11.02.2013 Aufrufe

Historische Pragmatik und historische Varietätenlinguistik ...

Historische Pragmatik und historische Varietätenlinguistik ...

Historische Pragmatik und historische Varietätenlinguistik ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Peter Koch<br />

Die Innovation wird vom Sprecher S1 dem Hörer H1 dargeboten (A1). H1 ist<br />

seinerseits Sprecher (S2) in einem neuen Kommunikationsakt, wo er die Innovation<br />

einsetzen kann, was wiederum von seinem Hörer H2 aufgegriffen werden<br />

kann; etc. Mit S2 beginnt dann bereits die Phase der Übernahmen <strong>und</strong> der<br />

Verbreitung (A2).<br />

Nicht alle Innovationen sind jedoch aus dieser Sprecherlogik herleitbar, wie<br />

das Beispiel fr. falir/falloir veranschaulichen kann (cf. zum Folgenden Koch<br />

2002b). Im Altfranzösischen hatte dieses Verb ursprünglich die Bedeutung<br />

‘fehlen’, <strong>und</strong> das FEHLENDE OBJEKT wurde grammatikalisch durch das Subjekt (S)<br />

ausgedrückt:<br />

248<br />

(2) afr. M’ad doné palefrei et dras, n’i faillent nis li esperunS<br />

‘Er hat mir ein Reisepferd <strong>und</strong> Decken gegeben; es fehlen nicht einmal die Sporen.’<br />

(SThom. Epilog, v. 5839 cit. Tobler 1902, 214).<br />

Im Neufranzösischen bedeutet das Verb falloir 19 ‘nötig sein’, <strong>und</strong> das BENÖTIGTE<br />

OBJEKT wird bei diesem nunmehr unpersönlichen Verb durch ein direktes Objekt<br />

(DO) ausgedrückt:<br />

(3) nfr. Pour payer, il faut de l’argentDO.<br />

‘Um zu zahlen, braucht man Geld.’<br />

Als Angelpunkt zum Verständnis der hier zugr<strong>und</strong>e liegenden Regulatum-<br />

Innovation (A1) können altfranzösische Sätze wie der folgende dienen:<br />

(4) afr. Il ne me faut plus nule rien?.<br />

(a) ‘Es fehlt mir nichts mehr.’<br />

(b) ‘Ich brauche nichts mehr.’<br />

(Du garçon et de l’aveule, v. 18 cit. Damourette/Pichon 1930-71, IV, 509).<br />

Plausibel scheint nun folgendes Szenario der Innovation: Der Sprecher S1 äußert<br />

einen Satz wie (4) ausgehend von der Bedeutung (a) ‘fehlen’ (wobei der syntaktische<br />

Status von nule rien angesichts seiner morphologischen Form <strong>und</strong> der<br />

Präsenz eines Dummy-Subjekts il bereits mit gewissen Unsicherheiten behaftet<br />

ist). Der Hörer H1 interpretiert die Äußerung der Form (4) im Kontext pragmatisch<br />

richtig <strong>und</strong> zieht beispielsweise den Schluss, dass der Sprecher S1 mit dem zufrieden<br />

ist, was er hat; dass keine Notwendigkeit besteht, ihn mit irgendetwas Zusätzlichem<br />

zu versorgen; etc. Im Rahmen dieser Interpretation hindert den Hörer nun<br />

nichts, das Verb im Sinne von (b) ‘nötig sein’ <strong>und</strong> nule rien als direktes Objekt zu<br />

reanalysieren. Solche hörerseitigen Reanalysen sind immer dann möglich, wenn die<br />

Innovation mit dem pragmatischen Gesamtverständnis der Äußerung kompatibel<br />

bleibt. Sie fallen, so wie hier, genau dann besonders leicht, wenn in inhaltlicher<br />

Hinsicht z. B. nur eine metonymische Verschiebung innerhalb des evozierten<br />

konzeptuellen Frame (z. B. FEHLEN–NÖTIG SEIN) stattfindet <strong>und</strong>/oder wenn in<br />

formaler Hinsicht eine transparente syntaktische Struktur entsteht (cf.<br />

Detges/Waltereit 2002). Letzteres ist hier insofern der Fall, als gegen Ende der<br />

altfranzösischen <strong>und</strong> in der mittelfranzösischen Periode die Zweikasusflexion zerfällt<br />

<strong>und</strong> ein postverbaler Aktant morphologisch nicht mehr eindeutig als Subjekt<br />

19 Die ursprüngliche Variante faillir geht semantisch ihre eigenen Wege.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!