Das Magazin 1|2013 (PDF, 3.6 MB) - Deutsche BKK
Das Magazin 1|2013 (PDF, 3.6 MB) - Deutsche BKK
Das Magazin 1|2013 (PDF, 3.6 MB) - Deutsche BKK
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
4<br />
IM FOKUS DIGITALE DEMENZ<br />
Digitale Medien schaden<br />
dem kindlichen Gehirn<br />
Mit seinem Buch „Digitale Demenz – Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen“<br />
eroberte er die Bestsellerlisten und löste Kontroversen aus: Manfred Spitzer. In dem folgenden<br />
Interview erläutert der renommierte Hirnforscher die Gründe für seine Thesen und gibt zugleich<br />
Tipps für einen sinnvollen und „hirngerechten“ Umgang mit den digitalen Medien.<br />
❯❯ <strong>Magazin</strong>: Kritik an technischen Entwicklungen<br />
und Erfindungen ist nichts Neues.<br />
Was bringt nun einen Mediziner und Hirnforscher<br />
wie Sie dazu, in diesen Chor mit<br />
einzustimmen und speziell Computer, Internet<br />
und digitale Medien zu kritisieren, ja<br />
sogar von digitaler Demenz zu sprechen?<br />
❮❮ Ich glaube nicht, dass es hier einen<br />
„Chor“ gibt, in den man „einstimmen“ kann<br />
oder sollte: Jede technische Neuerung ruft<br />
Begeisterung und Argwohn bzw. Kritik hervor,<br />
sei es die Dampfmaschine, die Eisenbahn,<br />
die Röntgenstrahlen, das Auto, der<br />
Fernseher, der Computer oder das Internet.<br />
Erst die Zeit zeigt, ob die Warner oder die<br />
Optimisten Recht behalten. Meistens haben<br />
beide irgendwie Recht: <strong>Das</strong> Auto ist aus unserem<br />
Leben nicht mehr wegzudenken,<br />
weltweit verursacht es jedoch Hunderttau-<br />
sende von Toten jährlich. Röntgenstrahlen<br />
waren nach ihrer Erfindung so beliebt, dass<br />
man sich auf Partys gegenseitig durchleuchtete.<br />
Bis in die 70er durchleuchtete<br />
man die Füße vor allem von Kindern, um<br />
das Passen von Schuhen zu kontrollieren.<br />
Heute wissen wir um die Gefährlichkeit der<br />
Strahlen.<br />
❯❯ <strong>Magazin</strong>: Eine Ihrer Thesen ist ja, dass<br />
Kinder zu früh mit den digitalen Medien in<br />
Berührung kommen. Können Sie erläutern,<br />
warum das eine Gefahr für das kindliche<br />
Gehirn darstellt? Und was heißt in diesem<br />
Zusammenhang „zu früh“?<br />
❮❮ <strong>Das</strong> kindliche Gehirn befindet sich noch<br />
in Entwicklung. Es ist also keineswegs identisch<br />
mit dem ausgereiften und entwickelten<br />
Gehirn des Erwachsenen. Zur „Gehirn-<br />
Foto: Bartussek<br />
bildung“ bedarf es des Umgangs mit der<br />
Welt. Eine ganze Reihe von Studien konnte<br />
zeigen, dass der Umgang mit digitalen<br />
Medien hier nicht genügt und damit der<br />
Gehirnbildung abträglich ist. Im Hinblick auf<br />
die Frage, wann „zu früh“ genau ist, muss<br />
zunächst einmal betont werden, dass es<br />
hierzu noch keine genügenden wissenschaftlichen<br />
Erkenntnisse gibt. Die Indizien,<br />
die wir aufgrund vieler Studien haben, legen<br />
jedoch nahe, dass in Kindergarten und<br />
Grundschule die Nachteile definitiv die<br />
möglichen Vorteile überwiegen. <strong>Das</strong> Gleiche<br />
dürfte auch für die Klassen 6, 7 und 8 der<br />
Fall sein. Man denke nur allein an die halbe<br />
Million internet- und computersüchtiger<br />
junger Menschen in Deutschland und die<br />
weiteren zwei Millionen Risikofälle.<br />
