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Historische Pragmatik und historische Varietätenlinguistik ...

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Justizielle Texte aus Prato<br />

schen Merkmalen, die strukturell nicht an ein bestimmtes volgare geb<strong>und</strong>en sind, 7<br />

<strong>und</strong> «parlato» im Sinne von Äußerungen, die bestimmte volgare-spezifische Merkmale,<br />

etwa im phonetischen <strong>und</strong> morphologischen Bereich, aufweisen. 8<br />

Der nächste Gesichtspunkt betrifft das Verhältnis zwischen dem originären<br />

kommunikativen Ereignis, in dem die inkriminierte Äußerung gefallen ist, <strong>und</strong><br />

dem Text, als dessen integraler Bestandteil sie uns heute entgegentritt. Antonella<br />

Stefinlongo etwa stellt dazu in wünschenswerter Deutlichkeit fest: «Gli atti sono<br />

redatti in latino, ma le frasi ingiuriose sono in schiettissimo volgare e rappresentano<br />

le testimonianze e le dichiarazioni rese dai personaggi coinvolti nella lite» (Stefinlongo 1985,<br />

484; Hervorhebung L. F.). Was uns an Volkssprachlichem in den Urk<strong>und</strong>en überliefert<br />

ist, beruht also (zumindest in vielen Fällen, cf. infra 3.2.) auf einer von der<br />

originären, d. h. prozess-ursächlichen, völlig verschiedenen Kommunikationssituation,<br />

an der vielmehr Notar <strong>und</strong> Kläger, Zeuge oder Beklagter beteiligt sind.<br />

Der dritte Aspekt betrifft die «effettiva situazione in cui le frasi sono state<br />

pronunciate» (d. h. die face-to-face-Kommunikation zwischen Notar <strong>und</strong> Kläger,<br />

Zeugen etc.) <strong>und</strong> die «mediazioni cui sono state sottoposte fino alla registrazione<br />

scritta che noi leggiamo» (Stefinlongo 1985, 484). Marcheschi <strong>und</strong> Stefinlongo<br />

scheinen in ihren Ausführungen letztlich vom Verfahrensablauf beim modernen<br />

Zivilprozess auszugehen, der sich aus Eröffnungs-, Instruktions- <strong>und</strong> Entscheidungsverfahren<br />

zusammensetzt: 9<br />

«Durante la fase istruttoria i notai raccoglievano nei bastardelli, selezionando, le denuncie, le<br />

varie deposizioni testimoniali, insomma tutti gli elementi utili per il procedimento penale.<br />

Sulla base della rielaborazione di tali elementi avveniva infine la stesura della copia ufficiale<br />

degli atti processuali» (Marcheschi 1983, 8).<br />

Ob diese Sicht den luccheser Texten gerecht wird, kann auf der Gr<strong>und</strong>lage der<br />

vorliegenden Edition nicht entschieden werden. 10 Sie passt aber sicher nicht zu<br />

7 Cf. etwa die Analyse dieser Aspekte in Dardano/Giovanardi/Palermo 1992. Der teilweise stark<br />

formelhafte Charakter der ingiurie wird nicht nur aus diesem Beitrag deutlich, sondern zeigt sich u. a.<br />

auch darin, dass bereits in zeitgenössischen Statuten «exemplarisch» justiziable Beschimpfungen<br />

explizit aufgeführt sind (cf. z. B. Pertile 1876, 622-634); cf. auch Nada Patrone 1993, 49: «[...]<br />

esistevano ‹modelli› di ingiurie validi in tutta l’Italia tardo-medievale». Weit weniger formelhaft dagegen<br />

erweisen sich die «Schimpfkanonaden», von denen 1355 Lippo di Fede del Sega in seinen privaten<br />

Aufzeichnungen berichtet (cf. De la Roncière 1973, 245).<br />

8 Cf. die Artikelform lu in zwei der Ingiurie aus Lucca, die aus der Hand eines Notars süditalienischer<br />

Herkunft stammen (cf. Marcheschi 1983, 64 [Nr. 222] <strong>und</strong> 67 [Nr. 237]); cf. auch im hier untersuchten<br />

Korpus «lu chultellu p(er) lu capu» aus der Hand des Notars Egidius de Montefalcone, der<br />

zum Gefolge eines podestà de Civitate Castelli gehört (Fantappiè 2000, vol. 2, 214). Streng genommen<br />

kann hier von «parlato» eigentlich keine Rede mehr sein, denn es handelt sich um das von<br />

Cornagliotti angesprochene «accordare suoni e forme percepiti a suoni e forme posseduti».<br />

9 Cf. dazu Luther 1968, 119: «Danach [d. h. nach dem Eröffnungsverfahren] bestimmt der Vorsitzende<br />

einen seiner Beisitzer oder sich selbst zum Referenten. Diesem Einzelrichter (giudice<br />

istruttore) obliegt es, das Instruktionsverfahren durchzuführen, d. h. den Prozeß bis zum Endurteil<br />

vorzubereiten. Die gesamte Beweisaufnahme liegt in Händen dieses Richters».<br />

10 Stefinlongo stimmt Marcheschis Sicht gr<strong>und</strong>sätzlich zu, schlägt aber noch eine Differenzierung<br />

vor zwischen «vere e proprie deposizioni, rese a distanza di tempo dall’avvenimento cui si riferiscono»<br />

<strong>und</strong> «l’immediata registrazione degli insulti», die während des Prozesses selbst fallen (cf.<br />

Stefinlongo 1985, 484-485). Die Begründung für diese Unterscheidung – anaphorische Verweise innerhalb<br />

der inkriminierten Äußerungen («quie», «fuore dell’officio»), Nennung des Berufs («Ecco,<br />

bello notaio rofiano!» etc.) – erscheint aber keineswegs zwingend.<br />

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