Menschenbilder. Sammlung Joseph Hierling
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<strong>Menschenbilder</strong><br />
Die individuelle Bildsprache des expressiven Realismus<br />
Ismaning - In den letzten Jahren rückt das<br />
Schaffen der Künstler des expressiven Realismus<br />
immer mehr in den Blickpunkt der<br />
Öffentlichkeit. Auch das Kallmann-Museum<br />
befasst sich zum wiederholten Male mit dieser<br />
Künstlergeneration, der auch Hans Jürgen<br />
Kallmann angehört, der Stifter des Museums.<br />
Unter dem Einfluss der Expressionisten entwickelte<br />
sich in der ihnen nachfolgenden<br />
Generation der um 1900 geborenen Künstler<br />
eine eigene Kunstströmung, die realistische<br />
Malerei und die Errungenschaften der Mo-<br />
Oben: Walter Becker, Trio III oder im Bad,<br />
1968, Öl/Leinwand; links: Hans Jürgen<br />
Kallmann, Der Sohn des Künstlers lesend,<br />
1950er Jahre, Öl/Leinwand
derne zu einer eigenen individuellen Bildsprache<br />
verband; der Kunsthistoriker Rainer<br />
Zimmermann prägte dafür den Begriff „Expressiver<br />
Realismus“.<br />
„Eine Bildkunst, die auf<br />
dem mannigfaltigen Formenvokabular<br />
der Klassischen<br />
Moderne aufbaut,<br />
Farbe und Pinselduktus als<br />
wesentliches Ausdrucksmittel<br />
einsetzt und den Gegenstand<br />
als Zeugen der<br />
künstlerischen Inspiration<br />
beibehält – das ist Expressiver<br />
Realismus.“<br />
Dr. Ingrid von der Dollen<br />
Viele Künstler dieser Generation<br />
waren im Nationalsozialismus verfemt,<br />
viele wurden durch jahrelangen<br />
Kriegsdienst am kontinuierlichen<br />
Schaffen gehindert. Oft wurde<br />
ein großer Teil ihre Werke<br />
durch Bombenangriffe und Kriegswirren<br />
vernichtet. Nur wenige aus<br />
dieser Generation waren bereits<br />
vor 1933 so bekannt, dass sie trotz<br />
dieser Zäsur in ihrem Leben ihre<br />
internationale Bedeutung bewahren<br />
konnten. Die meisten dieser Künstler,<br />
die nach 1945 nicht den Weg<br />
in die Abstrakte Malerei gingen,<br />
gerieten ab 1950 ins künstlerische<br />
Abseits, der Kunstbetrieb wandte<br />
sich der Weltsprache der gegenstandlosen<br />
Kunst zu. Dennoch gewannen<br />
einige dieser Künstler regionale<br />
Anerkennung und fanden<br />
engagierte Sammler und Förderer.<br />
So machte sich zum Beispiel Albert Birkle<br />
einen Namen mit der Gestaltung von Kirchenfenstern.<br />
Albert Birkle wurde am 21. April 1900 in<br />
Berlin in einer Künstlerfamilie als Sohn eines<br />
Firmengründers für Monumental- und<br />
Dekorationsmalerei (Ausstattung von Burgen,<br />
Schlössern, Kirchen) geboren. Er wird<br />
1919 Lehrling im väterlichen Atelier und<br />
studierte von 1918-1924 an der Hochschule<br />
für Bildende Künste Berlin bei Ferdinand<br />
Spiegel und Paul Plontke. Birkle wird 1923<br />
Jüngstes Mitglied der Berliner Sezession<br />
unter Lovis Corinth. 1924 bis 1927 ist er<br />
Meisterschüler von Arthur Kampf. Er heiratet<br />
1924 Elisabeth Starosta. Drei Jahre später,<br />
1927, lehnt er eine Professur in Königsberg<br />
ab, stattdessen führt Birkle große Aufträge<br />
zu Wandmalereien aus. 1936 vertritt<br />
Albert Birkle Deutschland auf der Biennale<br />
in Venedig. Ein Jahr später gehört er zu den<br />
verfemten Künstlern. Zwischen 1947 und<br />
1968 führt er bedeutende Glasmalereien für<br />
Kirchenfenster aus. 1958 wird er Professor.<br />
Von 1968 bis 1978 arbeitet er an einem großen<br />
Fensterzyklus für die National Cathedral<br />
in Washington D.C. In den Jahren von<br />
1980 bis1985 finden große Retrospektiven<br />
