooädischer Schuhmacher und <strong>Schuhe</strong> waren im Leben der Frau<br />

immer positiv besetzt. Aus dieser Überlegung heraus istfür sie das Tragen von <strong>Maßschuhe</strong>n die<br />

w


geeignete Art und Weise ihre neue Lebensdekade zu beginnen. Da die Kundin das älteste von fünf<br />

Kindern ist und früh für ihre Geschwister Verantwortung übernehmen musste, haben sich diese<br />

zusammengeschlossen und die <strong>Schuhe</strong> zu <strong>eine</strong>m Familiengeschenk gemacht. Das Paar <strong>Schuhe</strong><br />

ist Symbolfür <strong>eine</strong> ganz besondere Verbindung zwischen Tochter und Vater und zwischen den Ge-<br />

schwistern untereinander. Es sind diese persönlichen Aspekte, die den Beruf des Schuhmachers<br />

zu <strong>eine</strong>m ganz besonderen machen, bei dem ein Produkt zu etwas Bedeutendem wird.<br />

+-<br />

Das Zwicken des Schafts<br />

Bevor der Schaft über den Leisten gezogen wird, müssen für die Stabilisierung der Ferse und der<br />

Seiten zugeschnittene Stücke festeren Leders zwischen Außen- und Innenschicht geklebt werden.<br />

Dieses Stück ist aus <strong>eine</strong>m anderem Leder gefertigt und wird Bodenledergenannt. Mit <strong>eine</strong>r spezi-<br />

ellen Falzzange wird das Leder nun Stück für Stück über den Leisten hinaus gezogen, fachsprach-<br />

lich ausgereckf. So nimmt der Schaft die Form des Leisten an. Die Kunst ist es, ein Gefühl für das<br />

leweilige Leder zu entwickeln. <strong>Wie</strong> belastbar ist es, wie stark kann es gedehnt werden, ohne es zu<br />

überdehnen? Ein Wissen, das nur durch jahrelange Erfahrung gesammelt werden kann. Wenn das<br />

Leder faltenfrei und stramm auf dem Leisten sitzt, wird der Schaft gezwickt. Das heißt, mit vielen<br />

Schusternägeln, die dicht an dicht in die Brandsohle gehauen werden, wird das Schuhoberteilfixiert.<br />

lm folgenden Arbeitsschritt wird der Schaft mit der runden Seite des Schusterhammers geklopft,<br />

um die plastische Form des Leisten vollkommen nachzuformen. Dabeiverdichten sich die Fasern<br />

des Leders; es wird formstabil und widerstandsfähiger. Um den Schaft endgültig mit der Brandsohle<br />

zu verbinden, gibt es mehrere Möglichkeiten. Der Kunde hat sich bei s<strong>eine</strong>r Bestellung zwischen<br />

rahmengenähten oder geklebten <strong>Schuhe</strong>n entschieden. Die klassischen Herrenschuhe sind oft<br />

rahmengenäht, f<strong>eine</strong> Damenschuhe oft geklebt. Für die Rahmennähung wird ein Lederstreifen, der<br />

Rahmen, der um den kompletten Schuh herum verläuft, speziellvorbereitet und mit <strong>eine</strong>m Einstech-<br />

damm versehen. Die Rahmennaht muss Brandsohle, 0berleder und Rahmen zusammenhalten. Die<br />

Naht muss so genäht werden, dass sie die einzelnen Teile untrennbar verbindet und die sichtbare<br />

0berseite gleichmäßig gearbeitet ist. Genähtwird mit <strong>eine</strong>m Pechdraht, ein mit Pech getränkter<br />

L<strong>eine</strong>n- oder Hanffaden. Das Pech wird aus Harz, Paraffin oder Bienenwachs hergestellt. Be'


"-l<br />

geklebten <strong>Schuhe</strong>n wird ein spezieller Kleber benutzt, der Schaft und Brandsohle zusammenhält,<br />

diese Komponenten aber noch biegsam lässt.a<br />

Der Schuh darf nur im vorderen Drittelbeweglich sein, da wo der Fuß beim Gehen abrollt. Die zur<br />

Ferse hingehenden zwei Drittel müssen den Fuß stabilisieren und die Schritte abfedern. Dafür<br />

befestigt man in dem Bereich <strong>eine</strong> Gelenkfeder an der Brandsohle. Der Hohlraum, der an der<br />

Nahtstelle des überlappenden Rahmens des Oberteils und der Brandsohle entstanden ist, lässt<br />

sich mit Kork oder speziellem Flies ausfüttern. Diese Schicht isoliert gegen Kälte und Feuchtigkeit<br />

und schaft ein bequemes Fußbett. Bei qualitativ hochwertigen <strong>Schuhe</strong>n bringt man <strong>eine</strong> Zwi-<br />

schensohle aus Leder an der Brandsohle an, bevor die Laufsohle auf den Schuh kommt. Sie machr<br />

den Schuh langlebiger und hat ebenfalls dämpfende Eigenschaften. An dieser so vorbereiteten<br />

Unterseite des Schuhs kann im Folgenden die Laufsohle befestigt werden. Diese kann aus Leder<br />

oder Gummi sein und ist entweder angenäht oder festgeklebt. <strong>Wir</strong>d <strong>eine</strong> Sohle genäht, ist sie mit<br />

<strong>eine</strong>m Einstechdamm versehen, in dem die Naht unsichtbar verschwindet. Den Absatz - aus Holz<br />

gefertigt oder aus verschiedenen Lederschichten und Kedern aufgebaut-fixiert man mittels Druck<br />

und speziellem Kleber an s<strong>eine</strong>m Platz. Die Funktion des Absatzes ist es, das Gehen zu unterstützen<br />

und die Schritte abzufedern. Absatzflecke aus Gummiwerden aus Gründen der Haltbarkeit und der<br />

Dämpfung anschließend angebracht.<br />

Der Ausputz bringt <strong>Schuhe</strong> auf Hochglanz<br />

Das Finish der <strong>Schuhe</strong> nennt sich in der Fachsprache Auspufzund beinhaltet die Feinarbeit an<br />

der Sohle und das Polieren des Leders. Mit Schmirgelpapier wird der Rand der Sohle und des<br />

Absatzes geformt und glatt geschliffen. Eine spezielle Lederfarbe, passend zur Farbe des Schafts,<br />

wird aufgetragen. Abschließend wird das Leder eingecremt und poliert. Als letzter Arbeitsschritr<br />

wird der Schuh ausgeleistet und steht nun für den Kunden bereit. Nach etwa vierzig Arbeitsstun-<br />

den und über hundert Arbeitsschritten ist Handwerkskunst in Perfektion entstanden. Und wieder<br />

einmal in ihrem Leben hat Schuhmacherin Becker ein wenig Lampenfieber; wenn der Kunde s<strong>eine</strong><br />

<strong>Maßschuhe</strong> zum ersten Mal anprobiert und erstauntfeststellt ,,Sie sind wie <strong>eine</strong> <strong>zweite</strong> <strong>Haut</strong>. ich<br />

spüre sie ja gar nicht."<br />

Anmerkungen :-:.===<br />

'Vgl.Vass, Läszlo; Molnär, Magda (1999): Herrenschuhe handgearbeitet. Köln. S.32-35.<br />

' Vgl. ebd., S. 46.<br />

'Vgl. ebd., S. 134.<br />

o Vgl. ebd., S. 1 44ff .

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