DEUTSCHE <strong>BKK</strong> DAS MAGAZIN 1/2013<br />
❯❯ <strong>Magazin</strong>: Wenn Sie Recht haben mit Ihrer<br />
These: Wie kann es dann sein, dass der Intelligenzquotient<br />
Untersuchungen zufolge<br />
bei Kindern zugenommen hat?<br />
❮❮ Der Intelligenzquotient hat nach manchen<br />
Untersuchungen tatsächlich seit den<br />
50er Jahren des letzten Jahrhunderts jedes<br />
Jahrzehnt zugenommen. Im letzten<br />
Jahrzehnt war dies jedoch nicht mehr der<br />
Fall. Ob es zwischen diesen Beobachtungen<br />
und der Nutzung digitaler Medien irgend -<br />
einen Zusammenhang gibt, ist nicht klar.<br />
Fest steht jedoch, dass der Zuwachs der<br />
Intelligenz in den 50er, 60er und 70er Jahren<br />
nicht durch digitale Medien bedingt sein<br />
kann.<br />
» Kinder lernen am besten durch selbstgesteuertes<br />
Auseinandersetzen mit der Welt.<br />
Sie haben Fragen und suchen nach Antworten.<br />
Kinder sind von Natur aus unendlich neugierig.“<br />
❯❯ <strong>Magazin</strong>: Wie lernen Kinder? Und wie sehen<br />
die Rahmenbedingungen für ein möglichst<br />
optimales Lernen bei Kindern aus?<br />
❮❮ Kinder lernen am besten durch selbstgesteuertes<br />
Auseinandersetzen mit der Welt.<br />
Sie haben Fragen und suchen nach Antworten.<br />
Kinder sind von Natur aus unendlich<br />
neugierig. Wer dies nicht glaubt, der schaue<br />
einem aktiven Kleinkind auf dem Spielplatz<br />
einmal zu. Es kommt nicht darauf an, dass<br />
wir im Kindergarten schon den Zahlenraum<br />
von 1 bis 20 oder gar das Alphabet oder irgendwelche<br />
bestimmten naturwissenschaftlichen<br />
oder technischen Phänomene gewissermaßen<br />
„durchnehmen“. Es kommt vielmehr<br />
darauf an, dass wir die Neugierde der<br />
Kinder immer wieder durch gegebene<br />
Rand bedingungen fördern und zum Aus -<br />
leben bringen. So werden aus Kleinkindern<br />
interessierte und neugierige Schulkinder.<br />
❯❯ <strong>Magazin</strong>: Wenn es Unterschiede beim<br />
Lernen in bestimmten Entwicklungsphasen<br />
der Kinder gibt: Wann und wie sollten Kinder<br />
dann an digitale Medien herangeführt<br />
werden? Schließlich gehören doch eine<br />
Spielkonsole oder ein Laptop als Geschenk<br />
fast schon zu einem Geburtstag oder<br />
Weihnachten dazu.<br />
❮❮ Spielekonsole und Laptop sollten definitiv<br />
nicht an Kinder unter 12 Jahren verschenkt<br />
werden. Es ist nachgewiesen, dass<br />
ein solches Geschenk dem jungen Menschen<br />
schadet. Wie oben bereits angeführt,<br />
ist es bislang aus wissenschaftlicher Sicht<br />
noch gar nicht möglich, genau anzugeben,<br />
wann der Kontakt erfolgen sollte oder darf.<br />
Allgemein gilt, so wenig wie möglich (denn<br />
die Dosis macht das Gift) und so spät wie<br />
möglich (denn je gefestigter und entwickelter<br />
das Gehirn ist, desto weniger Schaden<br />
können digitale Medien anrichten).<br />
❯❯ <strong>Magazin</strong>: Können Sie besorgten Eltern<br />
noch weitere Tipps geben? Zum Beispiel:<br />
Wie viel Computer, Internet und Spielkon -<br />
sole sind verträglich am Tag oder in der<br />
Woche? Und: Womit könnte digitaler<br />
Medienkonsum kompensiert werden?<br />
❮❮ Es geht nicht darum, wie viel man darf<br />
und wie man etwas kompensieren sollte.<br />
Es geht vielmehr darum, warum das Ganze<br />
