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Ausgabe 10/03 - meins magazin

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FeinSinn liebt<br />

Köln Vintage<br />

Doktorarbeit in Australien<br />

Der Barbarastollen der Uni Köln<br />

Nunk-Musik<br />

Heft 14 ǀ <strong>Ausgabe</strong> <strong>10</strong>/<strong>03</strong> ǀ www.<strong>meins</strong>-<strong>magazin</strong>.de


<strong>meins</strong><br />

2 Inhaltliches<br />

LebensEcht<br />

FernSicht<br />

ErkenntnisReich<br />

ZeitGeist<br />

FeinSinn<br />

06 Vom Leben dan(n)eben<br />

08 Japanologie<br />

<strong>10</strong> Köln Vintage<br />

12 Fotostrecke von Aneta Demerouti und René Becker<br />

26 Türkisch-Vorlesung: Interview mit Hüseyin Erdem<br />

27 Doktorarbeit in Australien: Interview mit Vesna Müller<br />

28 On the rocky road to Dublin<br />

32 Transitionstagebuch, 2<br />

33 Der Barbarastollen der Uni Köln<br />

36 Fehlerfreie IT<br />

38 Softwarefehler kosten Leib und Seele<br />

42 Das Beste der Stadt: Nunk-Musik<br />

43 Kanon: Von der Nezessität des Exzesses - eine Verklärung<br />

43 Sonderschule der Ästhetik: Underground<br />

46 FeinSinn liebt: Die Erfindung der romantischen Liebe<br />

48 In stinkender Gesellschaft<br />

50 Kreuzende Wege<br />

52 Playlist<br />

53 SMS-Blog<br />

54 Impressum<br />

55 Vorschau<br />

Inhalt<br />

{<br />

Bauarbeiten in den Zeilen<br />

Es ist schon ein Jahr her, dass wir das Heft einer großen Inspektion unterzogen<br />

haben. Jetzt ist es wieder soweit, wir bauen das Heft um! Als ersten Schritt<br />

haben wir uns dazu entschieden, nicht mehr länger ein eigenständiges Ressort<br />

für Politik zu unterhalten. Deswegen gibt es ab nun StaatsKunst nicht mehr<br />

als eigenes Ressort, dafür konzentrieren wir uns auf die anderen Ressorts und<br />

möbeln die noch mal kräftig auf!<br />

Wir präsentieren euch ein funkelnagelneues LebensEcht! Simeon Buß, der<br />

bisher FernSicht geleitet hat, macht jetzt auch noch LebensEcht. Gefällt euch<br />

das neue Konzept aus Kolumne, Fotoserie und Tipps und Tricks für’s studenti-<br />

sche Leben? Es gibt den "Fächer", wo wir euch jedes Mal ein Studienfach vor-<br />

stellen, aus der Sicht von höheren Semestern, nah' an der Realität. Dann gibt<br />

es das "Portemonnaie", hier stellen wir euch Möglichkeiten vor, um mit wenig<br />

Geld so gut wie möglich zu leben. Unser Kolumnist Marcel Doganci bleibt mit<br />

seiner Kolumne „Vom Leben dan(n) eben“ weiterhin in unserer Truppe. Dafür<br />

räumen wir ihm noch mehr Platz ein: zwei Seiten ab jetzt. Und schließlich<br />

gibt es jedes mal noch eine Fotostrecke studentischen Lebens, wir beginnen mit<br />

Fahrrädern. Klingt spannend? Das neue LebensEcht lernt laufen, schaut nach<br />

ab Seite 4.<br />

Was passiert eigentlich bei <strong>meins</strong> so alles im Maschinenraum? Dass es da ab<br />

und zu mal hakt und knackt, und dann wieder heftig rattert, bekommen alle<br />

die mit, die uns auf facebook oder twitter verfolgen. <strong>meins</strong> gibt es nun schon<br />

seit über zwei Jahren und wir arbeiten stetig an der Verbesserung des Maga-<br />

zins. Deshalb suchen wir für unseren Maschinenraum noch neue Mitstreiter<br />

für das Layout. Du willst <strong>meins</strong> wahrlich mitgestalten? Dann meld‘ dich bei<br />

uns unter info@<strong>meins</strong>-<strong>magazin</strong>.de, Stichwort „Ich will gestalten!“<br />

KörperKultur hat in dieser <strong>Ausgabe</strong> leider Muskelkater und kann nicht antre-<br />

ten; also könnt ihr euch diese <strong>Ausgabe</strong> in Ruhe auf dem Sofa reinziehen, ohne<br />

ein schlechtes Gewissen zu bekommen.<br />

Viel Spaß beim Lesen! Niels Walker (Chefredakteur)<br />

{<br />

Editorial<br />

3


Lebens<br />

Foto: Corinna Kern


Meins steht in dieser <strong>Ausgabe</strong> im<br />

Zeichen der Liebe. Grund genug<br />

für mich, es für meine Kolumne<br />

auch mal zu versuchen. Bei<br />

losen Themen wie diesem,<br />

habe ich meist kein striktes<br />

Konzept. Es fängt mit einem<br />

Brainstorming an, mit vielen<br />

kleinen Puzzlestücken, die ich<br />

irgendwann zu einer Anekdote,<br />

bestenfalls einer Geschichte<br />

zusammenfügen kann.<br />

Assoziationen für Liebe: Verliebtsein und<br />

Verwunderung, welche ich für Menschen<br />

hege, die es schaffen immer wieder neu<br />

anzufangen. Egal wie groß die Katastrophe<br />

war und erschütternd das Beben, wie<br />

zermürbend das Loslassen und verdunkelt<br />

das Leben, es geht eben doch weiter, das<br />

Herz macht sogar Sprünge, manchmal<br />

die Beine noch dazu, und rot glühen die<br />

Wangen im harschen Februarwind. Der<br />

mittelkalte 31.<br />

Januar, es fängt immer am gleichen Tag<br />

an, überrundet meinen Geburtstag und<br />

überlebt den Tau nicht. Der Anbruch<br />

einer Jahreszeit ist Hoffnung, in den<br />

Zwischenwettern liegt der Glaube. Besuche<br />

aus Hamburg, ein buntes Auto aus Karton<br />

und eine Fahrkarte ins neue Zuhause.<br />

Päckchen aus Bottrop mit kleinen Wundern<br />

und den schönsten Worten, die mir jemals<br />

jemand widmen wollte. Mit dem rechten<br />

Zeigefinger über den Rücken eines Buches<br />

streicheln, das mich zittrig macht, glasig<br />

und abtrennt vom eigenen Lärm. Die Stille,<br />

welche ich manchmal auch fürchte, weil<br />

im Nichtssagen Missverständnis ruht und,<br />

schlimmer noch, sich Verbundenheiten<br />

lösen. Den dummen Blick des einen und<br />

die skeptische Miene des anderen Katers,<br />

die mich beide eindringlich mustern, wenn<br />

ich müde lächle, mich verfolgen, mit mir<br />

sprechen, unterhalten, weil sie wissen, dass<br />

ich einer von ihnen bin. Das Schnurren und<br />

der Schlaf und ihre untrennbare Symbiose.<br />

LebensEcht<br />

Foto: Corinna Kern<br />

vom leben<br />

da (n) neben<br />

Wenn ich jemandem sagen möchte, was<br />

er mir bedeutet, spreche ich Englisch, weil<br />

ich mich dann lösen kann, im Zweifelsfall<br />

so tun, als wäre alles eine Lüge. Denn New<br />

York wartet nicht auf mich, ich häng am<br />

Saum von dieser Märchenstadt und bettele,<br />

dass sie mich erlöst von Ungewissheit und<br />

dem Fall. Schmetterlinge seit ich 16 bin,<br />

nicht davor, da waren alle Tiere gleich, doch<br />

ein Teil von mir brach aus dem Kokon und<br />

ich blute immerfort die Farben, spreize<br />

meine Flügel, benässe sie erneut und weiß,<br />

dass ich nicht fliegen kann. Manchmal<br />

bete ich für andere, seltener auch mal für<br />

mich, ein oder zwei Mal rief ich Danke,<br />

doch nie, nicht ein einziges Mal hielt Er<br />

sein Versprechen. Denn ich liebte ihn,<br />

der mich beraubte, und nichts zurück ließ<br />

außer Schmerz und Hass, dann andren<br />

Schmerz, dann Furcht, erneuten Schmerz<br />

und schließlich Leere, in der das Echo allen<br />

Schmerzes hallt. An einem Tag im Jahr,<br />

dem hellsten, auch die Liebe selbst, den<br />

Rest der Zeit erbiete ich der Nacht und<br />

ihrer Laterne, in deren Schein ich friedlich<br />

bin. Musik, und was sie wirklich in mir zum<br />

Klingen bringt. Wodka, der einzige feste<br />

Freund, den ich jemals wollte. Die Zigarette<br />

dazu, danach und auch zum Kaffee. Die<br />

Form meines Mundes, die Augen vieler<br />

anderer, Sonnenbrillen für ihren Schutz,<br />

das Lachen meiner besten Freundin,<br />

Grenzgänger, des Spießers versteckte<br />

Toleranz, Kopfbedeckung, weiße Zähne,<br />

die Selbstverständlichkeit von Kindern, den<br />

Sauerbraten meiner Mutter, Geldzählen<br />

und einen Augenblick davon träumen,<br />

was ich mir leisten könnte. Muskelkater<br />

vom Tanzen, dem Verlieren in den Bässen,<br />

die empfindliche Leichtigkeit bei jeder<br />

Bewegung, Gänsehaut, wenn mein Hals<br />

geküsst wird, rosafarbenes Badewasser,<br />

den Sekt dazu, den Wein daneben und alles,<br />

was mich schöner macht. Wirklich gerne<br />

durch den Regen gehen, und zwar allein,<br />

das Geräusch, welches meine Finger auf<br />

der Tastatur hinterlassen, und schlicht die<br />

Tatsache, dass ich eine Menge in diesem<br />

Text kursiv schreiben konnte.<br />

„Ich muss noch eine Kolumne zum<br />

Thema ‚Liebe’ verfassen“, erklärte ich<br />

einem Fremden, „und mir fällt nichts ein“.<br />

„Liebe ist der Rausch des Augenblicks“,<br />

entgegnete er zu meiner Überraschung<br />

und fragte dann verdutzt: „Bist Du nicht ein<br />

bisschen spät dran?“<br />

Ein bisschen spät kann ich von einer Menge<br />

Dinge berichten, die ich mit Liebe assoziiere.<br />

Es ist mir erschreckender Weise noch nie<br />

so schwer gefallen einen Text zu schreiben,<br />

und hätte ich heute keine Deadline, würde<br />

ich ihn einfach liegen lassen. Vor meinem<br />

Fenster spielt das Wetter mit Ambivalenz.<br />

Sonne, Dunkelheit und Schnee, dann wieder<br />

Sonne, aufgeklartes Firmament und nachher<br />

tanz’ ich einen langsamen Walzer unterm<br />

Regenbogen… mit mir allein.<br />

Was ich mit Liebe verbinde, ist immer auch<br />

Verbitterung und Sprachlosigkeit. Sie hat<br />

keinen Zusammenhang für mich, ebenso<br />

wie diese Kolumne für euch, entpuppt sie<br />

sich nicht als schöne Geschichte, wie ich<br />

sie mir wünschte, oder man allgemein auch<br />

von ihr erwartet.<br />

Ich habe oft gesagt „Ich liebe das“, wenn<br />

ich genötigt war „auch Dich“ geschrieben,<br />

obwohl ich wusste, dass sie nie zu meiner<br />

Verteidigung taugen würde. Schließlich<br />

sollte ich mir die Frage stellen, ob die Liebe<br />

mich jemals wirklich inspirierte. Vielleicht<br />

war es bloß die Suche nach ihr, wohlmöglich<br />

nur das Erhaschen einer Illusion. So oder<br />

so ist sie mir zu komplex, verliere ich die<br />

Energie für jedes Wort. Ich wende mich von<br />

ihr ab und sage tonlos „Keine Kraft mehr.<br />

Geh!“. Dann klingelt mein Telefon und es<br />

wünscht mir schon wieder jemand „Alles<br />

Liebe zum Geburtstag!“.<br />

„Du wirst mich nicht los“, flüstert sie und hat<br />

mir wieder eine SMS geschrieben.<br />

Marcel Doganci<br />

LebensEcht


Portemonnaie<br />

Köln Vintage<br />

Schöne Kleidung für wenig Geld, und dann bitte noch einzigartig, stilvoll und direkt um die Ecke zu kaufen.<br />

