ZAP-2018-24
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
<strong>ZAP</strong><br />
Zeitschrift für die Anwaltspraxis<br />
<strong>24</strong> <strong>2018</strong><br />
19. Dezember<br />
30. Jahrgang<br />
ISSN 0936-7292<br />
Herausgeber: Rechtsanwalt Dr. Egon Schneider (†), Much • Rechtsanwalt und Notar Dr. Ulrich Wessels, Präsident der<br />
Bundesrechtsanwaltskammer • Rechtsanwalt beim BGH Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • Rechtsanwalt Martin W.<br />
Huff, Köln • Prof. Dr. Martin Henssler, Institut für Anwaltsrecht, Universität zu Köln • Rechtsanwältin und Notarin Edith<br />
Kindermann, Bremen • Rechtsanwalt und Notar Herbert P. Schons, Duisburg • Rechtsanwalt Norbert Schneider,<br />
Neunkirchen • Rechtsanwalt Dr. Hubert W. van Bühren, Köln<br />
Inklusive<br />
<strong>ZAP</strong> App!<br />
Details unter: www.zap-zeitschrift.de/App<br />
AUS DEM INHALT<br />
Kolumne<br />
100 Jahre aktives und passives Wahlrecht für Frauen (S. 1263)<br />
Anwaltsmagazin<br />
Neue Fachanwaltschaft für Sportrecht beschlossen (S. 1265) • Forderung nach einer Reform<br />
des Abstammungsrechts (S. 1267) • Existenzminimumbericht vorgelegt (S. 1268)<br />
Aufsätze<br />
Grüneberg, Der Straßenverkehrsunfall in der zivilrechtlichen Abwicklung – Haftungsverteilung,<br />
Teil 3 (S. 1283)<br />
Gundel/Sartorius, Rechtsprechungsübersicht zum Arbeitsrecht (S. 1297)<br />
Hansens, Gebührentipps für Rechtsanwälte (S. 1317)<br />
Eilnachrichten<br />
BGH: Ersatzfähigkeit der Umsatzsteuer bei der fiktiven Schadensabrechnung (S. 1274)<br />
BVerfG: Begrenzung gerichtlicher Kontrolle im Immissionsschutzrecht (S. 1279)<br />
EuG: Unzulässigkeit einer Klage gegen die Aufnahme der Brexit-Verhandlungen (S. 1282)<br />
In Zusammenarbeit mit der<br />
Bundesrechtsanwaltskammer
Inhaltsverzeichnis Fach Fach/Seite Heft/Seite<br />
Kolumne – – 1263–1264<br />
Anwaltsmagazin – – 1264–1270<br />
Eilnachrichten 1 187–198 1271–1282<br />
Grüneberg, Der Straßenverkehrsunfall in der zivilrechtlichen<br />
Abwicklung – Haftungsverteilung, Teil 3: Sonstige<br />
Unfälle eines Kraftfahrzeugs 9 1091–1104 1283–1296<br />
Gundel/Sartorius, Rechtsprechungsübersicht zum<br />
Arbeitsrecht – 1. Halbjahr <strong>2018</strong> 17 R 923–942 1297–1316<br />
Hansens, Gebührentipps für Rechtsanwälte (III/<strong>2018</strong>)<br />
– Aktenversendungspauschale; Vergütungsfestsetzungsverfahren;<br />
Einigungsgebühr; PKH-Anwaltsvergütung;<br />
Dokumentenpauschale <strong>24</strong> 1659–1668 1317–1326<br />
Nutzen Sie die <strong>ZAP</strong> auch digital: mit der <strong>ZAP</strong> App für PC, Smartphone und Tablet. Sie finden<br />
Ihre Zugangsdaten (Aktivierungscode/Passwort) auf dem Adressaufkleber. Details unter:<br />
www.zap-zeitschrift.de/App<br />
Redaktionsbeirat<br />
Ass. jur. Dr. Helene Bubrowski, Frankfurt/M. (F 25) • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Münster/Augsburg (F 9, 21, 22, 22R) • Prof. Dr.<br />
Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. (F 2) • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. (F 6) • RA Dr. Lutz Förster, Brühl (F 12) • RA Dr.<br />
Andreas Geipel, München (F 13) • RA Dr. Peter Haas, Bochum (F 20) • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin (F <strong>24</strong>) • RAin Dr.<br />
Annegret L. Harz, München (F 4, 4R, 7) • RA Prof. Dr. Bernd Hirtz, Köln (F 15) • RA Martin W. Huff, Köln (F 23) • RA Daniel Krause,<br />
Braunschweig (F 5) • RAin Dr. Kirstin Maaß, Köln (F 17, 17R) • RA a.D. Ralf Rödel, Málaga (F 19, 19R) • RA Dr. Ulrich Sartorius,<br />
Breisach a.R. (F 18) • RA Volker Simmer (F 3) • RiAG a.D. Prof. Dr. Heinz Vallender, Erftstadt (F 14) • RA Dr. Hubert W. van Bühren,<br />
Köln (F 10) • RiAG a.D. Dr. Wolfram Viefhues, Gelsenkirchen (F 11, 11R) • RA Guido Vierkötter, Neunkirchen-Seelscheid (F 16) • RA<br />
beim BGH Dr. Christian Zwade, Karlsruhe (F 8).<br />
Ständige Mitarbeiter<br />
Prof. Dr. Wilfried Alt, Frankfurt/M. • VorsRiVG a.D. Prof. Dr. Bernd Andrick, Gelsenkirchen • RiAG Prof. Dr. Ulf Börstinghaus,<br />
Gelsenkirchen • RiSG Thomas Bubeck, Freiburg • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Münster/Augsburg • VorsRiOLG Dr. Christoph Eggert,<br />
Düsseldorf • Prof. Dr. Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. • VorsRiLG a.D. Uwe Gottwald,<br />
Vallendar • RA Prof. Dr. Friedrich Graf von Westphalen, Köln • RA Dr. Peter Haas, Bochum • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin • RA<br />
Dr. Wolfgang Hartung, Mönchengladbach • Prof. Dr. Martin Henssler, Köln • RA, Justitiar Haus u. Grund Dr. Hans Reinold Horst,<br />
Langenhagen • RiAG Ralph Kossmann, Wuppertal • Notar Dr. Hans-Frieder Krauß, Hof • RAuN Dr. Wilhelm Krekeler, Dortmund • RA<br />
Günter Lange, Haltern • RA Dr. Jörg Lauer, Mannheim • PräsSG a.D. RA Dr. Klaus Louven, Geldern • RA Dietmar Mampel, Bonn • RA<br />
Prof. Dr. Volkmar Mehle, Bonn • RA Prof. Dr. Ralf Neuhaus, Dortmund • RA Kai-Jochen Neuhaus, Dortmund • RA Dr. Mark Niehuus,<br />
Mühlheim a.d.R. • RA Prof. Dr. Hermann Plagemann, Frankfurt/M. • RiOLG a.D. Heinrich Reinecke, Lehrte • RA beim BGH Prof. Dr.<br />
Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • RA Dr. Kurt Reinking, Köln • RA Prof. Dr. Franz Salditt, Neuwied • RA Dr. Ulrich Sartorius, Breisach a.R. •<br />
PräsLG a.D. Kurt Schellhammer, Konstanz • RA Norbert Schneider, Neunkirchen • RiAG a.D. Kurt Stollenwerk, Bergisch Gladbach •<br />
RiAG a.D. Prof. Dr. Wilhelm Uhlenbruck, Köln • RiAG Prof. Dr. Heinz Vallender, Erftstadt • RA Dr. Hubert W. van Bühren, Köln.<br />
Impressum<br />
Manuskripte: Der Verlag haftet nicht für unverlangt eingesandte Manuskripte. Die Annahme zur Veröffentlichung erfolgt<br />
schriftlich. Mit der Annahme überträgt der Autor dem Verlag das ausschließliche Verlagsrecht. Eingeschlossen sind insb. die<br />
Befugnis zur Einspeicherung in eine Datenbank sowie das Recht der weiteren Vervielfältigung. Haftungsausschluss: Verlag und<br />
Autor/en übernehmen keinerlei Gewähr für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der abgedruckten Inhalte. Insb. stellen<br />
(Formulierungs-)Hinweise, Muster und Anmerkungen lediglich Arbeitshilfen und Anregungen für die Lösung typischer Fallgestaltungen<br />
dar. Die Verantwortung für die Verwendung trägt der Leser. Urheber- und Verlagsrechte: Alle Rechte zur<br />
Vervielfältigung und Verbreitung sind dem Verlag vorbehalten. Der Rechtsschutz gilt auch gegenüber Datenbanken oder ähnlichen<br />
Einrichtungen. Anzeigenverwaltung: <strong>ZAP</strong> Verlag GmbH, Rochusstr. 2–4, 53123 Bonn, E-Mail: anzeigen@zap-verlag.de.<br />
Erscheinungsweise: zweimal im Monat. Bezugspreis: Jährlich <strong>24</strong>3,- € zzgl. MwSt. und Versandkosten. Der Abonnementsvertrag<br />
ist auf unbestimmte Zeit geschlossen; Preisänderungen bleiben vorbehalten. Abbestellungen müssen sechs Wochen zum<br />
Jahresende erfolgen. Verlag: <strong>ZAP</strong> Verlag GmbH, Rochusstr. 2–4, 53123 Bonn, Telefon: 0228/91911-62, Telefax: 0228/91911-66, E-Mail:<br />
info@zap-verlag.de. Redaktion: RAin Eva Maria Marzinkowski (V.i.S.d.P.) – verantwortliche Redakteurin; Peggy von Schoenebeck –<br />
Redaktionsassistentin, E-Mail: redaktion@zap-verlag.de.<br />
Druck: Appel & Klinger Druck und Medien GmbH, Schneckenlohe. ISSN 0936-7292
<strong>ZAP</strong><br />
Kolumne<br />
Kolumne<br />
100 Jahre aktives und passives Wahlrecht für Frauen<br />
Die Messen sind gesungen, die Kerzen ausgelöscht:<br />
Am 12.11.<strong>2018</strong> jährte sich der Aufruf<br />
des Rates der Volksbeauftragten vom 12.11.1918<br />
zum 100. Mal. In diesem Aufruf hieß es: „Alle<br />
Wahlen zu öffentlichen Körperschaften sind<br />
fortan nach dem gleichen (…) allgemeinen<br />
Wahlrecht für alle mindestens 20 Jahre alten<br />
männlichen und weiblichen Personen zu vollziehen.“<br />
Das entsprechende Reichswahlgesetz trat wenige<br />
Tage später am 30.11.1918 in Kraft.<br />
Die Wiederkehr dieses historisch denkwürdigen,<br />
politischen Durchbruchs wurde zu Recht mit<br />
Nachdruck von allen dafür zuständigen Gremien<br />
gefeiert, allen voran im Rahmen eines Festakts in<br />
Berlin von der Bundeskanzlerin ANGELA MERKEL, wie<br />
vor und nach ihr von fast allen Politikern und<br />
Politikerinnen.<br />
Aber – war es das? Sind wir zufrieden, weil<br />
in Deutschland seit 100 Jahren Frauen wählen<br />
und gewählt werden dürfen, früher als in vielen<br />
anderen europäischen Ländern? Ganz gewiss<br />
nicht.<br />
Denn bis heute ist die Teilhabe von Frauen an<br />
allen öffentlichen Körperschaften, deren Zugang<br />
durch Wahl geregelt ist, allen voran in den<br />
Parlamenten von Bund und Ländern, beschämend<br />
gering. So beträgt der Anteil weiblicher<br />
Abgeordneter im Deutschen Bundestag derzeit<br />
30,9 %. In den Länderparlamenten sieht es zum<br />
Teil noch deprimierender aus, haben doch von<br />
den 16 Landesparlamenten viele weniger als 30 %<br />
Frauen und nur ein einziges Bundesland (Thüringen)<br />
übersteigt mit 40,6 % die 40 %-Marke. In<br />
den Regierungen von Bund und Ländern sieht es<br />
nicht erfreulicher aus: Die Bundesregierung hat<br />
40 % Ministerinnen, die Landesregierungen etwa<br />
gleich viel, nämlich 42 %. In den Kommunen umfassen<br />
Bürgermeisterinnen gerade einmal knapp<br />
10 % aller Bürgermeister. Es bleibt hinzuzufügen,<br />
dass der Frauenanteil in den Parlamenten von<br />
Bund und Ländern noch dazu kontinuierlich<br />
zurückgeht: Saßen im vorletzten Bundestag<br />
noch 37 % Frauen, sind es jetzt nur noch gut<br />
30 %. Noch nicht einmal jeder 3. Abgeordnete ist<br />
weiblich!<br />
Dabei sind die politischen Parteien für dieses<br />
desaströse Ergebnis sehr unterschiedlich verantwortlich:<br />
Während GRÜNE (58 %) und LINKE<br />
(54 %) ihr Soll sozusagen übererfüllen, die SPD<br />
sich mit 42 % der Hälfte nähert, sind die FDP<br />
(<strong>24</strong> %) und CDU/CSU (20 %) fern von jeder<br />
geschlechtergerechten Verteilung der Mandate,<br />
von der AfD mit 11 % ganz zu schweigen.<br />
Das Ziel nach diesem 100-jährigen erfolglosen<br />
Verlauf muss sein, etwa durch Änderung des<br />
Bundeswahlgesetzes und ihm folgend der Länderwahlgesetze<br />
die absolute gleichberechtigte<br />
politische Teilhabe aller wahlberechtigten Frauen<br />
und Männer zu gewährleisten. Dieses Ziel ist<br />
nicht in das Belieben der Politikerinnen und<br />
Politiker gestellt, es folgt unmittelbar aus dem<br />
Bonner Grundgesetz, unserer deutschen Verfassung,<br />
die seit 1994 entsprechend ergänzt worden<br />
ist. Artikel 3 Abs. 2 S. 2 GG lautet seither: „Der<br />
Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der<br />
Gleichberechtigung von Frauen und Männern<br />
und wirkt auf die Beseitigung bestehender<br />
Nachteile hin.“<br />
Wann, wenn nicht jetzt ist – endlich – die Zeit<br />
gekommen, dieses Ziel tatkräftig anzugehen und<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong> 1263
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
es alsbald zuverlässig zu erreichen? Worauf<br />
warten die Parteien? Was spricht dagegen? Die<br />
Furcht um das eigene Mandat? Die Kompliziertheit<br />
eines neuen Wahlgesetzes, eventuell eines<br />
neuen Wahlsystems? Seit der Ergänzung des<br />
Art. 3 Abs. 2 GG sind <strong>24</strong> Jahre vergangen, ohne<br />
dass die Parteien es vermocht hätten, das<br />
derzeitige Wahlrecht der geltenden Verfassung<br />
anzupassen. Wie lange sollen die Bürgerinnen<br />
noch darauf warten? Vermutlich müssen ein<br />
neues Bundeswahlgesetz und neue Länderwahlgesetze<br />
verbindliche Vorgaben enthalten, um zu<br />
garantieren, dass Frauen und Männer bei der<br />
Kandidatenaufstellung paritätisch berücksichtigt<br />
werden.<br />
Dass eine solche Neuregelung zugleich eine<br />
grundlegende Veränderung der Kandidatenaufstellung<br />
innerhalb der Parteien zur Folge haben<br />
muss und haben wird, ist ein Faktum und eine<br />
Folge des Auftrags aus Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG:<br />
nämlich die Gleichberechtigung der Geschlechter<br />
in Bezug auf die Vertretungen tatsächlich durchzusetzen<br />
und bestehende Nachteile – endlich –<br />
zu beseitigen.<br />
Der derzeitige – wie ELISABETH SELBERT es einmal<br />
genannt hat –„andauernde Verfassungsbruch“<br />
muss ein Ende haben, und zwar – um die Kanzlerin<br />
zu zitieren – ohne Wenn und Aber. Oder<br />
muss erst das Bundesverfassungsgericht die<br />
Unvereinbarkeit des Bundeswahlgesetzes mit<br />
Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG feststellen?<br />
Mit Mut und Entschlossenheit ist dieses Problem<br />
zu lösen, und da sind vor allem die nach wie<br />
vor die große Mehrheit bildenden männlichen<br />
Politiker gefragt. Einwände wie, unser 2-Stimmen-Wahlsystem<br />
lasse eine paritätische Kandidatenaufstellung<br />
nicht zu, zeigen nur, dass<br />
die Fantasie noch nicht hinreichend bemüht<br />
wurde. Schließlich gibt es in Europa eine große<br />
Zahl ganz unterschiedlicher Wahlsysteme. Entscheidend<br />
ist allein das Ziel, nämlich die Garantie<br />
der Geschlechterparität in den künftigen Parlamenten<br />
und in den anderen durch Wahl<br />
zusammengestellten Körperschaften. Also: Nur<br />
Mut!<br />
Rechtsanwältin Dr. LORE MARIA PESCHEL-GUTZEIT,<br />
Senatorin für Justiz a.D., Berlin<br />
Anwaltsmagazin<br />
Neuregelungen im Dezember<br />
Ab Dezember gilt eine Reihe von Neuregelungen.<br />
Sie betreffen vorwiegend den Verbraucher- und<br />
den Umweltschutz:<br />
• Konditionen beim Online-Shopping<br />
Seit dem 3. Dezember müssen Online-Händler<br />
aus der EU überall in der Gemeinschaft zu<br />
gleichen Konditionen Zugang zu Waren und<br />
Dienstleistungen gewähren und zwar unabhängig<br />
davon, von wo aus die betreffende Internetseite<br />
aufgerufen wurde. Damit wird das<br />
bisher verbreitete sog. Geoblocking abgeschafft.<br />
Hiermit konnten Händler bisher für Kunden<br />
aus anderen Mitgliedstaaten den Zugang zu<br />
einem Webshop blockieren oder sie auf einen<br />
anderen Webshop mit schlechteren Konditionen<br />
umleiten.<br />
• Verbot von Neonikotinoiden<br />
Ab dem 19. Dezember dürfen Pflanzenschutzmittel<br />
mit den drei neonikotinoiden Wirkstoffen<br />
Clothianidin, Imidacloprid und Thiamethoxam<br />
1264 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin<br />
nicht mehr verkauft und angewandt werden.<br />
Bereits im April <strong>2018</strong> hatten die EU-Landwirtschaftsminister<br />
beschlossen, dass die drei Wirkstoffe<br />
zum Schutz der Bienen nur noch in<br />
Gewächshäusern und nicht mehr im Freiland<br />
genutzt werden dürfen.<br />
• Strengere Vorgaben für Erdnussöl in Kosmetik<br />
Bei Allergikern kann Erdnussöl gesundheitliche<br />
Probleme auslösen. Daher dürfen ab dem 25.<br />
Dezember nur noch Produkte mit Erdnussöl<br />
verkauft werden, wenn die Mengen allergieauslösender<br />
Proteine sehr gering sind. Der Stoff ist<br />
oft in Cremes, Lotionen oder Badezusätzen enthalten.<br />
• Maßnahmen gegen die Afrikanische Schweinepest<br />
Bereits am 21. November in Kraft getreten<br />
sind Änderungen im Tiergesundheits- und Bundesjagdgesetz.<br />
Mit ihnen soll die Afrikanische<br />
Schweinepest wirksam bekämpft werden. Sollte<br />
die Seuche nach Deutschland eingeschleppt werden,<br />
können Behörden dann schneller reagieren,<br />
etwa durch Anordnung verstärkter Bejagung,<br />
durch Nutzungseinschränkung von landwirtschaftlichen<br />
Flächen oder durch Sperrung ganzer<br />
Gebiete.<br />
• Ausweitung des Ökologischen Landbaus<br />
Bereits am 7. November hat das Bundeskabinett<br />
die aktualisierte Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie<br />
beschlossen. Sie hat zum Ziel,<br />
weltweit eine angemessene Ernährung der<br />
Menschen zu sichern. In Deutschland soll daher<br />
der Ausbau des ökologischen Landbaus auf<br />
20 % der Anbaufläche bis 2030 erreicht werden.<br />
Zudem soll mehr Nachhaltigkeit in die<br />
öffentliche Beschaffung einziehen. So soll der<br />
Anteil des Papiers mit „Blauem Engel“ am<br />
Gesamtpapierverbrauch der unmittelbaren Bundesverwaltung<br />
95 % bis 2020 erreichen. Auch die<br />
Kohlendioxid-Emissionen von Kraftfahrzeugen<br />
der öffentlichen Hand sollen gesenkt werden.<br />
[Quelle: Bundesregierung]<br />
Düsseldorfer Tabelle 2019<br />
Zum 1.1.2019 ändert sich die von dem OLG<br />
Düsseldorf herausgegebene „Düsseldorfer Tabelle“<br />
erneut. Die Bedarfssätze für minderjährige<br />
Kinder der ersten Einkommensgruppe der<br />
Tabelle werden an die neuen Vorgaben der<br />
Mindestunterhaltsverordnung angepasst. So beträgt<br />
ab dem 1. Januar der monatliche Mindestunterhalt<br />
für Kinder der ersten Altersstufe (bis<br />
zur Vollendung des sechsten Lebensjahres) 354 €<br />
statt bisher 348 €, für Kinder der zweiten<br />
Altersstufe (bis zur Vollendung des zwölften<br />
Lebensjahres) 406 € statt bisher 399 € und für<br />
Kinder der dritten Altersstufe (vom 13. Lebensjahr<br />
bis zur Volljährigkeit) 476 € statt bisher<br />
467 €.<br />
Wie in der Vergangenheit werden die Bedarfssätze<br />
der 2. bis 5. Einkommensgruppe um<br />
jeweils 5 % und die der 6. bis 10. Einkommensgruppe<br />
um je 8 % des Mindestunterhalts erhöht.<br />
Die Bedarfssätze volljähriger Kinder bleiben hingegen<br />
unverändert. Auf den Bedarf eines Kindes<br />
ist das Kindergeld anzurechnen. Ab dem 1.7.2019<br />
soll das Kindergeld für ein erstes und zweites<br />
Kind von derzeit 194 € auf 204 €, für ein drittes<br />
Kind von derzeit 200 € auf 210 € und für das<br />
vierte und jedes weitere Kind von derzeit 225 €<br />
auf 235 € angehoben werden. Das Kindergeld<br />
ist bei minderjährigen Kindern i.d.R. zur Hälfte<br />
und bei volljährigen Kindern in vollem Umfang<br />
auf den Barunterhaltsbedarf anzurechnen. Die<br />
nach Verrechnung des Kindergeldes ermittelten<br />
Beträge ergeben sich aus den in einem Anhang<br />
zur Tabelle beigefügten sog. Zahlbetragstabellen.<br />
Im Übrigen bleibt die Düsseldorfer Tabelle gegenüber<br />
<strong>2018</strong> unverändert. So verbleibt es bei den<br />
in <strong>2018</strong> angehobenen Einkommensgruppen und<br />
den dem Unterhaltsschuldner zu belassenden<br />
Selbstbehalten. Die vollständige Düsseldorfer<br />
Tabelle 2019 finden Sie im kommenden Heft der<br />
<strong>ZAP</strong> in Fach 11 abgedruckt. Die nächste Änderung<br />
der Tabelle wird voraussichtlich zum 1.1.2020<br />
erfolgen.<br />
[Quelle: OLG Düsseldorf]<br />
Neue Fachanwaltschaft für<br />
Sportrecht beschlossen<br />
In Zukunft können Kollegen, die sich auf dem<br />
Gebiet des Sportrechts neue und vielleicht auch<br />
lukrative Mandate versprechen, auch hier einen<br />
entsprechenden Fachanwaltstitel erwerben.<br />
Das Parlament der Bundesrechtsanwaltskam-<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong> 1265
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
mer (BRAK), die Satzungsversammlung, hat sich<br />
im November zur Einführung des neuen Titels<br />
entschlossen.<br />
In ihrer Sitzung am 26.11.<strong>2018</strong> kamen die Mitglieder<br />
des Anwaltsparlaments nach einer – wie<br />
es hieß –„konstruktiven und angeregten Beratung“<br />
überein, dass Bedarf für diese weitere<br />
Spezialisierung besteht und fassten den Beschluss,<br />
die Fachanwaltsordnung entsprechend<br />
abzuändern und um den Fachanwaltstitel für<br />
Sportrecht zu erweitern.<br />
Hauptargument für die Einführung ist die<br />
Vielfältigkeit rechtlicher Fragestellungen im<br />
Sport, die sich aus dem Zusammenwirken von<br />
Sport- und Spielregeln der Sportverbände mit<br />
den Normen des staatlichen Rechts ergeben. Bei<br />
der Entscheidung wurde auch berücksichtigt,<br />
dass sich der Rechtsberatungsbedarf keineswegs<br />
auf Spitzensportler oder den Profisport beschränkt,<br />
sondern auch im heutigen Breitensport<br />
eine Vielzahl von Rechtsfragen zu klären<br />
ist. Die Satzungsversammlungsmitglieder waren<br />
der Auffassung, dass die aktuellen Fachanwaltschaften<br />
diesen Herausforderungen nur unzureichend<br />
Rechnung tragen und stimmten mit<br />
deutlicher Mehrheit (57 Ja-Stimmen, 16 Nein-<br />
Stimmen und 4 Enthaltungen) für die Einführung<br />