über das Schaffen Birkles statt. Geehrt wird<br />
Albert Birkle mit dem Ring der Stadt Salzburg<br />
und dem Goldenen Verdienstzeichen<br />
des Landes Salzburg. Albert Birkle starb am<br />
29. Januar 1986 in Salzburg.<br />
Hans Jürgen Kallmann wurde als Bildnismaler<br />
bekannt. Er kam am 20. Mai 1908 in<br />
Wollstein/Posen zur Welt. Der Künstler war<br />
im Berlin der 1930er Jahre im Umkreis von<br />
Links: Lotte Lesher-Schneider, Elsa Schneider<br />
in Tanzpose, 1932, Öl/Leinwand; unten:<br />
Wolfgang von Websky, Dr. Peter Beckmann,<br />
1976, Öl/Leinwand
Oben: Anton Faistauer, Portrait der Malerin<br />
Sylvia Koller, 30er Jahre, Öl/Leinwand<br />
Ernst Barlach, Emil Nolde und Käthe Kollwitz<br />
erfolgreich. Er wurde von Max Liebermann<br />
gefördert und erhielt 1934 den Rompreis<br />
der Preußischen Akademie der Künste.<br />
Kallmann wurde in der Ausstellung „Entartete<br />
Kunst“ von den Nationalsozialisten<br />
angeprangert, sein Gemälde „Hyäne in der<br />
Nacht“ hing dort neben den Werken von<br />
Emil Nolde und Franz Marc. Nach dem<br />
Krieg hatte Hans Jürgen Kallmann Erfolg<br />
als einfühlsamer Porträtist von Künstlern<br />
und Politikern. Seine bekannteste Arbeit ist<br />
das Adenauer-Porträt für die Kanzler-Galerie<br />
im Bundeskanzleramt. Nicht weniger<br />
beeindruckend sind seine Porträts von Papst<br />
Johannes XXIII., Bundespräsident Theodor<br />
Heuss sowie den Bundestagspräsidenten<br />
Hermann Ehlers, Eugen Gerstenmaier und<br />
Annemarie Renger. Hans Jürgen Kallmann<br />
starb am 6. März 1991 in Pullach im Isartal.<br />
Künstler wie Erich Glette und Walter Be-<br />
cker erhielten Professuren an Kunstakademien.<br />
Erich Glette, geboren am 4. August 1896 in<br />
Wiesbaden als Sohn deutsch-brasilianischer<br />
Eltern (die Mutter war Indianerin), besuchte<br />
1914 erstmals Brasilien. Es folgte ein kurzes<br />
Studium an der TH München. Glette begegnet<br />
dem Schweizer Maler Martin Lauterburg<br />
in München. Ihn betrachtet er als seinen<br />
eigentlichen Lehrer. 1924 stellt er erstmals<br />
bei der „Neuen Sezession“ in München<br />
aus und wird um 1926 deren Mitglied.
In München ist<br />
Glette von 1925<br />
bis 1934 als freier<br />
Maler tätig. 1927<br />
erfolgte der erste<br />
öffentliche Ankauf<br />
durch die<br />
Bayerische<br />
Staatsgemäldesammlung<br />
sowie<br />
die Ausmalung<br />
einer Kirche in<br />
Döllnitz bei Nabburg<br />
in der Oberpfalz.<br />
Die Städtische<br />
Galerie in<br />
München kaufte<br />
ein erstes Werk<br />
1929 an. Auf die<br />
Beschlagnahme<br />
seiner Werke<br />
1937 aus den<br />
Bayerischen<br />
Staatsgemäldesammlungen<br />
folgt<br />
das Ausstellungsverbot<br />
durch die<br />
Reichskulturkammer<br />
der Nationalsozialisten.<br />
1951<br />
erfolgte Glettes<br />
Berufung als Professor<br />
an die<br />
Münchner Kunstakademie.<br />
1959<br />
wird er Mitglied<br />
der Bayerischen<br />
Akademie der<br />
Schönen Künste.<br />
1974 wird Erich<br />
Glette mit dem<br />
Bundesverdienstkreuz<br />
geehrt. Er<br />
erhält auch den<br />
Seerosenpreis der<br />
Stadt München.<br />
Erich Glette stirbt<br />
am 26. Januar<br />
1980 in Prien.<br />
Der Maler und Grafiker Walter Becker wurde<br />
am 1. August 1893 in Essen als Sohn eines<br />
Schmiedemeisters geboren. Von 1910<br />
bis 1913 absolviert er eine Ausbildung als<br />
Grafiker an der Kunstgewerbeschule Essen.<br />
Er begegnet dem Maler und Bildhauer Karl<br />
Albiker. An der Karlsruher Kunstakademie<br />
studiert er von 1915 bis 1918 bei Walter<br />
Conz. Walter Becker zählt zu den Repräsentanten<br />