Maximiliane Koschyk testet Second-Hand-Shops in Köln.<br />

Kanariengelb - erst dieses Wort machte<br />

mir klar, wie alt dieses Kleid eigentlich sein<br />

musste, dessen Farbbezeichnung selbst<br />

ja lange Zeit ausgestorben war. Auch der<br />

Stickerei auf der Vorderseite schien ein<br />

Entwurf vorausgegangen zu sein, den ich<br />

mit Sicherheit in den Handarbeits<strong>magazin</strong>en<br />

meiner Großmutter unter "Folklore selbstgemacht"<br />

wieder gefunden hätte. Als Katalogware<br />

findet man so ein "kanariengelbes mit<br />

folkloristisch anmutenden Stickereien verziertes<br />

Kleid aus den Siebzigern" sicherlich<br />

nicht ausgezeichnet, der Beschreibung nach<br />

würde es auch keiner blind kaufen. Aber<br />

das ist das Schöne und auch das Erfolgsrezept<br />

eines guten Second-Hand-Ladens:<br />

Einen Schatz findet man bestimmt, aber ein<br />

bisschen Suche, Geduld und Abenteuerlust<br />

gehören dazu. Und so eine echte, abgewetzte<br />

und weichgetragene Lederjacke, die<br />

ja vielleicht Velvet Underground Sängerin<br />

Nico, als sie noch Christa Päffgen war,<br />

genau hier in Köln getragen haben könnte,<br />

macht den Zauber von Vintage aus.<br />

Die komplette Anonymität hat auch noch<br />

andere Vorteile: keine familiären Anekdoten,<br />

dass jenes Kleid oder Sakko schon getragen<br />

wurde, als die Eltern über das kanariengelbe<br />

Cover des liebsten Folk-Musikers<br />

fachsimpelten. Ebenso keine Abmahnung<br />

über die fachgerechte Haltung und Pflege<br />

des Erbstücks - zwar hat man für die Lederjacke,<br />

das Kleid oder die Schuhe im Laden<br />

bezahlt, aber ihre unbekannte Herkunft gibt<br />

ihnen einen Hauch von Unverwüstlichkeit.<br />

Was aber nicht heißt, dass es sich bei<br />

Second-Hand nur um ausgelatschte Schuhe<br />

und alte Sakkos handelt. Die kleidsamen<br />

Hinterlassenschaften können auch schick,<br />

edel und mondän sein. Ähnlich variabel<br />

verhält es sich mit der Preisscala: Vintage<br />

nennt man solche Kleidungsstücke, die mindestens<br />

eine Generation oder Dachbodenlagerung<br />

überstanden haben. Second-Hand<br />

dagegen kann alles sein, was den Besitzer<br />

wechselt und zwangsläufig nicht einmal<br />

getragen wurde. So sind manch Ettikett-<br />

Fehlkäufe, die des einen Leid waren, nun<br />

des anderen neue Kleiderschrankfreude.<br />

LebensEcht<br />

AA in the Eighties<br />

Vintage und Second-Hand gibt für alles und<br />

jeden und umfassend in Köln.<br />

Das kanariengelbe Kleiderphantom war<br />

meine erste Kölner Errungenschaft aus<br />

dem nur kurzzeitig existierenden American<br />

Apparel-Zweigladen "California Vintage".<br />

In einem Gedenkeckchen im eigentlichen<br />

AA-Geschäft auf der Ehrenstraße führt die<br />

Kette heute noch eine kleine Auswahl an<br />

den allseits beliebten Flanellhemden, Seidenblüschen<br />

und Schulterpolsterjacketts,<br />

welche Statisten der Fernsehsendungen<br />

aus den Achtzigern mitgingen ließen. Doch<br />

ebenso wie bei den allgemeinen AA-Produkten<br />

sind die Preise nicht allzu günstig:<br />

Unter 30 Euro wird man bei den bereits an<br />

die Kollektion angepassten Stücke selten<br />

fündig. Ähnliche Kundschaft ködert der<br />

breiter sortierte Laden "Vintage&Rage" auf<br />

dem Hansaring - schicke Pumps, schrille<br />

Paillettenfetzen, sowie für die Jungs alles<br />

vom Original Adidas-Anzug bis zur Indianer<br />

Jones-Jacke. Leider macht auch hier kein<br />

Studentenportemonnaie einen Freudenjauchzer.<br />

Vintage Alaaf!<br />

Richtig Stöbern und Schnäppchenmachen<br />

lässt es sich da viel besser in den vielen<br />

kleinen Nischenläden, die in ganz Köln<br />

verstreut sind. Sobald man einen entdeckt,<br />

lohnt es sich fast immer, auch gleich einen<br />

Blick hineinzuwerfen. Manchmal liegt einem<br />

das Angebot aber auch nicht, was darin<br />

begründet ist, dass sich viele der Second-<br />

Hand-Läden bereits einseitig spezialisiert<br />

haben. Allen voran die Geschäfte für Kinderkleidung<br />

und Spielwaren, deren Halbwertszeit<br />

aufgrund von Wachstum und Interesse<br />

oft gering ist, und die leider auch in der<br />

Erstanschaffung für viele StudentInnen mit<br />

Kind zu teuer sind. Auch für Abendkleider,<br />

Designerstücke und oder einen bestimmten<br />

Modestil gibt es mittlerweile eigene Second-<br />

Hand-Läden. So auch auf der Dürener Straße<br />

im Stadtteil Lindenthal, wo sich gleich<br />

vier Läden finden lassen. Einer von diesen<br />

ist das "La Seconda", welches vor allem<br />

elegantere Mode und Designerstücke für<br />

Damen führt und dessen reizendes Personal<br />

gerne auch beim Kauf eines Blazers fürs<br />

Text: Maximiliane Koschyk<br />

erste Vorstellungsgespräch berät. In den<br />

breiter sortierten Läden erstöbert die Klientel<br />

dagegen alles vom ausgefallenen Pulli<br />

bis zu kaum getragenen Turnschuhen - eine<br />

der größten Geschäfte ist „Katta Katta“ mit<br />

Filialen in der Großen Brinkgasse und auf<br />

der Zülpicher Straße. Hier wird auf Kommission<br />

eingekauft, das heißt: Nostalgische<br />

Stoffschätzchen vorbeibringen, was brauchbar<br />

ist, wird in die Kartei aufgenommen.<br />

Nach 2 Monaten kann man wiederkommen<br />

und für Verkauftes den vorher bestimmten<br />

Preis ausgezahlt bekommen oder nimmt die<br />

Ware wieder mit. Ebenso funktioniert’s bei<br />

„Klamott & Kaffee“, ein Stückchen weiter<br />

auf der Zülpicher Straße, die in der Jecken<br />

Zeit auch einen Extra-Fundus alter Kostüme<br />

der nicht so anhänglichen Karnevalisten<br />

führen. Hier enthüllt der Name die Zweitberufung<br />

des Ladens: nach getaner Suche,<br />

Anprobe, Kauf oder Verkauf lässt sich das<br />

Verdiente noch in eine Tasse fair gehandelten<br />

Kaffee und ein Stück leckeren Kuchen<br />

wunderbar investieren.<br />

Gutes tun und gut aussehen<br />

Mit Kleidung zweiter Hand lässt sich nicht<br />

nur Geschichte kaufen, Geld sparen oder<br />

verdienen, sondern auch gutes tun. Erste<br />

und bekannteste Anlaufstellen der Orgien<br />

des Kleiderschrankaussortierens sind die<br />

beigen Altkleider-Container des Roten<br />

Kreuz, dort wandern die Stücke aber direkt<br />

in die Hilfsgebiete und enden im Zweifelsfalls<br />

als Faserbrei. Wem Kommissionsgeschäfte<br />

zu umständlich sind und der<br />

Groschen in ein bisschen Humanität besser<br />

investiert scheint, der kann seine alten<br />

Stücke bei Oxfam oder Humana abgeben<br />

- beide Hilfsorganisationen führen in Köln<br />

Filialen. Sie nehmen Kleiderspenden - gewaschen<br />

und ordentlich gefaltet – entgegen<br />

und sortieren vor Ort nach Verkaufs- oder<br />

Projekttauglichkeit aus. Ein Teil wird so in<br />

benötigte Einrichtungen gebracht, der Rest<br />

zum Erlös der Humanitären Hilfe verkauft.<br />

In eben jenem Oxfam-Laden habe ich übrigens<br />

mein zweites Kölner Vintage-Unikat<br />

erstanden: ein Paar flache Damenschuhe,<br />

im gleichen Ton der Folklore-Stickerei des<br />

Kanarienkleids. So klein ist die Welt der<br />

Altkleider.<br />

Foto: www.deviantart.com / chuckandchucky<br />

LebensEcht


12 LebensEcht<br />

Aneta Demerouti<br />

René Becker<br />

LebensEcht 13


LebensEcht<br />

Aneta Demerouti<br />

René Becker<br />

LebensEcht 15


LebensEcht<br />

Aneta Demerouti René Becker<br />

LebensEcht


18 LebensEcht<br />

Aneta Demerouti René Becker<br />

LebensEcht 19


20 LebensEcht<br />

Aneta Demerouti René Becker<br />

LebensEcht 21


22 LebensEcht<br />

Aneta Demerouti René Becker<br />

LebensEcht 23


FernSicht<br />

Foto: Felix Schledde


Interview<br />

Hüseyin Erdem ist 60 Jahre alt und unterrichtet Türkisch an Schulen<br />

und der Universität zu Köln. Aufgewachsen in Istanbul, musste<br />

der gelernte Jurist aufgrund seiner ethischen Grundsätze nach<br />

Deutschland “flüchten”. Er hatte ein sehr bewegtes Leben, war sowohl<br />

Pressesprecher der Gruppe 47 um Heinrich Böll, Günter Grass und<br />

Wolf Biermann, als auch Autor, Journalist und Radiosprecher.<br />

Meins hat ihn nach seinem Leben gefragt und Antworten bekommen.<br />

Wie lange unterrichten Sie eigentlich<br />

schon Türkisch, und vor allem: Wie lange<br />

unterrichten Sie an der Uni Köln?<br />

Wie sind Sie darauf gekommen, dass Sie<br />

gerne Lehrer werden wollten?<br />

In Ihrem Seminar hat man immer das<br />

Gefühl, dass Sie Ihre Arbeit lieben - stimmt<br />

das?<br />

Wie lange leben Sie jetzt schon in<br />

Deutschland?<br />

Warum sind Sie damals aus der Türkei<br />

hierher gekommen? Gab es besondere<br />

Gründe? Wollten Sie nur ein anderes Land<br />

sehen oder wurden Sie gezwungen?<br />

Eine dumme Frage: Wo gefällt es Ihnen<br />

besser? In Deutschland oder in der Türkei?<br />

Was wünschen Sie sich für die deutschtürkische<br />

Zukunft in Deutschland und auf<br />

internationaler Ebene?<br />

Interview geführt von: Simeon Buß<br />

26 FernSicht<br />

Schon seit ich Schüler war, habe ich den Kindern von Minderheiten (z.B.: Armeniern,<br />

Griechen, Juden) Nachhilfe in Türkisch gegeben. Als Student habe ich an Schulen als<br />

Vertretungslehrer gearbeitet. Seit 1980 lebe ich in Köln, seit 1983 unterrichte ich Türkisch und<br />

seit 1984 Kurdisch an der Universität zu Köln.<br />

Ich wollte eigentlich gar nicht Lehrer werden, aber die Lebensbedingungen zwingen einen<br />

manchmal in einer bestimmten Laufbahn zu arbeiten, obwohl man diese nicht als Ziel hat.<br />

Ich habe eine Stelle als Lehrer bekommen und mache seitdem meine Arbeit ordentlich<br />

und unterrichte gerne. Es ist manchmal eine schwere Aufgabe, aber mir gegenüber stehen<br />

Menschen, die etwas lernen möchten. Ich habe ihnen gegenüber Achtung und Respekt und<br />

bemühe mich deshalb gewissenhaft und liebevoll zu unterrichten. Eine weitere Schwierigkeit<br />

ist es, dass ich sowohl im Schuldienst als auch an der Universität arbeite was manchmal<br />

sehr viel Kraft kostet, da man sich Schülern und Studenten gegenüber fachgerecht verhalten<br />

muss.<br />

Obwohl ich oft so müde von der Schule in die Universität komme, finde ich in mir sofort eine<br />

Motivation und Energie mit meinen Studenten zu arbeiten. Dass Sie dies gemerkt haben ist<br />

ein Beweis dafür. Ich mag meinen Beruf, sonst hätte ich schon längst eine kleine Farm an der<br />

Mittelmeerküste.<br />

Ich bin seit 1980 in Deutschland und habe hier direkt wieder mit dem Studium angefangen.<br />

An der Universität habe ich Studiengänge in Germanistik, Slawistik, Völkerrecht und<br />

Allgemeiner Sprachwissenschaft abgeschlossen. Parallel habe ich als Lehrer gearbeitet und<br />

für den WDR Radiosendungen gemacht. Des Weiteren habe ich meine Tätigkeit als Journalist<br />

und Schriftsteller fortgeführt und zahlreiche Artikel veröffentlicht.<br />

Wegen meines Engagements für Menschenrechte und meiner politisch-kulturellen Arbeit<br />

habe ich große Veranstaltungen organisiert und durchgeführt. In Zeitschriften und Zeitungen<br />

habe ich viele Artikel veröffentlicht. Als 68er war ich in diesen schweren Zeiten der Regierung<br />

ein Dorn im Auge. Ich bin verhört und von mir unbekannten Kreisen überfallen und<br />

geschlagen worden. Wie einige andere meiner Freunde bin ich ins Ausland gegangen. Ich<br />

habe für mich in Köln ein Stück Heimat gefunden und viele Freundinnen und Freunde aus<br />

allen Kulturkreisen gewonnen.<br />

Auf die Frage „Welcher Ort gefällt Ihnen am besten?“ kann ich nur so antworten: Wo<br />

die Menschen, die ich liebe, sich befinden, gefällt es mir am besten. Ich habe sehr liebe<br />

Freundinnen und Freunde in der Türkei, also liebe ich die Türkei. Genauso habe ich aber<br />

auch sehr gute Freunde in Deutschland, also liebe ich Deutschland auch. Mittlerweile bin ich<br />

deutscher Staatsbürger, was heißt, dass ich hier zu Hause bin und versuche auch hier meine<br />

Wurzeln zu schlagen. Genauso kann ich in Griechenland, in Frankreich oder irgendwo in der<br />

Welt wo meine Freunde sind, ein Stück Heimat finden.<br />

Ich habe mich schon lange als ein Weltbürger gefühlt. Ich wünsche allen Menschen der Welt<br />

– egal welcher Religion sie angehören, welche Sprache sie sprechen oder welche Farbe sie<br />

haben – ein menschenwürdiges Leben, in dem sie gleichberechtigt und frei sein können.<br />