einer neuen Fachanwaltschaft.<br />
Damit wird jetzt der <strong>24</strong>. Fachanwaltstitel in die<br />
FAO eingeführt. Interessierte Kollegen werden<br />
dafür u.a. besondere Kenntnisse im Sportrecht<br />
nachweisen müssen, die auf Grundlage einer<br />
Vielzahl an sportrechtlichen Fällen erworben<br />
wurden, wie es hieß. Aus den Kreisen der<br />
Anwaltschaft wurde schon lange die Einführung<br />
eines entsprechenden Fachanwaltstitels gefordert.<br />
Ein Argument dafür lautete, man dürfe die<br />
sportrechtlichen Fälle nicht allein der Branche<br />
der Spielerberater überlassen. Der Deutsche<br />
Anwaltverein (DAV), der schon seit fast 20<br />
Jahren eine entsprechende Arbeitsgemeinschaft<br />
zum Sportrecht besitzt, hat denn auch die neue<br />
Fachanwaltschaft bereits begrüßt: Das Sportrecht,<br />
so Dr. THOMAS SUMMERER vom DAV, habe<br />
sich in den letzten Jahrzehnten rasant zu einer<br />
eigenen Materie entwickelt. Es gebe zahlreiche<br />
Schnittstellen zu anderen Rechtsgebieten, z.B.<br />
zum Arbeitsrecht (etwa bei Spielertransfers),<br />
zum Europarecht (etwa bei Investitionen in<br />
einen Bundesligaclub), zum Haftungsrecht (etwa<br />
bei Skiunfällen), zum Medienrecht (etwa bei der<br />
TV-Rechteverwertung), zum Steuerrecht (etwa<br />
bei der Stadion-Hospitality) bis hin zum Zollrecht<br />
(etwa wenn gefälschte Trikots beschlagnahmt<br />
werden).<br />
[Quellen: BRAK/DAV]<br />
Richterbund will Tatbestand des<br />
„Schwarzfahrens“ einschränken<br />
Der Deutsche Richterbund (DRB) hat sich dafür<br />
ausgesprochen, Schwarzfahren auch künftig<br />
strafrechtlich zu sanktionieren, den Tatbestand<br />
aber einzuschränken. Die Beförderungserschleichung<br />
nach § 265a StGB solle nur noch<br />
strafbar sein, wenn Zugangsbarrieren oder Zugangskontrollen<br />
überwunden oder umgangen<br />
werden.<br />
„Wer technische Kontrollen durch Fahrkartenlesegeräte<br />
unterläuft oder sich Kontrollen durch das<br />
Personal entzieht, muss auch künftig mit einer Strafe<br />
rechnen“, sagte DRB-Präsidiumsmitglied BARBARA<br />
STOCKINGER Anfang November in Berlin. Mit<br />
seinem Reformmodell halte der DRB an der<br />
Strafbarkeit des Schwarzfahrens fest, wolle<br />
den Tatbestand aber auf Fälle strafwürdigen<br />
Unrechts beschränken. Wer einfach in einen<br />
Bus oder eine Bahn einsteigt, ohne irgendeine<br />
Form der Täuschung zu begehen oder einen<br />
Schutz gegen Schwarzfahrten zu umgehen, ist<br />
nach dem Reformvorschlag des DRB nicht<br />
strafwürdig. Hier reichen der Richtervereinigung<br />
zufolge zivilrechtliche Sanktionen der Verkehrsunternehmen<br />
aus, wie etwa das erhöhte Beförderungsentgelt.<br />
Das oft angeführte Argument,<br />
ohne eine Strafbarkeit dürften die<br />
Kontrolleure der Verkehrsbetriebe Schwarzfahrer<br />
nicht mehr festhalten, um deren Identität<br />
festzustellen, sei nicht stichhaltig. Denn auch<br />
das Zivilrecht sehe in § 229 BGB ein Festhalterecht<br />
vor.<br />
Der Vorschlag des DRB knüpfe, so die Argumentation<br />
des Vereins, an die Ursprungsidee des im<br />
vorigen Jahrhundert eingeführten § 265a StGB<br />
an, nach der die schlichte Inanspruchnahme<br />
einer Leistung ohne ein manipulatives Verhalten<br />
nicht strafbar sein sollte, weil es zu niederschwellig<br />
ist. „In erster Linie sind die Verkehrsbetriebe<br />
gefordert, vorbeugend mehr gegen<br />
Schwarzfahren zu tun. Wirksame Zugangskontrollen<br />
1266 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin<br />
der Unternehmen sind der beste Weg, um Schwarzfahrten<br />
mit Bahnen und Bussen effektiver zu verhindern“,<br />
soSTOCKINGER.<br />
[Quelle: DRB]<br />
im Interesse der Qualitätssicherung der Verteidigung<br />
des Mandanten abzulehnen.<br />
[Quelle: DAV]<br />
DAV fordert Nachbesserungen bei<br />
der notwendigen Verteidigung<br />
Der Deutsche Anwaltverein (DAV) hat den<br />
kürzlich vorgelegten Referentenentwurf des<br />
Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz<br />
zur Umsetzung einer EU-Richtlinie<br />
zum Strafverfahrensrecht zwar grundsätzlich<br />
begrüßt. Er fordert jedoch auch Nachbesserungen.<br />
Die Richtlinie 2016/1919/EU zu Beschuldigtenrechten<br />
formuliert u.a. staatlich zu gewährleistende<br />
Mindeststandards einer Pflichtverteidigung.<br />
Sie stellt Ansprüche an die Gewährleistung<br />
anwaltlicher Dienste und nimmt die Anwaltschaft<br />
damit ebenso in die Pflicht wie die<br />
Mitgliedstaaten, die für die Umsetzung Sorge<br />
zu tragen haben. Insgesamt, so urteilt der DAV,<br />
sei der vorliegende Referentenentwurf um eine<br />
behutsame Erweiterung des bisherigen Systems<br />
der Pflichtverteidigung in richtlinienkonformer<br />
Weise bemüht.<br />
Der Verein begrüßt in seiner Stellungnahme<br />
sowohl die geplante Normierung des sog. Verteidigers<br />
der ersten Stunde als auch den Ansatz,<br />
die Autonomie und das Vertrauen des Beschuldigten<br />
in einen von ihm benannten Anwalt,<br />
dessen Beiordnung er wünscht, grundsätzlich<br />
zu respektieren. Allerdings werden einige Punkte<br />
auch abgelehnt: So trage der Entwurf der<br />
Notwendigkeit erleichterter Auswechslungsmöglichkeiten<br />
des Verteidigers, mit dem der<br />
Beschuldigte unzufrieden sei, nur unzureichend<br />
Rechnung. Diese seien zu erweitern.<br />
Auch das geplante Konzept eines „Sicherungsverteidigers“<br />
als weiterer Verteidiger neben<br />
einem schon bestehenden Verteidigungsverhältnis<br />
lehnt der DAV ab. Bereits die Wortwahl<br />
impliziere, es sei primäre Aufgabe eines solchen<br />
– notfalls gegen den Willen des Beschuldigten zu<br />
bestellenden – Verteidigers, der Absicherung des<br />
Verfahrens gegen seinen Mandanten zu dienen.<br />
Ein solcher, eher als „Verfahrensdiener“ zu<br />
bezeichnender Verteidiger, so der DAV, sei aber<br />
Forderung nach einer Reform des<br />
Abstammungsrechts<br />
Gesundheits- und Rechtsexperten fordern eine<br />
Reform des Abstammungsrechts und damit auch<br />
der Regelungen für die Reproduktionsmedizin.<br />
Derzeit gebe es nur fragmentarische und unzureichende<br />
Regelungen, obgleich diese Fragestellungen<br />
enorme praktische Bedeutung hätten und<br />
sich auf viele Rechtsgebiete erstreckten, erklärten<br />
Fachleute anlässlich einer Anhörung des Gesundheitsausschusses<br />
des Bundestags Ende November<br />
zum Thema künstliche Befruchtung. Zudem<br />
müsse das Kindeswohl stärker in den Blickpunkt<br />
rücken.<br />
Konkret ging es um mehrere aus den Kreisen der<br />
Opposition eingebrachte Anträge mit dem Ziel,<br />
die Kostenübernahme für eine künstliche Befruchtung<br />
auf unterschiedliche Paarkonstellationen<br />
auszuweiten, etwa auf eingetragene<br />
Lebenspartnerschaften, verheiratete lesbische<br />
Ehepartner und nichteheliche Lebenspartnerschaften.<br />
Auch wurde damit argumentiert, dass<br />
derzeit unverheiratete Paare, lesbische Frauen<br />
und solche ohne dauerhafte Partnerschaft sowie<br />
auch Menschen mit geringem Einkommen diskriminiert<br />
würden. Die Abgeordneten forderten<br />
die volle Erstattung der Kosten für medizinische<br />
Maßnahmen zur Herbeiführung einer Schwangerschaft<br />
auch unter Verwendung von Spendersamen.<br />
Der Erstattungsanspruch müsse allen<br />
Menschen mit ungewollter, medizinisch begründeter<br />
Kinderlosigkeit eröffnet werden.<br />
Bisher ist die Kostenübernahme bei den Krankenkassen<br />
auf heterosexuelle Ehepaare begrenzt. Die<br />
Krankenkassen tragen bei Eheleuten 50 % der<br />
Behandlungskosten, wobei nur die Ei- und Samenzellen<br />
des Paares (homologe Insemination) verwendet<br />
werden dürfen. Was die Restkosten<br />
betrifft, stellen Bund und Länder gemeinsam Mittel<br />
bereit. Mit einer 2016 in Kraft getretenen Änderung<br />
der Richtlinie des Bundesfamilienministeriums zur<br />
Förderung von Maßnahmen der assistierten Reproduktion<br />
ist die Bundesförderung auf unverheiratete<br />
Paare ausgedehnt worden.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong> 1267
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
Die Stellungnahmen der geladenen Sachverständigen<br />
machten allerdings deutlich, dass auf<br />
diesem Gebiet noch viel grundsätzlicher Klärungsbedarf<br />
besteht. So müssen nach Ansicht<br />
der Bundesärztekammer (BÄK) zuerst die rechtlichen<br />
Fragestellungen geklärt werden, bevor an<br />
eine Leistungsausweitung gedacht werden könne.<br />
Der BGH habe kürzlich festgestellt, dass die<br />
Ehefrau der Kindesmutter nicht aufgrund der Ehe<br />
zum rechtlichen Mitelternteil des Kindes werde.<br />
Die Überschneidung wissenschaftlicher, ethischer<br />
und rechtlicher Aspekte führe zu einer besonderen<br />
Komplexität dieses medizinischen Gebiets,<br />
wobei auch der hohe Rang des Kindeswohls zu<br />
berücksichtigen sei. Es sei ein schwer überschaubares<br />
Normengeflecht entstanden.<br />
Ähnlich argumentierte die Rechtsanwältin CHRISTINA<br />
HIRTHAMMER-SCHMIDT-BLEIBTREU, die darauf hinwies,<br />
dass es eine frei wählbare Eltern-Kind-Zuordnung<br />
nicht gebe. Auch in einer heterosexuellen Partnerschaft<br />
gebe es noch Regelungslücken. Erkenne<br />
ein mit der Mutter nicht verheirateter Vater die<br />
Vaterschaft nicht an, bestehe trotz genetischer<br />
Verbindung keine Möglichkeit, ihn zum rechtlichen<br />
Vater des Kindes zu machen. Ebenso könne ein<br />
Samenspender nicht aufgrund seiner genetischen<br />
Vaterschaft als rechtlicher Vater festgestellt werden.<br />
Somit sollte die gesetzliche Festlegung der<br />
Elternschaft zwingend überarbeitet werden.<br />
Der Lesben- und Schwulenverband (LSVD)<br />
erklärte, die möglichen Fallvarianten machten<br />
deutlich, dass den verschiedenen Erstattungssystemen<br />
kein einheitlicher Plan zugrunde liege.<br />
Das widerspreche den Gerechtigkeitsvorstellungen<br />
der Bürger. Eine Korrektur sei dringend<br />
geboten. Studien zeigten, dass die Motive bezüglich<br />
Kindern bei Lesben und Schwulen identisch<br />
und ebenso existenziell seien wie bei heterosexuellen<br />
Eltern.<br />
Der Fachverband pro familia kritisierte, alleinstehende<br />
oder lesbische Frauen erlebten Ausgrenzung<br />
und eine Tabuisierung der Kinderwunschthematik.<br />
Unsinnige Reglementierungen<br />
und Rechtsunsicherheiten in Bezug auf Behandlungswünsche<br />
veranlassten Frauen und Paare,<br />
vermehrt Behandlungen im Ausland wahrzunehmen.<br />
Nötig sei ein neues Reproduktionsmedizingesetz.<br />
Der Verband sprach sich dafür aus, alleinstehenden<br />
und lesbischen Frauen eine heterologe<br />
Insemination zu ermöglichen und dafür einen<br />
gesetzlichen Anspruch zur partiellen Kostenübernahme<br />
zu schaffen.<br />
Der Verein Spenderkinder äußerte sich hingegen<br />
kritisch zu einer möglichen Übernahme<br />
von Behandlungskosten einer Samenspende.<br />
Dies bedeute keine Gleichstellung von Lebenspartnerschaften<br />
und nichtehelichen Paaren zu Ehepaaren,<br />
weil die Behandlungskosten für Samenspenden<br />
bei Eheleuten auch nicht übernommen<br />
würden. Bei einer Samenspende handele es sich<br />
um eine besondere Familiengründung zu dritt, die<br />
mit psychologischen Herausforderungen verbunden<br />
sei und nur nach gründlicher Aufklärung<br />
eingegangen werden sollte. Mit der Kostenübernahme<br />
würde die nötige Reflexion jedoch voraussichtlich<br />
entfallen und der Eindruck vermittelt, dass<br />
kein Unterschied zu einer homologen Insemination<br />
bestünde. Zu berücksichtigen sei überdies,<br />
dass bei einer Samenspende den so gezeugten<br />
Menschen der genetische Vater bewusst vorenthalten<br />
werde. Dies sei ethisch bedenklich.<br />
Die Erweiterung des Leistungsanspruchs auf Fälle<br />
der heterologen Befruchtung mit Fremdsamen<br />
nicht allein für gleichgeschlechtliche, sondern<br />
auch für verheiratete oder andere heterosexuelle<br />
Paar berührt nach Aussage des GKV-Spitzenverbands<br />
zahlreiche Fragen der Reproduktionsmedizin.<br />
Die damit zusammenhängenden auch<br />
rechtlichen Fragestellungen müssten zunächst<br />
beantwortet und in Regelungen gefasst werden.<br />
Der Frauenarzt JAN-STEFFEN KRÜSSEL vom Universitätsklinikum<br />
Düsseldorf wies wie andere Sachverständige<br />
auf die in den Vorlagen unscharf<br />
formulierten Voraussetzungen für eine Kostenerstattung<br />
hin und nannte als Beispiele die Begriffe<br />
„medizinische Gründe“, „auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaft“<br />
oder „medizinisch begründete<br />
Kinderlosigkeit“. Die Nutzung dieser unbestimmten<br />
Rechtsbegriffe hätte zur Folge, dass Ärzte in<br />
einer rechtlichen Grauzone Entscheidungen treffen<br />
müssten. Insofern sei eine Rechtsentwicklung<br />
für die Reproduktionsmedizin erforderlich.<br />
[Quelle: Bundestag]<br />
Existenzminimumbericht vorgelegt<br />
Im kommenden Jahr 2019 beträgt das sächliche<br />
Existenzminimum für einen Alleinstehenden<br />
9.168 € jährlich und steigt in 2020 auf 9.408 €. Bei<br />
1268 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin<br />
Ehepaaren wird der Wert für 2020 mit 15.540 €<br />
angegeben. Dies weist der von der Bundesregierung<br />
kürzlich vorgelegte 12. Existenzminimumbericht<br />
aus. Er ist alle zwei Jahre zu erstellen<br />
und hat zum Ziel, die Höhe des von der Einkommensteuer<br />
freizustellenden Existenzminimums<br />
von Erwachsenen und Kindern zu bestimmen.<br />
Damit kommt er der Forderung des Bundesverfassungsgerichts<br />
nach, dem Steuerpflichtigen<br />
nach Erfüllung seiner Einkommensteuerschuld<br />
von seinem Erworbenen zumindest so viel zu<br />
belassen, wie dieser zur Bestreitung seines notwendigen<br />
Lebensunterhalts und – unter Berücksichtigung<br />
von Art. 6 Abs. 1 GG – desjenigen seiner<br />
Familie bedarf.<br />
Bereits eingerechnet sind in die genannten Werte<br />
die Wohnkosten. Sie werden für Alleinstehende –<br />
hier unter Zugrundelegung einer angemessenen<br />
Wohnfläche von 40 qm – mit 289 € (kalt) und<br />
296 € für das darauffolgende Jahr 2020 angegeben.<br />
Für Ehepaare ohne Kinder wird für 2020 eine<br />
Wohnung von 60 qm mit einer Kaltmiete von<br />
444 € als angemessen erachtet.<br />
Ergänzend wird im Existenzminimumbericht zu<br />
den Wohnkosten ausgeführt, dass Bezieher niedriger<br />
Erwerbseinkommen zur Verringerung ihrer<br />
Wohnkosten nach Maßgabe des Wohngeldgesetzes<br />
Anspruch auf Wohngeld haben, soweit sie<br />
nicht Anspruch auf ergänzende Leistungen nach<br />
dem SGB II oder SGB XII haben. Wohnkosten, die<br />
die im steuerlichen Existenzminimum berücksichtigten<br />
Beträge übersteigen, würden durch<br />
Wohngeld abgedeckt, soweit die jeweiligen<br />
Höchstbeträge, die in Abhängigkeit von Haushaltsgröße<br />
und Mietenstufe festgelegt sind, nicht<br />
überschritten werden (§ 12 WoGG).<br />
[Quelle: Bundesregierung]<br />
Verbreitung und Wirkung der<br />
„kalten Progression“ im Steuerrecht<br />
Von der kalten Progression bei der Einkommensteuer<br />
sind in diesem Jahr 32,1 Millionen Steuerzahler<br />
betroffen. Wie die Bundesregierung in<br />
ihrem kürzlich vorgelegten Bericht über die<br />
Wirkung der kalten Progression im Verlauf des<br />
Einkommensteuertarifs für die Jahre <strong>2018</strong> und<br />
2019 (Dritter Steuerprogressionsbericht) mitteilt,<br />
ist jeder Steuerpflichtige von der kalten Progression<br />
mit durchschnittlich 104 € im Jahr betroffen.<br />
Zugrunde gelegt wurde eine Inflationsrate von<br />
1,74 %.<br />
Als kalte Progression werden laut Bericht Steuermehreinnahmen<br />
bezeichnet, die entstehen, soweit<br />
Einkommenserhöhungen die Inflation ausgleichen<br />
und es in Folge des progressiven<br />
Einkommensteuertarifs bei somit unverändertem<br />
Realeinkommen zu einem Anstieg der<br />
Durchschnittsbelastung kommt. Einkommenssteigerungen,<br />
die über die Inflationsrate hinausgehen,<br />
erhöhen demgegenüber die steuerliche<br />
Leistungsfähigkeit.<br />
Im kommenden Jahr 2019 sollen von der kalten<br />
Progression sogar rund 32,8 Mio. Steuerpflichtige<br />
betroffen sein. Das Volumen soll 116 € pro<br />
Steuerpflichtigen betragen. Zugrunde gelegt wurde<br />
hier eine Inflationsrate von 1,94 %.<br />
[Quelle: Bundesregierung]<br />
Juristinnen lehnen Vorschläge zur<br />
Änderung der Juristenausbildung ab<br />
Der Deutsche Juristinnenbund (djb) kritisiert in<br />
einer Stellungnahme vom Oktober dieses Jahres<br />
die Vorschläge des Koordinierungsausschusses<br />
Juristenausbildung zur universitären Schwerpunktbereichsprüfung.<br />
Diese würden Probleme<br />
nicht lösen, sondern selbst erhebliche Fehlentwicklungen<br />
auslösen.<br />
Die Vorschläge des Koordinierungsausschusses zur<br />
Änderung der Juristenausbildung basieren auf<br />
einem Beschluss der Justizministerkonferenz vom<br />
Herbst des vergangenen Jahres. Sie sehen u.a. vor,<br />
die Note des Schwerpunktbereichsstudiums<br />
künftig nicht mehr zum Bestandteil der Examensnote<br />
zu machen. Vielmehr sollten beide künftig<br />
getrennt ausgewiesen werden. Zur Begründung<br />
seines Vorschlags verweist der Ausschuss zum<br />
einen auf die Uneinheitlichkeit der universitären<br />
Schwerpunktbereichsprüfungen. Zum anderen ist<br />
er der Auffassung, dass die Ausbildung im Bereich<br />
des Schwerpunkts zulasten der Vorbereitung auf<br />
die staatliche Pflichtfachprüfung gehe.<br />
Dieser Argumentation widerspricht der djb. Pflichtfachstudium<br />
und Schwerpunktstudium stünden<br />
für unterschiedliche Ausbildungsziele, die für die<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong> 1269
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
juristische Qualifikation jedoch jeweils unentbehrlich<br />
seien. Während die staatliche Prüfung den<br />
Wissens- und Kompetenzerwerb in den grundlegenden<br />
Rechtsgebieten sowie die rechtswissenschaftliche<br />
Methodik der Fallbearbeitung in der<br />
Breite abprüfe, diene das Schwerpunktbereichsstudium<br />
nicht nur der interessengeleiteten Vertiefung<br />
des Fachwissens auch in Rechtsgebieten,<br />
die in der Praxis von größerer Bedeutung seien als<br />
in der Pflichtfachprüfung; es befähige die Studierenden<br />
auch zum wissenschaftlichen Arbeiten und<br />
ermögliche damit die vertiefte kritische Reflektion.<br />
Das Examenszeugnis der ersten juristischen Prüfung<br />
weise diese unterschiedlichen im Studium<br />
erworbenen und in der Prüfung nachgewiesenen<br />
Fertigkeiten und Kompetenzen aus. Es würde dem<br />
komplementären Charakter von Schwerpunktbereichsstudium<br />
und Pflichtfachstudium nicht gerecht,<br />
wenn die Note des Schwerpunktbereichsstudiums<br />
nicht mehr Bestandteil der Examensnote<br />
wäre.<br />
Der djb fordert deshalb, die Veranstaltungen<br />
und Lernziele des Schwerpunktbereichsstudiums<br />
noch stärker darauf auszurichten, reflexive Kompetenzen<br />
für den kritischen Umgang mit dem<br />
Recht zu vermitteln. Das Heraustrennen der<br />
Schwerpunktbereichsnote aus der Examensnote<br />
hätte zur Folge, dass das Schwerpunktstudium in<br />
den Augen der Studierenden erheblich entwertet<br />
würde. Die in der rechtswissenschaftlichen Lehre<br />
ohnehin schon randständigen kritischen Perspektiven<br />
würden weiter marginalisiert. Insbesondere<br />
Rechtsfragen von Diskriminierung, Hierarchien<br />
und Ungleichheiten sowie Gender- und Diversity-Kompetenz<br />
seien jedoch juristische Kernkompetenzen.<br />
Sie seien flächendeckend als solche<br />
anzuerkennen und ihnen sei ein entsprechender<br />
Stellenwert einzuräumen.<br />
Um den vom Koordinierungsausschuss formulierten<br />
Fehlentwicklungen zu begegnen, solle man<br />
vielmehr die Ausbildungsordnungen dahingehend<br />
vereinheitlichen, so dass Schwerpunktbereichsund<br />
Pflichtfachprüfung nicht mehr in ein Konkurrenzverhältnis<br />
um die Ressourcen der Studierenden<br />
geraten. Dazu sei es unabdingbar, den<br />
Pflichtfachkatalog zu entschlacken. Mit Blick auf<br />
den curricularen Studienverlaufsplan seien Überschneidungen<br />
des Schwerpunktbereichsstudiums<br />
und der Examensvorbereitung zu vermeiden. Solche<br />
Überschneidungen gingen zulasten beider<br />