des deutschen Expressionismus und<br />
war mit Georges Braque, George Grosz und<br />
anderen Künstlern befreundet. 1931 wird er<br />
mit dem Kunstpreis der Stadt Hannover geehrt.<br />
Ein großer Teil des Werkes von Walter<br />
Becker fiel ab 1937 den Nationalsozialisten<br />
als entartete Kunst zum Opfer. 1941 erfolgt<br />
die Versiegelung seines Ateliers und Entzug<br />
seines Lehrauftrags an der Karlsruher Akademie.<br />
Seine Bilder aus dem Folkwang-Museum<br />
Essen werden entfernt. Von 1951 bis<br />
1958 ist er erst Lehrer, dann Professor an<br />
der Kunstakademie Karls ruhe. 1952 erhält<br />
Becker den ersten Preis der Internationalen<br />
Graphik-Gilde, Paris. In seinem Spätwerk<br />
entstanden neben druckgrafischen Arbeiten<br />
großformatige Mythologien, Interieurs und<br />
Stillleben. Walter Becker starb am 24. Oktober<br />
1984 in Dießen.<br />
Neben den Künstlern, sind auch zahlreiche<br />
Künstlerinnen in dieser Zeit tätig, so Karoline<br />
Wittmann, Erna Schmidt-Caroll oder<br />
Lotte Lesher-Schneider.<br />
Oben: Ludwig Maria Beck, Selbst als Clown<br />
o.J., Öl/Leinwand<br />
Karoline Wittmann, geboren am 26. Februar<br />
1913 in München, besucht ab 1934 die Malschule<br />
von Moritz Heymann sowie Abendkurse<br />
bei Max Mayrshofer an der Münchner<br />
Kunstakademie. Sie studiert von 1937 bis<br />
1945 an der Münchner Kunstakademie bei<br />
Anton Roth und Adolf Schinnerer. Sie ist<br />
Meisterschülerin bei Julius Hess.<br />
Karoline Wittmann ist befreundet mit der<br />
Malerin Luise Niedermaier (1908-1997).<br />
1944 muss sie den Verlust von ihrem Atelier<br />
sowie ihrem Werk beklagen. Ende der<br />
1940er Jahre nimmt sie ihre künstlerische
Arbeit wieder auf. Sie wird Mitglied der<br />
GEDOK und der Neuen Münchner Künstlergenossenschaft<br />
und beteiligt sich an deren<br />
Ausstellungen. Aufgrund von Krankheit<br />
beendet Karoline Wittmann 1965 das Ma-<br />
len, setzt aber ihre Ausstellungstätigkeit<br />
fort. Sie stirbt am 15. März 1978 in München.<br />
Die am 30. Oktober 1896 in Berlin geborene<br />
Erna Schmidt-Caroll absolvierte eine Höhe-<br />
re Mädchenschule in Neisse<br />
(Schlesien). Von 1914 bis 1916<br />
studierte sie an der Kunstakademie<br />
Breslau, Zeichnen und Akt<br />
bei Arnold Busch. Bei der Firma<br />
Gerson in Berlin arbeitet sie 1916<br />
als Zeichnerin für Modeentwurf.<br />
An der Unterrichtsanstalt des<br />
Staatlichen Kunstgewerbemuseums<br />
Berlin absolvierte Erna<br />
Schmidt-Caroll von 1917 bis<br />
1920 ein Studium, sie ist Meisterschülerin<br />
bei Emil Orlik. Sie arbeitet<br />
als freie Künstlerin und Illustratorin<br />
für verschiedene Zeitschriften<br />
und beteiligt sich mit ihren<br />
Arbeiten an zahlreichen Ausstellungen<br />
in Berlin. Von 1926 bis<br />
1943 arbeitet die Künstlerin als<br />
Lehrerin an der Reimann-Schule<br />
in Berlin und deren Nachfolgeinstitution<br />
„Kunst und Werk“. In<br />
dieser Zeit übernimmt sie einen<br />
Aktzeichenkurs an der Textil-<br />
Fachschule Berlin. 1943 wird sie<br />
nach Herischdorf im Riesengebirge<br />
evakuiert und sie arbeitet im<br />
Kriegshilfsdienst in einer Zellulosefabrik.<br />
Kurz vor Kriegsende 1945, flieht<br />
sie aus Schlesien und verliert alle dorthin<br />
mitgenommenen Arbeiten. Nach dem Krieg<br />
ist Erna Schmidt-Caroll von 1945 bis 1951<br />
freischaffend in Landshut und München tätig.<br />
Sie sichert ihren Lebensunterhalt<br />
durch Illustrationen<br />
für Zeitschriften<br />
und Muster für eine Seidenweberei.<br />
Es entstehen<br />
verschiedene Buchillustrationen.<br />
Von 1951 bis<br />