Ich wünsche mir eine gerechte Welt, in der jeder für seine Arbeit gewürdigt wird. Davon<br />

ausgehend wünsche ich mir nicht nur für die deutsch-türkische, sondern auch für Beziehung<br />

von Deutschland und der Welt eine Entwicklung in diese Richtung.<br />

Als Doktorand zu Hause bleiben oder die<br />

Welt erforschen?<br />

Interview mit Vesna Müller über ihre Doktorarbeit in Australien.<br />

Die 28-jährige Vesna hat in Bonn Volkskunde, Englisch und Kunstgeschichte studiert und promoviert<br />

zurzeit an der La Trope University in Melbourne im Fachbereich Anthropologie. Ihre Arbeit schreibt sie -<br />

kurz gesagt- über die deutschen Einwanderer in Australien.<br />

Was war dein Grund, die Doktorarbeit in<br />

Melbourne zu schreiben?<br />

Wie sind die Forschungsbedingungen für<br />

Doktoranden an deiner Uni?<br />

Gibt es auch Nachteile?<br />

Wieso wolltest du nicht sicher gehen,<br />

dass dein Doktortitel auch in Deutschland<br />

anerkannt wird?<br />

Was würdest du Uniabsolventen raten, die<br />

auch ihre Dissertation im Ausland schreiben<br />

möchten?<br />

Interview geführt von: Kathrin Mohr<br />

Meine ursprüngliche Idee war es, einen „Binationalen“ zu absolvieren, also einen Teil der<br />

Arbeit an der Uni Bonn zu verfassen und einen an der La Trope University. Allerdings wäre<br />

das Pionierarbeit gewesen, denn es ist noch nie ein derartiger Vertrag zwischen einer<br />

deutschen und australischen Uni zustande gekommen. Im Rahmen dieses Vorhabens bin ich<br />

an die Uni in Melbourne gekommen und habe dort Feldforschung betrieben. Ich hatte das<br />

Glück, dass sich ein Professor an der La Trope für mein Forschungsgebiet interessierte und<br />

die Uni mir daraufhin ein Stipendium anbot.<br />

Die Arbeitsbedingungen in Melbourne sind toll. Jeder Doktorand hat einen eigenen<br />

Arbeitsplatz und Computer im Institut und zwei Betreuer, die einen bei der Arbeit<br />

unterstützen. Außerdem gebe ich Tutorien und kann dadurch Lehrerfahrung sammeln. Mein<br />

Stipendium ist natürlich auch wichtig, um mein Leben in „down under“ finanzieren zu können.<br />

Es ist natürlich ganz schon weit weg zu Hause. Klar vermisse ich Freunde und Familie, aber<br />

ich lebe gerne in Melbourne. Schon in der Schulzeit habe ich einen Schüleraustausch nach<br />

Australien gemacht. Ein weiterer Nachteil, außer der großen Distanz zu Deutschland, könnte<br />

sein, dass ich jetzt nur den australischen Doktor mache und der in Deutschland eventuell<br />

nicht anerkannt wird.<br />

Ich mache den Doktor für mich und weil mich das Thema „Der deutschen Einwanderer<br />

zweiter Generation in Melbourne“ so sehr interessiert. Abgesehen von meinem<br />

Schüleraustausch in der elften Klasse habe ich mich während meines Studiums in Bonn mit<br />

Australien befasst und auch meine Magisterarbeit dort geschrieben. Vor meinem Namen<br />

muss später nicht der Doktor stehen, denn ich will später im Museumsbereich arbeiten und<br />

nicht an der Uni bleiben.<br />

Wichtig sind vor allem die sehr guten Kenntnisse der jeweiligen Landessprache, wie in<br />

meinem Fall Englisch. Ich habe mein Schulenglisch vor allem durch mein Auslandstudium<br />

in England erweitert, wo ich ein Jahr als Erasmusstudentin in Sheffield verbracht habe.<br />

Außerdem sollte man frühzeitig mit seinen Professoren in Deutschland sprechen, die einen<br />

bei dem Projekt unterstützen und auch Kontakte zu Universitäten im Ausland vermitteln<br />

können. Ich habe diesbezüglich viele positive Erfahrungen gemacht, auch in Australien bin<br />

ich an aufgeschlossene, interessierte Lehrstühle geraten, die mich, wenn sie selbst nichts für<br />

mich tun konnten, weitergeleitet haben. So habe ich mich Schritt für Schritt immer näher an<br />

mein Thema und dessen Verwirklichung in Form einer Dissertation herangetastet.<br />