Bereiche. Sie würden überdies diejenigen Studierenden<br />
besonders belasten, die ihr Studium<br />
beispielsweise mit familiären Verpflichtungen<br />
vereinbaren müssen.<br />
[Quelle: djb]<br />
Personalia<br />
Der bisherige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts<br />
Prof. Dr. FERDINAND KIRCHHOF ist nach<br />
rund 10-jähriger Amtszeit am 30. November nach<br />
Erreichen der Altersgrenze aus dem Amt geschieden.<br />
Prof. KIRCHHOF kam nach einer langen Tätigkeit<br />
als Rechtslehrer – u.a. in Saarbrücken,<br />
Speyer, Tübingen und Paris – im Jahr 2007 als<br />
Nachfolger von Prof. Dr. UDO STEINER an das<br />
BVerfG. Sein Dezernat im ersten Senat umfasste<br />
das Sozialrecht einschließlich des Sozialversicherungsrechts;<br />
hier hat er als Berichterstatter eine<br />
Reihe von bedeutenden Senatsverfahren vorbereitet<br />
u.a. zu dem Basistarif in der privaten<br />
Krankenversicherung, zu den Hartz-IV-Regelleistungen<br />
und zum Luftverkehrsteuergesetz. Unter<br />
seinem Vorsitz verkündete der Senat zahlreiche<br />
wichtige Urteile, wie die Entscheidung zu dem<br />
Asylbewerberleistungsgesetz, zur Besetzung der<br />
Gremien des ZDF, zur Verschonung von der<br />
Erbschaftsteuer beim Übergang betrieblichen<br />
Vermögens sowie zur Einheitsbewertung für die<br />
Bemessung der Grundsteuer.<br />
Zu seinem Nachfolger im ersten Senat hatte der<br />
Deutsche Bundestag zuvor am 22. November den<br />
Mannheimer Rechtsanwalt Dr. STEPHAN HARBARTH<br />
gewählt. HABARTH ist Partner in einer Wirtschaftssozietät<br />
und zudem Mitglied des Deutschen<br />
Bundestags. Aus der Anwaltschaft ist seine Berufung<br />
bereits einhellig begrüßt worden, zumal<br />
HABARTH als Nachfolger des Vizepräsidenten auch<br />
Anwärter auf das Amt des Präsidenten des<br />
Gerichts ist. BRAK und DAV hatten schon seit<br />
langem eine stärkere Berücksichtigung anwaltlicher<br />
Expertise im BVerfG gefordert (vgl. etwa<br />
die Gemeinsame Erklärung vom November 2016,<br />
<strong>ZAP</strong> Anwaltsmagazin 23/2016, S. 1207). Der DAV<br />
erinnerte daran, dass es in der Geschichte des<br />
Gerichts bislang erst drei Rechtsanwälte auf die<br />
Richterbank in Karlsruhe geschafft haben, in den<br />
letzten 13 Jahren sogar kein einziger.<br />
[Quellen: BVerfG/BRAK/DAV]<br />
1270 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong>
Eilnachrichten <strong>2018</strong> Fach 1, Seite 187<br />
Eilnachrichten<br />
Volltext-Service: Die Entscheidungsvolltexte zu den <strong>ZAP</strong> Eilnachrichten können Sie online kostenlos bei<br />
unserem Kooperationspartner juris abrufen, Anmeldung unter www.juris.de. Einzelheiten zum Anmeldevorgang<br />
finden Sie auf unserer Homepage www.zap-verlag.de/service. Sie sind Neu-Abonnent? Dann<br />
schicken Sie bitte eine E-Mail mit dem Betreff „Neu-Abonnement“ an freischaltcode-zap@zap-verlag.de<br />
und erhalten so Ihre Zugangsdaten.<br />
Allgemeines Zivilrecht<br />
Schmerzensgeld: Vom Klageantrag erfasste Schadensfolgen<br />
(BGH, Urt. v. 10.7.<strong>2018</strong> – VI ZR 259/15) • Verlangt der Geschädigte für erlittene Körperverletzungen<br />
uneingeschränkt ein Schmerzensgeld, so werden durch den Klageantrag nach dem Grundsatz der Einheitlichkeit<br />
des Schmerzensgeldes alle diejenigen Schadensfolgen erfasst, die entweder bereits eingetreten<br />
und objektiv erkennbar waren oder deren Eintritt jedenfalls vorhergesehen und bei der Entscheidung<br />
berücksichtigt werden konnte. Hinweis: NachAuffassung des BGH durfte sich das Berufungsgericht bei der<br />
Schmerzensgeldbemessung nicht darauf beschränken, hinsichtlich der Schmerzsymptomatik nur diejenigen<br />
Verletzungsfolgen zu berücksichtigen, die bis zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bereits<br />
tatsächlich eingetreten waren. Dies wäre aus Sicht des BGH allenfalls möglich gewesen, wenn die klagende<br />
Geschädigte eine entsprechende Teilklage erhoben hätte (vgl. BGH, Urt. v. 20.1.2004 – VI ZR 70/03).<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 687/<strong>2018</strong><br />
Persönlichkeitsrechtsverletzung: Geldentschädigung<br />
(OLG Dresden, Beschl. v. 30.7.<strong>2018</strong> – 4 U 620/18) • Beleidigungen, die keine Breitenwirkung in der<br />
Öffentlichkeit haben und im Rahmen einer länger andauernden und hart geführten Auseinandersetzung<br />
gefallen sind, rechtfertigen eine Geldentschädigung regelmäßig nicht. Das Bedürfnis für eine Geldentschädigung<br />
kann auch durch langes Zuwarten des Geschädigten gemindert sein.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 688/<strong>2018</strong><br />
Kaufvertragsrecht<br />
Neuwagenkauf: Sachmangel bei irreführender Werbung<br />
(BGH, Urt. v. <strong>24</strong>.10.<strong>2018</strong> – VIII ZR 66/17) • Ein Fahrzeug ist nicht frei von Sachmängeln, wenn die Software<br />
der Kupplungsüberhitzungsanzeige eine Warnmeldung einblendet, die den Fahrer zum Anhalten<br />
auffordert, um die Kupplung abkühlen zu lassen, obwohl dies auch bei Fortsetzung der Fahrt möglich<br />
ist. An der Beurteilung als Sachmangel ändert es nichts, wenn der Verkäufer dem Käufer mitteilt, es sei<br />
nicht notwendig, die irreführende Warnmeldung zu beachten. Dies gilt auch dann, wenn der Verkäufer<br />
zugleich der Hersteller des Fahrzeugs ist. Der auf Ersatzlieferung in Anspruch genommene Verkäufer darf<br />
den Käufer nicht unter Ausübung der Einrede der Unverhältnismäßigkeit auf Nachbesserung verweisen,<br />
wenn der Verkäufer den Mangel nicht vollständig, nachhaltig und fachgerecht beseitigen kann. Hinweis:<br />
Für die Beurteilung der relativen Unverhältnismäßigkeit der vom Käufer gewählten Art der Nacherfüllung<br />
im Vergleich zu der anderen Art ist grds. auf den Zeitpunkt des Zugangs des Nacherfüllungsverlangens<br />
abzustellen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 689/<strong>2018</strong><br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong> 1271
Fach 1, Seite 188 Eilnachrichten <strong>2018</strong><br />
Lkw-Kartell: Schadensersatzanspruch für Käufer<br />
(LG Stuttgart, Urt. v. 12.11.<strong>2018</strong> – 45 O 6/17) • Von 1997 bis 2011 hat es nach den Feststellungen der EU-<br />
Kommission ein Kartell namhafter europäischer Lkw-Hersteller gegeben. Es gilt ein Anscheinsbeweis, dass<br />
es durch das Lkw-Kartell für mittelschwere und schwere Lkw in den Jahren 1997 bis 2011 zu allgemeinen<br />
Preissteigerungen auf dem Markt für diese Fahrzeuge gekommen ist. Die Absprache der Lkw-Hersteller<br />
über Brutto-Listen-Preise wirkte sich preissteigernd aus. Individuelle Preisverhandlungen mit den<br />
betroffenen Käufern sind durch die Brutto-Listen-Preise maßgeblich beeinflusst worden und führen<br />
damit nicht zu einem Wegfall des Schadens. Hieran ändern auch individuelle Preisverhandlungen vor<br />
Kaufvertragsabschluss nichts. Die konkrete Höhe des Schadens ist in einem separaten Verfahren unter<br />
Zuhilfenahme eines Sachverständigengutachtens zu klären. Hinweis: Schadensersatzansprüche für die<br />
in den Jahren 2003–2011 getätigten Geschäfte mit den Kartellanten (egal ob Kauf-, Leasing- oder<br />
Mietvertrag) dürften noch nicht verjährt sein und können weiterhin geltend gemacht werden. Dabei reicht<br />
es aus, zunächst eine Feststellungsklage zu erheben. Ein Gutachten eines ökonomischen Sachverständigen<br />
zu den Auswirkungen des Kartells auf die entstandenen Schäden muss nicht zwingend vor<br />
Klageerhebung erstellt werden. Der Grundsatz, dass bei abgeschlossenen Sachverhalten vorrangig eine<br />
Leistungsklage zu erheben sei, gilt zumindest bei kartellrechtlichen Streitigkeiten dieser Art nicht.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 690/<strong>2018</strong><br />
Miete/Nutzungen<br />
Wohnraummiete: Fristlose bzw. ordentliche Kündigung in Fällen des Zahlungsverzugs<br />
(BGH, Urt. v. 19.9.<strong>2018</strong> – VIII ZR 261/17) • Ein Vermieter, der eine fristlose Kündigung des Mietverhältnisses<br />
wegen Zahlungsverzugs und daneben hilfsweise oder vorsorglich eine ordentliche Kündigung<br />
ausspricht, erklärt zum einen, dass er sich in erster Linie auf den Beendigungstatbestand des § 543 Abs. 2<br />
S. 1 Nr. 3 BGB beruft, also auf dessen Rechtswirkungen, nämlich die sofortige Auflösung des<br />
Mietverhältnisses, nicht verzichten will. Zum anderen bringt er damit zum Ausdruck, dass das<br />
Mietverhältnis – falls die vorrangig gewollte fristlose Kündigung (gleich aus welchen Gründen) nicht zu<br />
der angestrebten Beendigung führt – wenigstens mit Ablauf der geltenden Kündigungsfrist sein Ende<br />
finden soll. Ein nach § 564c BGB a.F. begründetes Wohnraummietverhältnis mit Verlängerungsklausel<br />
kann selbst dann, wenn im Mietvertrag vorgesehen ist, dass es sich nicht verlängert, wenn eine der<br />
Parteien rechtzeitig widerspricht, nur unter Einhaltung der Kündigungsvoraussetzungen der §§ 564b,<br />
565, 565a BGB a.F. zum jährlich vereinbarten Ablauftermin beendet werden. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 691/<strong>2018</strong><br />
Wohnraummiete: Rechtsschutzbedürfnis des Mieters bei Überlassung der Mietwohnung an Dritte<br />
(BGH, Urt. v. 22.8.<strong>2018</strong> – VIII ZR 99/17) • Der Vermieter ist verpflichtet, eine vermietete Wohnung zum<br />
vertragsgemäßen Gebrauch zu überlassen und sie fortlaufend in diesem Zustand zu erhalten. Dafür ist<br />
es unerheblich, ob der Mieter die Wohnung selbst nutzt oder Dritten überlässt. Hinweis: Der Vermieter<br />
hat den Mietgegenstand in vertragsgemäßem Zustand zu halten. Ob der Mieter die Mietsache selbst<br />
nutzt, ist hierfür unerheblich. Allerdings dürfte sich der sich ggf. ergebende Mietminderungsbetrag u.U.<br />
entsprechend ändern. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 692/<strong>2018</strong><br />
Bauvertragsrecht<br />
Bauvertrag: Ersatz von Vorhaltekosten infolge Zuschlagsverzögerung<br />
(BGH, Urt. v. 26.4.<strong>2018</strong> – VII ZR 81/17) • Ein Anspruch auf Ersatz von nach Vertragspreisen einschließlich<br />
eines Prozentsatzes für Allgemeine Geschäftskosten kalkulierten Vorhaltekosten wegen verzögerter<br />
Zuschlagserteilung im Vergabeverfahren steht dem Auftragnehmer nicht aufgrund einer entsprechenden<br />
Anwendung des § 642 BGB zu. Hinweis: Nach § 642 BGB kann dem Unternehmer ein verschuldensunabhängiger<br />
Entschädigungsanspruch zustehen, wenn der Besteller eine ihm obliegende Mitwirkungshandlung<br />
unterlässt, die bei der Herstellung des Werks erforderlich ist und der Besteller hierdurch in<br />
1272 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong>
Eilnachrichten <strong>2018</strong> Fach 1, Seite 189<br />
Annahmeverzug gerät. Dieser Anspruch sui generis sieht eine Entschädigung des Auftragnehmers für die<br />
Folgen vor, die während der Dauer des Annahmeverzugs direkt entstehen. Der BGH hat vorliegend aber<br />
klargestellt, dass der Auftraggeber im Hinblick auf die bei einer verspäteten Zuschlagserteilung<br />
erforderliche Vertragsanpassung nicht bereits deswegen in Annahmeverzug gerät, weil im Zeitpunkt<br />
der Zuschlagserteilung die Ausführungstermine bereits verstrichen sind. Eine analoge Ausdehnung des<br />
§ 642 BGB auf den vorvertraglichen Bereich in Fällen der Zuschlagsverzögerung ist nicht geboten.<br />
Grundsätzlich trägt der Bieter das Kalkulationsrisiko. Ändert sich die Kalkulation eines Bieters infolge einer<br />
Verschiebung des Zuschlags, ohne dass dies zu einer Änderung der Leistungspflichten führt, kann<br />
schwerlich eine Interessenlage angenommen werden, die eine vorvertragliche Haftung des Auftraggebers<br />
rechtfertigt. Dies muss umso mehr gelten, wenn der Bieter eine Bindefristverlängerung mitträgt.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 693/<strong>2018</strong><br />
Sonstiges Vertragsrecht<br />
Transportrecht: Berechnung der Zinsen auf verspätet geleistete Schadensersatzleistungen<br />
(OLG Celle, Urt. v. 27.9.<strong>2018</strong> – 11 U 36/18) • Hat der in Anspruch genommene Frachtführer nach<br />
Aufforderung durch den Geschädigten nicht direkt oder nicht in vollem Umfang Schadensersatz geleistet<br />
und befindet sich sodann mit der Schadensregulierung in Verzug, hat der Geschädigte gleichwohl nur<br />
Anspruch auf Zinsen i.H.v. maximal 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz. Zinsen i.H.v. 9 Prozentpunkten<br />
über dem Basiszinssatz kann er auch dann nicht verlangen, wenn es sich bei dem Geschädigten<br />
um ein Unternehmen handelt, welches den Transportvertrag im Rahmen seines Handelsgewerbes mit<br />
dem Schädiger abgeschlossen hat. Es fehlt nämlich am Tatbestandsmerkmal einer Entgeltforderung (vgl.<br />
§ 288 Abs. 2 BGB) vom Geschädigten an den Schädiger. Solch eine Forderung liegt nur dann vor, wenn<br />
vorher ein Leistungsaustausch stattgefunden hat. Schadensersatzansprüche sind daher keine Entgeltforderungen.<br />
Hinweis: Gerade in Zeiten von „Niedrigzinsen“ sind die gesetzlichen Zinsen – verglichen mit<br />
den von Banken angebotenen Zinsen – für den Anspruchssteller recht attraktiv. Die Anspruchsvoraussetzungen<br />
des § 288 Abs. 2 BGB werden fälschlicherweise jedoch oftmals auf das Tatbestandsmerkmal der<br />
Beteiligung zweier Unternehmen reduziert. Dem ist das OLG Celle nun entgegentreten. Im konkreten Fall<br />
(es ging um eine grenzüberschreitende Beförderung im Geltungsbereich der CMR) wäre ein Rückgriff auf<br />
die Zinsregelungen nach dem BGB nach hiesiger Auffassung jedoch gar nicht notwendig gewesen, da die<br />
CMR bereits über eine eigenständige Zinsregelung verfügt. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 694/<strong>2018</strong><br />
Reiserecht: Erstreckung eines außergewöhnlichen Umstands auf Folgeflüge<br />
(AG Köln, Urt. v. 4.6.<strong>2018</strong> – 142 C 505/17) • Nach Art. 5 Abs. 3 der FluggastVO entfällt die Pflicht zur Leistung<br />
von Ausgleichzahlungen, wenn das ausführende Luftfahrtunternehmen nachweisen kann, dass die Annullierung<br />
auf außergewöhnliche Umstände zurückzuführen ist, die sich auch dann nicht hätte vermeiden lassen,<br />
wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären. Der 15. Erwägungsgrund der FluggastVO sieht<br />
vor, dass von dem Vorliegen außergewöhnlicher Umstände ausgegangen werden sollte, wenn eine Entscheidung<br />
des Flugverkehrsmanagements zu einem einzelnen Flugzeug an einem bestimmten Tag zur Folge<br />
hat, dass es bei einem oder mehreren Flügen des betreffenden Flugzeugs zu einer großen Verspätung auch<br />
bis zum nächsten Tag oder zu einer Annullierung kommt. Der 15. Erwägungsgrund kann nicht dahin verstanden<br />
werden, dass ein außergewöhnlicher Umstand sich ohne jedwede zeitliche Begrenzung auf sämtliche<br />
Folgeflüge desselben Fluggerätes erstreckt. Es kommt auf eine zeitliche Nähe an. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 695/<strong>2018</strong><br />
Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht<br />
Grundbuchverfahren: Nachweiserleichterung für werdenden Wohnungseigentümer<br />
(KG, Beschl. v. 11.9.<strong>2018</strong> – 1 W 233/18) • Die Erwerber, für die eine Auflassungsvormerkung im Grundbuch<br />
eingetragen ist und denen der Besitz an der erworbenen Wohnung übergeben worden ist, bilden bereits<br />
vor Entstehung einer Wohnungseigentümergemeinschaft nach Teilung eine sog. werdende Gemeinschaft.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong> 1273
Fach 1, Seite 190 Eilnachrichten <strong>2018</strong><br />
Bei Ersterwerbern sind bereits die Vorschriften des Wohnungseigentumsgesetzes anzuwenden, weil die<br />
Wohnanlage in der Übergangsphase zwischen Übergabe verkaufter Wohnungen und rechtlicher<br />
Entstehung der Wohnungseigentümergemeinschaft durch Grundbucheintragung eines ersten Erwerbers<br />
als Eigentümer bereits bewirtschaftet und verwaltet werden muss. Hat ein werdender Wohnungseigentümer<br />
als alleiniger Inhaber des Stimmrechts für sein zukünftiges Wohnungseigentum an der<br />
Wohnungseigentümerversammlung teilgenommen und das Protokoll unterzeichnet, so hat er keine<br />
Möglichkeit, seine Stellung als werdender Wohnungseigentümer in grundbuchtauglicher Form nachzuweisen.<br />
Hinweis: Die Nachweiserleichterung der §§ 26 Abs. 3, <strong>24</strong> Abs. 6 S. 2 WEG gilt entsprechend,<br />
wenn die Beschlussniederschrift von einem werdenden Wohnungseigentümer unterzeichnet worden ist.<br />
Im Grundbuchverfahren muss dabei nicht nachgewiesen werden, dass die Wohnung dem werdenden<br />
Wohnungseigentümer bereits übergeben worden ist. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 696/<strong>2018</strong><br />
WEG: Rechtsschutzbedürfnis für Beschlussanfechtung<br />
(LG Frankfurt/M., Urt. v. 17.5.<strong>2018</strong> – 13 S 168/15) • Ein Rechtschutzbedürfnis für die Anfechtung von<br />
Beschlüssen in Mehrhausanlagen mit Untergemeinschaften besteht schon dann, wenn die theoretische<br />
Möglichkeit einer Inanspruchnahme aus § 10 Abs. 8 WEG für den Anfechtungskläger besteht. Hinweis:<br />
Bei einer Notmaßnahme kann auf die Einholung von Alternativangeboten verzichtet werden. Eine<br />
umfassende Dachsanierung ist jedoch keine Notmaßnahme i.S.v. § 21 Abs. 2 WEG. Nach § 21 Abs. 2 WEG<br />
ist jeder Wohnungseigentümer berechtigt, ohne Zustimmung der anderen Wohnungseigentümer eine<br />
Maßnahme zu treffen, die zur Abwendung eines dem gemeinschaftlichen Eigentum unmittelbar<br />
drohenden Schadens notwendig ist. Hierunter sind jedoch nur solche Maßnahmen zu verstehen, die zur<br />
Abwendung eines dem Gemeinschaftseigentum unmittelbar drohenden Schadens dienen. Darüber<br />
hinaus wird in Fällen der Eilbedürftigkeit auch eine geringe Kostenbelastung, zumindest für die<br />
einzelnen Eigentümer, gefordert. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 697/<strong>2018</strong><br />
Bank- und Kreditwesen<br />
Verbraucherdarlehen: Verwirkung des Widerrufsrechts unter Heranziehung des Fernabsatzrechts<br />
(BGH, Urt. v. 3.7.<strong>2018</strong> – XI ZR 702/16) • Ist § 312d Abs. 3 Nr. 1 BGB in der bis zum 3.8.2009 geltenden Fassung<br />
schon nicht auf im Wege des Fernabsatzes geschlossene Verbraucherdarlehensverträge anwendbar, kann<br />
bei der Würdigung der konkreten Umstände des Einzelfalls § 312d Abs. 3 Nr. 1 BGB a.F. erst recht kein<br />
Gesichtspunkt für oder gegen eine Verwirkung des Widerrufsrechts bei nicht im Wege des Fernabsatzes<br />
geschlossenen Verbraucherdarlehensverträgen entnommen werden. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 698/<strong>2018</strong><br />
Straßenverkehrsrecht<br />
Fiktive Schadensabrechnung: Ersatzfähigkeit der Umsatzsteuer<br />
(BGH, Urt. v. 2.10.<strong>2018</strong> – VI ZR 40/18) • Wählt der Geschädigte den Weg der fiktiven Schadensabrechnung,<br />
ist die im Rahmen einer Ersatzbeschaffung angefallene Umsatzsteuer nicht ersatzfähig,<br />
auch nicht in Höhe des im Schadensgutachten zugrunde gelegten Umsatzsteueranteils. Eine<br />
Kombination von fiktiver und konkreter Schadensabrechnung ist insoweit unzulässig. Hinweis: Zur<br />
Ermittlung des vom Brutto-Wiederbeschaffungswert in Abzug zu bringenden Umsatzsteueranteils<br />
macht der BGH deutlich, dass vom Tatrichter im Rahmen der Schadensschätzung (§ 287 ZPO) zu klären<br />
ist, ob solche Fahrzeuge üblicherweise auf dem Gebrauchtwagenmarkt nach § 10 UStG regelbesteuert<br />
oder nach § 25a UStG differenzbesteuert oder von Privat und damit umsatzsteuerfrei angeboten<br />
werden (Anschluss Senat, Urt. v. 13.9.2016 – VI ZR 654/15). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 699/<strong>2018</strong><br />
Haftungsverteilung: Kollision zwischen Pkw und Straßenbahn<br />
(OLG Hamm, Urt. v. 13.4.<strong>2018</strong> – 7 U 36/17) • Ein Straßenbahnführer darf darauf vertrauen, dass andere<br />
Verkehrsteilnehmer §§ 2 Abs. 3 und 9 Abs. 3 StVO beachten und Schienen nicht besetzen. Er braucht<br />
1274 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong>
Eilnachrichten <strong>2018</strong> Fach 1, Seite 191<br />
nicht damit zu rechnen, dass ein vor ihm fahrendes Fahrzeug in den Gleisbereich einbiegt und dort zum<br />
Halten kommt, und zwar grds. auch dann nicht, wenn der andere Fahrer seine Abbiegeabsicht bereits<br />