überhaupt sein muss: Kinder verbringen<br />
ihre Freizeit lieber auf dem Bolzplatz als vor<br />
der Mattscheibe. Dies haben nicht zuletzt<br />
entsprechende empirische Untersuchungen<br />
in Deutschland ergeben. Warum sollte man<br />
ihnen ein Spielzeug schenken, das nachgewiesenermaßen<br />
ihrer intellektuellen Entwicklung<br />
schadet? „Weil das heute alle<br />
tun!“ ist keine gute Antwort. Es ist auch<br />
nicht der Fall, dass Kinder zu Außenseitern<br />
werden, wenn sie keine Medien nutzen. Mit<br />
solchen Sprüchen heizt die Industrie Ängste<br />
an, und es sind genau diese Ängste, welche<br />
dann den Beweggrund dafür abgeben, dass<br />
Familienangehörige digitale Medien verschenken.<br />
An alle Eltern kann ich nur den<br />
dringenden Appell richten: Seien Sie standhaft!<br />
Machen Sie Ihrem Kind klar, dass Sie<br />
ihm schaden, wenn Sie ihm seinen Wunsch<br />
erfüllen würden. Weswegen Sie genau dies<br />
nicht tun. Wenn Sie ein Geschenk für Ihr<br />
Kind kaufen, so noch ein kleiner Tipp:<br />
Achten Sie darauf, dass es ohne Strom<br />
funktioniert, dann liegen Sie fast immer<br />
auf der richtigen Seite.<br />
❯❯ <strong>Magazin</strong>: Was kann denn die „Generation<br />
Google“ – die heute 15- bis 25-Jährigen –<br />
besser oder schlechter als Ältere?<br />
❮❮ Heute wird behauptet, dass die „Generation<br />
Google“ vieles besser könne als die ältere<br />
Generation. Schaut man jedoch genau<br />
hin, dann ist dem nicht so: Auch das Installieren<br />
eines Programmes können ältere<br />
Menschen besser als die junge „Generation<br />
Google“, weil diese über geringere Frustrationstoleranz<br />
und über eine geringere Aufmerksamkeitsspanne<br />
verfügt. Was nicht<br />
nach einigen Mausklicks funktioniert, wird<br />
DIGITALE DEMENZ IM FOKUS<br />
einfach nicht gemacht, und es fehlt auch<br />
das Durchhaltevermögen, um es doch noch<br />
hinzubekommen. Auch das vermeintliche<br />
Suchen im Netz können die jungen Menschen<br />
nicht so gut wie die älteren. Studien<br />
haben gezeigt, dass deren Suche einfach<br />
abbricht – statt erst dann zu enden, wenn<br />
sie erfolgreich war. Es gibt jede Menge<br />
unbewiesene Behauptungen über die vermeintlichen<br />
Fähigkeiten der „Generation<br />
Google“. Ich bin hier eher skeptisch, denn<br />
die seriösen Studien hierzu zeigen etwas<br />
ganz anderes. Aufmerksamkeitsstörungen,<br />
Lese-Rechtschreibstörungen, Merkfähigkeitsstörungen<br />
und körperliche Störungen<br />
(Übergewicht, Schlaflosigkeit, Nervosität)<br />
haben in den letzten Jahren deutlich zu -<br />
genommen.<br />
❯❯ <strong>Magazin</strong>: Hat die „Generation Google“<br />
überhaupt noch Textverständnis? Oder<br />
läuft es nur noch auf „copy and paste“<br />
(etwas aus dem Internet kopieren und in<br />
einen Text einfügen) hinaus?<br />
❮❮ Wer sein Referat mittels Google, Wikipedia,<br />
Copy und Paste und Powerpoint erledigt,<br />
in dessen Gehirn ist noch nichts passiert.<br />
Sämtliche Vorgänge liefen ja im PC<br />
ab. Genau deswegen taugen der PC und das<br />
Internet zum Lernen gerade nicht! Seit lan-<br />
» Wer sein Referat mittels Google, Wikipedia,<br />
Copy und Paste und Powerpoint erledigt,<br />
in dessen Gehirn ist noch nichts passiert.“<br />
Foto: Noam<br />
5