FernSicht 27


On the rocky road to Dublin<br />

Menschen verehren Berge. Das<br />

ist so, das haben sie schon immer<br />

getan. In grauer Vorzeit wurden<br />

sie aufgrund ihrer gewaltigen<br />

Masse und als Quellort vieler<br />

Flüsse verehrt. Heutzutage sind<br />

wir zwar zu großen Teilen davon<br />

abgekommen, Magma spuckenden<br />

Bergen unsere schönsten<br />

Jungfrauen zu opfern, doch auch<br />

wir können uns einer gewissen<br />

Faszination nicht entziehen.<br />

Mir geht es genauso und wahrscheinlich<br />

ist das auch der Grund, warum ich mich<br />

Ende September 2009 am Hang des Croagh<br />

Patrick befinde und schnaufend versuche,<br />

mich einen Weg hoch zu schleppen,<br />

der sich noch nicht entschieden hat, ob<br />

er mich durch seine Steigung oder die<br />

lebensgefährlichen Massen an Geröll<br />

umbringen möchte.<br />

Zu diesem Zeitpunkt habe ich bereits<br />

eine knapp einmonatige Irlandreise mit<br />

Rucksack, Zelt und zwei guten Freunden<br />

hinter mir, die uns letztlich auch an den<br />

Fuß des Croagh Patrick im malerischen<br />

County Mayo geführt hat. Die Grafschaft an<br />

der westirischen Küste hat eine bewegte<br />

Vergangenheit hinter sich: Früher ein<br />

bettelarmer Landstrich stachen von hier<br />

die so genannten Coffin Ships in See;<br />

morsche Kähne, auf denen unzählige<br />

Familien vor der Großen Hungersnot Mitte<br />

des 19. Jahrhunderts in die USA flüchteten.<br />

Wahrscheinlich war der heilige Berg das<br />

letzte, was sie von ihrer Heimat sahen,<br />

bevor die Fahrt über einen schier endlosen<br />

Ozean in ein unbekanntes Land begann.<br />

Lange Zeit blieben ganze Landstriche<br />

aufgrund dieser Flüchtlingswellen entvölkert<br />

(Irlands Bevölkerung hat sich bis heute<br />

nicht komplett von diesem bereits 150 Jahre<br />

zurück liegenden Desaster erholt, doch<br />

wird dieser Verlust inzwischen durch ganze<br />

Heerscharen von Touristen und Pilgern<br />

ausgeglichen, die jeden Sommer in das beschauliche<br />

Örtchen Murrisk reisen, um den<br />

heiligsten Berg Irlands zu besteigen).<br />

28 FernSicht<br />

Wie gesagt: Ich bin einer von ihnen.<br />

Einen heiligen Berg besteigen erschien<br />

mir an seinem Fuß als eine ziemlich gute<br />

Idee. Doch während gerade ein älterer<br />

Herr routiniert und freundlich grüßend<br />

vorbeizieht, kommen mir tatsächlich ein<br />

paar Zweifel sowohl an meinem Einfall als<br />

auch an meiner Fitness. Dass der Senior bei<br />

seiner Bergbesteigung Straßenschuhe trägt,<br />

die meine Wanderstiefel anscheinend um<br />

Längen schlagen, trägt auch nicht gerade<br />

zu meiner Erbauung bei. Aber aufgeben will<br />

ich natürlich nicht, denn es geht eindeutig<br />

auch noch härter.<br />

Mein Reiseführer behauptet nämlich, und<br />

einheimische Iren bestätigen es, dass<br />

jeden Sommer unzählige Pilger diese steile<br />

Schotterpiste barfüßig erklimmen, um die<br />

Taten des heiligen Patrick zu ehren. Der<br />

irische Nationalheilige soll auf genau jenem<br />

Berg vierzig Tage und Nächte verbracht<br />

haben, nachdem er alle Schlangen von der<br />

Insel vertrieb, indem er eine Glocke vom<br />

Hang des Berges herunter warf. Ich bin<br />

ihm für diese Tat durchaus dankbar, denn<br />

ein Tag muss nicht unbedingt mit einer<br />

Schlange im Zelt beginnen, aber dennoch<br />

bezweifele ich den Sinn eines Aufstiegs<br />

ohne Schuhe. Aber vielleicht bin ich ja auch<br />

einfach nur neidisch auf die hart gesottenen<br />

Barfüßigen und den alten Herrn in den<br />

Straßenschuhen. Ich weiß nur, dass mir so<br />

langsam die Puste ausgeht.<br />

Gut, dass es meinen beiden Freunden<br />

genauso geht, denn geteiltes Leid ist<br />

ja bekanntlich halbes Leid. Zusammen<br />

bringen wir die 764 Meter irgendwie<br />

ohne Zwischenlager hinter uns (ja, der<br />

Kilimandscharo ist ein paar Meter höher,<br />

aber Bergbesteigung ist Bergbesteigung).<br />

Und jetzt erleben wir das, was meistens<br />

auf einen Prozess harter Arbeit folgt: Volle<br />

Zufriedenheit und das Wissen, dass sich die<br />

Mühe gelohnt hat.<br />

764 Meter sind nicht hoch, aber sie reichen<br />

vollkommen aus, um ein Land zu überblicken<br />

und den ganzen Weg der letzten Tage<br />

und Wochen vor sich ausgebreitet zu sehen.<br />

Könnte es einen besseren Abschluss für<br />

eine Reise geben?<br />

Es ist kalt und der stürmische Wind, der<br />

an den Jacken reißt macht es nicht besser,<br />

doch der fantastische Ausblick entlohnt für<br />

so manches.<br />

Von Dublin aus hat uns unsere Reise durch<br />

die Wicklow Mountains zunächst nach Süden<br />

geführt. Eine Woche abenteuerlicher<br />

Marsch durch Berge, Wälder und jede<br />

Menge Farn. Ernsthaft, ich habe keine<br />

Ahnung, warum das Kleeblatt Irlands<br />

Wahrzeichen ist, der Farn hätte es auch<br />

getan. Aber wahrscheinlich bringt er auch<br />

mit vier Blättern kein Glück. Zumindest nicht<br />

uns, denn sonst hätten wir wahrscheinlich in<br />

den Bergen nicht den schlechtesten irischen<br />

Sommer seit 250 Jahren miterlebt. Seitdem<br />

weiß ich, was nass wirklich bedeutet.<br />

Immerhin wurde das Wetter nach einer<br />

Bustour quer durch Irland (mit Stopp<br />

in Kilkenny) an der Westküste besser.<br />

Das war auch absolut notwendig, denn<br />

den kleinen Ort Lahinch muss man bei<br />

Sonne betrachten. Wenn es so etwas wie<br />

das irische Kalifornien gibt, dann ist es<br />

hier. Keine Spur von britischem Wetter,<br />

britischer Mentalität und dem Klischee von<br />

britischem Essen. Hier gibt es Palmen (dem<br />

Golfstrom sei dank), Surfer und wirklich<br />

gute Fischrestaurants deren Essen nur noch<br />

vom Meerblick übertroffen wird. Eigentlich<br />

wollten wir uns hier nur einen Nachmittag<br />

aufhalten, es sind zwei Tage geworden.<br />

Direkt um die Ecke liegt dann auch eine<br />

der Attraktionen der Grünen Insel: Die<br />

Klippen von Moher sind tagsüber ein<br />

Touristenmagnet sondergleichen. Deshalb<br />

sollte man erst am Abend hierher kommen,<br />

wenn die Dauerschleife aus Bussen versiegt<br />

ist und die Sonne im Atlantik untergeht.<br />

Hohe Klippen und ein roter Feuerball der<br />

in einem Ozean versinkt, der erst in New<br />

York wieder auf Land trifft – selbst mit einer<br />

Handykamera könnte ich hier Profifotograf<br />

werden. Danach geht es Richtung<br />

Norden, quer durch die Connemara, einen<br />

Landstrich, der direkt aus dem „Herrn der<br />

Ringe“ übernommen worden sein könnte.<br />

Eine beeindruckende Reise liegt hinter uns,<br />

als wir dort auf dem Gipfel des Croagh<br />

Patrick stehen und versuchen unsere<br />

Kapuzen im Wind festzuhalten.<br />

Im Schutz der kleinen weißen Gipfelkapelle,<br />

direkt neben der unscheinbaren Gedenkstätte<br />

des heiligen Patrick, zelebrieren wir<br />

unser persönliches Gipfelfest mit einer<br />

Runde Schokoriegel. Schade, dass ich<br />

keine To-Do-Liste führe, ansonsten hätte ich<br />

nun einen weiteren Punkt abhaken können.<br />

Ich glaube, dass die Besteigung dieses<br />

Berges auf gute Weise den gesamten<br />

Charakter einer Tour mit Zelt und Rucksack<br />

zusammenfasst. Sich zu Fuß, mit dem<br />

Bus oder per Trampen durch ein Land zu<br />

bewegen ist kein Erholungsurlaub, doch<br />

gerade das ist das Schöne daran. Man<br />

weiß, dass es die Anstrengungen wert<br />

sind, denn ganz bestimmt wird man immer<br />

wieder dafür entlohnt, dass man sich die<br />

letzten Stunden durch Regen, Wind und<br />

protestierende Schafsherden gekämpft<br />

hat. Das lässt einen schnell seinen Frust<br />

vergessen und den Moment genießen.<br />

Denn eines ist klar: Man hat ein Land nicht<br />

wirklich kennen gelernt, solange man nie vor<br />

einem umgeworfenen Wegweiser gestanden<br />

hat, um festzustellen, dass man die letzten<br />

drei Kilometer in die falsche Richtung<br />

gelaufen ist.<br />

Ein Land lässt sich nicht durch die<br />

Fensterscheibe eines Busses erkunden<br />

und auch nicht durch das Pay-TV im<br />

Hotelzimmer. Man muss die Menschen<br />

kennen lernen. Und gerade in Irland sollte<br />

man deren Bekanntschaft unbedingt<br />

einmal machen. Keine Angst vor<br />

Berührungsängsten, sie lassen einen sogar<br />

sein Zelt in ihrem Vorgarten aufschlagen.<br />

Wer also einmal mehr in seinem Urlaub<br />

erleben möchte als Buffetschlachten und<br />

das Kinderanimationsprogramm sollte<br />

nach Wanderschuhen und wasserfester<br />

Jacke greifen und den Abenteurer in sich<br />

entdecken. Es ist eine große Umstellung,<br />

aber man lernt auch etwas über sich<br />

selbst. Ich habe immer geahnt, dass ich ein<br />

verwöhnter Großstädter bin, doch seitdem<br />

ich zum ersten Mal auf einer Dorfwiese<br />

mein Handy auf der Suche nach Empfang<br />

in die Luft gereckt und dabei über Dörfer,<br />

dämliche blökende Schafe und die Welt im<br />

Allgemeinen geschimpft habe, weiß ich es.<br />

Aber am Ende sind es ja doch nur die<br />

positiven Erinnerungen, die bleiben. Und<br />

damit die nicht auch komplett verblassen<br />

ist eines ganz wichtig: Reisetagebuch<br />

führen. So eine Reise kann wirklich viele<br />

Seiten füllen, auch wenn sie nur einen<br />

Monat dauert. Am Ende hat man das<br />

Gefühl etwas geschafft und sich etwas<br />

bewiesen zu haben: Es geht auch (fast)<br />

ohne Herd, Internet und Auto. Mit seinen<br />

vierzig Fastentagen auf dem Gipfel eines<br />

Berges hat mich der heilige Patrick zwar<br />

noch immer übertrumpft und ich habe auch<br />

nur ein paar Schnecken aus meinem Zelt<br />

vertrieben. Aber das Erlebte reicht, um hier<br />

noch etliche Seiten mit allerlei Anekdoten<br />

zu füllen. Und schließlich will ich in fünfzig<br />

Jahren meinen Zivi ja mit Geschichten<br />

nerven.<br />

Text und Foto: Felix Schledde<br />

FernSicht 29


ErkenntnisReich<br />

Foto: Corinna Kern


Transitionstagebuch, 2<br />

Karsten ist sauer. Sein Therapeut<br />

hat ihn völlig vor den Kopf<br />

gestoßen. Dem Therapeuten<br />

ist Karsten im Auftritt nicht<br />

männlich genug.<br />

„Wie denn auch, ich stecke ja<br />

noch in einem Frauenkörper!“<br />

Aber warum eigentlich ein Therapeut? Wenn<br />

Karsten wirklich seinen Körper verändern<br />

möchte, geht das in Deutschland nicht ohne<br />

ein Gutachten eines Therapeuten, dieses<br />

Gutachten nennt man dann eine Indikation.<br />

Der Therapeut soll feststellen, dass Karsten<br />

nicht schizophren ist oder eine andere<br />

Störung hat, sondern transsexuell ist.<br />

Früher wäre der Wunsch das Geschlecht zu<br />

ändern als Störung eingestuft worden, aber<br />

wir leben im 21ten Jahrhundert. Karsten<br />

muss nicht befürchten verfolgt oder in eine<br />

Psychiatrie gesteckt zu werden. Er muss nur<br />

seinem Therapeuten klar machen, dass er<br />

eigentlich ein Mann ist.<br />

Dennoch schwebt ein gewissen Unbehagen<br />

in ihm. Es ist dieser Therapeut. Dabei geht<br />

es ihm vor allem um das Machtverhältnis,<br />

das zwischen dem Therapeuten und ihm<br />

besteht. Was ist, wenn der Therapeut<br />

einfach einen schlechten Tag hat? Wenn<br />

der Therapeut andere Vorstellungen von<br />

Männlichkeit hat als Karsten und ihm die<br />

Indikation verweigert.<br />

Wie man Männlichkeit definiert weiß unsere<br />

Gesellschaft selber nicht mehr so genau.<br />

Wenn die geschlechtlichen Merkmale mal<br />

nicht als männlichkeitsstiftendes Mittel<br />

herangezogen werden dürfen, wird einem<br />

schnell klar, wie schwammig der Begriff<br />

der Männlichkeit doch gerade ist. Hosen<br />

sind seit der weiblichen Emanzipation nicht<br />

mehr ausschließlich männlich. Hosenanzüge<br />

erst recht nicht. Kurze Haare auch nicht.<br />

Was weiblich ist weiß unsere Gesellschaft<br />

noch recht gut. Ist Männlichkeit dann im<br />

hermeneutischen Zirkel der Gegensatz zur<br />

Weiblichkeit? Wenn es Frauen aber in einer<br />

Gesellschaft ohne Widerspruch gestattet<br />

32 ErkenntnisReich<br />

ist in „Männerklamotten“ herumzulaufen,<br />

wie soll Karsten sich dann nach außen<br />

als betont männlich geben? Hosen trägt<br />

Karsten, dazu einen angedeuteten Iro mit<br />

schwarz gefärbten Haare wie man sie<br />

auf jeder Gothicparty sieht, bei Männern<br />

und bei Frauen – ok, die Frisur ist unisex,<br />

zumindest in der Gothicszene, in der<br />

Karsten sich bewegt. Karstens Therapeut<br />

aber hat das nicht gereicht. Er würde<br />

nicht männlich genug auftreten, sagte<br />

ihm dieser immer wieder. Karsten steckt<br />

in einem Dilemma. Seine Stimme ist noch<br />

unüberhörbar weiblich, das wird sich erst<br />

mit Beginn der Hormonbehandlung ändern.<br />

Um diese beginnen zu können braucht<br />

Karsten aber die Hilfe des Therapeuten – die<br />

Indikation.<br />

Das Problem verstärkt sich noch durch<br />

den Wandel der Gesellschaft: Wie soll er<br />

männlich wirken, wenn Kleidung für Männer,<br />

Parfum für Männer, ja sogar Duschgel für<br />

Männer auch von Frauen verwendet werden<br />

kann, ohne dass ein Passant heute noch<br />

sagen würde: „Oh, diese Dame duftet nach<br />

einem Männerparfum, dann ist sie ja ein<br />

Mann!“?<br />

Kurzhaarschnitt und Jeanshosen, sieht<br />

so ein Transsexueller Mann aus? Nach<br />

Meinung des Therapeuten schon. „Oder<br />

sieht so nicht eher eine Klischeelesbe<br />

aus?“ ,fragt Karsten. Der Bereich, in<br />

dem ein transsexueller Mann als solcher<br />

gedeutet wird, ist winzig wenn man alle<br />

sexuellen Entfaltungen und Rollenbilder<br />

berücksichtigen möchte. Oder sind es nicht<br />

doch alles Klischees und die Wahrheit liegt<br />

irgendwo in einem fließenden Übergang<br />

dazwischen? Für Karsten gibt es keine<br />

klaren Grenzen zwischen den Sexualitäten.<br />

Für seinen Therapeuten aber schon. Muss<br />

Karsten nun seiner eigenen Überzeugung<br />

oder der des Therapeuten Rechnung tragen,<br />

um die Indikation zu bekommen?<br />

Um die Sache noch ein wenig komplizierter<br />

zu machen, orientiert sich Karsten nicht<br />

an der sagenumwobenen durschnittlichen<br />

Heterosexuellen Gesellschaft der CIS,<br />

sondern irgendwo in der Gothicszene.<br />

Irgendwo zwischen Gruftisein, Gothic und<br />

dem Drang sein körperliches Geschlecht<br />

dem eigenen Selbstempfinden anzupassen<br />

steht Karsten. Das alles ist aber für den<br />

Therapeuten zu viel.<br />

Wenn nun also der Therapeut konservative<br />

Werte von Männlichkeit von Karsten fordert,<br />

die er ihm aber nicht liefern kann und<br />

will, weil er seine eigenen Männlichkeit<br />

nicht für die Schublade des Therapeuten<br />

zurechtstutzen möchte, bleibt ihm nur<br />

noch die Flucht nach vorn: Er hat dem<br />

Therapeuten abgesagt und geht nun zu<br />

einer neuen Therapeutin. Karsten hofft, dass<br />

diese ihn versteht: Transsexuell und Gothic,<br />

ohne Kurzhaarschnitt. Anfang März ist der<br />

erste Termin bei der neuen Therapeutin.<br />

Niels Walker<br />

Therapeutensuche<br />

Mit welchem Problem auch immer man<br />

sich an einen Therapeuten wenden<br />

möchte, das erste Problem ist meist, dass<br />

nur schwer herauszufinden ist, welcher<br />

Therapeut zu einem passt. Anders als bei<br />

Ärzten, entscheidet hier nicht der sichere<br />

Umgang mit Skalpell, sondern vor allem die<br />

Zwischenmenschlichkeit. Nur selten kann<br />

man in seinem Bekanntenkreis nach einem<br />

guten Therapeuten fragen, dazu kommen<br />

noch die vielen Spezialisierungen, die es wie<br />