angezeigt hat. Bei der Abwägung der Betriebsgefahr der Straßenbahn gegen das erhebliche Verschulden<br />
des Pkw-Führers bei einem Verstoß gegen §§ 2 Abs. 3 und 9 Abs. 3 StVO tritt die Betriebsgefahr der<br />
Straßenbahn zurück. Hinweis: Zur Haftungsverteilung bei Unfällen eines Kraftfahrzeugs s. GRÜNEBERG<br />
<strong>ZAP</strong> F. 9, S. 1091 ff. (in diesem Heft). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 700/<strong>2018</strong><br />
Versicherungsrecht<br />
Berufsunfähigkeitsversicherung: Verweisung auf eine andere Tätigkeit<br />
(OLG Hamm, Urt. v. 4.5.<strong>2018</strong> – 20 U 178/16) • Verweist der Berufsunfähigkeitsversicherer den Versicherungsnehmer<br />
abstrakt auf einen anderen Beruf, so muss er die Anforderungen dieses Verweisungsberufs so<br />
detailliert beschreiben, dass der Versicherungsnehmer erwidern kann. Kommt es auf Einzelheiten des Verweisungsberufs<br />
an, muss der Versicherer dazu vortragen (hier: Verweisung auf „Hausmeister in größeren<br />
Wohnanlagen/Verwaltungen“ mangels hinreichender Darlegung des Versicherers ohne Erfolg). Hinweis:<br />
Nach der hier vom OLG vertretenen Auffassung ist eine genaue zeitliche Einordnung der Einzeltätigkeiten<br />
entbehrlich, wenn feststeht, dass die Verrichtungen, die der Versicherungsnehmer nicht mehr ausüben<br />
kann, ein nicht abtrennbarer Teil eines Gesamtvorgangs der Arbeit sind. Führen die noch auszuübenden<br />
Verrichtungen nicht zu einem sinnvollen Arbeitsergebnis, liegt (vorbehaltlich der Möglichkeit einer<br />
Umorganisation) vollständige Berufsunfähigkeit unabhängig davon vor, welchen Zeitanteil sie einnehmen<br />
(BGH, Urt. v. 26.2.2003 – IV ZR 238/01). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 701/<strong>2018</strong><br />
Lebensversicherungsvertrag: Anforderungen an die Widerrufsbelehrung<br />
(OLG Dresden, Beschl. v. 30.4.<strong>2018</strong> – 4 U 430/18) • Die „drucktechnische Hervorhebung“ einer Widerrufsbelehrung<br />
nach § 8 Abs. 4 VVG a.F. kann nicht verlangt werden. Die Anforderungen, die die Rspr. für<br />
die drucktechnische Hervorhebung einer Belehrung nach § 5a VVG a.F. entwickelt hat, können nicht auf<br />
§ 8 VVG übertragen werden, denn der Wortlaut dieser Vorschrift setzt eine drucktechnische Hervorhebung<br />
nicht voraus. Ausreichend ist, dass die Belehrung darauf angelegt ist, den Angesprochenen in<br />
irgendeiner Weise aufmerksam zu machen. Eine zum Vorteil des Versicherungsnehmers abweichende<br />
Widerrufsbelehrung, die ihm für den Widerruf eine längere als die gesetzliche Frist einräumt und/oder es<br />
genügen lässt, dass der Widerspruch innerhalb der Frist abgesendet wurde, kann nicht zur Unwirksamkeit<br />
der Belehrung führen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 702/<strong>2018</strong><br />
Familienrecht<br />
Versorgungsausgleich: Abänderungsverfahren nach Tod eines Ehegatten<br />
(BGH, Beschl. v. 20.6.<strong>2018</strong> – XII ZB 6<strong>24</strong>/15) • Die Bestimmungen im Abänderungsverfahren nach § 51 Abs. 1<br />
VersAusglG sind uneingeschränkt anzuwenden, wenn der öffentlich-rechtliche Versorgungsausgleich nach<br />
früherem Recht zunächst rechtskräftig zugunsten eines Ehegatten durchgeführt worden war und dieser<br />
Ehegatte nach Rechtskraft der Ausgangsentscheidung verstorben ist. Strengt der (insgesamt) Ausgleichspflichtige<br />
nach eingetretener Wertänderung ein Abänderungsverfahren gem. § 51 Abs. 1 VersAusglG an,<br />
muss die Anwendung des § 31 Abs. 1 S. 2 VersAusglG im Falle eines Vorversterbens des Ausgleichsberechtigten<br />
folgerichtig dazu führen, dass der überlebende Ehegatte sein während der Ehezeit erworbenes<br />
Anrecht ab dem Zeitpunkt der Antragstellung ungeteilt zurückerhält. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 703/<strong>2018</strong><br />
Verfahrenskostenhilfe: Vereinfachtes Unterhaltsverfahren<br />
(OLG Bremen, Beschl. v. 17.5.<strong>2018</strong> – 4 WF <strong>24</strong>/18) • Dem unterhaltsberechtigten minderjährigen Kind<br />
steht die Wahl zwischen dem vereinfachten Verfahren und dem Klageverfahren offen. Daher kann ihm<br />
für beide Verfahrensarten ein Anspruch auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe zustehen. Der auf<br />
Verfahrenskostenhilfe angewiesene Unterhaltsberechtigte verhält sich nicht mutwillig i.S.d. § 114 Abs. 2<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong> 1275
Fach 1, Seite 192 Eilnachrichten <strong>2018</strong><br />
ZPO, wenn er seinen Unterhaltsanspruch mittels Leistungsantrags verfolgt, obwohl der Unterhaltsverpflichtete<br />
auf sein außergerichtliches Auskunfts- oder Zahlungsverlangen nicht reagiert hat. Allein<br />
die Nichtreaktion auf außergerichtliche Anfragen würde einen nicht auf Verfahrenskostenhilfe<br />
angewiesenen Unterhaltsgläubiger nicht dazu veranlassen, seinen Unterhaltsanspruch vernünftigerweise<br />
nun nur noch im vereinfachten Verfahren geltend zu machen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 704/<strong>2018</strong><br />
Nachlass/Erbrecht<br />
Erbrechtlicher Auskunftsanspruch: Hemmung der Verjährung<br />
(BGH, Urt. v. 31.10.<strong>2018</strong> – IV ZR 313/17) • Der im Rahmen einer Stufenklage von dem Pflichtteilsberechtigten<br />
geltend gemachte Anspruch auf Auskunft durch Vorlage eines privatschriftlichen Nachlassverzeichnisses<br />
hemmt grds. auch die Verjährung des Anspruchs auf Auskunft durch Vorlage eines notariellen Nachlassverzeichnisses.<br />
Die Auskunftsansprüche aus § 2314 Abs. 1 S. 1, 3 BGB entspringen dem gleichen Lebenssachverhalt<br />
und dienen dem gleichen Endziel; zudem sind sie auch materiell-rechtlich wesensgleich.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 705/<strong>2018</strong><br />
Gemeinschaftliches Testament: Voraussetzungen<br />
(OLG Stuttgart, Beschl. v. 28.5.<strong>2018</strong> – 3Wx70/17)• Auch zwei getrennte, äußerlich nicht miteinander<br />
verbundene Einzeltestamente können eine einzige Urkunde im Rechtssinne darstellen und ein gemeinschaftliches<br />
Testament bilden, wenn ihr innerer Bezug auf andere Weise eindeutig ist. Ein Zerschneiden der<br />
ursprünglich unzerteilten Urkunde stellt nicht notwendig einen Widerruf dar. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 706/<strong>2018</strong><br />
Zivilprozessrecht<br />
Gerichtsstand: Rechtsstreit um griechische Staatsanleihen<br />
(EuGH, Urt. v. 15.11.<strong>2018</strong> – C-308/17) • Welches Gericht eines Mitgliedstaats für Klagen eines privaten Inhabers<br />
griechischer Staatsanleihen, die im Jahr 2012 zwangsweise in solche mit niedrigerem Wert umgetauscht<br />
wurden, gegen den griechischen Staat zuständig ist, richtet sich nicht nach der „Brüssel-Ia“-<br />
Verordnung, nach der ein Käufer auch an seinem Wohnsitzgericht klagen kann. Es handelt sich nämlich<br />
nicht um einen Rechtsstreit über „Zivil- und Handelssachen“ im Sinne dieser Verordnung.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 707/<strong>2018</strong><br />
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand: Versäumen der Berufungsbegründungsfrist<br />
(BGH, Beschl. v. 27.9.<strong>2018</strong> – IX ZB 67/17) • Der Rechtsmittelführer hat auch bei Einsatz eines Telefaxgerätes<br />
die Rechtzeitigkeit des Eingangs der Berufungsbegründung zur vollen Überzeugung des Gerichts<br />
nachzuweisen. Wird ein fünfseitiger Schriftsatz kurz vor 23:58 Uhr mit Hilfe eines Telefaxgerätes an das<br />
Gericht übermittelt, der erst nach <strong>24</strong>:00 Uhr eingeht, scheidet ein Verschulden des Prozessbevollmächtigten<br />
an der Fristwahrung nur aus, wenn er vorträgt und glaubhaft macht, dass nach seinen<br />
Erfahrungswerten bei einer üblichen Übertragungsdauer von einem Eingang vor <strong>24</strong>:00 Uhr auszugehen<br />
war. Die Wiedereinsetzungsfrist beginnt zu laufen, sobald der Prozessbevollmächtigte der Partei von<br />
dem Gericht fernmündlich oder schriftlich auf die Fristversäumung hingewiesen wird. Hinweis: Die<br />
Anhörungsrüge des Streithelfers gegen den Senatsbeschluss vom 27.9.<strong>2018</strong> ist als unzulässig verworfen<br />
worden (BGH, Beschl. v. 15.11.<strong>2018</strong>). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 708/<strong>2018</strong><br />
Zwangsvollstreckung/Insolvenz<br />
Mahnbescheidsantrag: Auswirkungen eines Schreibversehens<br />
(BGH, Urt. v. 8.5.<strong>2018</strong> – II ZR 314/16) • Unterschreitet der im Antrag auf Erlass eines Mahnbescheids<br />
angegebene Gesamtbetrag der geltend gemachten Ansprüche geringfügig den in einem vorprozessualen<br />
Anspruchsschreiben genannten Gesamtbetrag, auf das ohne dessen Beifügung zur Indivi-<br />
1276 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong>
Eilnachrichten <strong>2018</strong> Fach 1, Seite 193<br />
dualisierung der Ansprüche Bezug genommen wird, ist dies unschädlich, wenn für den Antragsgegner<br />
ohne Weiteres ersichtlich ist, dass es sich um ein Schreibversehen handelt. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 709/<strong>2018</strong><br />
Insolvenzanfechtung: Verrechnung von Beitragsforderungen einer Sozialkasse<br />
(BGH, Beschl. v. 3.5.<strong>2018</strong> – IX ZR 151/16) • Die Vorsatzanfechtung der Verrechnung von Beitragsforderungen<br />
einer Sozialkasse mit Erstattungsansprüchen eines Arbeitgebers kann ausgeschlossen sein, wenn die<br />
Insolvenzgläubiger durch die Verrechnungen nicht benachteiligt wurden. Allerdings fehlt es nicht an der<br />
von § 133 Abs. 1 InsO vorausgesetzten Rechtshandlung der Schuldnerin. Auch die Auszahlung von<br />
Urlaubsvergütung stellt eine Rechtshandlung des Arbeitgebers dar, ohne die ein Erstattungsanspruch des<br />
Arbeitgebers und damit eine Aufrechnungsmöglichkeit der Sozialkasse mit Beitragsrückständen nicht<br />
entstehen kann. Hinweis: Nach der hier vom BGH vertretenen Auffassung stellt ähnlich wie die<br />
Entgeltfortzahlung an Arbeitnehmer im Krankheitsfall auch die Auszahlung von Urlaubsvergütung eine<br />
Rechtshandlung des Arbeitgebers dar, ohne die ein Erstattungsanspruch des Arbeitgebers und damit eine<br />
Aufrechnungsmöglichkeit der Sozialkasse mit Beitragsrückständen nicht entstehen kann. Soweit eine<br />
frühere Entscheidung des BGH (Urt. v. 21.10.2004 – IX ZR 71/02) dahingehend verstanden werden kann,<br />
dass sich die Aufrechnungslage ohne mitwirkende Rechtshandlung des Schuldners unmittelbar aus den<br />
tarifvertraglichen Rechtsvorschriften ergebe, hält der Senat daran nicht fest. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 710/<strong>2018</strong><br />
Handelsrecht/Gesellschaftsrecht<br />
Gesellschaftsvertrag: Wirksamkeit einer Mehrheitsklausel<br />
(BGH, Urt. v. 11.9.<strong>2018</strong> – II ZR 307/16) • Der Gesellschaftsvertrag einer Publikumsgesellschaft ist objektiv<br />
auszulegen. Bei einer von dem – grds. dispositiven – gesetzlichen Einstimmigkeitsprinzip abweichenden<br />
Verankerung der Mehrheitsmacht im Gesellschaftsvertrag ist zunächst zu prüfen, ob der betreffende Beschlussgegenstand<br />
einer Mehrheitsentscheidung unterworfen ist. Die Formulierung, dass eine einfache<br />
Mehrheit der abgegebenen Stimmen für eine Beschlussfassung genügt, „sofern nicht gesetzliche Regelungen<br />
(…) andere Mehrheitserfordernisse vorsehen“, ist dahin auszulegen, dass lediglich zwingende<br />
gesetzliche Regelungen unberührt bleiben sollten. Das Mehrheitsprinzip bei der Publikumsgesellschaft ist<br />
interessengerecht, weil bei ihr eine geschlossene Beteiligung an der Gesellschafterversammlung praktisch<br />
nicht erreicht werden kann. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 711/<strong>2018</strong><br />
Handelsregister: Anforderungen an die Anmeldung<br />
(KG, Beschl. v. 5.9.<strong>2018</strong> – 22 W 53/18) • Eine Anmeldung zum Handelsregister kann ausgelegt werden. Bei<br />
dieser ist zu berücksichtigen, dass eine an das Registergericht gerichtete Anmeldung Grundlage einer<br />
Eintragung sein soll und damit wegen des Publizitätscharakters des Registers klar und eindeutig sein<br />
muss. Hinweis: Die sofortige Beschwerde hatte zwar Erfolg, doch hat das KG die Anmeldung eindeutig als<br />
abweisungsreif beurteilt, wodurch die Beschwerdeführer letztlich mit ihrer Anmeldung scheitern werden,<br />
wenn sie diese nicht zurücknehmen. Der zitierte Beschl. des OLG Frankfurt v. 19.3.2015 (20 W 327/14)<br />
befasst sich eingehend mit dem notwendigen Inhalt und mit der Form der Anmeldungen zum Handelsregister.<br />
Dasselbe OLG hat im Beschl. v. 15.3.2016 (20 W 330/15) ausführlich die Voraussetzungen einer<br />
Aussetzung eines Eintragungsverfahrens über die Anmeldung der Abberufung eines Geschäftsführers<br />
einer GmbH nach § 21 Abs. 1 FamFG dargelegt. Der BGH hat in seinem Beschl. v. 21.6.2011 (II ZB 15/10) bei<br />
Rn 10 ausgeführt: „Das Registergericht hat die Pflicht, darüber zu wachen, dass Eintragungen im<br />
Handelsregister den gesetzlichen Erfordernissen und der tatsächlichen Rechtslage entsprechen. Dabei ist<br />
es aber nicht verpflichtet, verwickelte Rechtsverhältnisse oder zweifelhafte Rechtsfragen zu klären.<br />
Dadurch würden die Registergerichte überlastet und es bestünde die Gefahr, dass Handelsregistereintragungen<br />
auf unangemessene Zeit blockiert würden. Eine Pflicht zur Amtsermittlung nach §§ 26, 382<br />
FamFG besteht vielmehr nur dann, wenn entweder die formalen Mindestanforderungen für eine<br />
Eintragung nicht erfüllt sind oder wenn begründete Zweifel an der Wirksamkeit der zur Eintragung<br />
angemeldeten Erklärungen oder an der Richtigkeit der mitgeteilten Tatsachen bestehen.“<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 712/<strong>2018</strong><br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong> 1277
Fach 1, Seite 194 Eilnachrichten <strong>2018</strong><br />
Wirtschafts-/Urheber-/Medien-/Marken-/Wettbewerbsrecht<br />
Facebook: Sperrung eines Nutzers wegen Verlinkung volksverhetzender Texte<br />
(OLG München, Beschl. v. 17.9.<strong>2018</strong> – 18 W 1383/18) • Der Betreiber einer Social-Media-Plattform ist<br />
berechtigt, einen Nutzer zu sperren, insb. ihm die Nutzung der Funktionen wie Posten von Beiträgen,<br />
Kommentieren fremder Beiträge und Nutzung des Nachrichtensystems vorzuenthalten, wenn dieser<br />
Verlinkungen zu volksverhetzenden Texten auf seinem Profil vornimmt. Zwar können grds. auch<br />
rechtsextremistische Meinungen geschützt sein, allerdings findet das Grundrecht der Meinungsfreiheit<br />
seine Schranken u.a. in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, zu denen auch § 130 Abs. 2 StGB gehört.<br />
Eine undifferenzierte Herabsetzung der von der kritisierten Kommunalpolitik nur mittelbar betroffenen<br />
Migranten ist geeignet, den Hass der Bevölkerung gegen diese zu schüren. Hinweis: In Fortführung seiner<br />
st. Rspr. (vgl. LG Frankfurt/M., Beschl. v. 14.5.<strong>2018</strong> – 2-03 O 182/18) hat der Senat vorliegend entschieden,<br />
dass Meinungsäußerungen, die geeignet sind, Hass zu schüren, in sozialen Netzwerken nicht geduldet<br />
werden. Der Vertrag zwischen Nutzer und Plattformbetreiber verpflichtet seinem Inhalt nach beide<br />
Vertragsparteien zur Rücksichtnahme auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils. Für<br />
den Inhalt und die Reichweite der Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme ist von Bedeutung, dass die<br />
von Facebook bereitgestellte Social-Media-Plattform dem Zweck dient, den Nutzern einen „öffentlichen<br />
Marktplatz“ für Informationen und Meinungsaustausch zu verschaffen (vgl. OLG Frankfurt, Urt. v. 10.8.2017<br />
– 16 U 255/16). Im Hinblick auf die mittelbare Drittwirkung der Grundrechte, insb. des Grundrechts des<br />
Nutzers auf Meinungsfreiheit, muss deshalb gewährleistet sein, dass eine zulässige Meinungsäußerung<br />
nicht von der Plattform entfernt werden darf. Auf der anderen Seite muss es dem Plattformbetreiber<br />
möglich sein, unverzüglich bei Bekanntwerden von Hassreden, d.h. einem direkten Angriff auf Personen,<br />
der über eine Kritik an – wie vorliegend – Einwanderungsgesetzen und Diskussionen über die<br />
Einschränkung dieser Gesetzte hinausgeht, betreffende Kommentare und Verlinkungen zu solchen<br />
Inhalten zu unterbinden. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 713/<strong>2018</strong><br />
Urheberrecht: Kostenlose Bilder im Internet nicht automatisch gemeinfrei<br />
(LG Frankfurt/M., Beschl. v. 3.9.<strong>2018</strong> – 03 S 10/18) • Wer ein urheberrechtlich geschütztes Werk nutzt,<br />
erfüllt nicht die erforderlichen Sorgfaltspflichten, wenn er das Werk bei einer Suche nach kostenlosen<br />
Bildern im Internet gefunden hat. Allein hieraus kann nicht darauf geschlossen werden, dass das Werk<br />
gemeinfrei ist. Hinweis: Die Rspr. stellt an das Maß der Sorgfalt bei urheberrechtlichen Sachverhalten<br />
strenge Anforderungen. Der Nutzer von Fotos, Bildern, Zeichnungen oder anderen Werken, die im<br />
Internet kursieren, hat daher vor der Nutzung die Urheberschaft und Nutzungsmöglichkeit dieser Werke<br />
zu klären. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 714/<strong>2018</strong><br />
Arbeitsrecht<br />
Abmahnung: Verletzung der Wartepflicht eines Linienbusfahrers nach Unfall<br />
(LAG Köln, Urt. v. 17.8.2017 – 7 Sa 176/17) • Behauptet ein Pkw-Fahrer gegenüber einem Linienbusfahrer,<br />
dieser habe mit dem Bus sein Auto berührt und beschädigt und er rufe nunmehr die Polizei, ist der<br />
Busfahrer grds. auch im Interesse seines Arbeitgebers gehalten, das Eintreffen der Polizei abzuwarten,<br />
auch wenn er überzeugt ist, dass es keine Berührung gegeben habe. Eine Abmahnung, die ihm vorwirft,<br />
gleichwohl ohne Abwarten weitergefahren zu sein, ist berechtigt. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 715/<strong>2018</strong><br />
Außerordentliche Kündigung: Unverhältnismäßigkeit bei Mitnahme geringwertiger Produkte<br />
(LAG Mecklenburg-Vorpommern, Urt. v. 12.6.<strong>2018</strong> – 2 Sa 2<strong>24</strong>/17) • Ein Diebstahl bzw. eine Unterschlagung<br />
können im Falle des – unberechtigten – Einverständnisses eines Vorgesetzten zumindest als Erlaubnistatbestandsirrtum<br />
den Vorsatz ausschließen. Der Arbeitgeber trägt im Kündigungsschutzprozess die<br />
Darlegungs- und Beweislast auch dafür, dass solche Tatsachen nicht vorliegen, die das Verhalten des<br />
Arbeitnehmers gerechtfertigt oder entschuldigt erscheinen lassen. Hinweis: In diesem Zusammenhang ist<br />
auch zu beachten – so das LAG ergänzend –, dass der stellvertretende Teamleiter, der unstreitig mit der<br />
1278 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong>
Eilnachrichten <strong>2018</strong> Fach 1, Seite 195<br />
Mitnahme des Käses einverstanden war, wegen seines Verhaltens lediglich eine Abmahnung erhielt.<br />
Rechtfertigungsgründe dafür, weshalb die Beklagte bei der Klägerin, die zudem als Gabelstaplerfahrerin<br />
keine gesteigerte Vertrauensstellung genießt, davon ausgehen konnte, dass eine Abmahnung nicht zu<br />
einer Verhaltensänderung geführt hätte, bei deren Vorgesetzten, der eine Vertrauensstellung inne hatte,<br />
jedoch eine Abmahnung genügen ließ, sind nicht erkennbar. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 716/<strong>2018</strong><br />
Sozialrecht<br />
Amtshaftung: Unterbliebene Beratung durch Sozialhilfeträger<br />
(BGH, Urt. v. 2.8.<strong>2018</strong> – III ZR 466/16) • Ist anlässlich eines Kontakts des Bürgers mit einem anderen<br />
Sozialleistungsträger für diesen ein zwingender rentenversicherungsrechtlicher Beratungsbedarf ersichtlich,<br />
so besteht für den aktuell angegangenen Leistungsträger auch ohne ein entsprechendes Beratungsbegehren,<br />
durch das i.d.R. die Beratungspflicht erst ausgelöst wird, zumindest die Pflicht, dem Bürger<br />
nahezulegen, sich (auch) von dem Rentenversicherungsträger beraten zu lassen. Ist ein Antragsteller<br />
aufgrund seiner Behinderung außerstande, seinen notwendigen Lebensunterhalt aus eigenen Mitteln<br />
(Einkommen, Vermögen) zu bestreiten, muss ein mit Fragen der Grundsicherung bei Erwerbsminderung<br />
befasster Sachbearbeiter mit Blick auf die Verzahnung und Verknüpfung der Sozialleistungssysteme in<br />
