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Historische Pragmatik und historische Varietätenlinguistik ...

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Schreiberprofile <strong>und</strong> Sprachstandardisierung<br />

sprachlicher Systeme, genauer analysiert. In den Arbeiten zu altfranzösischen Urk<strong>und</strong>ensprachen<br />

ist manchmal von der «Regellosigkeit» der mittelalterlichen Graphie<br />

oder Morphologie die Rede. 27 Der Hinweis ist berechtigt. Es handelt sich bei den in<br />

der altfranzösischen Periode kursierenden Schreibsprachen eben noch nicht um gefestigte<br />

Traditionen, so dass Variation die Regel, nicht die Ausnahme ist. Allerdings<br />

macht es einen Unterschied, ob die Variation innerhalb eines Textes oder zwischen Texten<br />

zu beobachten ist. Im ersten Falle hätten wir es mit einer Situation zu tun, in der<br />

dem einzelnen Schreibenden die sprachliche Homogenisierung des Textes nicht<br />

wichtig ist bzw. nicht gelingt. Im zweiten würden die Schreibenden die Variation in<br />

den individuellen Schreibakten zugunsten stabiler Paradigmen zurückdrängen, sie<br />

hätten gewissermaßen eine Vorstellung von Normiertheit. Der Eindruck der Regellosigkeit<br />

entstünde dann nur durch das für den modernen Betrachter ungewohnte<br />

Nebeneinander deutlich verschiedener idiolektaler Normen, d. h. durch das Fehlen<br />

kollektiv verbindlicher Sprachnormen. Genau diese zweite Variante liegt im Falle des<br />

von der Trierer Forschungsgruppe analysierten luxemburgischen Urk<strong>und</strong>enkorpus<br />

vor. Die Schreiber verwenden die untersuchten Varianten durchgängig, also beispielsweise<br />

konsequent keine Gleitkonsonanten oder konsequent Gleitkonsonanten;<br />

Mischungen, d. h. Belege für beide Varianten in einem Text, treten selten auf. 28 Selbstverständlich<br />

müssten noch mehr Texte untersucht werden, um festzustellen, ob sich<br />

das Phänomen der internen Homogenität eines Textes mit Faktoren wie Zeit (nur<br />

sporadischer schriftlicher Gebrauch der Volkssprache vs. verfestigte volkssprachliche<br />

Diskurstraditionen), Ort (Schreibzentren vs. periphere Gebiete), Sozialstruktur (eigene<br />

Kanzleien vs. wechselnde Schreiber), Diskurstradition (literarische vs. pragmatische<br />

Texte) in Verbindung setzen lässt. Für die Standardisierungsforschung sind dies in<br />

jedem Falle wichtige Daten. Für die Analyse sprachlicher Einzelphänomene scheinen<br />

sie mir allerdings nicht weniger wichtig zu sein.<br />

Ein weiteres Beispiel mag zeigen, dass die gerade angesprochenen Unterschiede<br />

in der sprachlichen Homogenität der einzelnen Texte nicht aus der Mobilität bzw.<br />

Nicht-Mobilität der Schreibenden abgeleitet werden können. Es ist nicht so, dass<br />

bestimmte sesshaft bleibende Schreiber deshalb dialektal «rein» schreiben können,<br />

andere dagegen durch Kontaktsituationen unsicher hinsichtlich ihrer «muttersprachlichen»<br />

Normen werden müssen. Einmal davon abgesehen, dass Sprachkontakt, wie<br />

oben gesagt, auch vor Ort möglich ist, beispielsweise indem man Urk<strong>und</strong>en anderer<br />

Kanzleien oder literarische Werke rezipiert, stimmt dieses Bild vor allem deswegen<br />

nicht, weil die mittelalterlichen Schreibenden sicher nicht unselbständig <strong>und</strong> unreflektiert<br />

sprachliche Situationen «abgebildet» haben. Sie haben vielmehr bewusst<br />

ausgewählt, bewusst «Sprachmischung» hergestellt, um zu einer für sie sinnvollen<br />

schriftsprachlichen Form zu gelangen. Lene Schøsler hat beispielsweise in dem<br />

Trierer Urk<strong>und</strong>enkorpus einen Schreiber gef<strong>und</strong>en, der in der Situation des<br />

Kontakts mit der zentralen (königlichen) Urk<strong>und</strong>ensprache zu folgendem Verfahren<br />

27 Cf. etwa Goebl 1995, 321.<br />

28 Holtus/Overbeck/Völker 2003, 152ss. Cf. hier auch Völker 2003, 77ss. Cf. dagegen den von Carl<br />

Theodor Gossen zitierten Fall eines Schreibers, der in einer Urk<strong>und</strong>e zwischen den Graphien<br />

, , , , variiert (Gossen 1968, 5).<br />

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