bei Ärzten auch bei Therapeuten gibt. Hier<br />

helfen zur Orientierung Beratungsstellen<br />

und –telefone, wie in Köln das Rubicon.<br />

Wenn ein Therapeut gefunden und die<br />

erste Sitzung vorüber ist, hat man in<br />

Deutschland das Recht, den Therapeuten<br />

wegen Nichtgefallens zu wechseln. Zu<br />

jedem Therapeuten bezahlen alle Kassen<br />

ohne Murren stets die ersten fünf Sitzungen<br />

– soviel Zeit wird einem eingestanden um<br />

den Therapeuten kennenzulernen. Wird der<br />

Therapeut gewechselt hat man wieder fünf<br />

Sitzungen zum kennenlernen – und so geht<br />

es weiter bis man einen Therapeuten findet,<br />

bei dem man sich gut aufgehoben fühlt.<br />

Ein paar Stufen in die dunkle<br />

Unterwelt der Uni Köln…<br />

Zwar macht die Uni Köln kein<br />

Staatsgeheimnis daraus, spricht aber<br />

besonders in Zeiten von Studiengebühren<br />

lieber über die neuen Bücheranschaffungen,<br />

als alte Leichen aus dem Keller zu holen.<br />

So wissen von dem kleinen Bergwerkstollen<br />

unter dem Hauptgebäude der Uni ungefähr<br />

so viele Menschen wie in DDR-Zeiten<br />

die Leute von dem eher weniger kollektiv<br />

genutzten Weinkeller Erich Honeckers.<br />

Der Barbarastollen ist ein nach der<br />

Schutzpatronin der Bergleute benanntes,<br />

ca. 40 Meter langes Schaubergwerk. Es<br />

stellt aber zum Glück keinen dunklen<br />

Foto: Corinna Kern<br />

Schatten in der Geschichte der Universität<br />

Köln dar. Hier sind keine Arbeiterlungen<br />

verstaubt, sondern das Bergwerk selbst.<br />

Jahrzehntelang lag es hinter verschlossenen<br />

Riegeln.<br />

Der Barbarastollen wurde 1932 von dem<br />

Essener Maler und Graphiker Kurt Holl<br />

als Teil des Museums für Handel und<br />

Industrie errichtet. Doch obwohl das<br />

Bergwerk tatsächlich eine bergrechtliche<br />

Genehmigung erhielt, beschränkte man<br />

sich darauf, die Bohrvorgänge und -geräte<br />

in den Wänden lediglich zu simulieren,<br />

da der Stollen den damaligen Studenten<br />

vorrangig als Anschauungsobjekt für die<br />

Bergwerktechnik und vor allem für die<br />

physischen Leistungen und Risiken eines<br />

Der<br />

Barbarastollen<br />

der Uni Köln<br />

Bergwerkarbeiters dienen sollte.<br />

Nachdem der Barbarastollen in den<br />

Jahren des 2. Weltkriegs schließlich in<br />

Vergessenheit geriet, stieß man erst in<br />

den 1980er Jahren während Bauarbeiten<br />

auf seinen Zugang und restaurierte das<br />

Bergwerk, um es erneut in den universitären<br />

Forschungsbetrieb aufzunehmen.<br />

…und die Erforschung der nicht<br />

viel strahlenderen Realität<br />

Heute gehört der Barbarastollen als fester<br />

Bestandteil zum Forschungsinventar<br />

des Instituts für Arbeitsmedizin der Uni<br />

Köln, wo unter der Leitung von Prof.<br />

Dr. Thomas Erren der Fokus auf der<br />

ErkenntnisReich 33


Untersuchung gesundheitlicher Folgen von<br />

Arbeitsbedingungen liegt.<br />

Nachdem in den 1950er Jahren in der<br />

Wissenschaft die Debatte über nature<br />

vs. nurture – also die Frage danach, ob<br />

Gene oder Umwelt mehr Einfluss auf den<br />

Menschen haben – eröffnet wurde, gelang<br />

man speziell in der Krebsforschung anhand<br />

empirischer Untersuchungen zu einem<br />

bedeutenden Schluss: Bei nur knapp 1/3<br />

der Fälle spielen genetische Faktoren eine<br />

Rolle, die Umwelt hingegen wirkt mit einem<br />

Anteil von bis zu 90% maßgeblich auf die<br />

Entstehung von Krebserkrankungen ein.<br />

An diesem Punkt setzen die Forscher des<br />

Instituts für Arbeitsmedizin an und nutzen<br />

die Einrichtungen des Barbarastollens<br />

zur ergänzenden Veranschaulichung ihrer<br />

Präventionsforschungen im Rahmen der<br />

Bergarbeit. So kann man, während man<br />

durch den Stollen läuft, die Tatsache,<br />

dass viele Bergwerkarbeiter bereits im<br />

mittleren Alter verstarben, mit dem bloßen<br />

34 ErkenntnisReich<br />

Auge und ganz ohne große medizinische<br />

Ausführungen nachvollziehen. So waren die<br />

deutschen Bergwerkarbeiter zu Anfang des<br />

20. Jh. der altbekannten Hitze ausgesetzt.<br />

Wie Prof. Erren erklärt, resultierte diese<br />

„aus der Maschinen- und Erdkernhitze<br />

und stellte, multipliziert durch die innere<br />

Körperhitze der Arbeiter, einen enormen<br />

Belastungsfaktor für Organe und Kreislauf<br />

dar“.<br />

Ein kiloschwerer Presslufthammer, welcher<br />

zum Rohstoffabbau senkrecht in der<br />

Bohrwand angesetzt wurde, zeigt den<br />

enormen Kraftaufwand für Muskulatur<br />

und Anatomie der Arbeiter: Viele litten an<br />

schweren orthopädischen Spätschäden. In<br />

diesem Zusammenhang erklärt Prof. Erren<br />

auch, dass die Kölner Heinzelmännchen<br />

nicht bloß kleine putzige Hauswichtel<br />

sind. In Form ihrer physiognomischen<br />

Kombination von kindlichen Körpern und<br />

greisenhaften Gesichtern verkörpern sie<br />

vor allem auch eine traurige Allegorie auf die<br />

Foto: Corinna Kern<br />

Kinderarbeit in den deutschen Bergwerken.<br />

Als weiteren Risikofaktor nennt Prof. Erren<br />

die hohe Staubentwicklung, welche in fast<br />

allen Fällen zu der so genannten Staublunge<br />

führt. So bildet vor allem die Inhalation von<br />

Asbest-, Arsen- und Quarzstaub ein erst<br />

nach Jahrzehnten sichtbares, jedoch dann<br />

nicht mehr zu beseitigendes Fundament<br />

für Lungenkrebs. Hier hingegen hat man<br />

seit 1955 ein neues Feuchtbohrverfahren<br />

eingeführt, anhand dessen der Staub<br />

gebunden wird.<br />

Nicht nur Körper, sondern auch<br />

Geist<br />

Doch neben den zahlreichen<br />

gesundheitlichen Belastungen betont Prof.<br />

Erren auch den immensen psychischen<br />

Druck, dem die Bergarbeiter ausgesetzt<br />

waren: „Die Arbeit „unter Tage“ musste stets<br />

unter Einhaltung strengster und genauester<br />

Sicherheitsvorkehrungen stattfinden.“ So<br />

musste bspw. vor jeder Sprengung eine<br />

ausführliche Lüftung erfolgen, um Metan-<br />

und Fäulungsgase entfliehen zu lassen.<br />

Geringste Mengen dieser Gase führen bei<br />

einer Sprengung schon zu Explosionen.<br />

„In Anbetracht dieser Umstände“,<br />

beschreibt Prof. Erren, „waren ausgebildete<br />

Bergbauarbeiter neben ihrer physischen<br />

Kapazität vor allem auch wegen ihrer<br />

sozialen Fähigkeiten für den Bergbau<br />

unentbehrlich – mehr als kaum woanders<br />

musste man sich dort aufeinander<br />

verlassen können, da ein einzelner Fehler<br />

eine Gefahr für alle dargestellt hätte.“<br />

Etwas, was bei den Stahlvorrichtungen zur<br />

Absicherung nicht der Fall war. Im Sinne des<br />

Bergarbeiterspruchs „Bergwerk will haben<br />

Verstand und getreue Hand!“ vertrauten die<br />

Bergarbeiter eher auf Holz als auf Stahl, da<br />

letzterer nicht wie Holz bei Überbelastung<br />

anfängt zu knacken und so Warnzeichen<br />

gibt, sondern plötzlich und unvorhersehbar<br />

einstürzt.<br />

Doch was den Bergarbeitern neben all der<br />

physischen und psychischen Belastung<br />

wohl am meisten zu schaffen gemacht<br />

hat, war die geringe Anerkennung ihrer<br />

Arbeit und die Vernachlässigung durch<br />

Vorgesetzte, oder wie es ein anderes<br />

Bergmannslied betont: „Kein Ding hat<br />

Bergwerk mehr zu Fall gebracht, als dass<br />

man Bergleute unlustig macht.“<br />

Vera Hölscher<br />

Foto: Corinna Kern<br />

ErkenntnisReich 35


Fehlerfreie IT<br />

36 ErkenntnisReich<br />

Auf der Suche nach dem Optimum<br />

Wir leben in einer hochtechnisierten Welt und verlassen uns in<br />

nahezu allen Lebensbereichen auf softwaregesteuerte Systeme oder<br />

Geräte. Doch was geschieht, wenn diese plötzlich ihren Dienst<br />

versagen?<br />

Ein junger Mann steht an der Kasse des Supermarkts. Während die Kassiererin seine<br />

EC-Karte in den Schlitz des kleinen Terminals einführt, das bargeldloses Bezahlen möglich<br />

macht, packt er noch einen Salatkopf oben in den mit Einkäufen prall gefüllten Rucksack.<br />

Als er wieder aufblickt, streckt ihm die Kassiererin die Karte aus Plastik entgegen. „Ist nicht<br />

gültig“, sagt sie tadelnd. „Haben Sie denn kein Bargeld dabei?“<br />

Solche und ähnliche Situationen spielten sich in den ersten Tagen des Jahres 20<strong>10</strong> vielleicht<br />

tausendfach an Kassen und an Geldautomaten ab. Aufgrund eines Softwarefehlers auf<br />

bestimmten Chips von bis zu 3 Mio. EC- und Kreditkarten verschiedener Finanzinstitute<br />

konnte die Jahreszahl 20<strong>10</strong> nicht verarbeitet werden. Das verursachte einen<br />

Transaktionsabbruch, wenn Kunden mit den betroffenen Karten versuchten, bargeldlos<br />

an sogenannten POS-Terminals (Point of Sale) zu bezahlen oder Geld am Bankautomaten<br />

abzuheben.<br />

Softwaregestützte Systeme sorgen auch da für einen zumeist reibungslosen Ablauf<br />

alltäglicher Vorgänge, wo sie von Menschen, die nicht gerade ein Informatikstudium<br />

absolviert haben, kaum vermutet werden. Das betrifft neben dem Zahlungsverkehr nicht nur<br />

den heimischen PC, das Internet, Mobiltelefone und MP3-Player. Stattdessen kommt von<br />

Menschen programmierte Software zur Steuerung elektronischer Geräte wie Rasierapparate,<br />

aber auch in Fahrstühlen, Verkehrsleitsystemen, Autos oder Flugzeugen zum Einsatz.<br />

Fehlbarkeit ist menschlich<br />

So enthält ein PKW eine Vielzahl an Geräten und kleinen Rechnern, welche etwa die Airbag-<br />

und Bremssysteme steuern und automatisch in die Fahrdynamik eingreifen können, um<br />

beispielsweise die Räder abzubremsen sowie die Drehzahl des Motors zu senken oder zu<br />

erhöhen. Von der plan- und ordnungsgemäßen Funktionsweise solcher Software hängen<br />

also nicht nur der tägliche Einkauf und eine glatte Rasur ab, sondern auch die Sicherheit der<br />

Fahrzeuginsassen.<br />

Dennoch kommt es auch bei solchen Systemen zu Fehlern, wie sich zuletzt Anfang Februar<br />

im großen Stil zeigte, als der weltweit größte Autobauer Toyota eine Rückrufaktion für sein<br />

Modell „Prius“ einleitete, von der laut Medienberichten zunächst rund 437.000 Fahrzeuge<br />

betroffen waren. Der Grund für den Rückruf lag in einer fehlerhaften Software des ABS-<br />

Systems (Antiblockiersystems), die auf unebenen Straßen oder bei Schlaglöchern zu einem<br />

kurzzeitigen Versagen der Bremsen führen konnte.<br />

Mehr Informationen zu den<br />

Forschungsprojekten der Saarbrücker<br />

Informatik gibt es im Internet unter:<br />

www.avacs.org<br />

www.verisoft.de<br />

Der Airbus 380 ist das derzeitig größte zivile<br />

Verkehrsflugzeug, das in Serienfertigung<br />

produziert wird. Es ist mit einer<br />

automatischen Schubkontrolle ausgestattet,<br />

die direkt in die Triebwerkselektronik<br />

eingreift.<br />

Nun ist Fehlbarkeit unbestritten eine menschliche Eigenschaft. Da darf es nicht verwundern,<br />

wenn auch Softwareentwicklern beim Programmieren eines Quellcodes Fehler unterlaufen,<br />

die für die genanten Probleme verantwortlich sind. – Auch in sicherheitskritischen Systemen,<br />

von deren einwandfreiem Funktionieren Menschenleben abhängen.<br />

Verified in Germany<br />

Forscher sind allerdings der Ansicht, dass solche Fehler doch nicht unvermeidbar sind. So<br />

behauptet die Informatik der Universität des Saarlandes, sie könne zeigen, wie garantiert<br />

fehlerfreie funktionierende Software entwickelt wird und zeigt dies in verschiedenen<br />

Forschungsprojekten und der Lehre.<br />

Eines dieser Forschungsprojekte ist der durch die Deutsche Forschungsge<strong>meins</strong>chaft<br />

(DFG) geförderte Sonderforschungsbereich „AVACS“, an dem neben Saarbrücken auch<br />

die Universitäten in Oldenburg und Freiburg sowie das Max-Planck.Institut für Informatik<br />

beteiligt sind. Darin bemühen sich Forscher darum, Methoden zur Vorhersage der<br />

Verlässlichkeit komplexer Systeme wie etwa der Schubkraftsteuerung im Airbus 380 zu<br />

geben. Im Mittelpunkt des Forschungsinteresses steht die automatische Fehlerdiagnose von<br />

Steuerungssystemen in Verkehrsmitteln, deren Sicherheit mit mathematischen Methoden<br />

nachgewiesen werden soll.<br />

Das zweite Projekt firmiert unter der Bezeichnung „Verisoft XT“, das seit 2007 vom<br />

Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mit rund zwölf Mio. Euro über drei<br />

Jahre finanziert wird. Im Rahmen des Vorgängerprojekts „Verisoft“ seien bereits seit dem<br />

Jahr 2001 Methoden zur formalen Verifikation komplexer Computersysteme entwickelt<br />

worden, mittels derer bewiesen werden könne, dass Computersysteme ihre mathematisch<br />

exakten Vorgaben konkret erfüllten. Nun machen sich die Forscher darum verdient, ein<br />

Qualitätssiegel mit der Bezeichnung „Verified in Germany“ zu entwickeln und die im ersten<br />

Projekt entwickelte Methode auf existierende Industrieprojekte anzuwenden. Für diese solle<br />

der mathematische und maschinell überprüfte Beweis erbracht werden, dass die betrachteten<br />

Computersysteme im Entwurf Null Fehler enthalten.<br />

Das sind ehrgeizige Ziele, zumal die computergestützten Verifikationswerkzeuge, die<br />

menschliche Fehler bei der Programmierung ausschließen sollen, wiederum auf von<br />

Menschen erdachten Systemen beruhen. Nichtsdestotrotz soll den Forschungen Erfolg<br />

gewünscht werden. Schließlich sorgt menschliches Fehlverhalten im Verkehr schon an ganz<br />

anderer Stelle für Probleme, auf die gut zu verzichten ist.<br />

Thomas Heinen<br />

ABS<br />

Das ABS ist ein System, das in erster<br />

Linie die Fahrsicherheit beim Bremsen<br />

erhöht. Dabei wird bei einer Bremsung der<br />

Bremsdruck auf die Räder automatisch<br />

vermindert, um deren Blockieren zu<br />

verhindern. Das kann lebensrettend sein,<br />

denn blockierte Räder, die sich nicht mehr<br />

drehen, lassen sich kaum mehr lenken und<br />

brechen aus der Spur.<br />

ErkenntnisReich 37


Herr Professor Hermanns, was verstehen<br />

Sie unter 'Softwarefehlern'?<br />

Welche Gründe kann es für<br />

Softwarefehler geben?<br />

In den Forschungsprojekten AVACS und<br />

Verisoft XT werden Verfahren entwickelt,<br />

die Softwarefehler verhindern sollen.<br />

Welchen Ansatz verfolgen Sie dabei?<br />

In welchen Bereichen rufen<br />

Softwarefehler die größten Schäden<br />

hervor?<br />

Softwarefehler kosten<br />

Leib und Leben<br />

Interview mit Prof. Dr.-Ing. Holger Hermanns, Arbeitsgruppe für Verlässliche Systeme und Software an<br />

der Universität des Saarlands.<br />

von Thomas Heinen<br />

38 ErkenntnisReich<br />

Bei Softwarefehlern kann man zunächst zwischen Schreibfehlern, Denkfehlern und vor allem<br />

Missverständnissen unterscheiden. Da Programme einfach aus Buchstaben und Zeichen<br />

bestehen, treten Schreibfehler häufig auf. Sie werden aber auch leicht erkannt, zumeist direkt<br />

von der Programmierumgebung. Ein berüchtigter Schreibfehler ist etwa der, bei dem die '1',<br />

also die Zahl Eins, mit 'l', also dem kleinen Buchstaben L, verwechselt wird. Das allein kann<br />

schon katastrophale Folgen haben.<br />

In der Praxis stellen wohl Missverständnisse das wesentliche Problem dar. Sie entstehen,<br />

wenn sich viele Programmierer, die an einem großen Projekt beteiligt sind, nicht gut genug<br />

abstimmen. Das ist ein großes Problem, da das Schreiben großer und kleiner Programme<br />

heutzutage auf mehrere Schultern und sogar auf mehrere Kontinente verteilt wird. Hinzu<br />

kommt der Zeitdruck und oft auch mäßig ausgebildetes und überlastetes Personal, das die<br />