Erwägung ziehen, dass bereits vor Erreichen der Regelaltersgrenze ein gesetzlicher Rentenanspruch<br />
wegen Erwerbsunfähigkeit bestehen kann. Es ist deshalb ein Hinweis auf die Notwendigkeit einer<br />
Beratung durch den zuständigen Rentenversicherungsträger geboten. Hinweis: Dazu bedarf es lediglich<br />
eines kurzen Hinweises oder einer Belehrung mit wenigen Worten. Spezialkenntnisse des Rentenversicherungsrechts<br />
sind nicht erforderlich. In Fällen dieser Art muss der Träger der Grundsicherung/<br />
Sozialhilfe nicht prüfen, ob die Voraussetzungen für die Gewährung einer Erwerbsunfähigkeitsrente<br />
gegeben sind. Ebenso wenig muss er über Einzelheiten der Antragstellung belehren.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 717/<strong>2018</strong><br />
Arbeitsunfall: Kein Versicherungsschutz bei Unfall durch Handynutzung<br />
(SG Frankfurt/M., Urt. v. 18.10.<strong>2018</strong> – S 8 U 207/16) • Stößt eine Arbeitnehmerin auf ihrem Heimweg als<br />
Fußgängerin mit einer Bahn zusammen, liegt kein Arbeitsunfall vor, wenn die Versicherte durch das<br />
Telefonieren mit ihrem Handy so sehr abgelenkt wird, dass die Handynutzung als wesentliche<br />
Unfallursache anzusehen ist. Durch das Telefonieren während des Gehens wird ein erhebliches Risiko<br />
begründet, das sich letztlich in dem Unfallereignis realisiert. Das allgemeine Wegerisiko einen<br />
unbeschrankten U-Bahnübergang zu überqueren, tritt hinter diesem Risiko zurück. Hinweis: Bei einer<br />
gemischten Tätigkeit kommt es nicht darauf an, ob die eigenwirtschaftliche Verrichtung die versicherte<br />
Tätigkeit wesentlich unterbricht. Denn gemischte Tätigkeiten zeichnen sich gerade dadurch aus, dass<br />
die zu bewertenden, abgrenzbaren Verrichtungen gleichzeitig ausgeübt werden und nicht nacheinander.<br />
Entscheidend dafür, ob bei gemischten Tätigkeiten ein Arbeitsunfall vorliegt oder nicht, ist die<br />
Zurechnung des Unfallereignisses und des Gesundheitsschadens zur versicherten Tätigkeit.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 718/<strong>2018</strong><br />
Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht<br />
Imissionsschutzrecht: Begrenzung gerichtlicher Kontrolle<br />
(BVerfG, Beschl. v. 23.10.<strong>2018</strong> – 1 BvR 2523/13, 1 BvR 595/14) • Stößt die gerichtliche Kontrolle nach weitest<br />
möglicher Aufklärung an die Grenze des Erkenntnisstands naturschutzfachlicher Wissenschaft und Praxis,<br />
zwingt Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG das Gericht nicht zu weiteren Ermittlungen, sondern erlaubt ihm, seiner<br />
Entscheidung insoweit die plausible Einschätzung der Behörde zu der fachlichen Frage zugrunde zu legen.<br />
Diese Einschränkung der Kontrolle folgt hier – anders als bei der Konkretisierung unbestimmter<br />
Rechtsbegriffe – nicht aus einer der Verwaltung eingeräumten Einschätzungsprärogative und bedarf nicht<br />
eigens gesetzlicher Ermächtigung. Hinweis: Damit hat das BVerfG zwei Verfassungsbeschwerden von<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong> 1279
Fach 1, Seite 196 Eilnachrichten <strong>2018</strong><br />
Windkraftunternehmen in einem Genehmigungsverfahren, in dem es u.a. um mögliche von den geplanten<br />
Anlagen ausgehende Gefahren für den geschützten Rotmilan ging, als unzulässig verworfen. Klargestellt<br />
hat das Gericht aber auch, dass der Gesetzgeber in solchen Fällen der Verwaltung und den Gerichten nicht<br />
ohne weitere Maßgaben auf Dauer Entscheidungen in einem fachwissenschaftlichen „Erkenntnisvakuum“<br />
übertragen darf. Vielmehr muss er jedenfalls auf längere Sicht für eine „zumindest untergesetzliche<br />
Maßstabsbildung“ sorgen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 719/<strong>2018</strong><br />
Kindertageseinrichtung: Betreuungszeiten<br />
(VG Aachen, Beschl. v. 31.7.<strong>2018</strong> – 8 L 700/18) • Der Rechtsanspruch auf frühkindliche Förderung unterliegt<br />
keinem Kapazitätsvorbehalt. Alleiniger Maßstab ist der durch die Verhältnisse des anspruchsberechtigten<br />
Kindes und seiner Erziehungsberechtigten gekennzeichnete individuelle Bedarf, begrenzt durch das Wohl<br />
des zu betreuenden Kindes. Der Verweis auf eine Kindertagespflege ist erst dann zulässig, wenn die<br />
Kapazität in der gewählten Betreuungsform erschöpft gewesen wäre. Hinweis: Damit hat ein einjähriges<br />
Kind Anspruch auf einen Kita-Platz, dessen zeitlicher Umfang sich nach dem Betreuungsbedarf der Eltern<br />
richtet. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 720/<strong>2018</strong><br />
Steuerrecht<br />
Freiberufliche Einzelpraxis: Tarifbegünstigte Veräußerung<br />
(BFH, Urt. v. 21.8.<strong>2018</strong> – VIII R 2/15) • Die tarifbegünstigte Veräußerung einer freiberuflichen Einzelpraxis<br />
(§ 18 Abs. 3 i.V.m. § 34 EStG) setzt voraus, dass der Steuerpflichtige die wesentlichen vermögensmäßigen<br />
Grundlagen entgeltlich und definitiv auf einen anderen überträgt. Hierzu muss der Veräußerer seine<br />
freiberufliche Tätigkeit in dem bisherigen örtlichen Wirkungskreis wenigstens für eine gewisse Zeit<br />
einstellen. Die „definitive“ Übertragung des Mandantenstamms lässt sich erst nach einem gewissen<br />
Zeitablauf abschließend beurteilen. Sie hängt von den objektiven Umständen des Einzelfalls ab, die die<br />
Tatsacheninstanz zu würdigen hat. Neben der Dauer der Einstellung der freiberuflichen Tätigkeit sind insb.<br />
die räumliche Entfernung einer wieder aufgenommenen Berufstätigkeit zur veräußerten Praxis, die<br />
Vergleichbarkeit der Betätigungen, die Art und Struktur der Mandate, eine zwischenzeitliche Tätigkeit des<br />
Veräußerers als Arbeitnehmer oder freier Mitarbeiter des Erwerbers sowie die Nutzungsdauer des<br />
erworbenen Praxiswerts zu berücksichtigen. Hinweis: Nimmt der Veräußerer seine freiberufliche Tätigkeit<br />
nach einer gewissen Zeit wieder auf, kann dies auch dann schädlich sein, wenn die Wiederaufnahme zum<br />
Zeitpunkt der Übertragung der Praxis nicht geplant war. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 721/<strong>2018</strong><br />
Umsatzsteuer: Leistungen von Sportvereinen<br />
(BFH, Beschl. v. 21.6.<strong>2018</strong> – V R 20/17) • Der BFH zweifelt an der Umsatzsteuerfreiheit von Leistungen,<br />
die Sportvereine gegen gesondertes Entgelt erbringen und hat daher ein Vorabentscheidungsersuchen<br />
an den EuGH gerichtet. Hinweis: Sollte der EuGH eine unmittelbare Wirkung von Art. 132 Abs. 1 lit. m<br />
MwStSystRL verneinen, würde dies nach Auffassung des BFH zu einer Rechtsprechungsänderung<br />
führen. Die bisherige BFH-Rspr. führte insb. zu einer aus dem Unionsrecht abgeleiteten Steuerfreiheit<br />
für die Berechtigung zur Nutzung des Golfplatzes (Greenfee) und für die leihweise Überlassung von<br />
Golfbällen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 722/<strong>2018</strong><br />
Strafsachen/Ordnungswidrigkeiten<br />
Jugendstrafe: Bemessen des Unrechtsgehalts der Tat bei Prüfung der Schwere der Schuld<br />
(BGH, Urt. v. 18.7.<strong>2018</strong> – 2 StR 150/18) • Dem Unrecht der Tat kommt bei der Prüfung der Schwere der<br />
Schuld i.S.v. § 17 Abs. 2 Alt. 2 JGG im Allgemeinen keine selbstständige Bedeutung zu. Entscheidend ist,<br />
inwieweit sich die charakterliche Haltung und die Persönlichkeit sowie die Tatmotivation des Heranwachsenden<br />
in vorwerfbarer Schuld niedergeschlagen haben. Der äußere Unrechtsgehalt der Tat ist<br />
jedoch insofern von Belang, als aus ihm Schlüsse auf die Persönlichkeit des Täters und die Schwere seiner<br />
1280 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong>
Eilnachrichten <strong>2018</strong> Fach 1, Seite 197<br />
Schuld gezogen werden können. Der Unrechtsgehalt der Tat darf daher bei der Prüfung, ob die<br />
Verhängung einer Jugendstrafe wegen der Schwere der Schuld geboten ist, nicht unberücksichtigt bleiben.<br />
Bei einem Gewaltverbrechen kann die Schwere der Schuld auch eigenständige Bedeutung haben. Auf die<br />
Möglichkeit der Bestrafung schwerer Straftaten durch Verhängung einer Jugendstrafe kann auch in Fällen<br />
nicht verzichtet werden, in denen ein Jugendlicher oder Heranwachsender nicht erziehungsbedürftig oder<br />
erziehungsfähig ist. Welches Gewicht den einzelnen Zumessungserwägungen zukommt, ist abhängig vom<br />
Einzelfall. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 723/<strong>2018</strong><br />
Beweisverwertungsverbot: Angaben des Beschuldigten bei unterlassener Belehrung<br />
(LG Duisburg, Beschl. v. 13.7.<strong>2018</strong> – 35 Qs 58/18) • Wird der einer Unfallflucht verdächtige Fahrzeughalter<br />
bei einer Befragung nicht als Beschuldigter belehrt, sind seine Angaben gegenüber einem Polizeibeamten<br />
unverwertbar. Hinweis: Das Verfahren zeigt, dass der Widerspruch so früh wie möglich<br />
geltend zu machen ist, da dann Zwangsmaßnahmen u.U. nicht erlassen werden können oder zumindest<br />
aufzuheben sind, weil – so wie in dem hier zu entscheidenden Fall – der für die Aufrechterhaltung<br />
erforderliche dringende Tatverdacht nicht (länger) bejaht werden kann. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 7<strong>24</strong>/<strong>2018</strong><br />
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />
Rechtlicher Hinweis: Änderung der Sachlage<br />
(BGH, Beschl. v. 14.6.<strong>2018</strong> – 3 StR 206/18) • Bei dem Vorwurf des Mordes aus niedrigen Beweggründen ist der<br />
Angeklagte nicht nur davon in Kenntnis zu setzen, durch welche bestimmten Tatsachen das Gericht das<br />
Mordmerkmal als erfüllt ansieht, vielmehr ist er auch darüber zu informieren, dass sich diese Tatsachen aus<br />
Sicht des Gerichts gegenüber der Anklageschrift oder aber auch gegenüber einem früheren Hinweis geändert<br />
haben könnten (§ 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO). Der Hinweis ist förmlich zu erteilen.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 725/<strong>2018</strong><br />
Urteilsgründe: Fehlende Unterschrift<br />
(OLG München, Beschl. v. 26.6.<strong>2018</strong> – 5 OLG 15 Ss 89/18) • Fehlt die Unterschrift der Berufsrichter unter der<br />
Urteilsurkunde ist der Inhalt der schriftlich fixierten Urteilsgründe nicht gedeckt, d.h. es fehlt das Zeugnis,<br />
dass es sich bei den schriftlich niedergelegten Gründen um die Gründe des Gerichts handelt, die als Ergebnis<br />
der Hauptverhandlung in der Beratung gewonnen wurden. Dem Revisionsgericht ist dann eine<br />
Entscheidung, ob das sachliche Recht zutreffend angewandt ist, nicht möglich. Der Mangel wird nicht<br />
durch den maschinenschriftlich abgedruckten Namen der Richter und auch nicht durch die Bestätigung der<br />
Geschäftsstelle: „Unterschriebenes Urteil zur Geschäftsstelle gelangt am (…)“ ausgeglichen.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 726/<strong>2018</strong><br />
Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />
Anwaltswechsel: Pflicht zur Prüfung der Berufungs- und Berufungsbegründungsfrist<br />
(BGH, Beschl. v. <strong>24</strong>.5.<strong>2018</strong> – III ZA 30/17) • Ein Rechtsanwalt, der nach einem Anwaltswechsel ein<br />
Berufungsmandat übernimmt, hat die Erfolgsaussichten des Rechtsmittels zu prüfen, wozu zwingend<br />
die Zulässigkeitsvoraussetzungen gehören; insb. muss er sein Augenmerk auf die Einhaltung der<br />
Berufungs- und Berufungsbegründungsfrist richten. Nach ständiger BGH-Rspr. ist ein Rechtsmittelführer,<br />
der innerhalb der Rechtsmittelfrist die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beantragt hat, bis zur<br />
Entscheidung über seinen Antrag als unverschuldet verhindert anzusehen, das Rechtsmittel wirksam<br />
einzulegen, wenn er nach den gegebenen Umständen vernünftigerweise nicht mit der Ablehnung seines<br />
Antrags wegen fehlender Bedürftigkeit rechnen musste. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 727/<strong>2018</strong><br />
Anwaltliche Pflichtverletzung: Fehlende Erfolgsaussicht bei zuvor erteiler Deckungszusage<br />
(AG Köln, Urt. v. 4.6.<strong>2018</strong> – 142 C 59/18) • Der Inanspruchnahme eines Rechtsanwalts aus einem auf den<br />
Rechtsschutzversicherer übergegangenem Schadenersatzanspruch wegen Anwaltspflichtverletzung<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong> 1281
Fach 1, Seite 198 Eilnachrichten <strong>2018</strong><br />
kann entgegenstehen, dass sich die Inanspruchnahme des Rechtsanwalts als treuwidrig erweist. Dem<br />
Rechtsschutzversicherer ist es verwehrt, sich auf einen Anwaltsfehler wegen fehlender Erfolgsaussicht<br />
zu berufen, wenn er in Kenntnis des Sach- und Streitstands vor Erhebung der Nichtzulassungsbeschwerde<br />
Deckungsschutz gewährte und damit einen Vertrauenstatbestand gem. § <strong>24</strong>2 BGB<br />
schaffte. Die Deckungszusage der Rechtsschutzversicherung ist ein deklaratorisches Schuldanerkenntnis,<br />
durch welche ein Vertrauenstatbestand geschaffen wird. Durch sie werden Einwendungen und<br />
Einreden ausgeschlossen, die dem Rechtsschutzversicherer bei Abgabe der Zusage bekannt waren oder<br />
mit denen er zumindest rechnen musste. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 728/<strong>2018</strong><br />
Gebührenrecht<br />
Prozessfinanzierung: Unzulässigkeit einer Gewinnabschöpfungsklage<br />
(BGH, Urt. v. 13.9.<strong>2018</strong> – I ZR 26/17) • Die Gewinnabschöpfungsklage eines Verbraucherverbands, die von<br />
einem gewerblichen Prozessfinanzierer finanziert wird, dem eine Vergütung in Form eines Anteils am<br />
abgeschöpften Gewinn zugesagt wird, widerspricht dem Verbot unzulässiger Rechtsausübung aus § <strong>24</strong>2<br />
BGB und ist unzulässig. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 729/<strong>2018</strong><br />
Auslagen: Parkgebühren<br />
(OLG Düsseldorf, Beschl. v. 29.10.<strong>2018</strong> – 2 Ws 531/18) • Parkgebühren gehören zu den sonstigen Auslagen<br />
anlässlich einer Geschäftsreise i.S.v. Nr. 7006 VV RVG. Dieser auf Geschäftsreisen beschränkte<br />
Auslagentatbestand regelt die Erstattung von Parkgebühren abschließend. Liegt das Reiseziel innerhalb<br />
der Gemeinde, in der sich die Kanzlei oder die Wohnung des Rechtsanwalts befindet, werden<br />
Parkgebühren wie die Fahrtkosten selbst als allgemeine Geschäftskosten mit den Verfahrens- und<br />
Terminsgebühren abgegolten. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 730/<strong>2018</strong><br />
EU-Recht/IPR<br />
Brexit: Unzulässigkeit einer Klage gegen die Aufnahme der Verhandlungen<br />
(EuG, Urt. v. 26.11.<strong>2018</strong> – T-458/17) • Die Klage von EU-Bürgern auf Nichtigerklärung des Beschlusses, mit<br />
dem die Ermächtigung zur Aufnahme der Verhandlungen zwischen der EU und Großbritannien zum<br />
Austritt des Landes aus der Europäischen Union (sog. Brexit-Verhandlungen) erteilt wurde, ist<br />
unzulässig. Der Beschluss des EU-Rates zur Ermächtigung zur Aufnahme der Brexit-Verhandlungen<br />
erzeugt (noch) keine Rechtswirkungen, die die Interessen der Kläger durch eine qualifizierte Änderung<br />
ihrer Rechtsstellung beeinträchtigen. Hinweis: Geklagt hatten britische EU-Bürger, die derzeit in<br />
anderen EU-Ländern leben. Sie hatten geltend gemacht, bereits durch die Aufnahme der Verhandlungen<br />
in ihrer Eigenschaft als Unionsbürger, ihrem Wahlrecht bei Europa- und Kommunalwahlen, ihrem<br />
Recht, sich frei zu bewegen und aufzuhalten sowie ihren Ansprüchen auf Sozialleistungen unmittelbar<br />
betroffen zu sein, da es ansonsten keine anderen Rechtsschutzmöglichkeiten gebe. Das sah das EuG<br />
anders: Der angefochtene Beschluss sei nur vorbereitender Rechtsakt; daher könne es auch keine Rolle<br />
spielen, wenn sich das Vereinigte Königreich im Fall eines zukünftigen Rechtsstreits über das<br />
Austrittsabkommen nicht mehr an eine Entscheidung des EuGH gebunden sehe.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 731/<strong>2018</strong><br />
<strong>ZAP</strong>-Service: Die <strong>ZAP</strong> Eilnachrichten können und sollen nur eine stark komprimierte Wiedergabe der Originaltexte sein.<br />
Die Volltexte erhalten Sie online nach Ihrer Anmeldung bei unserem Kooperationspartner juris unter www.juris.de<br />
kostenlos. Der Verlag schickt Ihnen bei Bedarf die Volltexte auch zu. Die Kosten hierfür betragen: per Brief 0,50 € je Seite<br />
zzgl. Versandkosten. Bitte bestellen Sie unter Verwendung des Stichworts „<strong>ZAP</strong> Eilnachrichten-Service“ telefonisch<br />
unter 0228/91911-62, per E-Mail an redaktion@zap-verlag.de, per Fax unter 0228/91911-66 oder per Post an <strong>ZAP</strong> Verlag<br />
GmbH, <strong>ZAP</strong> Redaktion, Rochusstr. 2–4, 53123 Bonn.<br />
1282 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong>
Straßenverkehrsrecht Fach 9, Seite 1091<br />
Haftungsverteilung<br />
Haftungsrecht<br />
Der Straßenverkehrsunfall in der zivilrechtlichen Abwicklung –<br />
Haftungsverteilung, Teil 3: Sonstige Unfälle eines Kraftfahrzeugs<br />
Von RiBGH Dr. CHRISTIAN GRÜNEBERG, Karlsruhe<br />
Inhalt<br />
I. Unfälle ohne Fahrzeugkollision<br />
1. Unfälle durch herabfallende Fahrzeugteile,<br />
Ladung etc.<br />
2. Unfälle infolge Fahrbahnverschmutzung<br />
etc.<br />
3. Unfälle durch hochgeschleuderte Steine<br />
und andere Gegenstände<br />
II. Unfälle mit Eisenbahnen<br />
1. Unfälle auf unbeschranktem Bahnübergang<br />
2. Unfälle auf beschranktem Bahnübergang<br />
3. Unfälle auf Rangier- oder Werksgelände<br />
III. Unfälle mit Fußgängern<br />
1. Fußgänger geht entlang der Straße<br />
2. Fußgänger überquert die Straße<br />
3. Sonstige Unfälle im Fahrbahnbereich<br />
4. Fußgänger befindet sich außerhalb der<br />
Fahrbahn<br />
5. Unfälle mit Kindern und Jugendlichen<br />
IV. Unfälle mit Radfahrern<br />
1. Auffahrunfall<br />
2. Gegenverkehr<br />
3. Kreuzungsverkehr<br />
4. Türöffnen<br />
V. Unfälle mit Straßenbahnen<br />
1. Auffahrunfall<br />
2. Gegenverkehr<br />
3. Kreuzungsverkehr<br />
VI. Unfälle mit Tieren<br />
VII. Unfälle infolge Verletzung der Verkehrssicherungspflicht<br />
1. Kollision mit einem in die Fahrbahn<br />
ragenden Arbeitsgerät<br />
2. Kollision mit einem in die Fahrbahn<br />
ragenden Baum<br />
3. Unfälle im Baustellenbereich<br />
VIII. Mithaftung des verletzten Fahrzeuginsassen<br />
I. Unfälle ohne Fahrzeugkollision<br />
1. Unfälle durch herabfallende Fahrzeugteile, Ladung etc.<br />
Bei einer Unfallverursachung durch herabfallende Fahrzeugteile etc. wird i.d.R. von der vollen oder<br />
zumindest weit überwiegenden Haftung des betreffenden Fahrzeughalters, der gegen §§ 22 Abs. 1, 32<br />
Abs. 1 StVO verstoßen hat, auszugehen sein (KG NZV 1988, 23 [100 % bei Reifenlauffläche]; OLG Koblenz<br />
VersR 2014, 1365 [100 % bei Ölspur]; OLG Köln r+s 2014, 474 [100 % bei Reifen]; OLG München DAR 2016,<br />
87 [100 % bei Ladung eines Pkw]; weitere Einzelfälle bei GRÜNEBERG, Haftungsquoten bei Verkehrsunfällen,<br />
15. Aufl. 2017, Rn 306).<br />
2. Unfälle infolge Fahrbahnverschmutzung etc.<br />
Bei einer durch ein Fahrzeug hervorgerufenen Fahrbahnverschmutzung durch Lehm etc. (Verstoß<br />
gegen § 32 StVO) ist i.d.R. eine Schadensteilung vorzunehmen, da auch den anderen Verkehrsteilnehmer<br />
aufgrund eines Fahrfehlers eine Mithaftung treffen wird. Gleichwohl hat der Halter, dessen<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong> 1283
Fach 9, Seite 1092<br />
Haftungsverteilung<br />
Straßenverkehrsrecht<br />
Fahrzeug die Fahrbahnverschmutzung verursacht hat, im Grundsatz einen höheren Haftungsanteil zu<br />
tragen (BGH NJW 1982, 269 [40 %]; OLG Schleswig NZV 1992, 31 [75 %]; GRÜNEBERG, a.a.O., Rn 307 f.).<br />
3. Unfälle durch hochgeschleuderte Steine und andere Gegenstände<br />
Bei der Frage nach der Haftung des Halters, dessen Fahrzeug einen auf der Fahrbahn liegenden Stein<br />
hochschleudert, ist zunächst zu prüfen, ob der Unfall nicht auf einem unabwendbaren Ereignis beruht.<br />
Dies wird regelmäßig zu verneinen sein, wenn das Fahrzeug durch einen steinigen Fahrbahnbereich<br />
fährt oder gerade gefahren ist (z.B. Baustelle, unbefestigte Straße) oder der Stein aufgrund seiner Größe<br />
und Farbe sich deutlich von der Fahrbahn abhebt. Im Falle einer Haftung kommt eine (hälftige)<br />
