almag_dezember_2015
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::::: KULTUR<br />
Sabine Potratz<br />
Freepik<br />
Wir besuchten eine Erzählerin und ihre Harfe in Altenbochum.<br />
Sabine Potratz ist klein, zierlich, energiegeladen und sprüht vor Ideen.<br />
Seit sieben Jahren lebt die gebürtige Kölnerin »mit Migrationshintergrund«<br />
(Eltern aus München und Berlin), wie sie witzelt, hier in Altenbochum.<br />
Schon als Kind fand sie zu ihrer Begeisterung für Märchen<br />
und Geschichten, dank einer Tante, die ihr Bücher aus der DDR schickte<br />
und so schon früh ihr Interesse unterstützte. Und, diese Passion<br />
ließ sie nicht mehr los. Die Erzählerin möchte andere infizieren und<br />
ermutigen. Sie möchte die Fantasie beflügeln und schickt dazu selbst<br />
Märchen und Geschichten auf die Reise und ins Bewusstsein ihres<br />
Publikums. Ihrem Temperament gemäß findet das nicht mit sonorer<br />
Stimme im Schaukelstuhl statt – obwohl diese Erzähltradition auch<br />
ihren ganz eigenen Reiz hat. Ihre Darstellung von den Geschichten<br />
sind lebhafte, eigene Interpretationen. Mit ihrer Erfahrung aus dem<br />
Improvisationstheater gibt sie den Worten Gestalt und nimmt das Publikum<br />
gleich mit. Oft begleitet ihre Harfe eine Geschichte, was eine<br />
ganz besondere Stimmung erzeugt.<br />
DAS ALTER DER ZUSCHAUER UND ZUHÖRER IST NICHT AUF KINDER<br />
BESCHRÄNKT<br />
Das Publikum sind genauso Kinder wie Erwachsene und sehr gerne<br />
auch Ältere. Sabine Potratz passt ihre Erzählweise dem Anlass und<br />
den Zuhörern an, denn sie möchte sie alle erreichen. Im Seniorenheim<br />
beispielsweise werden die Protagonisten des Stücks selbst auch ältere<br />
Charaktere sein und ihre Märchen und Geschichten handeln dann weniger<br />
von tapferen Jünglingen und schönen Mädchen. Derzeit studiert<br />
sie im fünften Semester Elementarpädagogik und hat dementsprechend<br />
spannende Angebote für Kinder in ihrem Repertoire. Beispielsweise<br />
ein Projekt, bei dem sie mit den Kindern eigene, einfache Stockpuppen<br />
bastelt und mit diesen Phantasiewesen spielerisch erzählt und<br />
auch die Kinder erzählen lässt. Zur Kategorie »Märchen für Erwachsene«<br />
gehört das neue, gänzlich selbst entwickelte Stück »Zeitreise<br />
Aschenputtel«. Die Figur des Aschenputtels eignet sich wie kaum eine<br />
zweite dazu, unser zeitweise äußerst seltsames Rollenverhalten durch<br />
die verschiedenen Epochen hindurch zu spiegeln. In voller Länge ist<br />
es ein 45-Minuten-Stück, aber häufig erzählt Sabine Potratz kürzere Sequenzen<br />
daraus. Das Stück eignet sich dafür sehr gut, wie die jüngsten<br />
Erfahrungen damit im »Alsenwohnzimmer« oder auch auf der offenen<br />
Bühne im Figurentheater bestätigen.<br />
GESCHICHTEN BEWAHREN BEVOR SIE FÜR IMMER VERSCHWINDEN<br />
Mit ihrem Erzähltheater möchte sie zum einen die Tradition des Erzählens<br />
bewahren, zum anderen und auch eine Vielzahl von Geschichten,<br />
die in Gefahr sind, mit samt ihrer Kultur und Sprache für immer<br />
verloren zu gehen. Geschichten und Märchen aus anderen Ländern tragen<br />
durchaus zur Völkerverständigung bei und bereichern uns auf ihre<br />
ganz eigene, andersartige Weise. Sabine Potratz liebt unter anderem<br />
die schönen, frechen italienischen Geschichten. Auch die Erzähltradition<br />
in Großbritannien findet sie sehr spannend. Dort gibt es eine sehr<br />
lebendige Art des Geschichtenerzählens – es nennt sich »the Myth«.<br />
Dabei werden Geschichten aus der Region erfunden und erzählt – häufig<br />
mit biografischen Elementen und immer weiter erzählt, wobei sie<br />
sich verändern und meist immer dramatischer werden. Die Legende<br />
um Lochness ist ein typisches Beispiel. Absichtsvoll treffen sich Leute<br />
in Pubs und Cafés, um gemeinsam an alten und neuen Geschichten zu<br />
spinnen. Unter dem Begriff »the Moth« werden im Amerikanischen<br />
dagegen von Laien öffentlich, wahre Geschichten erzählt. Übrigens:<br />
Längst nicht alle Märchen haben ein HappyEnd. Gerade die asiatischen<br />
enden oftmals auch sehr fatal.<br />
Da Sabine Potratz durchaus nicht immer einig ist mit der Moral der Geschichten,<br />
lässt sie nicht alles unwidersprochen oder unkommentiert,<br />
sondern holt den Disput auf die Bühne und lässt das Publikum teilhaben<br />
und eigene Schlüsse ziehen.<br />
In unserer Zeit der ständigen Effizienzsteigerung ist wenig Platz und<br />
Muße für Phantasie und Spiel, dabei sind wir im Begriff, etwas von der<br />
Weisheit und dem Glanz zu verlieren, der Märchen und Geschichten<br />
inne wohnt – auch jenen, die wir selbst in uns tragen.<br />
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