Programmteile im letzten Moment zusammenstöpseln muss.<br />

In beiden Projekte geht es darum, die Korrektheit komplizierter Programme zu beweisen. Verisoft<br />

XT hat sich zum Ziel gesetzt hat, in der Forschung bereits etablierte Techniken im großen<br />

Stil auf aktuelle, große Softwareprodukte anzusetzen wie etwa den Hypervisor von Microsoft.<br />

AVACS hingegen ist ein Sonderforschungsbereich der DFG und daher an grundlegenden<br />

Fortschritten interessiert. Ich bin dort beteiligt und wir entwickeln zum Beispiel Methoden, die<br />

das softwaregesteuerte Bremsen eines Konvois von ICE-Zügen selbst in Grenzsituationen sicher<br />

macht. Unsere Forschungsergebnisse haben dabei großen Einfluss auf die europäische<br />

Entwicklung in diesem Bereich.<br />

Dort wo Leib und Leben bedroht sind, zum Beispiel im Personentransport oder bei der Steuerung<br />

von chemischen Fabriken, ist das Risiko natürlich am höchsten. Allerdings ist man sich<br />

in diesen Bereichen der Problematik bewusst und arbeitet mit deutlich besseren Methoden<br />

als zum Beispiel beim Steuerungsprogramm für einen Rasierapparat.<br />

Gefolgt vom Schienenverkehr und der Automobilindustrie ist die Flugzeugindustrie hier mit<br />

Abstand am weitesten. Es gelten äußerst strenge Standards, wo es um die Sicherheit der<br />

Passagiere geht und ein kleiner Softwarefehler gleich hunderte von Menschen das Leben<br />

kosten kann. Damit die Computersysteme in Flugzeugen und Zügen mit ihren Tausenden von<br />

Mini-Prozessoren garantiert fehlerfrei funktionieren, wird viel Geld investiert..<br />

Die dafür notwendigen Verfahren werden in vielen Facetten an der Universität des Saarlandes<br />

und den Informatik-Forschungsinstituten auf dem Campus erforscht. Dabei geht es zum<br />

Wie werden Ihre Erkenntnisse für die<br />

Praxis nutzbar gemacht?<br />

Welche Möglichkeit haben Studenten,<br />

um an Ihren Forschungen teilzunehmen?<br />

„Es ist wichtig, in die Ausbildung zu<br />

investieren, um die Folgen schlechter<br />

Software zu begrenzen“<br />

Beispiel um äußerst komplexe Anwendungen wie etwa die Steuerung des Riesenflugzeugs<br />

Airbus A 380. Der Hersteller Airbus muss eine Garantie dafür abgeben, dass die Steuerung<br />

unter allen Umständen rechtzeitig und richtig reagiert. Die dafür eingesetzten Methoden sind<br />

natürlich sehr aufwendig und konzentrieren sich auf die Problematik, rechtzeitig reagieren zu<br />

können. Sie sind weltweit einzigartig.<br />

Software spielt heute überall eine Rolle, ob im Kühlschrank, im Auto oder beim Zahnarzt.<br />

Deshalb ist es wichtig, in die Ausbildung zu investieren und eine Basis dafür zu schaffen,<br />

die gesellschaftlichen Folgen schlechter Software zu begrenzen. Auch arbeiten Saarbrücker<br />

Kollegen von mir an der Unterstützung des Programmierers bei der Suche nach Ursachen<br />

für Softwarefehler, die so weit geht, dass Vorschläge gemacht werden, wie und wo das<br />

Programm zu reparieren ist. Das ist extrem innovativ und gleichzeitig auch für den alltäglichen<br />

Programmierer einsetzbar.<br />

Die Saarbrücker Informatik hat das Problem schon früh als Herausforderung erkannt.<br />

Informatikstudenten lernen hier schon im ersten Semester, wie fehlerfreie Softwaresysteme<br />

aufgebaut sein müssen. Deutschlandweit einzigartig ist, dass sie bereits in den ersten<br />

Pflichtvorlesungen die Korrektheit ihrer Programme beweisen müssen. Die Verpflichtung,<br />

Software von hoher Qualität abzuliefern, zieht sich durch das ganze Studium und wird auf<br />

vielfache Weise unterstützt und vertieft.<br />

ErkenntnisReich 39


ZeitGeist<br />

Foto: Niels Walker


Das Beste der Stadt:<br />

Als audiophiler Connoisseur popkultureller<br />

Artefakte, Maulwurf im feuchten,<br />

fruchtbaren Erdreich der Musikgeschichte<br />

- im Volksmund auch: Vinyljunkie - blieb<br />

mir in Köln ob mieser Ausbeute an wahren<br />

Perlen, unfreundlichem Service und völlig<br />

überteuerten Preisen bisher nur eines:<br />

Frustration. Resultat: skrupellose Ebay<br />

Verticker bereicherten sich an meiner Sucht,<br />

ich hatte oft genug den Ärger. Topzustand,<br />

keine Kratzer. Stimmt, die Tiefseegräben<br />

auf der B-Seite hier als Kratzer zu betiteln<br />

wäre auch echt ein Euphemismus. Aber<br />

vermutlich ist während der Auslieferung<br />

einer mit dem Pflug drübergefahren.<br />

Beim Einpacken war sie jedenfalls noch<br />

semijungfräulich...<br />

Doch all das hat nun ein Ende und das<br />

dem so ist, ist ein einziger glorreicher<br />

Beweis dafür, das es Wunder eben doch<br />

immer wieder gibt. Seit Jahren lauf ich an<br />

dem Laden vorbei, seh‘ das Banner "LP<br />

Ver- und Ankauf" und denke mir: "Nee,<br />

lass ma, das kann nix sein.". Unwissend,<br />

Infokasten<br />

Nunk-Musik<br />

Richard-Wagner-Str. 38<br />

50674 Köln<br />

ZeitGeist<br />

Nunk-Musik<br />

dass sich von allen Hinterhöfen Kölns<br />

ausgerechnet in diesem etwas befindet,<br />

das meiner Idealvorstellung von einem<br />

Plattenladen eigentlich schon fast<br />

unverschämt nahe kommt. Ein kleines<br />

Shangri- La inmitten der Wüste des<br />

schlechten Geschmacks, eine analoges<br />

Heiligtum inmitten digitaler Profanität. Zwei<br />

Räume, höhlenartig, Schummerlicht. Bis<br />

unter die Decke leicht chaotisch vollgestopft<br />

mit schwarzem Gold und ausrangiertem<br />

alten Abspielgerät. Vorne fachsimpeln die<br />

Kenner bei einem frisch gebrauten Kaffee,<br />

neben dem heilige Gral der Vinylpflege, der<br />

legendären - und sündhaft teuren - Keith<br />

Monk Plattenwaschmaschine. Hinten<br />

verrichten die Jünger ihren Opferdienst<br />

am Allerheiligsten. Und wenn das Säckel<br />

dann voll ist mit mindestens doppelt so<br />

vielen Schätzchen als es das Budget<br />

eigentlich hergibt und man selbst glaubte<br />

jemals auf einen Streich zu ergattern<br />

gilt's den schweren Weg an die Theke<br />

anzutreten. Herzrasen, Schweißperlen,<br />

das Grauen, das Grauen. Doch siehe da,<br />

der Chef ist nicht nur kompetent sondern<br />

in der Preisgestaltung auch noch fair und<br />

verhandlungsbereit. Kniefall, letzte Ölung,<br />

Hallelujah - Jahre lang machst Du mich<br />

glauben, der Weg zur Glückseligkeit führe<br />

nur durchs finstere Tal der elektronischen<br />

Bucht und nun ganz und gar unverhofft,<br />

das. Herr, Deine Wege sind wahrlich<br />

unergründlich!<br />

Doch liebe Leser, seid gewarnt. Zwar mag<br />

eine plötzliche Offenbarung selbst Ketzer<br />

bekehren. Geht es jedoch um territoriale<br />

Fragen, gewinnt schnell wieder das Tier<br />

im Manne die Überhand, ist es mit den<br />

religiösen Gefühlen respektive vorbei.<br />

Also lest diesen Text, auf dass die frohe<br />

Botschaft göttlicher Intervention Eurer<br />

Erbauung diene, aber kommt um Himmels<br />

Willen nicht auf die dumme Idee, in meinem<br />

Revier zu wildern - oder Ihr werdet Euch<br />

noch nach den Höllenqualen sehnen!<br />

Text: Felix Grosser<br />

Foto: Niels Walker<br />

Kanon<br />

Von der Nezessität<br />

des Exzesses - eine Verklärung<br />

Mein Gott, was macht so ein Semester eigentlich mit einem? Vier Monate erzwungene Anwesenheit in Veranstaltungen ohne Sinn und<br />

Verstand. Die ewige Scheinjagd im Modulendschungel zwingt zu Konzessionen allenthalben. Von den eigentlichen Interessen in den meisten<br />

Fällen nur abgehalten. Der ganz normale Wahnsinn in einem einstmaligen Land der Dichter und Denker in dem Bildung im Jahre 20<strong>10</strong> fast nur<br />

noch außerhalb der Universitäten stattfinden kann.<br />

Der Verschleiß setzt schleichend ein, doch eines Tages bemerkt man eine Last auf seinen Schultern, die mit jedem weitern Schritt zunimmt.<br />

Ausgelaugt, frustriert, wütend schleppt man sich in die Semesterferien, dass Grauen angesichts noch zu schreibender Hausarbeiten über<br />

an Irrelevanz nicht zu überbietende, professoriell verordnete Themen nur unzureichend verdrängt. Ein Traum: eine kleine Holzhütte mitten<br />

im Nirgendwo ein Bett, ein Schreibtisch, ein Schaukelstuhl. Vorräte und Brennholz für Monate, im Gepäck sämtliche Bücher, die man in<br />

den letzten fünf Jahren nicht lesen konnte. Der Weg dorthin führt über die Exmatrikulation. Doch die kommt nicht in Frage. Also zurück ins<br />

Hamsterrad und noch ein wenig kräftiger strampeln. Das bisschen ganz persönliche Weiterentwicklung auf das man nicht verzichten möchte<br />

ist nur auf dem Wege der Selbstausbeutung zu haben.<br />

Was hält einen in dieser Situation eigentlich noch davon ab verrückt, depressiv oder, am schlimmsten, feige zu werden - denn nichts anderes<br />

ist Gleichgültigkeit... All die Unerträglichkeiten künftig als Normalität hinzunehmen und sich in dieser armseligen Normalität einzurichten?<br />

Nicht viel möchte ich meinen, doch es gibt da so ein paar kleine Hausmittelchen, Gegengifte. Eines davon ist paradoxerweise jene uralte<br />

Menschheitsinstitution, die man doch gewöhnlich den frohen Tagen vorbehalten wähnte: das Feiern. Trotz allem. Wegen allem.<br />

Damit wir uns nicht falsch verstehen: ich rede hier nicht von karnevalistisch verordnetem Frohsinn, der doch nur in kollektive Entmenschlichung<br />

mündet und auch nicht von rekreativen Zwangsneurosen ("Boah, du kommst nicht wie jede Woche mit ins ewig gleich ätzende, zum Platzen<br />

volle XY um dich an enthemmten Jugendlichen zu reiben? Man bist du langweilig!"). Ich rede von guten Freunden, günstigen Sternen, süßem<br />

Nektar, der Magie der Nacht. Klang, Bewegung, Rausch. Bacchantischer Ritus, das ewige Fest, heilsamer Exzess, gelebte Dekadenz. Selten<br />

genug gelingt es in einer Welt aus medialen Simulacren, bevölkert von deren verblendeten Jüngern zu deren Reihen wir uns alle, wie widerwillig<br />

auch immer, zählen müssen, noch in Sphären von solcher Wahrhaftigkeit vorzudringen.<br />

Nichtsdestotrotz, in gewissen Momenten scheint zumindest eine unmittelbare Annäherung möglich. Das mag illusorisch sein, doch es fühlt<br />

sich unvergleichlich gut an.<br />

Felix Grosser<br />

Sonderschule der Ästhetik<br />

Underground<br />

Oh du Dieb meiner Jugend! Wie konnte ich einst nur Wochenende für Wochenende in deinen qualmstinkenden, Emo verseuchten Betonhallen<br />

verbringen? War ich verblendet, von verkommenem Musik- und Menschengeschmack? War es die ungestüme Blüte - der Fluch? -<br />

jugendlicher Begierden, die mich immer wieder zwischen die schwitzenden Leiber trieben, um mich zu noch so untanzbaren Rhythmen zu<br />

winden, bis in die frühen Morgenstunden? (Nebelschwaden wallen, die sagenumwobene Zeit der Resteverwertung bricht an...) Oder war ich<br />

doch einfach nur jung und brauchte das Geld, du hingegen kostenlos und allzeit bereit?<br />

Wie dem auch sei. Es wohnt dem tatsächlich ein Zauber inne, an die Orte seiner Vergangenheit zurückzukehren. Ein seltsames Gefühl,<br />

zwischen Nostalgie und Abscheu. Ein schuldbeflecktes Vergnügen an der Grenze zum Masochismus. War das Ich? War ich ein anderer? Wer<br />

bin "Ich"?<br />

Die Ambiguität rührt wohl daher, dass man in solchen Momenten erkennt, wie prekär all unsere so fürsorglich zurechtpräparierten Identitäten<br />

sind. Es durchmengen sich Trauer, ob der Vergänglichkeit des für sicher gehaltenen, Unbehagen, ob vom Standpunkt aktueller Verfasstheiten<br />

in ihrer Logik nicht mehr nachvollziehbarer Denk- und Verhaltensweisen, in ihrer Unmittelbarkeit nicht mehr nachfühlbarer emotionaler<br />