Mithaftung des nachfolgenden Fahrzeugs in Betracht, wenn dieses keinen ausreichenden Abstand<br />
eingehalten hat (vgl. die einzelnen Fallgruppen bei GRÜNEBERG, a.a.O., Rn 309–314).<br />
Schleudert ein Fahrzeug einen auf der Fahrbahn liegenden Gegenstand hoch, ist bei der Haftungsfrage<br />
zunächst zu prüfen, ob der Gegenstand aufgrund seiner Größe und Farbe überhaupt für den Fahrer zu<br />
erkennen war. War dies der Fall, ist eine Mithaftung des Halters des nachfolgenden Fahrzeugs bei<br />
Einhaltung eines ungenügenden Abstands in Betracht zu ziehen (OLG Hamm NZV 1990, 231 [50 % bei<br />
größerem Eisenteil]; OLG Köln zfs 1987, 195 [keine Haftung bei handtellergroßem Metallstück]; weitere<br />
Einzelfälle bei GRÜNEBERG, a.a.O., Rn 319).<br />
Im Falle einer Fahrzeugbeschädigung durch aufgeworfenes Streugut hat der BGH entschieden, dass das<br />
Streufahrzeug der Gefährdungshaftung des § 7 Abs. 1 StVG unterliegt. Eine Mithaftung des Halters des<br />
beschädigten Fahrzeugs wird i.d.R. ausscheiden (BGHZ 105, 65 = NJW 1988, 3019; OLG Hamm NJW-RR<br />
1988, 863). Entsprechendes gilt, wenn ein am Fahrbahnrand fahrender Traktor mit seinem Mähwerk<br />
Steine hochschleudert (BGH NJW-RR 2013, 1490; OLG Hamm NZV 2016, 125).<br />
II. Unfälle mit Eisenbahnen<br />
Bei einem Zusammenstoß eines Kraftfahrzeugs mit einer Eisenbahn ist zu beachten, dass der<br />
Eisenbahnbetreiber sich grundsätzlich infolge des fehlenden Ausweichvermögens, der großen Bewegungsenergie<br />
und des längeren Bremswegs eine höhere (einfache) Betriebsgefahr anrechnen<br />
lassen muss.<br />
1. Unfälle auf unbeschranktem Bahnübergang<br />
Ist der Übergang durch eine Warnlichtanlage gesichert und übersieht der Kfz-Fahrer die ordnungsgemäß<br />
funktionierende Warnlichtanlage, hat der Fahrzeughalter bei einem Zusammenstoß aufgrund<br />
des Verstoßes gegen § 19 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 StVO i.d.R. die volle Haftung zu tragen. Eine Mithaftung der<br />
Bahn in Höhe der normalen Betriebsgefahr kommt allenfalls z.B. beim Betrieb einer veralteten<br />
Warnlichtanlage in Betracht (BGH NZV 1994, 146 [67 % Bahn]; OLG Celle NZV 1994, 435; OLG Hamm NZV<br />
1994, 437 [25 % Bahn]; OLG Oldenburg NZV 1999, 419 [33 % Bahn]; GRÜNEBERG, a.a.O., Rn 340 f.).<br />
Ist die Warnlichtanlage außer Betrieb oder steht deren Funktionstauglichkeit nicht fest, ist i.d.R. eine<br />
Schadensteilung mit einem überwiegenden Haftungsanteil zu Lasten der Bahn vorzunehmen, da das<br />
Verschulden des Kfz-Fahrers, der allerdings nicht ohne Weiteres auf das fehlende Aufleuchten der<br />
Warnlichtanlage vertrauen darf, geringer zu werten ist (OLG Hamburg VersR 1983, 740 [60 % Bahn];<br />
OLG Stuttgart VersR 1979, 1129 [60 % Bahn]).<br />
Bei einem Zusammenstoß auf einem nur durch Warnkreuz und/oder Warnbaken gesicherten Übergang<br />
hat der Kfz-Halter aufgrund des Vorrangs des Schienenverkehrs gem. § 19 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, Abs. 2 S. 1<br />
Nr. 1 StVO i.d.R. die weit überwiegende oder sogar volle Haftung zu tragen. Eine Mithaftung der Bahn bis<br />
zu 50 % kommt allerdings vor allem dann in Betracht, wenn die Sicherungsvorrichtungen aufgrund der<br />
Verkehrsfrequentierung des Übergangs nur als unzureichend angesehen werden können, wenn die Lok<br />
zu schnell fährt oder der Lokführer verspätet reagiert (BGH VersR 1967, 1197 [50 %]; OLG München VersR<br />
1993, <strong>24</strong>2 [100 % Kfz]; OLG Oldenburg VRS 103, 354 [33 % Bahn].<br />
1284 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong>
Straßenverkehrsrecht Fach 9, Seite 1093<br />
Haftungsverteilung<br />
Bei einem Zusammenstoß auf einem gänzlich ungesicherten Übergang richtet sich die Haftungsverteilung<br />
nach den Umständen des Einzelfalls, da auch an diesen Übergängen dem Schienenverkehr<br />
gem. § 19 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, Abs. 5 StVO der Vorrang zustehen kann (vgl. die Zusammenstellung bei<br />
GRÜNEBERG, a.a.O., Rn 345 f.).<br />
2. Unfälle auf beschranktem Bahnübergang<br />
Bei einem Unfall trotz geschlossener Schranken (§ 19 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 StVO) ist grundsätzlich von der<br />
Alleinhaftung des Kfz-Halters auszugehen. Eine Schadensteilung kommt allerdings dann in Betracht, wenn<br />
die Schranken aufgrund der örtlichen Umstände (insbesondere bei Dunkelheit oder diesigem Wetter) für<br />
den Kfz-Fahrer schlecht zu erkennen sind (BGH VersR 1967, 132; OLG München NZV 2002, 43).<br />
Bei einem Unfall infolge nicht ordnungsgemäß geschlossener Schranken kommt i.d.R. eine Schadensteilung<br />
in Betracht, da in einem solchen Fall der Kfz-Fahrer bei der Überquerung des Bahnübergangs<br />
i.d.R. nicht vorsichtig genug gefahren ist (OLG Frankfurt VRS 3, 251 [75 % Bahn]; OLG München<br />
VersR 1960, 1054 [25 % Bahn]).<br />
Hinweis:<br />
Bei einem Zusammenstoß infolge geöffneter Schranken ist im Grundsatz von der Alleinhaftung des Bahnbetreibers<br />
auszugehen; eine Mithaftung des Kfz-Halters kommt dann in Betracht, wenn der herannahende<br />
Zug für den Kfz-Fahrer erkennbar gewesen ist (BGH VersR 1956, 623; OLG Hamm NJW 2016, 332).<br />
3. Unfälle auf Rangier- oder Werksgelände<br />
Fährt das Kfz im Gleisbereich, ist i.d.R. von der Alleinhaftung des Kfz-Halters auszugehen (OLG Hamm<br />
VersR 1973, 41; OLG Köln VersR 1954, 436). Bei einem Zusammenstoß mit einem im Gleisbereich<br />
parkenden Fahrzeug kommt i.d.R. die Alleinhaftung des Kfz-Halters in Betracht. Eine Schadensteilung<br />
ist lediglich dann vorzunehmen, wenn das Kfz deutlich sichtbar in den Schienenbereich hineinragt und<br />
dies für den Lokführer rechtzeitig zu erkennen ist (OLG Saarbrücken r+s 1980, 54; GRÜNEBERG, a.a.O.,<br />
Rn 354).<br />
III.<br />
Unfälle mit Fußgängern<br />
1. Fußgänger geht entlang der Straße<br />
Geht der Fußgänger am für ihn linken Fahrbahnrand, ist i.d.R. von einer vollen oder deutlich<br />
überwiegenden Haftung des Kfz-Halters auszugehen, da das Gehen am linken Fahrbahnrand bei Fehlen<br />
eines Gehwegs nicht verkehrswidrig ist (§ 25 Abs. 1 StVO; vgl. BGH VersR 1967, 706; OLG Karlsruhe<br />
VRS 76, <strong>24</strong>8). Eine Mithaftung des Fußgängers von allenfalls 20–25 % ist nur dann in Betracht zu ziehen,<br />
wenn der Fußgänger bei Herannahen des Kfz hätte neben die Fahrbahn treten müssen (OLG Celle VersR<br />
1970, 187 [25 %]; OLG Oldenburg VersR 1987, 1150 [20 %]). Kommt das Fahrzeug allerdings bei Dunkelheit<br />
entgegen, ist regelmäßig von einer Mithaftung des Fußgängers auszugehen, da er bei Herannahen eines<br />
entgegenkommenden Fahrzeugs, das gerade bei Dunkelheit aufgrund seiner Beleuchtung gut zu<br />
erkennen ist, grundsätzlich neben die Fahrbahn treten sollte (BGH NJW 1976, 288 [67 %]; OLG Hamm r+s<br />
1995, 379 [25 %]; GRÜNEBERG, a.a.O., Rn 404).<br />
Geht der Fußgänger am für ihn rechten Fahrbahnrand, ist im Regelfall ebenfalls die volle Haftung<br />
des Kfz-Halters in Betracht zu ziehen, außer in den Fällen, in denen der Fußgänger kurz vor dem<br />
herannahenden Fahrzeug auf die Fahrbahn tritt (BGH NJW 1964, 1565; GRÜNEBERG, a.a.O., Rn 405). Ist<br />
allerdings ein Gehweg vorhanden und dieser begehbar (§ 25 Abs. 1 S. 1 StVO), trifft den Fußgänger eine<br />
Mithaftung von 1 / 5<br />
bis 2 / 3<br />
, wenn er dennoch am Fahrbahnrand entlang geht (BGH VersR 1968, 1092<br />
[33 %]; GRÜNEBERG, a.a.O., Rn 406). Beim Schieben eines Karrens, Fahrrads etc. (§ 25 Abs. 2 StVO) kommt<br />
u.U. eine leichte Mithaftung des Fußgängers von 1 / 4<br />
oder 1 / 3<br />
deshalb in Betracht, weil er dadurch nicht<br />
am äußersten Fahrbahnrand gehen kann. Bei Dunkelheit trifft den Fußgänger die besondere Beleuchtungspflicht<br />
des § 17 Abs. 5 StVO (BGH VersR 1960, 804 [25 %]).<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong> 1285
Fach 9, Seite 1094<br />
Haftungsverteilung<br />
Straßenverkehrsrecht<br />
Befindet sich der Fußgänger auf der rechten Fahrbahnhälfte, ist i.d.R. eine Mithaftung des Fußgängers<br />
von mindestens 20 % in Betracht zu ziehen, die sich je nach dem Abstand zum Fahrbahnrand weiter<br />
erhöhen und beim Vorliegen weiterer Verschuldensmerkmale (Alkoholeinwirkung, Gehen auf einer<br />
Hauptverkehrsstraße) sogar zu dessen Alleinhaftung verdichten kann (§ 25 Abs. 1 S. 3, 4 StVO; vgl. BGH<br />
VersR 1968, 603 [50 %]; OLG Celle NJW <strong>2018</strong>, 77 [100 %]; OLG Schleswig VersR 1983, 691 [50 %]).<br />
2. Fußgänger überquert die Straße<br />
• Fußgänger tritt kurz vor dem Kfz auf die Fahrbahn (max. 50 m): In dieser Fallgruppe ist<br />
grundsätzlich von der vollen Haftung des Fußgängers auszugehen (§ 25 Abs. 3 StVO); eine Mithaftung<br />
des Kfz-Halters ist allerdings bei einer überhöhten Geschwindigkeit (§ 3 StVO) oder bei der<br />
Einhaltung eines zu knappen Seitenabstands zum Fahrbahnrand (§ 5 Abs. 4 S. 2 StVO) in Betracht zu<br />
ziehen (BGH VersR 1975, 1121; KG NZV 2010, 149; OLG Düsseldorf NJW-RR <strong>2018</strong>, 925 [20 %]; OLG<br />
Hamm NJW-RR <strong>2018</strong>, 1233 [33 %]; GRÜNEBERG, a.a.O., Rn 412 f.).<br />
• Fußgänger befindet sich noch vor der Mittellinie: In dieser Fallgruppe ist i.d.R. von einer<br />
Schadensteilung auszugehen, da beide Verkehrsteilnehmer den Unfall mitverursacht haben. Die<br />
Quotelung richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls. Hat sich der Unfall bei Dunkelheit<br />
ereignet, wird der Mithaftungsanteil des Fußgängers wegen der besseren Erkennbarkeit des (beleuchteten)<br />
Fahrzeugs sogar höher sein (BGH VersR 1959, 369 [50 %]; OLG Düsseldorf zfs 2013, 676<br />
[100 %]; OLG Köln NZV 2002, 131 [25 %]; GRÜNEBERG, a.a.O., Rn 414 f.).<br />
• Fußgänger hat die Mittellinie bereits überschritten: Kommt das Fahrzeug aus Sicht des Fußgängers<br />
von rechts, wird i.d.R. eine Schadensteilung vorzunehmen sein, da beide Verkehrsteilnehmer den<br />
jeweils anderen rechtzeitig hätten sehen können und im Zweifel falsch reagiert haben (der<br />
Fußgänger hätte an der Mittellinie warten können, während der Kfz-Fahrer hätte abbremsen oder<br />
anhalten können; vgl. BGH VersR 1955, 627 [20 % Fußgänger]; OLG Hamm NJW-RR 2017, 988 [67 %<br />
Fußgänger]; GRÜNEBERG, a.a.O., Rn 416). Ereignet sich der Unfall bei Dunkelheit, dürfte i.d.R. eine<br />
Schadensteilung (1:1) in Betracht kommen, wenn keine besonderen Umstände vorliegen, die für eine<br />
überwiegende Haftung des Kfz-Halters (z.B. fehlendes Fahrlicht) oder für eine überwiegende<br />
Haftung des Fußgängers (z.B. dunkle Kleidung oder plötzliches Auftauchen aus einer dunklen<br />
Straßenzone) sprechen (BGH VersR 1966, 736; OLG Hamm NZV 2008, 411 [100 % Fußgänger]; OLG<br />
Saarbrücken r+s 2010, 479 [100 % Fußgänger]; GRÜNEBERG, a.a.O., Rn 417).<br />
Kommt das Fahrzeug aus Sicht des Fußgängers von links, ist im Regelfall eine überwiegende<br />
Mitverursachung durch das Kfz (bis zur Alleinhaftung) anzunehmen, da sich der Unfall im Grundsatz<br />
beim Verbleiben des Kfz auf seiner Fahrspur nicht ereignet hätte (BGH VersR 1967, 1202 [100 %]; OLG<br />
München NZV 1996, 115 [100 %]; NZV 1994, 188 [100 %]; GRÜNEBERG, a.a.O., Rn 418 f.).<br />
• Fußgänger hat die andere Straßenseite fast erreicht: Auch wenn der Fußgänger die Überquerung<br />
der Straße nahezu abgeschlossen hat, geht die Rechtsprechung in diesen Fällen i.d.R. von einer<br />
Schadensteilung mit einer teilweise nicht unerheblichen Haftungsquote zu Lasten des Fußgängers<br />
aus; dies ist dann gerechtfertigt, wenn der Fußgänger wegen des herannahenden Fahrzeugs an der<br />
Mittellinie hätte stehenbleiben müssen (BGH VersR 1964, 846 [33 %]; OLG Dresden NJW-RR 2017,<br />
1303 [100 %]; OLG Koblenz NZV 2012, 177 [20 %]; GRÜNEBERG, a.a.O., Rn 420 f.).<br />
• Fußgänger bleibt auf der Fahrbahn stehen: Bleibt der Fußgänger auf der Fahrbahn stehen, um die<br />
Vorbeifahrt des Kfz abzuwarten, ist i.d.R. von der vollen Haftung des Fahrzeughalters auszugehen<br />
(BGH VersR 1959, 833; OLG Hamm NZV 1995, 234; OLG Nürnberg VersR 2001, 1303). Setzt dagegen<br />
der Fußgänger plötzlich seinen Weg fort, kommt eine Schadensteilung (1:1) in Betracht, da mit einem<br />
solchen Verhalten auch der Kfz-Fahrer rechnen muss und deshalb vorsichtiger hätte fahren müssen<br />
(BGH VersR 1968, 848 [60 %]; KG DAR 2009, 333 [50 %]; OLG Hamm NZV 2003, 181 [40 %]).<br />
• Fußgänger kehrt auf der Straße wieder um: In dieser Fallgruppe kommt i.d.R. eine Schadensteilung<br />
in Betracht; die Alleinhaftung des Kfz-Halters kann u.U. dann angenommen werden, wenn der Fahrer<br />
das Verhalten des Fußgängers durch eigenes Zutun (Hupen, unklare Fahrweise, etc.) veranlasst hat<br />
(BGH VersR 1965, 1054 [100 % Kfz]; KG NJW-RR 1986, 1287 [100 % Fußgänger]; GRÜNEBERG, a.a.O.,<br />
Rn 4<strong>24</strong> f.).<br />
1286 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong>
Straßenverkehrsrecht Fach 9, Seite 1095<br />
Haftungsverteilung<br />
• Fußgänger ist betrunken: Hier wird i.d.R. wird von einer Mithaftung des Fußgängers von ⅓ bis ½<br />
auszugehen sein, wobei es insoweit auf die Erkennbarkeit der Alkoholeinwirkung für den Kfz-Fahrer<br />
und auf dessen Reaktion ankommt (BGH VersR 1968, 897 [50 %]; OLG Hamm DAR 2002, 165 [50 %];<br />
OLG Saarbrücken VersR 1989, 758 [50 %]; GRÜNEBERG, a.a.O., Rn 426 f.). Der betrunkene Fußgänger ist<br />
eine „hilfsbedürftige Person“ i.S.d. § 3 Abs. 2a StVO (BGH VersR 2000, 199).<br />
• Überhöhte Geschwindigkeit des Kfz, irreführende Fahrweise: Eine überhöhte Geschwindigkeit des<br />
Kfz führt i.d.R. zu dessen überwiegender Haftung von ½ bis ⅔ je nach dem Maß der Geschwindigkeitsüberschreitung<br />
(§ 3 StVO). Gleiches gilt für eine irreführende Fahrweise des Kfz, wie z.B.<br />
Geradeausfahrt trotz eingeschaltetem Blinker (vgl. GRÜNEBERG, a.a.O., Rn 428–430) oder kurzes<br />
Anhalten vor dem Abbiegen (OLG Dresden NZV 1999, 293).<br />
• Unfälle in der Nähe einer Haltestelle: Ereignet sich der Unfall beim Verlassen der Haltestelle durch<br />
den Fußgänger, wird i.d.R. von der überwiegenden oder sogar alleinigen Haftung des Fußgängers<br />
auszugehen sein, es sei denn, dass der Kfz-Fahrer den noch nicht abgeschlossenen Fahrgastwechsel<br />
nicht ausreichend beachtet hat (§ 20 Abs. 1–4 StVO; vgl. KG VM 1987, 87; OLG Hamm NZV 2010, 566<br />
[33 % Kfz]; GRÜNEBERG, a.a.O., Rn 431 f.). Ereignet sich der Unfall, während der Fußgänger zur Haltestelle<br />
läuft, kommt die überwiegende Haftung des Kfz-Halters von mindestens 75 % in Betracht, da in der<br />
Nähe einer Haltestelle – vor allem bei Einfahrt des öffentlichen Verkehrsmittels – stets damit zu<br />
rechnen ist, dass Fußgänger unachtsam über die Fahrbahn laufen, um das Verkehrsmittel noch zu<br />
erreichen, weshalb eine entsprechende vorsichtige Fahrweise des Kfz-Fahrers angezeigt ist (§ 20<br />
Abs. 1–4 StVO; vgl. BGH VersR 1960, 831 [100 %]; OLG München NJW-RR 2017, 1305 [50 %]; GRÜNEBERG,<br />
a.a.O., Rn 433 f.; zu Unfällen des Fußgängers mit dem Bus vgl. GRÜNEBERG, a.a.O., Rn 435 ff.).<br />
• Unfälle auf dem Fußgängerüberweg: Verfügt der Überweg über eine Lichtzeichenanlage und geht<br />
der Fußgänger (noch) bei Grünlicht, ist i.d.R. von der Alleinhaftung des Kfz-Halters auszugehen; eine<br />
Mithaftung des Fußgängers ist z.B. dann anzunehmen, wenn er grob fahrlässig nicht auf den Verkehr<br />
achtet oder sich bei beginnender Rotphase der Fußgängerampel noch auf dem Überweg befindet<br />
(§§ 25 Abs. 3, 26 StVO; vgl. BGH NJW 1966, 1211; OLG Dresden NZV 2016, 181; OLG Saarbrücken VM<br />
1980, 28 [25 %]; GRÜNEBERG, a.a.O., Rn 438 f.). Bei einem Rotlichtverstoß des Fußgängers ist von seiner<br />
überwiegenden oder sogar alleinigen Haftung auszugehen (KG NZV 2010, 200; OLG Düsseldorf NZV<br />
2013, 40); eine Mithaftung des Kfz-Halters ist z.B. bei einer überhöhten Geschwindigkeit in Betracht<br />
zu ziehen (BGH NJW 1992, 1459 [30 %]; OLG Hamm r+s 1995, 253 [40 %]; r+s 1992, 300; im Falle des<br />
Ausfalls der Ampelanlage vgl. GRÜNEBERG, a.a.O., Rn 441).<br />
Bei einem Unfall auf einem Zebrastreifen ist i.d.R. von der überwiegenden oder sogar alleinigen<br />
Haftung des Kfz-Halters auszugehen, es sei denn, dass der Fußgänger den Überweg erst kurz vor<br />
dem herannahenden Kfz betritt (§ 26 StVO; vgl. BGH NJW 1982, 2384 [100 %]; KG NZV 2005, 92<br />
[100 %]; OLG Hamm NZV 2004, 577 [50 %]).<br />
• Unfälle in der Nähe eines Fußgängerüberwegs: In dieser Fallgruppe ist danach zu unterscheiden, in<br />
welcher Entfernung von dem Überweg der Fußgänger die Fahrbahn überqueren wollte. Bei einem<br />
Unfall in noch unmittelbarer Nähe (bis 5 m) zu einem Fußgängerüberweg ist i.d.R. von der überwiegenden<br />
oder alleinigen Haftung des Kfz-Halters auszugehen, da in einem gewissen Umkreis zu<br />
einem Überweg stets mit querenden Fußgängern zu rechnen ist, deren Verschulden bei einer<br />
Entfernung bis 5 m als sehr gering anzusehen ist, so dass es hinter den Mitverursachungsanteil des Kfz<br />
zurücktreten kann (§§ 25 Abs. 3, 26 StVO; vgl. BGH NZV 1990, 150; GRÜNEBERG, a.a.O., Rn 445). Bei einer<br />
größeren Entfernung zum Fußgängerüberweg von bis zu 40 m ist mit Fußgängerverkehr nicht mehr zu<br />
rechnen, da in diesem Bereich der Fußgänger zur Benutzung des Überwegs verpflichtet ist (§ 25<br />
Abs. 3 StVO), so dass i.d.R. in diesen Fällen von einer überwiegenden oder sogar alleinigen Haftung des<br />
Fußgängers auszugehen ist (KG NZV 2003, 380 [100 %]; OLG Hamm NZV 2002, 325 [100 %]; GRÜNEBERG,<br />
a.a.O., Rn 446 f.). Bei einer Entfernung bis zu 70 m ist i.d.R. eine Schadensteilung vorzunehmen, wobei<br />
den Fußgänger wegen der noch zumutbaren Benutzung des Überwegs (§ 25 Abs. 3 StVO) eine<br />
Mithaftung von mindestens ⅓ zu treffen hat (OLG Celle VersR 1990, 911 [67 %]; OLG Saarbrücken r+s<br />
<strong>2018</strong>, 37 [25 %]). Bei einer Entfernung zum nächsten Überweg von mehr als 70–100 m ist dessen<br />
Benutzung i.d.R. nicht mehr zumutbar, so dass bei einem ansonsten verkehrsgerechten Verhalten des<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong> 1287
Fach 9, Seite 1096<br />
Haftungsverteilung<br />
Straßenverkehrsrecht<br />
Fußgängers von einer überwiegenden oder sogar alleinigen Haftung des Kfz-Halters auszugehen sein<br />
wird (§ 25 Abs. 3 StVO; vgl. BGH VersR 1969, 1115 [100 %]; OLG Hamm NZV 2003, 181 [60 %]). Beim<br />
Vorhandensein einer Unterführung wird i.d.R. eine Schadensteilung mit einer höheren Haftungsquote<br />
zu Lasten des Fußgängers (⅔) in Betracht kommen, da einerseits die Benutzung einer Unterführung<br />
trotz der Erschwernisse durch das Treppensteigen zumutbar ist, andererseits das Verschulden des<br />
Fußgängers nicht so hoch ist, dass dahinter die Betriebsgefahr des Kfz vollständig zurücktritt (OLG<br />
München r+s 1986, 6; VersR 1978, 928 [jew. 33 % Kfz]; zu besonderen Unfallsituationen auf Autobahn,<br />
mehrspuriger Straße, Einbahnstraße etc. s. GRÜNEBERG, a.a.O., Rn 456 ff.).<br />
3. Sonstige Unfälle im Fahrbahnbereich<br />
Bei sonstigen Unfällen im Fahrbahnbereich, z.B. mit einem auf der Fahrbahn liegenden oder sitzenden<br />
Fußgänger oder mit einem rückwärtsfahrenden Kfz, richtet sich die Haftungsabwägung nach den<br />
Umständen des Einzelfalls (vgl. GRÜNEBERG, a.a.O., Rn 462–464). Gleiches gilt, wenn der Fußgänger auf<br />
der Fahrbahn eine besondere Tätigkeit ausübt, wie z.B. Ladetätigkeit, Reparaturtätigkeit, Polizeibeamter,<br />
Unfallhelfer (vgl. die Zusammenstellung bei GRÜNEBERG, a.a.O., Rn 474–481; zur Mithaftung des<br />
Fußgängers bei Unfällen ohne Eigenschaden vgl. GRÜNEBERG, a.a.O., Rn 482).<br />
4. Fußgänger befindet sich außerhalb der Fahrbahn<br />
Befindet sich der Fußgänger außerhalb der Fahrbahn und wird dort durch ein vorbeifahrendes oder auf<br />
den Bürgersteig schleuderndes Fahrzeug verletzt, ist in aller Regel von der weit überwiegenden oder<br />
sogar alleinigen Haftung des Kfz-Halters auszugehen. Gleiches gilt im Falle der Verletzung durch ein<br />
abspringendes Kfz-Teil oder einen hochgeschleuderten Stein (vgl. die Zusammenstellung bei GRÜNEBERG,<br />
a.a.O., Rn 46–468). Dagegen scheidet jedenfalls eine Verschuldenshaftung des Kfz-Fahrers aus, der zum<br />
Bürgersteig einen Abstand von 1 m hält und einen infolge einer Ohnmacht plötzlich auf die Fahrbahn<br />