1955 ist sie Abteilungsleiterin<br />
für Grafik und Mode<br />
an der Werkkunstschule<br />
Hannover und danach,<br />
bis 1961, Leiterin der Entwurfsklasse<br />
für Figur, Akt<br />
und Komposition an der<br />
Meisterschule für Mode,<br />
Hamburg. 1963 erkrankt<br />
Erna Schmidt-Caroll und<br />
zieht nach München um.<br />
Sie stirbt am 16. April<br />
1964 in München.<br />
Als Tochter eines Maschinenfabrikanten<br />
wird Lotte<br />
Lesehr-Schneider am 20.<br />
Mai 1908 in Oberlennin-<br />
gen bei Kirchheim/Teck<br />
Oben: Arthur Degner,<br />
Junge Frau in Berglandschaft,<br />
1950er Jahre, Öl/<br />
Leinwand; unten: Hans<br />
Olde, Weiblicher Halbakt,<br />
1932, Öl/Leinwand
geboren und wächst in Stuttgart auf. Nach<br />
ihrem Schulabschluss auf dem Katharinenstift,<br />
besucht sie ein Mädchenpensionat. Gegen<br />
den väterlichen Willen studiert sie ab<br />
1925 an der Stuttgarter Kunstakademie bei<br />
Arnold Waldschmidt und Anton Kolig. In<br />
der Zeit um 1928/29 entstehen Zeichnungen<br />
im Stuttgarter Bürgerhospital von Kranken<br />
und Geistesgestörten, die ihre Neigung zum<br />
Expressiven, der Norm Widersprechenden<br />
spiegelt. Von 1930 an, absolviert sie ein<br />
Studium an den Vereinigten Staatsschulen<br />
in Berlin bei Ferdinand Spiegel und Maximilian<br />
Klewer, bei Wilhelm Tank anatomisches<br />
Zeichnen sowie Emil Orlik. Lotte Lesehr-Schneider<br />
kehrt nach Stuttgart zurück<br />
und wird Meisterschülerin von Anton Kolig.<br />
Sie stellt 1933 im Kunstgebäude Stuttgart<br />
aus, drei Jahre später bei Gurlitt in Berlin.<br />
1938 heiratet sie den Bildhauer Georg Lesehr,<br />
sie ziehen nach Biberach um. Lotte<br />
Lesehr-Schneider arbeitet als Malerin und<br />
Bildhauerin und Unterricht in Aktzeichnen.<br />
Durch Bombeneinwirkung und Plünderungen<br />
1945 gegen die frühen Arbeiten verloren.<br />
Die Verbindung von Familie und bildnerischer<br />
Arbeit gelingt ihr nicht. Erst in<br />
den 1960er Jahren nimmt sie die künstlerische<br />
Arbeit wiederauf. 1995 stirbt ihr Ehemann<br />
und sie kehrt nach Stuttgart zurück.<br />
Am 4. Februar 2003 stirbt Lotte Lesehr-<br />
Schneider in Stuttgart.<br />
Trotz regionaler Anerkennung wurden auch<br />
die erfolgreichen Künstler des expressiven<br />
Realismus als unangepasste Individualisten<br />
wahrgenommen und nicht als Teil einer<br />
breiten Kunstströmung. Im Schaffen dieser<br />
Künstler nimmt das Bild des Menschen eine<br />
bedeutende Rolle ein. Menschen in der<br />
Stadt und in der Natur, bei der Arbeit und<br />
im Gespräch, Akte, Porträts und Gruppenbilder<br />
zeigen, dass neben formalen oder<br />
kunsttheoretischen Problemen nach wie vor<br />
der Mensch dazu anregte, eindrucksvolle<br />
Kunstwerke zu schaffen.<br />
Das Kallmann-Museum zeigt ca. 90 Gemälde<br />
und Zeichnungen von Künstlern des Expressiven<br />
Realismus. Die Werke stammen<br />
aus der <strong>Sammlung</strong> <strong>Joseph</strong> <strong>Hierling</strong>, der umfangreichsten<br />
Kunstsammlung expressiver<br />
Realisten weltweit und zu einem geringen<br />
Teil aus dem Kallmann-Museum. 350 Werke<br />
aus der <strong>Sammlung</strong> <strong>Hierling</strong> haben einen<br />
dauerhaften Platz in der neu eröffneten<br />
Kunsthalle Schweinfurt gefunden, die ebenfalls<br />
zu den Leihgebern gehört.<br />
Präsentiert werden die Werke im Kallmann-<br />
Museum Ismaning vom 23. Oktober bis<br />
7. Januar 2010.<br />
Oben: Ernst Stadelmann, Lesendes Mädchen,<br />
1940, Öl/Leinwand; unten: Hanns<br />
Hubertus von Merveldt, Weiblicher Halbakt,<br />
1932, Öl/Hartfaserplatte