Intensitäten. Aber da ist auch eine wundersame, befreiende Freude. Nichts bleibt ewig gleich, alles ist Veränderung. Ein einziger Reigen, ein<br />

endloses Spiel in dem man sich verliert. Denn "Ich", das sind ganz offensichtlich viele.<br />

Felix Grosser<br />

ZeitGeist


FeinSinn<br />

Bild von sxc.hu


Die Erfindung der romantischen Liebe<br />

Liebe besteht aus zwei Phasen. Erstmal<br />

verliebt man sich. Man ist nervös, wenn<br />

man das Objekt seines Verliebtseins in<br />

unmittelbarer Nähe wähnt.<br />

Ist es zu lange nicht in unmittelbarer<br />

Nähe, empfindet man Sehnsucht. Ein<br />

Tunnelblick entwickelt sich, der die<br />

Attraktivität Anderer ausblendet und die<br />

Aura des oder der Angebeteten umso<br />

strahlender und perfekter erscheinen<br />

lässt. Ist einige Zeit vergangen, wandelt<br />

sich das Gefühl vom Euphorischen in<br />

eine Art tiefe Sympathie. So weit die<br />

heutige westliche Vorstellung von Liebe,<br />

wie sie allgemein anerkannt ist.<br />

Doch diese Form von Liebe wohnt nicht<br />

auf wundersame Weise der natürlichen<br />

Wesensart aller Menschen inne. Auch<br />

sie ist ein Konstrukt, das erfunden und<br />

in der Gesellschaft etabliert wurde. Im<br />

Fall der romantischen Liebe geht diese<br />

Etablierung gemäß dem Philosophen<br />

Irving Singer sogar so weit, dass diese<br />

Vorstellung die gesamte moderne<br />

westliche Welt für sich eingenommen<br />

hat. Der Ursprung liegt in der Bewegung<br />

des deutschen Romantikerkreises Ende<br />

des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts.<br />

Ein wichtiges Mitglied dieses Kreises<br />

und Mitbegründer der deutschen<br />

Romantik war Friedrich Schlegel. In dem<br />

Roman Lucinde (1799) exemplifiziert<br />

er die Liebe anhand des Werdegangs<br />

des Romanhelden Julius. Dabei geht<br />

es um die Konstitution seiner eigenen<br />

Subjektivität als Künstler. Das Ich<br />

des Romantikers, so die Philosophin<br />

Sharin N. Elkholy, kann sich selbst<br />

gemäß diesem Roman nur in der<br />

Widerspiegelung eines Gegenübers<br />

eingrenzen und sich damit selbst<br />

erschaffen. Über sich selbst zu<br />

46 FeinSinn<br />

reflektieren gelingt dem Romantiker<br />

nur innerhalb der Beziehung zu einem<br />

Gegenüber, im Fall des Romanhelden<br />

in Lucinde zu einer Frau. Wird die<br />

Leidenschaft des Subjekts nicht auf ein<br />

bestimmtes Objekt gebündelt, ist sie<br />

richtungslos und somit nicht imstande,<br />

zu handeln oder gar etwas zu schaffen.<br />

Damit diese Reflexion nicht abbricht,<br />

muss das Subjekt in seinem Gegenüber<br />

immer neue Aspekte entdecken, durch<br />

die es wiederum neue Facetten an sich<br />

selbst erkennt. Das Objekt der Liebe<br />

wird somit als unendlich gesehen, es<br />

wird idealisiert.<br />

Bei diesem komplexen Zusammenspiel<br />

der Selbstkonstitution in der Liebe<br />

zum Zweck der Inspiration zur Kunst<br />

handelt es sich jedoch nicht um ein<br />

gleichberechtigtes Spiegeln. Die Frau<br />

wird in dieser Idealisierung als Quelle<br />

der Liebe gesehen, die vom Mann<br />

erst freigesetzt werden muss. Der<br />

programmatische Roman trägt zwar den<br />

Namen der Frau, die der Romanheld<br />

Julius idealisiert. Der eigentliche Inhalt<br />

ist jedoch die Selbstfindung des<br />

Romanhelden mithilfe der Liebe zu einer<br />

Frau. Dabei wird diese Frau von außen<br />

idealisiert. Hier stellt sich die Frage nach<br />

der Konstitution des weiblichen Selbst,<br />

wenn sie doch primär Mittel zum Zweck<br />

der männlichen Selbstfindung dient.<br />

Doch die Entstehung der romantischen<br />

Liebe lässt auch die heutige Vorstellung<br />

von Liebe in kritischem Licht erscheinen.<br />

Auch wenn man davon ausgeht, dass<br />

das Abgrenzen und Situieren des Ichs<br />

auch von der anderen Seite in einer<br />

gleichberechtigten Liebesbeziehung<br />

geschieht, in der sich beide gegenseitig<br />

reflektieren und erkennen. Dass der<br />

andere ideal sein muss, damit die<br />

romantische Liebe entstehen kann, wird<br />

deutlich, wenn umgangssprachlich die<br />

Rede von „der/dem Richtigen“ ist, nach<br />

dem gesucht wird. Inwiefern romantische<br />

Liebe lediglich eine Selbstfindung<br />

mithilfe einer menschlichen<br />

Projektionsfläche sein kann, die<br />

Kreation eines eigenen Ideals, dem das<br />

Gegenüber zu entsprechen hat, zeigt die<br />

Entstehung dieser Idee. Es lohnt sich<br />

auch hier, sich vor Augen zu führen, dass<br />

es sich um eine Vorstellung handelt, die<br />

eine Alternative zu anderen ist, die aber<br />

allgemein anerkannt und medial immer<br />

wieder transportiert wird.<br />

Iris Sygulla / Bild von sxc.hu<br />

FeinSinn 47


In stinkender Gesellschaft<br />

48 FeinSinn<br />

Als er in den Raum kam, hatte er<br />

den Gestank nicht wahrgenommen.<br />

Vielleicht war es, weil er noch zu jung<br />

und unerfahren war, vielleicht hatte<br />

er es sich einfach von den Älteren<br />

abgeschaut, die damals wie heute den<br />

Gestank kaum wahrnahmen, höchsten<br />

hin und wieder die Nase rümpften,<br />

erstaunt, fast beleidigt aufsahen, dann<br />

fluchten, nur um die Ursache ihrer<br />

Empörung im nächsten Moment wieder<br />

vergessen zu haben. Er selbst hatte<br />

jedenfalls den Gestank lange Zeit nicht<br />

wahrgenommen. Es schien ihm normal,<br />

dass die Luft kaum zu atmen war, dass<br />

er, wenn er tief Luft holte, erst einmal<br />

husten musste und, dass die Nase ihm<br />

brannte.<br />

Erst seit er immer mehr Zeit in der Nähe<br />

eines der geöffneten Fenster auf der<br />

linken Seite des Raumes verbringen<br />

durfte - ein Privileg, für das seine Eltern<br />

lange hatten arbeiten und kämpfen<br />

müssen - und dort die frische Luft, die<br />

aus dem anscheinend unendlich großen<br />

anderen Raum kam, einsog, inhalierte,<br />

ja gerade zu süchtig danach wurde, erst<br />

seitdem empfand er den Aufenthalt in<br />

der Mitte des Raumes als erdrückend.<br />

Er verbrachte immer mehr Zeit am<br />

Fenster, stundenlang saß er einfach dort<br />

und atmete.<br />

Es war für ihn wie ein Urlaub aus den<br />

langen Zeiten innerhalb der dunklen<br />

Teile des Raums, in denen die Luft am<br />

stickigsten, am übelsten war. Erstaunlich<br />

für ihn war, wie klar die Menschen um<br />

ihn herum plötzlich wurden. Er konnte<br />

ihre Gesichter fast erkennen, konnte<br />

sehen, dass sie auch Menschen waren,<br />

wie er, nicht nur Schemen, die durch<br />

die schlierige Luft wabbelten, wie<br />

Gespenster durch die Nacht. Es war<br />

ebenso erstaunlich, dass sie oft an ihm<br />

vorbei liefen, ohne ihn wahrzunehmen,<br />

ihn vermutlich, wie er sie zuvor, nur als<br />

wabbelnde Gestalt sahen, nicht als<br />

anderen Menschen und schon gar nicht<br />

als Individuum.<br />

Im Raum selbst erschien ihm nun<br />

alles grauer, trister, einseitiger und vor<br />

allem langweiliger als zuvor. Die Luft<br />

zum Atmen fehlte ihm so unglaublich,<br />

dass er manchmal, nachts - dann,<br />

wenn wenigstens die bunten Lichter<br />

der Notausgangsleuchten die Wände<br />

erhellten - dachte, er müsse ersticken.<br />

Hin und wieder zog er sich dann heimlich<br />

an und tastete sich seinen Weg durch<br />

die schlafenden Leiber der Gestalten, die<br />

zusammengekauert auf dem von Dunst<br />

überzogenen Boden lagen und röchelnd<br />

schliefen.<br />

Nur wenige waren um diese Uhrzeit noch<br />

wach, die dunkelsten der Gestalten,<br />

die, das sah er nun, da er sie erkennen<br />

konnte, tiefe Augenfalten trugen wie<br />

Eheringe. Er schlich sich immer an ihnen<br />

vorbei, obwohl er wusste, dass sie ihn<br />

niemals sehen würden; viel zu erdrückt<br />

waren sie von der stinkenden Luft, die<br />

ihr Leben erfüllte. Nur manchmal, wenn<br />

die Notausgangslichter besonders hell<br />

schienen und er fast in Versuchung kam,<br />

ihren Zweck zu erkunden, da hoben sich<br />

die Köpfe der nächtlichen Gestalten<br />

und aus dunklen Augenhöhlen starrten<br />

sie ungefähr in seine Richtung, verloren<br />

jedoch schnell das Interesse und<br />

widmeten sich wieder dem, was immer<br />

sie taten.<br />

Natürlich ging er dann immer zu einem<br />

der Fenster, die nachts nur einen Spalt<br />

weit geöffnet waren, doch trotzdem<br />

noch genug frische Luft spendeten, um<br />

den stinkenden Abgasen des Raumes<br />

zu entkommen. Er presste dann sein<br />

Gesicht gegen den Spalt und zog die<br />

Luft scharf durch die Nase ein, das Grau<br />

hinter ihm verblasste und er starrte in<br />

das unglaubliche Bunt des unendlichen<br />

Raumes hinter den Fenstern.<br />

Nur einmal fand er schon eine Gestalt am<br />

Fenster stehend, das Gesicht genauso<br />

in den Spalt haltend, wie er in den<br />

Nächten zuvor; er schlich sich schon seit<br />

geraumer Zeit immer öfter davon, weil<br />

die Luft ihm unerträglich wurde. Es hatte<br />

ihn geärgert, dass die Gestalt einfach<br />

dort stand, wo sein Platz sein sollte; sein<br />

Platz, den er in so vielen Nächten belegt<br />

hatte, den er genossen und gepflegt<br />

hatte, der für ihn so völlig vom Grau<br />

befreit schien, wie der Raum dahinter.<br />

Er hätte zu einem der anderen Fenster<br />

gehen können, doch keines hätte in<br />

dieser Nacht seinen Ansprüchen genügt;<br />

nein, es musste dieses Fenster sein. Er<br />

zögerte noch kurz, entschied sich jedoch<br />

auch nicht dafür, umzudrehen, um<br />

wieder zu versuchen einzuschlafen, zu<br />

groß war das Verlangen nach Frischem,<br />

Neuem, Buntem. Also ging er auf die<br />

Gestalt zu, die ihn nicht zu bemerken<br />

schien, und tatsächlich, als er ihr leicht<br />

auf die Schulter pochte, erschrak sie,<br />

drehte sich um und blickte ihn aus<br />

großen, traurigen Augen an.<br />

Es war das erste Mal, dass er<br />

eine Frau in seinem Alter sah und<br />

tatsächlich durchfuhr ihn ein Prickeln,<br />

als hätte er sich den eingeschlafenen<br />

Musikantenknochen gestoßen; nur in<br />

schön und angenehm. Es ging durch<br />

seinen gesamten Körper und hinterließ<br />

ein Glücksgefühl, wie er es noch nie<br />

gekannt hatte.<br />

Der gesamte Raum war plötzlich in ein<br />

helleres Licht getaucht, ein so helles<br />

Licht wie es die Notausgangslichter<br />

nicht einmal an ihren besten Tagen<br />

ausstrahlten.<br />

Sie sah ihn weiter an, er brachte kein<br />

Wort heraus, bewegte nur den Mund,<br />

ohne sich zu artikulieren und bemerkte<br />

dabei eine Sache, die ihm schon zuvor<br />

sonderbar aufgestoßen war, die er<br />

nun aber erkannte und über deren<br />

Unglaublichkeit er begeistert war.<br />

“Du kannst mich sehen!”, stieß er hervor.<br />

“Ja!”, sagte sie nur, löste die Sperren<br />

des Fensters, eine Sache, die er nie<br />

gewagt hatte, so dass sie beide auf<br />

der Fensterbank lehnen und die frische<br />

Luft atmen konnten. Sie standen dort<br />

stundenlang schweigend nebeneinander,<br />

bis mit einem leisen Surren die ersten<br />

Neonleuchten an der Decke den Raum in<br />

eine hellere Nuance von Grau tauchten.<br />

Er hätte es kaum gemerkt, wäre da nicht<br />

das Surren gewesen; das alltägliche,<br />

maschinelle Geräusch, das allen<br />