fallenden Fußgänger erfasst (OLG Düsseldorf VRS 97, 97).<br />
Bei Unfällen auf Tankstellengelände, Bahnhofsvorplatz, Betriebsgelände etc. kommt i.d.R. eine<br />
Schadensteilung in Betracht, da beide Verkehrsteilnehmer mit gleichzeitigem Fahrzeug- und Fußgängerverkehr<br />
rechnen müssen und deshalb bei einem Unfall auf beiden Seiten eine gewisse Mitverursachung<br />
vorliegen wird (vgl. die Zusammenstellung bei GRÜNEBERG, a.a.O., Rn 469–473).<br />
5. Unfälle mit Kindern und Jugendlichen<br />
Bei Unfällen mit deliktsunfähigen Kindern (bis 10 Jahre, § 828 Abs. 2 BGB) trifft den Kfz-Halter<br />
grundsätzlich die volle Haftung, weil ein Haftungsausschluss wegen höherer Gewalt nach § 7 Abs. 2<br />
StVG praktisch nicht denkbar ist und die Berufung auf ein unabwendbares Ereignis nach § 17 Abs. 3 und<br />
4 StVG gegenüber Fußgängern generell nicht möglich ist. Eine Mithaftung des deliktsunfähigen Kindes<br />
kann allenfalls über § 829 BGB in Betracht zu ziehen sein.<br />
Bei Unfällen mit deliktsfähigen Kindern und Jugendlichen ist zu beachten, dass den Kfz-Fahrer beim<br />
Auftauchen von Kindern in Fahrbahnnähe die erhöhte Sorgfaltspflicht des § 3 Abs. 2a StVO trifft (vgl.<br />
hierzu BGH NJW 1994, 2829). Dies hat zur Folge, dass bei Unfällen mit deliktsfähigen Kindern und<br />
Jugendlichen, denen ein Mitverschulden nach § 9 StVG i.V.m. § 254 BGB anzulasten ist, eine Schadensverteilung<br />
mit einer im Vergleich zu der Haftungsverteilung bei vergleichbaren Unfällen mit Erwachsenen<br />
etwas höheren Haftungsquote zu Lasten des Kfz-Halters in Betracht kommt (GRÜNEBERG NJW<br />
2013, 2705). Gleichwohl ist auch eine alleinige Haftung des deliktsfähigen Kindes möglich (BGH NZV<br />
2007, 207).<br />
Hinweis:<br />
Soweit eine Mithaftung des Aufsichtspflichtigen anzunehmen ist, führt dies nur zu einer eigenen Haftung<br />
der Aufsichtsperson gegenüber dem Fahrzeughalter; eine Haftungszurechnung zu Lasten des Kindes<br />
scheidet nach der Rechtsprechung aus.<br />
1288 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong>
Straßenverkehrsrecht Fach 9, Seite 1097<br />
Haftungsverteilung<br />
• Kind/Jugendlicher geht entlang der Straße: Geht das deliktsfähige Kind/der Jugendliche am für ihn<br />
linken Fahrbahnrand, ist i.d.R. von der Alleinhaftung des Kfz-Halters auszugehen (BGH VersR 1967,<br />
1157; OLG Oldenburg DAR 1989, 186). Geht das Kind/der Jugendliche am rechten Fahrbahnrand und<br />
geschieht dies verkehrswidrig, ist eine Schadensteilung in Betracht zu ziehen.<br />
• Kind/Jugendlicher überquert bzw. läuft auf die Straße: Im Hinblick auf die Deliktsfähigkeit des<br />
Kindes nach § 828 Abs. 2 BGB ist danach zu unterscheiden, ob das Kind das zehnte Lebensjahr bereits<br />
vollendet hat.<br />
• Ist das Kind unter 10 Jahre alt, ist wegen des Ausschlusses seiner Mithaftung gem. § 828<br />
Abs. 2 BGB stets von der Alleinhaftung des Kfz-Halters auszugehen.<br />
• Ist das Kind bzw. der Jugendliche älter als 10 Jahre und war es vor dem Überqueren der Straße sichtbar,<br />
kommt wegen der zu berücksichtigenden Mitverantwortlichkeit des Kindes/Jugendlichen i.d.R.<br />
eine Schadensteilung in Betracht, wobei je nach Alter und Verschulden eine Mithaftung von ¼ bis ¾, in<br />
Ausnahmefällen auch zu 100 % angesetzt werden kann (OLG Hamm NJW-RR 2008, 1349 [100 % bei<br />
16-jährigem]; OLG Hamm NZV 2008, 409 [33 % bei 11-jährigem]). Läuft das Kind/der Jugendliche aus<br />
einer Personengruppe auf die Fahrbahn, kommt regelmäßig eine Schadensteilung in Betracht, da bei<br />
Annäherung an eine Personengruppe immer damit gerechnet werden muss, dass anwesende Kinder/<br />
Jugendliche aus ihr herauslaufen, insbesondere wenn es sich um eine spielende Kindergruppe handelt.<br />
Die Haftungsquote zu Lasten des Kindes/Jugendlichen wird dabei mit zunehmendem Alter zunehmen<br />
(OLG Oldenburg DAR 2004, 706). War vor dem Unfall die Sicht auf das Kind bzw. den Jugendlichen<br />
verdeckt, ist i.d.R. eine Schadensteilung mit einem überwiegenden Haftungsanteil zu Lasten des<br />
Kindes/Jugendlichen je nach Alter von 60–75 % vorzunehmen, da die überwiegende Mitverursachung<br />
auf dessen Seite zu finden ist (OLG Hamm NZV 2010, 464 [100 % bei 10-jährigem]; OLG Naumburg<br />
NZV 2013, <strong>24</strong>4 [100 % bei 11-jährigem]; OLG Karlsruhe NZV 2012, 596 [67 % bei knapp 11-jährigem]; OLG<br />
Stuttgart NJW-RR 2017, 1057 [67 % bei 12-jährigem]; GRÜNEBERG, a.a.O., Rn 490a u. 492a). Sind<br />
die Sichtverhältnisse vor dem Unfall ungeklärt, ist i.d.R. eine Schadensteilung vorzunehmen, die sich<br />
nach den Umständen des Einzelfalls richtet. Bei einem Unfall in der Nähe einer Haltestelle ist, falls sich<br />
das Verkehrsmittel in der Nähe der Haltestelle befindet, i.d.R. eine Schadensteilung mit einem überwiegenden<br />
Haftungsanteil zu Lasten des Kfz-Halters anzunehmen, da in der Nähe einer Haltestelle<br />
(§ 20 Abs. 1–4 StVO) mit dem unachtsamen Überqueren der Fahrbahn durch Fußgänger, insbesondere<br />
durch Kinder und Jugendliche zu rechnen ist (OLG Koblenz NZV 2014, 1437 [75 %]). Bei einer<br />
Kollision mit dem Bus ist i.d.R. eine Schadensteilung vorzunehmen, wobei die überwiegende<br />
Mitverursachung eher auf Seiten des Kindes/Jugendlichen liegen dürfte, wenn der Busfahrer vorsichtig<br />
und langsam sich der Haltestelle nähert bzw. wieder von ihr abfährt (vgl. GRÜNEBERG, a.a.O., Rn 497). Bei<br />
einem Unfall in der Nähe von Schulen, Kindergärten und Spielplätzen wird i.d.R. eine Schadensteilung<br />
vorzunehmen sein, da der Kfz-Fahrer mit dem Auftauchen von Kindern bzw. Jugendlichen zu rechnen<br />
hat, andererseits aber auch deren Mitverursachung bei der unaufmerksamen Überquerung der<br />
Fahrbahn zu berücksichtigen sein wird (vgl. GRÜNEBERG, a.a.O., Rn 499). Bei einem Unfall auf einem<br />
Fußgängerüberweg ist i.d.R. eine Haftungsverteilung wie bei einem Unfall mit einem Erwachsenen<br />
vorzunehmen, bei Jüngeren evtl. mit einer etwas geringeren Haftungsquote zu ihren Lasten.<br />
Insbesondere bei einem Rotlichtverstoß des Kindes/Jugendlichen kann auch seine alleinige Haftung in<br />
Betracht kommen (vgl. GRÜNEBERG, a.a.O., Rn 501).<br />
Hinweis:<br />
Fährt Kind/Jugendlicher mit Roller, Rollschuhen, Inlineskates, Skateboard etc., wird i.d.R. von einer<br />
Schadensteilung auszugehen sein, da beide Verkehrsteilnehmer den Unfall in nicht unerheblichem Maße<br />
mitverursacht haben werden; der Kfz-Fahrer hätte bei Auftauchen des Kindes/Jugendlichen (noch)<br />
vorsichtiger fahren müssen, während dieser sich seiner nicht ungefährlichen Fortbewegungsart im<br />
Straßenverkehr bewusst sein muss (LG Bielefeld NJW 2004, 2<strong>24</strong>5 [100 % bei 16-jährigem Inlineskater]).<br />
• Haftung des Aufsichtspflichtigen: Bei der Frage nach der Haftung des Aufsichtspflichtigen ist zunächst<br />
zu klären, ob der Aufsichtspflichtige seine Pflicht verletzt hat und ob er ggf. den Entlastungsbeweis des<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong> 1289
Fach 9, Seite 1098<br />
Haftungsverteilung<br />
Straßenverkehrsrecht<br />
§ 832 BGB führen kann. Erst dann stellt sich die Frage nach der Haftungsverteilung, die sich nach<br />
den Umständen des Einzelfalls richtet (BGHZ 73, 190 = VersR 1979, 421 [33 % für Elternteil, der während<br />
eines Einkaufs sein Kind vor dem Geschäft spielen lässt]; OLG Koblenz r+s 2015, 569 [75 % für Eltern, die<br />
ihr 4-jähriges Kind unbeaufsichtigt auf einem Kinderspielplatz spielen lassen, von dem es auf die Straße<br />
läuft]; OLG Schleswig NZV 1995, <strong>24</strong> [30 % für Kindergärtnerinnen, die 6-jähriges Kind erst kurz vor<br />
Überqueren einer Straße mit anderen Kindern in Zweiergruppen sammeln]).<br />
IV. Unfälle mit Radfahrern<br />
Eine (Mit-)Haftung des Radfahrers kommt nur bei einem feststehenden oder im Wege des Anscheinsbeweises<br />
vermuteten Verschulden in Betracht (§ 9 StVG, § 254 BGB i.V.m. § 823 Abs. 1 BGB bzw. § 823<br />
Abs. 2 BGB i.V.m. den Geboten und Verboten der StVO). Bei der Beteiligung eines minderjährigen (aber<br />
deliktsfähigen) Radfahrers ist deshalb wegen § 828 BGB je nach dem Altersgrad u.U. von einem<br />
geringeren Verschulden als bei einem erwachsenen Radfahrer auszugehen und bei der Haftungsquote<br />
ein Abschlag vorzunehmen.<br />
Bei einem Radfahrer scheidet mangels Helmpflicht eine Mithaftung insoweit aus (BGH NJW 2014, <strong>24</strong>93);<br />
für Rennradfahrer (OLG Nürnberg NJW-RR 1991, 546), Speed-Pedelec-Fahrer (LG Bonn NZV 2015, 395)<br />
und sportlich ambitionierte Fahrer, die sich besonderen Risiken aussetzen (OLG Düsseldorf NJW 2007,<br />
3075; OLG Saarbrücken NJW-RR 2008, 266; s. aber LG Koblenz DAR 2011, 395), ist aber eine andere<br />
Beurteilung geboten.<br />
1. Auffahrunfall<br />
• Geradeaus fahrender Radfahrer und überholendes Kfz: Beruht der Zusammenstoß auf einem<br />
ungenügenden Seitenabstand des Kfz, ist i.d.R. von der Alleinhaftung des Kfz-Halters auszugehen<br />
(§ 5 Abs. 4 S. 2 StVO). Eine Mithaftung des Radfahrers kommt aber z.B. dann in Betracht, wenn das<br />
Fahrrad bei Dunkelheit nicht beleuchtet ist oder wenn der Radfahrer nicht am rechten Fahrbahnrand<br />
fährt (§ 2 Abs. 4 S. 5 StVO; vgl. BGH VersR 1970, 328; OLG Naumburg VersR 2013, 776 [75 % Rad];<br />
GRÜNEBERG, a.a.O., Rn 384).<br />
Ereignet sich der Unfall bei einem Wechsel des Radfahrers vom Rad-/Gehweg auf die Fahrbahn,<br />
kommt es darauf an, ob der Radfahrer vorsichtig (dann i.d.R. Alleinhaftung des Kfz-Halters) oder ob er<br />
unvorhersehbar (dann i.d.R. Alleinhaftung des Radfahrers) auf die Fahrbahn gewechselt ist (KG NZV<br />
2003, 30 [100 % Kfz]; OLG Hamm NJW-RR <strong>2018</strong>, 1117 [100 % Pedelec-Fahrer]; GRÜNEBERG, a.a.O., Rn 385).<br />
Hinweis:<br />
Bei dem Zusammenstoß mit einem minderjährigen Radfahrer passiert es häufiger, dass der Unfall durch<br />
den Radfahrer aufgrund eines plötzlichen Schwenkers nach links mitverursacht worden ist; in diesen<br />
Fällen kommt i.d.R. trotz § 3 Abs. 2a StVO statt der Alleinhaftung des Kfz-Halters eine Schadensteilung in<br />
Betracht (GRÜNEBERG, a.a.O., Rn 386).<br />
• Geradeaus fahrender Radfahrer und rechtsabbiegendes Kfz: Beim Rechtsabbiegen hat der Kfz-Fahrer<br />
vor allem im Stadtverkehr zu beachten, dass er von Radfahrern rechts überholt wird, wobei dies gem.<br />
§ 5 Abs. 8 StVO nur mit mäßiger Geschwindigkeit und besonderer Vorsicht geschehen darf. Beachtet<br />
dies der Radfahrer nicht, kommt eine Schadensteilung in Betracht (KG VM 1995, 51 [100 % Kfz];<br />
OLG Nürnberg VRS 104, 100 [100 % Kfz]; GRÜNEBERG, a.a.O., Rn 388). Dies gilt vor allem auch dann, wenn<br />
der Radfahrer verbotswidrig über einen Fußgängerüberweg fährt (OLG Celle DAR 1999, 505 [50 %]).<br />
• Linksabbiegender Radfahrer und überholendes Kfz: Bei einem feststehenden Fehlverhalten des<br />
Radfahrers kommt i.d.R. eine zumindest hälftige Mithaftung des Radfahrers in Betracht (§ 9 Abs. 2 StVO;<br />
vgl. BGH VersR 1955, 57 [33 %]; KG NZV 2010, 506 [100 %]; OLG Naumburg VersR 2005, 1601 [80 %];<br />
GRÜNEBERG, a.a.O., Rn 391). Steht dagegen ein Fehlverhalten des Radfahrers nicht fest, ist i.d.R. von der<br />
Alleinhaftung des Kfz-Halters auszugehen (BGH VersR 1967, 808; OLG Hamm NZV 1990, 26).<br />
1290 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong>
Straßenverkehrsrecht Fach 9, Seite 1099<br />
Haftungsverteilung<br />
Hinweis:<br />
Bei einem Zusammenstoß mit einem minderjährigen deliktsfähigen Radfahrer ist je nach dessen Alter auch<br />
bei einem erheblichen Fehlverhalten des Radfahrers u.a. wegen § 3 Abs. 2a StVO von einer Mithaftung des<br />
Kfz-Halters zumindest in Höhe der einfachen Betriebsgefahr des Fahrzeugs auszugehen (BGH NJW 1986, 183).<br />
2. Gegenverkehr<br />
Bei einem Zusammenstoß zwischen einem linksabbiegenden Radfahrer und einem entgegenkommenden<br />
Kfz ist i.d.R. von der Alleinhaftung des Radfahrers auszugehen (§ 9 Abs. 2–4 StVO). Eine<br />
Mithaftung des Kfz-Halters kommt z.B. bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung oder bei einer<br />
Erkennbarkeit des Vorfahrtsverstoßes in Betracht, wobei sich diese bei einem Zusammenstoß mit einem<br />
minderjährigen, deliktsfähigen Radfahrer sogar bis zur Alleinhaftung des Kfz-Halters erhöhen kann<br />
(BGH VersR 1963, 143 [100 % Rad]; OLG Hamm NZV 1993, 66 [67 % Rad]; OLG Oldenburg NJW-RR 1990,<br />
98 [max. 30 % Rad]; GRÜNEBERG, a.a.O., Rn 395).<br />
Bei einem Zusammenstoß zwischen einem linksabbiegenden Kfz und einem entgegenkommenden<br />
Radfahrer ist im Falle eines Vorfahrtsverstoßes des Kfz-Fahrers i.d.R. von dessen Alleinhaftung<br />
auszugehen (§ 9 Abs. 3 S. 1 StVO). Eine Mithaftung des Radfahrers wird z.B. bei eigener Unaufmerksamkeit<br />
in Betracht zu ziehen sein (OLG Frankfurt MDR 2010, 690; GRÜNEBERG, a.a.O., Rn 396).<br />
Bei einer Kollision zwischen einem rechtsabbiegenden Kfz und einem auf einem Radweg entgegenkommenden<br />
Radfahrer ist i.d.R. eine Schadensteilung vorzunehmen, wobei eine Mithaftung des<br />
Radfahrers vor allem bei einem Verstoß gegen § 2 Abs. 4 S. 2 und 4 StVO in Betracht kommen wird<br />
(GRÜNEBERG, a. a O., Rn 397).<br />
3. Kreuzungsverkehr<br />
Bei einem Zusammenstoß auf einer ampelgeregelten Kreuzung haftet i.d.R. derjenige Verkehrsteilnehmer<br />
allein, der den Rotlichtverstoß begangen hat. Eine Mithaftung des Kfz-Halters im Falle eines<br />
Rotlichtverstoßes des Radfahrers kommt aber u.U. bei einem „fliegenden Start“ des Kfz-Fahrers in<br />
Betracht (BGH NJW 2005, 1940 [späte Gelbphase für Kfz]; OLG Karlsruhe r+s 1985, 189 [Rot für Rad];<br />
GRÜNEBERG, a.a.O., Rn 364).<br />
Bei einer beschilderten Kreuzung ist bei einem Vorfahrtsverstoß des Radfahrers i.d.R. von seiner<br />
Alleinhaftung auszugehen (OLG Köln NZV 2008, 100). Eine Schadensteilung kann allerdings im Falle<br />
der Minderjährigkeit des Radfahrers in Betracht kommen (BGH VersR 1969, 571; OLG Köln NZV 1992,<br />
320; GRÜNEBERG, a.a.O., Rn 365). Ist der Vorfahrtsverstoß für den Kfz-Fahrer erkennbar und reagiert er<br />
falsch, so ist i.d.R. eine Schadensteilung vorzunehmen, wobei der Haftungsanteil des Kfz-Halters<br />
durchaus bei 50 % und mehr angesiedelt werden kann. Gleiches gilt im Falle überhöhter Geschwindigkeit<br />
des Kfz-Fahrers oder eines sonstigen Fehlverhaltens (Nachweise bei GRÜNEBERG, a.a.O.,<br />
Rn 366–369).<br />
Bei einem Vorfahrtsverstoß des Kfz auf einer beschilderten Kreuzung ist i.d.R. von seiner Alleinhaftung<br />
auszugehen (BGH VersR 1968, 800; OLG Hamm NZV 1989, 274; OLG Köln NZV 1994, 278; GRÜNEBERG,<br />
a.a.O., Rn 371). Benutzt der Radfahrer allerdings verbotswidrig den linken Radweg (§ 2 Abs. 4 S. 2–4 StVO),<br />
ist i.d.R. eine Schadensteilung vorzunehmen, da beide Verkehrsteilnehmer mit einem unachtsamen<br />
Fahrverhalten des jeweils anderen zu rechnen und sich darauf einzustellen haben (OLG Düsseldorf NZV<br />
2000, 506 [100 % Rad]; OLG Hamm NZV 2017, 536 [33 % Rad]; OLG München MDR 2017, 28 [75 % Rad];<br />
GRÜNEBERG, a.a.O., Rn 370).<br />
Bei einem Zusammenstoß an Kreuzungen oder Einmündungen ohne besondere Verkehrsregelung<br />
kommt im Falle eines Vorfahrtsverstoßes des Radfahrers i.d.R. eine Mithaftung des Kfz-Halters in Höhe<br />
der einfachen Betriebsgefahr seines Fahrzeugs in Betracht, wobei sich dieser Haftungsanteil bei einem<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong> 1291
Fach 9, Seite 1100<br />
Haftungsverteilung<br />
Straßenverkehrsrecht<br />
zusätzlichen Fehlverhalten des Kfz-Fahrers (Verstoß gegen Rechtsfahrgebot, überhöhte Geschwindigkeit<br />
etc.) noch erhöhen kann (OLG Hamm NJW-RR 2017, 864 [40 %]; OLG Nürnberg VersR 1999, 1035;<br />
GRÜNEBERG, a.a.O., Rn 372 f.). Allerdings ist auch die alleinige Haftung des Radfahrers möglich (OLG Hamm<br />
NJW-RR <strong>2018</strong>, 410). Bei einem Vorfahrtsverstoß des Kfz-Fahrers ist i.d.R. von der Alleinhaftung des Kfz-<br />
Halters auszugehen; bei einer Mitverursachung des Radfahrers (z.B. Befahren der linken Fahrbahnhälfte,<br />
Nichtbeachtung des Verkehrs) ist allerdings seine Mithaftung in Betracht zu ziehen (OLG Karlsruhe<br />
NJW-RR 2012, 1491; GRÜNEBERG, a.a.O., Rn 374; zu speziellen Unfallsituationen wie z.B. vereinsamtes<br />
Vorfahrtsschild oder Lückenfälle vgl. GRÜNEBERG, a.a.O., Rn 375 ff.).<br />
Fährt ein Radfahrer über einen Fußgängerüberweg, ohne abzusteigen, steht ihm ein Vorrecht<br />
gegenüber dem Fahrverkehr gem. § 26 Abs. 1 S. 1 StVO nicht zu. Aus diesem Grund ist in dieser<br />
Fallgruppe i.d.R. eine Schadensteilung vorzunehmen, wobei u.U. (z.B. im Fall des nicht vorhersehbaren<br />
Auftauchens des Radfahrers) sogar die alleinige Haftung des Radfahrers in Betracht kommen kann<br />
(KG DAR 1987, 378 [100 % Rad]; OLG Celle DAR 1999, 505 [50 %]; OLG Hamm NZV 1993, 66 [67 % Rad];<br />
GRÜNEBERG, a.a.O., Rn 378). Kommt es bei der Herausfahrt eines Radfahrers aus einer Grundstücksausfahrt<br />
zu einem Zusammenstoß, ist i.d.R. von der weit überwiegenden oder sogar alleinigen<br />
Haftung des Radfahrers auszugehen (§ 10 StVO). Eine Mithaftung des Kfz-Halters kommt vor allem<br />
bei einer rechtzeitigen Erkennbarkeit des Radfahrers für den Kfz-Fahrer und dessen falscher Reaktion<br />
in Betracht (OLG Karlsruhe VersR 1983, 567; OLG Oldenburg VersR 1999, 74 [33 %]; GRÜNEBERG, a.a.O.,<br />
Rn 380).<br />
Bei einem Zusammenstoß zwischen einem aus einer Ausfahrt kommenden Kfz (§ 10 StVO) und einem<br />
den Gehweg befahrenden Radfahrer (Verstoß gegen §§ 1 Abs. 2, 2 Abs. 5 StVO, soweit der Radfahrer<br />
älter als 10 Jahre und keine Aufsichtsperson i.S.d. § 2 Abs. 5 S. 3 StVO ist) kommt i.d.R. eine<br />
Schadensteilung in Betracht, die sich nach den Umständen des Einzelfalls richtet (z.B. Sichtweite und<br />
Geschwindigkeit des Kfz-Fahrers, Geschwindigkeit des Radfahrers, Unfallort, Umfang des Fußgängerverkehrs;<br />
vgl. OLG Dresden NZV 2013, 389 [100 % Rad]; OLG Saarbrücken NJW-RR 2011, 754 [70 %Rad];<br />
GRÜNEBERG, a.a.O., Rn 381).<br />
4. Türöffnen<br />
Kommt es dadurch zu einem Unfall, dass ein Radfahrer an einem stehenden Kfz vorbeifährt, dessen<br />
Tür gerade unvorsichtig geöffnet wird, ist i.d.R. von der Alleinhaftung des Kfz-Fahrers auszugehen<br />
(§ 14 Abs. 1 StVO). Eine Mithaftung des Radfahrers kann bei der Vorbeifahrt mit einem ungenügenden<br />
Seitenabstand dann in Betracht kommen, wenn er mit einem Öffnen der Tür rechnen muss<br />
(BGH VersR 1960, 1079; KG r+s 2011, 174 [25 % Rad]; OLG Jena NJW-RR 2009, 1<strong>24</strong>8; GRÜNEBERG, a.a.O.,<br />
Rn 389).<br />
V. Unfälle mit Straßenbahnen<br />
Bei dem Zusammenstoß eines Kfz mit einer Straßenbahn ist grundsätzlich zu beachten, dass der<br />
Straßenbahn aufgrund ihres fehlenden Ausweichvermögens, ihrer größeren Bewegungsenergie und<br />
ihres schwerfälligeren Bremsvermögens eine höhere (einfache) Betriebsgefahr zukommt. Soweit sich<br />
diese Umstände auf das einzelne Unfallgeschehen auswirken, ist dies bei der Haftungsverteilung zu<br />
berücksichtigen, so dass z.B. bei der Abwägung lediglich der einfachen Betriebsgefahren der Straßenbahnhalter<br />
mit einem überwiegenden Anteil von etwa ⅔ haften wird.<br />
1. Auffahrunfall<br />
Beim Auffahren einer Straßenbahn auf ein im Gleisbereich anhaltendes oder stehendes Fahrzeug<br />
kommt trotz des Vorrechts der Straßenbahn gem. § 2 Abs. 3 StVO i.d.R. eine Haftungsverteilung im<br />
Verhältnis 1:1 oder 2:1 zu Lasten des Straßenbahnhalters in Betracht.<br />
Hinweis:<br />
Diese Haftungsverteilung kann sich jedoch zu Lasten des Kfz-Halters (z.B. bei Einfahren in den Schienenbereich<br />
erst kurz vor der Straßenbahn und gleichzeitigem Erkennen, kurze Zeit später anhalten zu<br />
1292 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong>
Straßenverkehrsrecht Fach 9, Seite 1101<br />
Haftungsverteilung<br />
müssen) oder zu Lasten des Straßenbahnhalters (z.B. bei verspäteter Einleitung des Bremsvorgangs oder<br />
Versagen der Bremse) verändern.<br />
Hält das Kfz zwecks Linksabbiegens wegen Gegenverkehrs an und fährt die Straßenbahn auf, kommt es<br />
bei der Haftungsverteilung vor allem darauf an, in welcher Entfernung vor der Straßenbahn das Kfz in<br />
den Gleisbereich eingefahren ist, ob die Straßenbahn schon zu sehen war und ob der Kfz-Fahrer wegen<br />
