Die Erfindung des Europäers
Die Erfindung des Europäers
Die Erfindung des Europäers
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dungsgrößensystems gewährleisten. Statt der bisherigen, nationalen<br />
Maße wird nun der Europäer zum Bezugspunkt.<br />
Bis allerdings einheitliche Körpermaße aller EU-Länder<br />
vorliegen, vergehen noch einige Jahre. Als Zwischenlösung werden<br />
daher anhand der aktuell verfügbaren Daten bei der Planung<br />
von Industriearbeitsplätzen Körpermesswerte eines „Europamenschen“<br />
errechnet. Dazu bedient man sich der vorhandenen,<br />
nationalen Statistiken und eines komplizierten statistischen Verfahrens.<br />
Mit der Neubearbeitung dieser Daten findet zugleich<br />
eine Europäisierung statt – allmählich ersetzen die europäischen<br />
die nationalen Normen.<br />
Gerade an den hier skizzierten Schnittstellen finden<br />
Vorstellungen Europas, der Europäer und einer „europäischen<br />
Technik“ Eingang in den Austausch zwischen Wissenschaft, Produzenten,<br />
Vermittlern und Konsumenten. Damit tragen auch Vorstellungen<br />
von Technik und Kleidung zur Identitätsbildung bei.<br />
Wie aber wird ein Mensch durch den Gebrauch von diesen Alltagsdingen<br />
– wie zum Beispiel Autos und Kleidung – zum Europäer<br />
gemacht beziehungsweise europäisiert?<br />
Mensch und Maschine<br />
In der Automobilindustrie ist die Berücksichtigung anthropometrischer<br />
Daten bereits in der Fahrzeugentwicklung notwendig.<br />
Besonders wichtig sind dabei die Ergonomie und die Prüfung<br />
der Sicherheit mit den Puppen, den so genannten Crashtest<br />
Dummies. <strong>Die</strong> Messdaten fließen in die Produktgestaltung<br />
von Automobilen ein, ohne die körperlichen Besonderheiten<br />
menschlicher Individuen berücksichtigen zu können. <strong>Die</strong> Nutzer<br />
haben sich den von Wissenschaft und Industrie gesetzten Standards<br />
anzupassen. Auf dieser Ebene erfolgt auch eine Standardisierung<br />
<strong>des</strong> <strong>Europäers</strong>, denn das führende Nutzerbild der Automobilindustrie<br />
ist das <strong>des</strong> „europiden Fahrers“.<br />
<strong>Die</strong> Verwendung von Körperdaten lässt sich in der Automobilindustrie<br />
international bis in die 1950er Jahre zurückverfolgen.<br />
Dort fanden insbesondere zwei- und dreidimensionale<br />
Dummies in Form von Zeichenschablonen und Puppen weite<br />
Verbreitung.<br />
<strong>Die</strong> erste Zeichenschablone mit Normfunktion war das<br />
H-Point Template beziehungsweise das SAE-Manikin, das die<br />
Seitenansicht eines Rumpfes mit Beinen simuliert. <strong>Die</strong> Grundlage<br />
dieser Norm bildeten Beinlängen, die an im Koreakrieg<br />
Abb. 3:<br />
Kieler Puppe<br />
© BMW Group<br />
Classic, München<br />
gefallenen, weißen US-Soldaten erhoben worden waren. Damit<br />
wurden ausschließlich Körperdaten europider Menschen berücksichtigt,<br />
da die meisten Amerikaner ja europäische Einwanderer<br />
sind. Da die Norm amerikanischen Ursprungs ist, meint<br />
„Europide“ hier nicht die Bevölkerung eines wie auch immer<br />
kulturell, politisch, wirtschaftlich oder geografisch definierten<br />
Kontinents, sondern ist vielmehr die Populationsbezeichnung,<br />
welche auch heute noch in der Forschung zur Humandiversität<br />
Verwendung findet. Nicht-„Europide“ wurden neben Frauen von<br />
dem SAE-Standard nicht erfasst. <strong>Die</strong>s ist <strong>des</strong>halb bemerkenswert,<br />
da auch Frauen auf die Kaufentscheidung Einfluss haben<br />
und besonders auf den Autositz sowie die Erreichbarkeit von<br />
Pedalen und Lenkrad achteten. Gleichermaßen waren etwa Afroamerikaner<br />
bereits in den 1950er Jahren eine relevante Käufergruppe,<br />
da der Autokauf für sie lange Zeit die einzige Möglichkeit<br />
war, unbehelligt zu reisen und ihren sozialen Aufstieg<br />
nach außen zu zeigen. Trotz dieser der Automobilindustrie bekannten<br />
Fakten favorisierten ihre Ingenieure bei der Auslegung<br />
<strong>des</strong> SAE-Manikins die Maße eines homo europaeus im wahrsten<br />
Sinne <strong>des</strong> Wortes.<br />
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