verkündete, dass ein weiterer Arbeitstag<br />

eingeläutet war. Sie warf ihm einen<br />

Blick zu, den er nicht zu deuten wusste,<br />

deutete scheu mit dem Kopf auf das<br />

Grau hinter ihnen, das für ihn immer<br />

noch heller als je zuvor war.<br />

“Ich muss gehen!”, sagte sie, beugte<br />

sich vor und drückte ihm einen leichten<br />

Kuss auf seine Wange, der, so schien<br />

es ihm, jeden seiner Nerven zum<br />

Erglühen brachte.<br />

“Wie heißt Du?”, brachte er gerade<br />

noch über die Lippen.<br />

“Lirim!”, sagte sie mit ihrer weichen<br />

Stimme, die etwas versprach, dass er<br />

nicht einordnen konnte; etwas, dass<br />

seine Hoffnung weckte, seine Hoffnung,<br />

auf ein Leben außerhalb des Raumes...<br />

Sie kletterte auf die Fensterbank und<br />

sprang, zu seinem großen Erschrecken,<br />

einfach auf die andere Seite, einfach in<br />

den anderen Raum und ging leichten<br />

Schrittes davon. Um ihn herum<br />

erwachten die dunklen Gestalten zum<br />

Leben, huschten durch den Nebel,<br />

konnten aber nicht die erwachte<br />

Hoffnung ersticken. Das Glücksgefühl<br />

wurde stärker, er nahm den Nebel nun<br />

kaum noch wahr, die klare Luft des<br />

anderen Raumes erfüllte ihn. Ein letzter<br />

Blick über seine Schulter zeigte ihm<br />

das gesamte Ausmaß des Raumes,<br />

indem er so viele Jahre seines Lebens<br />

verbracht hatte. Er sah das, was die<br />

anderen nicht sahen, zu gefangen von<br />

der stinkenden, erdrückenden Luft;<br />

Menschen, die arbeiteten, arbeiteten,<br />

arbeiteten, alle mit einem grimmigen,<br />

entschlossen Gesichtsausdruck im<br />

Gesicht. Andere, die durch die Reihen<br />

gingen, ein wenig klarer durch den<br />

Nebel sehen konnten, die Arbeitenden<br />

beobachteten; und noch andere,<br />

die auf erhöhten Sitzplätzen saßen<br />

und wiederum die, die durch die<br />

Reihen Gehenden überwachten. Das<br />

Unsinnigste aber war der mittlere Teil<br />

des Raumes, zu dem alles, was über<br />

den Tag erschaffen wurde, gebracht mit<br />

Öl übergossen und verbrannt wurde.<br />

Eine riesige Rauchwolke erhob sich<br />

in den Raum; endlich konnte er sich<br />

den Nebel erklären. Am liebsten hätte<br />

er geschrien, hätte den anderen die<br />

Augen geöffnet, sie Luft atmen lassen,<br />

hätte alle Fenster aufgerissen und den<br />

brennenden Berg von Nahrung, Plastik<br />

und Öl gelöscht. Doch er wusste, dass<br />

sie ihn weder sehen, noch hören würden;<br />

geschweige denn wollten. Er sah wieder<br />

aus dem Fenster und erzitterte. Lirim<br />

wartete auf ihn, hielt ihm die Hand<br />

durch das Fenster hin, so dass er sie<br />

nur ergreifen musste, um dem Gestank<br />

zu entfliehen. Er überlegte nicht lange,<br />

ein Lächeln breitete sich auf seinem<br />

Gesicht aus, er setzte einen Fuß auf die<br />

Fensterbank, ergriff die Hand der jungen<br />

Frau und verschwand.<br />

Simeon Buß / Bild von sxc.hu<br />

FeinSinn 49


50 FeinSinn<br />

Als ich an dem Irish Pub vorbei gehe,<br />

kommen sie vor mir aus dem Laden raus.<br />

Sie sind beide höchstens 20, wahrscheinlich<br />

jünger. Er ist groß und schlaksig, sieht<br />

nach Alternativrock aus, aber auf eine<br />

altmodische, vorstädtische Weise. Keiner<br />

von denen mit den Karo-Pantoffeln und<br />

den tiefsitzenden Röhrenhosen, die unterm<br />

Arsch ein straff gespanntes Segel bilden.<br />

Stattdessen ziert den Rücken seiner<br />

schwarzen Motorradjacke ein Heavy<br />

Metal-Aufnäher, und seine Jeans trägt er<br />

ordentlich auf der Hüfte, wodurch seine<br />

langen spindeldürren Beine ins Auge<br />

springen. Sie trägt eine lange braune<br />

Steppjacke und ist einen Kopf kleiner als er.<br />

Ihre Stiefel sehen nicht besonders alternativ<br />

aus.<br />

Sie gehen nebeneinander her, aber zu<br />

weit voneinander weg, als dass sie schon<br />

zusammen sein könnten, es sieht mehr<br />

nach einer ersten Verabredung aus. Sie läuft<br />

komisch; ein bißchen wie ein Preisboxer,<br />

breitbeinig, mit schwingenden, weit<br />

ausholenden Armbewegungen. Im Laufen<br />

wirft sie ihm hin und wieder einen zaghaften<br />

Blick von der Seite zu. Er streicht sich<br />

nervös den Kapuzenpullover um den Gürtel<br />

glatt und sieht meistens stur gerade aus, die<br />

Hände in den Taschen.<br />

Die Absätze ihrer Stiefel knallen dumpf<br />

auf die Gehwegplatten. Es scheint so, als<br />

hätte sie sich die Stiefel von ihrer großen<br />

Schwester für heute Abend geliehen, aber<br />

den Dreh noch nicht raus, wie man damit<br />

auch so läuft, dass es sexy wirkt. Bei seinen<br />

seltenen Blicken zur Seite blitzen seine<br />

Brillengläser in der Straßenbeleuchtung auf.<br />

Die dünnen Haare hängen ihm in die Stirn.<br />

Es ist nach halb drei Uhr morgens, also<br />

war ihre Verabredung wahrscheinlich kein<br />

Reinfall. Sie haben ein paar Stunden in<br />

der Kneipe verbracht, und die Momente<br />

peinlicher Stille sind immer seltener<br />

geworden. Wer hätte das gedacht, als<br />

sie sich vor zwei Wochen zufällig auf<br />

den Gängen des Hauptgebäudes über<br />

den Weg liefen. Zuerst war es so, wie es<br />

meistens ist, wenn sich Menschen wieder<br />

begegnen, die Jahre auf der gleichen<br />

Schule verbracht haben, aber nie ein Wort<br />

miteinander wechselten: zäh, verdruckst<br />

und unbeholfen.<br />

Aber dann standen sie eine halbe Stunde<br />

vor der Tür des Hörsaals, um am Ende<br />

dieses Treffen zu verabreden. Keiner von<br />

beiden dachte dabei an ein Date; es war<br />

mehr die Erleichterung, in der Flut von<br />

Neuem jemand Bekannten gefunden zu<br />

haben, etwas an dem man ansetzen kann.<br />

Auch als sie dann im Irish Pub sitzen,<br />

kommen sie erst dann richtig ins Gespräch,<br />

als sie anfangen von früher zu erzählen.<br />

Sie haben festgestellt, dass sie bei<br />

ihren Lehrern die gleichen Vorlieben und<br />

Abneigungen hatten, worüber sie damals<br />

nie miteinander gesprochen hätten. Er führt<br />

ihr seine Imitation ihres Chemie-Lehrers<br />

vor, der immer Goldkettchen trug und<br />

bis in die dritte Reihe nach kaltem Rauch<br />

stank. Sie verschluckt sich beim Lachen,<br />

und jetzt versteht sie endlich, was daran<br />

so lustig war, wenn er mit seinem Kumpels<br />

früher in der letzten Reihe albern kichernd<br />

Verrenkungen machte und den Unterricht<br />

störte.<br />

Aber irgendwann hat dann der Barkeeper<br />

die letzte Runde angekündigt und wohl<br />

oder übel sind sie jetzt auf dem Weg zur<br />

Straßenbahn, und die Unsicherheit kommt<br />

wieder zurück. Beide haben den Abend und<br />

die Gesellschaft des Anderen genossen<br />

und beide denken an dasselbe: Dass sie in<br />

die große Stadt gegangen sind, um etwas<br />

zu erleben, dass das hier eigentlich genau<br />

das ist, was sie damit meinten, dass sie<br />

inzwischen wirklich alt genug sind und<br />

worauf sie eigentlich noch warten wollen.<br />

Und doch wissen sie nicht genau, wie sie es<br />

anstellen sollen. Es fehlt der Vergleich, und<br />

beide beobachten vorsichtig die Reaktionen<br />

des jeweils anderen.<br />

Es ist eine unangenehme Situation und<br />

will nicht ganz zu ihrer vorherigen guten<br />

Laune passen. Aber zwischendurch treffen<br />

sich ihre Blicke doch, und dann lächelt sie,<br />

schlägt frierend die Arme um den Körper<br />

und beugt sich zu ihm hin, um den Witz<br />

besser zu verstehen, den er leise in seinen<br />

Bartflaum nuschelt. Es scheint schwierig,<br />

aber diese Blicke lassen doch Hoffnung<br />

aufkommen, dass sie sich an der Bahn<br />

nicht einfach voneinander verabschieden,<br />

um dann jeweils auf dem Heimweg darüber<br />

nachzudenken, was gewesen wäre wenn.<br />

Vielleicht passiert es diesmal einfach so,<br />

und morgen werden sie sich gar nicht mehr<br />

erinnern können, wer den ersten Schritt<br />

gemacht hat.<br />

Aber ich werde es nicht mehr erfahren,<br />

denn an der nächsten Kreuzung biege<br />

ich in die dunklere Seitenstraße ein, wo<br />

der nächtliche Straßenlärm abklingt und<br />

zwischen den Häusern verhallt. Ich sehe<br />

sie noch, während ich abdrehe, im Pulk<br />

vor dem Kiosk verschwinden und wünsche<br />

ihnen alles Gute.<br />

Nein, ehrlich.<br />

Christopher Dröge<br />

FeinSinn 51


Feinsinn liebt // Playlist<br />

Pet Shop Boys – Always On My Mind<br />

The Smiths – There's A Light That Never Goes Out<br />

OK Go – WTF?<br />

Thomas D. - Liebesbrief<br />

The Maccabbes – Toothpaste Kisses<br />

Tocotronic - Jackpot<br />

The Thrills – Saturday Night<br />

Xavier Naidoo – Sag es laut<br />

Dean Martin – That's Amore<br />

Stevie Wonder – I Just Called To Say I Love You<br />

Bodo Wartke – Liebeslied (in allen Sprachen)<br />

Joy Division – Love Will Tear Us Apart<br />

The Cure – Friday I'm In Love<br />

Cream – Sunshine Of Your Love<br />

The Blow - Parentheses<br />

Phoenix – Long Distance Call<br />

Yeah Yeah Yeahs – Maps<br />

Stereo Total – Liebe zu dritt<br />

Kool & The Gang – Cherish<br />

FeinSinn<br />

Bild: Maiko Henning<br />

Foto: Maiko Henning<br />

Feinsinn liebt // sms-Blog<br />

Liebst du mich?<br />

- Ein bißchen.<br />

Ein großes oder ein kleines bißchen?<br />

- Eigentlich doch kein bißchen.<br />

Foto: Sara Copray<br />

Text: Niels Walker<br />

FeinSinn


Impressum<br />

Herausgeber: Verein zur Förderung studentischen Journalismus Köln e.V.<br />

www.vfsjk.de<br />

ViSdP Niels Walker<br />

Chefredaktion: Niels Walker<br />

Art Direction: Sebastian Herscheid<br />

Bildredaktion: Corinna Kern<br />

Redaktion/Lektorat: Julia Brand, Simeon Buß, Christopher Dröge, Marcel Doganci, Sabina Filipovic, Felix Grosser,<br />

Thomas Heinen, Vera Hölscher, Maximiliane Koschyk, Christiane Mehling, Kathrin Mohr,<br />

Johanna Regenhard, Felix Schledde, Iris Sygulla, Niels Walker, Christine Willen<br />

Gestaltung/Layout: Sven Albrecht, Sara Copray, Elisa Hapke, Sebastian Herscheid, Elisabeth Weinzetl<br />

Online: Karin Hoehne<br />

Fotografie: René Becker, Simeon Buß, Aneta Demerouti, Maiko Henning, Corinna Kern,<br />

Felix Schledde, Niels Walker<br />

Leitung d. Ausbildung: Kathrin Mohr<br />

Website: www.<strong>meins</strong>-<strong>magazin</strong>.de<br />

Erscheinungsweise: monatlich<br />

Impressum<br />

StaatsKunst<br />

FeinSinn kämpft! Das Aprilheft ist auf Krawall gebürstet! Wir zeigen euch Judo und was man<br />

im Kampfsport tunlichst unterlassen sollte. Nur noch ein Monat bis das Semester wieder<br />

anfängt, aber eigentlich immer noch keine Ahnung was man jetzt machen sollte? Der Kampf<br />

im Inneren, FeinSinn trägt ihn aus!<br />

Das neue LebensEcht schaut sich für euch auf den Basaren der Erinnerungen und Nützlichkeiten<br />

rum. Dabei wird ordentlich auf den Taler geachtet und gefeilscht: Das Portemonnaie<br />

geht auf den Flohmarkt. Wir zeigen euch die besten Händlerwiesen in und um Köln.<br />

Iran, Iran, das sind Atombombe und ein knallhartes Regime, oder? Wir lassen das mal beiseite<br />

und zeigen euch den Iran ohne Politik und Drohgebärden: FernSicht verreist, schaut Land<br />

und Leute, Landschaften und Herzlichkeit. Kommt mir, wir fahren in den Iran! Vorschau<br />

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