Gegenverkehr damit zu rechnen hatte, dort anhalten zu müssen; notfalls ist vom Kfz-Fahrer zu<br />
verlangen, auf das Befahren des Schienenbereichs zu verzichten oder seine Geradeausfahrt fortzusetzen<br />
(§§ 2 Abs. 3, 9 Abs. 1 S. 3 StVO; BGH NJW 2013, 3235 [33 % Kfz]; KG NZV 2005, 416 [50 %]; OLG Düsseldorf<br />
NZV 1994, 28 [100 % Kfz]; GRÜNEBERG, a.a.O., Rn 332).<br />
Hält das Kfz aus verkehrsbedingten Gründen (vor Ampel, Fußgängerüberweg etc.) im Gleisbereich,<br />
kommt i.d.R. eine Schadensverteilung im Verhältnis 1:1 in Betracht, wenn der Kfz-Fahrer bei<br />
rechtzeitigem Erkennen des Verkehrshindernisses auch außerhalb des Schienenbereichs hätte<br />
anhalten können (§ 2 Abs. 3 StVO; OLG Düsseldorf VersR 1969, 1026; OLG Hamburg VersR 1967,<br />
563; OLG Hamm NJW-RR 2005, 817; GRÜNEBERG, a.a.O., Rn 333). Beginnt der Kfz-Fahrer mit dem<br />
Abbiegevorgang unmittelbar vor der herannahenden Straßenbahn und verstößt er damit gegen § 9<br />
Abs. 1 S. 3 StVO, ist i.d.R. von seiner Alleinhaftung auszugehen (BGH VersR 1977, 455; KG NZV 2001, 426<br />
[50 %]; GRÜNEBERG, a.a.O., Rn 334).<br />
2. Gegenverkehr<br />
Kommt es zu einem Begegnungszusammenstoß aufgrund eines geänderten Schienenverlaufs, trifft<br />
den Straßenbahnhalter i.d.R. die alleinige Haftung (BGH VersR 1961, 234 [80 %]; OLG Neustadt VersR<br />
1954, 308). Bei einer Kollision eines zu weit im Schienenbereich zwecks Linksabbiegens stehenden Kfz<br />
mit einer entgegenkommenden Straßenbahn ist i.d.R. trotz des bestehenden Vorrechts der Straßenbahn<br />
gem. § 9 Abs. 3 StVO von einer Schadensverteilung im Verhältnis 1:1 auszugehen (OLG Hamm VersR<br />
1974, 1228).<br />
3. Kreuzungsverkehr<br />
Kommt es auf einer ampelgeregelten Kreuzung zu einem Zusammenstoß, trifft denjenigen Verkehrsteilnehmer<br />
die alleinige Haftung, der einen Rotlichtverstoß begangen hat. Eine Schadensaufteilung<br />
kommt dagegen z.B. in Betracht, wenn ein Verkehrsteilnehmer sofort nach Aufleuchten des Grünlichts<br />
mit „fliegendem Start“ in die Kreuzung eingefahren ist (Einzelfälle bei GRÜNEBERG, a.a.O., Rn 325). Bei einer<br />
durch Vorfahrtszeichen geregelten Kreuzung ist bei einer Vorfahrtsverletzung des Kfz-Fahrers von<br />
dessen Alleinhaftung nur dann auszugehen, wenn sich der Straßenbahnfahrer verkehrsgerecht verhalten<br />
hat, während bei einer bereits geringen Mitverursachung des Straßenbahnfahrers (z.B. verspätete<br />
Einleitung des Bremsvorgangs, Versagen der Strombremse) aufgrund der höheren Betriebsgefahr<br />
der Straßenbahn i.d.R. schon eine Schadensverteilung im Verhältnis 1:1 in Betracht kommt (BGH<br />
VersR 1960, 323 [67 %]; KG VM 1998, 51 [50 %]; OLG Karlsruhe VersR 1992, 370 [67 %]; GRÜNEBERG, a.a.O.,<br />
Rn 326).<br />
VI. Unfälle mit Tieren<br />
Grundlage für eine Haftung des Tierhalters, dessen besondere Sorgfaltspflicht im Straßenverkehr sich aus<br />
§ 28 StVO ergibt, ist § 833 BGB (für den Tieraufseher § 834 BGB). Bei einem Zusammenstoß mit einem<br />
berittenen Pferd kommt i.d.R. eine Schadensteilung in Betracht, wenn aufgrund der Kontrolle des Reiters<br />
über sein Pferd (§ 28 Abs. 2 StVO) das Fahrverhalten des Kfz (z.B. nicht ausreichender Seitenabstand beim<br />
Überholen, unangemessene Abgabe von Warnzeichen) für den Unfall mitursächlich gewesen ist (OLG<br />
Brandenburg NJW-RR 2011, 1400 [33 % Kfz]; OLG Celle NJW-RR <strong>2018</strong>, 728 [50 %]; GRÜNEBERG, a.a.O., Rn 514).<br />
Bei einem Zusammenstoß mit einem frei umherlaufenden, aus einer Koppel ausgebrochenem Pferd ist<br />
i.d.R. wegen der schnellen und nicht voraussehbaren Bewegungen des Tieres von der weit überwiegenden<br />
oder sogar alleinigen Haftung des Tierhalters auszugehen (BGH NZV 1990, 305 [100 %]; OLG Hamm NZV<br />
2007, 143 [67 %]; GRÜNEBERG, a.a.O., Rn 515 f.; zu sonstigen Fällen vgl. GRÜNEBERG, a.a.O., Rn 517).<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong> 1293
Fach 9, Seite 1102<br />
Haftungsverteilung<br />
Straßenverkehrsrecht<br />
Bei einer Kollision mit einem aus einer Straßenherde ausgebrochenen Rind (§ 28 Abs. 2 StVO) kommt<br />
i.d.R. eine Schadensteilung mit einem Haftungsanteil zu Lasten des Kfz-Halters zumindest in Höhe<br />
der Betriebsgefahr in Betracht, da ein Rind, das aus einer auf der Straße befindlichen Herde ausgebrochen<br />
ist, weithin sichtbar und aufgrund seiner langsamen Bewegungen einigermaßen berechenbar<br />
ist (BGH VersR 1959, 805 [33 %]; OLG Koblenz zfs 1988, 200 [20 %]; GRÜNEBERG, a.a.O., Rn 518).<br />
Gleiches gilt, wenn das Rind aus einer in der Nähe liegenden Weide ausgebrochen ist (BGH VersR<br />
1966, 758 [25 %]; OLG Hamm NZV 2001, 348 [50 %]; OLG Karlsruhe NZV 2010, 80 [25 %]; GRÜNEBERG,<br />
a.a.O., Rn 519 f.; zu Unfällen mit anderen Tieren, Huhn, Hund, Katze, Schaf, Wild, vgl. GRÜNEBERG, a.a.O.,<br />
Rn 511–513 und 522 f.).<br />
VII. Unfälle infolge Verletzung der Verkehrssicherungspflicht<br />
Bei dem Unfall eines Kfz aufgrund der Verletzung einer einem anderen obliegenden Verkehrssicherungspflicht<br />
kommt eine Haftung des Verkehrssicherungspflichtigen nur im Falle einer<br />
schuldhaft begangenen Pflichtverletzung in Betracht (§ 823 BGB; s. GRÜNEBERG <strong>ZAP</strong> F. 9, S. 1022 ff.).<br />
Die Haftungsverteilung richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls. Praxisrelevant sind vor allem<br />
die nachfolgenden Fallgruppen:<br />
1. Kollision mit einem in die Fahrbahn ragenden Arbeitsgerät<br />
Wer Arbeitsgeräte (Maschine, Kran, Gerüst) oder sonstige Gegenstände in den Fahrbahnbereich<br />
verbringt, unterliegt der besonderen Sorgfaltspflicht des § 32 Abs. 1 StVO. Bei einem Unfall wird i.d.R.<br />
eine beiderseitige Mitverursachung vorliegen, so dass eine Schadensteilung, die sich nach den Umständen<br />
des Einzelfalls richtet, vorzunehmen ist. In der Regel wird allerdings der Halter des auffahrenden<br />
Kfz den überwiegenden Haftungsanteil zu tragen haben. Dies gilt vor allem bei dem Auffahren auf ein<br />
Arbeitsfahrzeug auf einer Autobahn (BGH DAR 1981, 320 [Absperranhänger einer sog. beweglichen<br />
Baustelle]; VersR 1966, 589 [Kehrmaschine]; VersR 1965, 716 [Arbeitsfahrzeug]).<br />
Gleiches gilt, wenn der Verkehrssicherungspflichtige zwar Sicherungsmaßnahmen getroffen hat, diese<br />
aber nur unzureichend waren, so z.B. bei einem Arbeitsfahrzeug, das an einer Ampelanlage Reparaturarbeiten<br />
durchführt, durch Warnfarben gekennzeichnet ist und durch eingeschaltete Rundumleuchten<br />
von Weitem zu erkennen ist, aber keine Leitkegel aufgestellt worden waren (KG VersR 1977,<br />
230 [25 %]), oder bei einem Kranabbau, bei dem ein teilweise verdecktes Seil herabhängt, ohne dass vor<br />
dem Kranabbau gewarnt worden ist (OLG Stuttgart VersR 1981, 361 [50 %]).<br />
Hinweis:<br />
Ein höherer Haftungsanteil des Verkehrssicherungspflichtigen kommt vor allem dann in Betracht, wenn<br />
Sicherungsmaßnahmen fehlen und das Hineinragen des Arbeitsgeräts bzw. eines Teils davon in die Fahrbahn<br />
nur schwer zu erkennen war (OLG Düsseldorf r+s 1976, 32 [75 % bei dunkelfarbiger Deichsel eines<br />
Bauwagens]; OLG Stuttgart VersR 1954, 28 [80 % für unbeleuchtete Straßenwalze]).<br />
2. Kollision mit einem in die Fahrbahn ragenden Baum<br />
Bei der Kollision eines Kfz mit einem in die Fahrbahn ragenden Baum richtet sich die Haftungsquote des<br />
Kfz u.a. nach der Erkennbarkeit des Baums bzw. des Astes, nach der Ortskundigkeit des Fahrers und<br />
nach seiner Geschwindigkeit. In der Regel wird eine Mithaftung des Kfz-Halters von 25–75 % in Betracht<br />
kommen (KG VersR 1973, 187 [50 %]; OLG Dresden NZV 1997, 308 [50 %]; OLG Frankfurt VersR 1993, 988<br />
[20 %]; OLG Köln VRS 22, 2 [75 %]; GRÜNEBERG, a.a.O., Rn 5<strong>24</strong>). Eine Mithaftung des Kfz-Halters kann<br />
bei einer groben Pflichtverletzung des Verkehrssicherungspflichtigen aber auch zurücktreten (OLG<br />
Brandenburg NZV 1998, 25 [Erkennbarkeit der Rindenauflösung]; OLG Köln NZV 1991, 190 [starker<br />
Fäulnisherd am Stammfuß]).<br />
3. Unfälle im Baustellenbereich<br />
Zum Umfang der Verkehrssicherungspflicht s. GRÜNEBERG <strong>ZAP</strong> F. 9, S. 10<strong>24</strong>. Die Mithaftungsquote des<br />
Kfz-Halters richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls. Generelle Aussagen lassen sich nicht<br />
1294 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong>
Straßenverkehrsrecht Fach 9, Seite 1103<br />
Haftungsverteilung<br />
treffen. Die volle Haftung des Kfz-Halters ist z.B. anzunehmen, wenn er in eine gesperrte Fahrbahnhälfte<br />
einfährt und dort in einer Baugrube verunfallt, obwohl auf die Bauarbeiten durch Warnschilder<br />
und gelagertes Baumaterial hingewiesen worden ist (OLG Jena NZV 2009, 553; KG VM 2010, 43<br />
[50 %]), oder wenn das Kfz auf einem nach Reparaturarbeiten mit Rollsplitt bedeckten Straßenabschnitt<br />
ins Schleudern gerät, obwohl vor dieser Gefahr ordnungsgemäß gewarnt worden ist (OLG Koblenz MDR<br />
1997, 832).<br />
Eine Mithaftung des Kfz-Halters kommt in Betracht, wenn das Kfz in einer nicht abgesicherten Baugrube,<br />
auf die allerdings als solche hingewiesen worden ist, infolge nicht angepasster Geschwindigkeit<br />
verunfallt (OLG Jena NZV 2006, <strong>24</strong>8 [50 %]), oder wenn ein innerhalb des Halteverbots eines Baustellenbereichs<br />
parkendes Kfz durch ein umfallendes, nicht ordnungsgemäß befestigtes Baustellenschild<br />
beschädigt wird (AG Heidelberg DAR 1993, 269 [50 %]). Die alleinige Haftung des verkehrssicherungspflichtigen<br />
Bauunternehmers ist anzunehmen, wenn ein Kfz bei Dunkelheit in eine Baustelle fährt, deren<br />
Absperrungen unbeleuchtet und teilweise durch andere Fahrzeuge bereits weggeschleudert worden<br />
sind (BGH VersR 1962, 1158).<br />
VIII. Mithaftung des verletzten Fahrzeuginsassen<br />
Bei Verletzungen des Beifahrers kommt im Falle eines insoweit kausal gewordenen Verstoßes gegen<br />
die Gurtpflicht gem. § 21a Abs. 1 StVO eine Mitverschuldensquote von 20–30 % in Betracht (BGHZ 119,<br />
268, 270 = NJW 1993, 53; OLG Frankfurt VersR 1987, 670 [30 %]; OLG Hamm NZV 1996, 33 [30 %]; OLG<br />
München r+s 2014, 100 [33 %]; OLG Saarbrücken VersR 1987, 774 [50 %]; OLG Karlsruhe NZV 1999, 422<br />
[20 %; Mitfahrt in überbesetztem Sportwagen]). Bei einem groben Verschulden des Unfallverursachers<br />
kann allerdings das Verschulden des Beifahrers ausnahmsweise auch gänzlich zurücktreten (BGH NJW<br />
1998, 1137; OLG Karlsruhe NZV 2010, 26).<br />
Hinweis:<br />
Gleiches gilt bei einem Verstoß gegen die Helmpflicht des § 21a Abs. 2 StVO in Bezug auf Kopfverletzungen<br />
und etwaige Folgeschäden, die der Fahrer eines Kraftrads bzw. dessen Beifahrer bei einem<br />
Unfall erleidet (BGH NJW 1980, 2125; NJW 1979, 980; VersR 1983, 440; NJW 1990, 2615; OLG Nürnberg<br />
VRS 77, 23 [30 %]).<br />
Die Gurtpflicht gilt auch für einen Taxifahrer auf einer längeren Leerfahrt (BGHZ 83, 71, 73 = NJW 1982,<br />
985). Ein Nichtangurten begründet nur dann eine fehlende Mitverantwortung, wenn die Voraussetzungen<br />
des § 46 Abs. 1 S. 1 Nr. 5b StVO vorliegen (BGHZ 119, 268, 271 = NJW 1993, 53).<br />
Der nicht angeschnallte Beifahrer kann sich nicht darauf berufen, der Fahrer sei ebenfalls nicht angeschnallt<br />
gewesen (OLG Karlsruhe VRS 65, 96). Eine Mitursächlichkeit des Verstoßes gegen die<br />
Gurtpflicht ist bei Verletzungen des Kopfs sowie der oberen und unteren Extremitäten im Wege des<br />
Anscheinsbeweises anzunehmen, wenn sie durch einen Frontalzusammenstoß, einen Auffahrunfall oder<br />
durch Herausschleudern aus dem Fahrzeug entstanden sind (BGH NJW 1991, 230, 231; OLG Frankfurt<br />
NZV 2005, 5<strong>24</strong>), nicht dagegen bei schweren Frontalzusammenstößen, bei seitlichem Überschlagen des<br />
Kfz oder wenn sonst die ernsthafte Möglichkeit eines anderen Geschehensablaufs besteht (BGH NJW<br />
1980, 2125; OLG Celle MDR 2009, 1273; OLG Naumburg MDR 2008, 1031).<br />
Hinweis:<br />
Eine Haftungsquote kann nur in Bezug auf die kausal verursachten Verletzungen gebildet werden; die<br />
Bildung einer einheitlichen Quote ist nur ausnahmsweise zulässig (BGH NJW 1980, 2125; NJW 1990, 2615).<br />
Im Verhältnis zum Fahrer bzw. Halter ist der Beifahrer nicht verpflichtet, die Fahrweise des Fahrers oder<br />
die Verkehrslage zu beobachten, sofern es sich nicht um den mitfahrenden Halter oder einen<br />
Weisungsberechtigten handelt (BGH NJW 1965, 1075; VersR 1953, 198; 1959, 890; vgl. auch OLG Braunschweig<br />
DAR 1976, 71 [Co-Pilot bei einer Rallyefahrt]). Fehlende Fahrpraxis kann nur ausnahmsweise bei<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong> 1295
Fach 9, Seite 1104<br />
Haftungsverteilung<br />
Straßenverkehrsrecht<br />
besonderer Schwierigkeit der Fahrt eine Mitverantwortung des Beifahrers begründen (BGH NJW 1965,<br />
1075); entsprechendes gilt für eine Fahrt bei schwierigen Straßenverhältnissen (z.B. Glätte) oder bei<br />
erheblicher Überschreitung der Autobahn-Richtgeschwindigkeit (OLG Hamburg VersR 1970, 188; OLG<br />
Hamm NZV 1999, 466). Ein Mitverschuldensvorwurf kommt aber in Betracht, wenn der Mitfahrer<br />
Zweifel an der Fahrtüchtigkeit des (z.B. alkoholisierten) Fahrers haben muss (BGH VersR 1960, 1146;<br />
NJW 1979, 2109; 1988, 2365, 2366; OLG Oldenburg DAR 1998, 277), auch wenn der Geschädigte die<br />
Fahruntüchtigkeit des Fahrers wegen eigener Trunkenheit nicht erkannt hat (OLG Hamm MDR 1996,<br />
149), bei einer erkennbaren Übermüdung des Fahrers (BGH NJW 1988, 2365, 2366; OLG Düsseldorf VersR<br />
1975, 57; OLG Frankfurt VersR 1989, 1097), bei einer bekannten Neigung zu Verkehrsverstößen (BGH<br />
DAR 1960, 204; OLG München VersR 1962, 556), bei einer erkennbaren Überladung des Fahrzeugs (BGH<br />
VersR 1964, 1047) und vor allem bei dem bekannten Fehlen der Fahrerlaubnis (BGHZ 34, 355, 366 = NJW<br />
1961, 655; BGH NJW 1978, 421; OLG Bamberg VersR 1985, 787) oder fehlender Zulassung des Kfz (BGH<br />
VersR 1969, 4<strong>24</strong>). Der Verursachungsanteil des Insassen erhöht sich, wenn er z.B. den Fahrer zu<br />
weiterem Alkoholgenuss veranlasst (OLG Oldenburg DAR 1963, 300; vgl. auch OLG Koblenz VersR 1980,<br />
238) oder Bedenken des Fahrers gegen den Antritt der Fahrt zerstreut hat (BGH VersR 1962, 84; OLG<br />
Köln VersR 1970, 914; OLG Zweibrücken VersR 1978, 1030).<br />
Beim Sturz eines Fahrgastes in Bus oder Straßenbahn kommt eine (Mit-)Haftung des Halters nur in<br />
Betracht, wenn für den Fahrer z.B. beim Anfahren oder Abbremsen eine Gefährdung des Fahrgastes<br />
erkennbar war (ältere Person oder Person mit Gehhilfen); ansonsten ist ein Sturz im Wege des<br />
Anscheinsbeweises als selbstverschuldet anzusehen (BGH NJW 1993, 654 [Anfahrvorgang]; OLG Celle<br />
NJW-RR <strong>2018</strong>, 1231 [Anfahrvorgang]; OLG Düsseldorf NZV 1994, 195 [automatische Schließvorrichtung];<br />
OLG Hamm NJW-RR 1998, 1402 [starkes Abbremsen]). Insbesondere besteht für den Fahrer i.d.R. keine<br />
Pflicht, mit der Abfahrt zu warten, bis sich neu eingestiegene Fahrgäste gesetzt haben (OLG Düsseldorf<br />
VersR 2000, 70).<br />
Bei einer Haftung des Halters kann ein Mitverschulden des Fahrgastes vorliegen, wenn er sich nicht<br />
festgehalten oder keinen freien Sitzplatz eingenommen hat (BGH NJW 1993, 654; KG NZV 2013, 78; OLG<br />
Hamm NJW 2017, 2356; LG Dresden NZV 2014, 227 [für Sturz am Fahrkartenautomat]; s. auch FILTHAUT<br />
NZV 2017, 513, 517).<br />
Hinweis:<br />
Bei normalen Fahrvorgängen tritt die Betriebsgefahr der Straßenbahn oder des Busses regelmäßig hinter<br />
das Verschulden des Fahrgastes zurück (OLG Bremen NJW-RR 2011, 1<strong>24</strong>5; OLG Hamm NJW 2017, 2356).<br />
Allerdings liegt bei einer feststehenden Verletzung der Halteobliegenheit des Fahrgastes (auch im<br />
Wege des Anscheinsbeweises) im Hinblick auf die Betriebsgefahr der Straßenbahn oder des Busses auch<br />
eine Haftungsverteilung von 50:50 durchaus im Bereich des Vertretbaren (so für Sturz in Bus: OLG<br />
Hamm NZV 1998, 463). Die volle Haftung des Straßenbahnbetreibers ist dagegen z.B. zu bejahen, wenn<br />
einerseits unklar bleibt, ob eine Notbremsung in ihrer Intensität erforderlich war, andererseits aber eine<br />
Verletzung der Halteobliegenheit des Fahrgastes nicht beweisbar ist, oder für den Fahrgast wegen einer<br />
Vollbremsung keine zumutbare Möglichkeit bestand, sich einen festen Halt zu verschaffen (OLG<br />
Naumburg NJW-RR 2011, 1664). Die vorstehenden Grundsätze gelten entsprechend auch für Rollstuhlfahrer<br />
und Behinderte (OLG Frankfurt NJW-RR 2016, 542; OLG Hamm NJW-RR <strong>2018</strong>, 786; OLG<br />
Saarbrücken NJW-RR 2014, 845).<br />
1296 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong>
Arbeitsrecht Fach 17 R, Seite 923<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />
Rechtsprechung<br />
Rechtsprechungsübersicht zum Arbeitsrecht – 1. Halbjahr <strong>2018</strong><br />
Von Richter am Arbeitsgericht WOLFGANG GUNDEL, Freiburg, und Rechtsanwalt und Fachanwalt<br />
für Arbeits- und für Sozialrecht Dr. ULRICH SARTORIUS, Breisach<br />
Inhalt<br />
I. Individualarbeitsrecht<br />
1. Ausbildungsverhältnis<br />
2. Rückzahlung von SGB-II-Leistungen:<br />
Verspätete Lohnzahlung<br />
3. Anspruch auf Kündigung einer Direktversicherung<br />
bei Entgeltumwandlung<br />
4. Ausschlussfrist<br />
II. Kündigungsrecht<br />
1. Nachträgliche Zulassung der Kündigungsschutzklage<br />
2. Außerordentliche Kündigung<br />
3. Änderungskündigung<br />
III. Befristung: Mittelbare Vertretung/Kausalzusammenhang<br />
IV. Elterngeld und Elternzeitrecht<br />
1. Kein höheres Elterngeld wegen<br />
Provisionszahlungen<br />
2. Elterngeldbezug<br />
3. Elternzeit: Vorzeitige Beendigung wegen<br />
der Geburt eines weiteren Kindes<br />
V. Verfahrensrecht<br />
1. Nichtzulassungsbeschwerde des Nebenintervenienten<br />
wegen Versagung des<br />
rechtlichen Gehörs<br />
2. PKH-Antrag des Rechtsmittelgegners vor<br />
Einreichung der Rechtsmittelbegründung<br />
3. Anhörung der beweisbelasteten Partei:<br />
Beweisführung/freie Beweiswürdigung<br />
I. Individualarbeitsrecht<br />
1. Ausbildungsverhältnis<br />
a) Kündigung von Auszubildenden wegen Berufswechsels<br />
Verträge über Berufsausbildung im Sinne des Berufsbildungsgesetzes (BBiG) enden nach Maßgabe von<br />
§ 21 BBiG mit Ablauf der Ausbildungszeit oder vorzeitig, durch Bestehen der Abschlussprüfung. Das<br />
Berufsausbildungsverhältnis beginnt stets mit der gesetzlichen Probezeit, die mindestens einen Monat<br />
betragen muss und höchstens vier Monate betragen darf (§ 20 BBiG). Der Berufsausbildungsvertrag<br />
kann nach der Probezeit nur unter den Voraussetzungen des § 22 Abs. 2 BBiG gekündigt werden:<br />
1. aus einem wichtigen Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist und<br />
2. von Auszubildenden mit einer Kündigungsfrist von 4 Wochen, wenn sie<br />
a) die Berufsausbildung aufgeben oder<br />
b) sich für eine andere Berufstätigkeit ausbilden lassen wollen.<br />
Das BAG hatte mit Urteil vom 22.2.<strong>2018</strong> (6 AZR 50/17, NJW <strong>2018</strong>, 2144; BAUMGARTEN ArbRAktuell <strong>2018</strong>, 227)<br />
über den Zeitpunkt der Beendigung des Ausbildungsverhältnisses nach einer Berufswechselkündigung<br />
des Auszubildenden und Klägers zu entscheiden. Dieser kündigte mit Schreiben vom 4.1.2016 den bis<br />
zum 31.1.2019 abgeschlossenen Ausbildungsvertrag zum 29.2.2016 mit der Begründung, er wolle wegen<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong> 1297
Fach 17 R, Seite 9<strong>24</strong><br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />
Arbeitsrecht<br />
eines Berufswechsels die derzeitige Ausbildung aufgeben. Seine neue Berufsausbildung beginne am<br />
1.3.2016. Die Beklagte informierte den Kläger wenige Tage später darüber, das Ausbildungsverhältnis<br />
ende gem. § 22 Abs. 2 Nr. 2 BBiG vier Wochen nach Zugang der Kündigung und damit vorliegend bereits<br />
am 2.2.2016. Dementsprechend informierte sie die zuständige Industrie- und Handelskammer, die den<br />
Ausbildungsvertrag zum 2.2.2016 aus dem Verzeichnis der Ausbildungsverträge löschte. Der Kläger<br />
beantragte sodann mit Schreiben vom 26.1.2016 die Einleitung des Verfahrens vor dem Schlichtungsausschuss<br />
der zuständigen Industrie- und Handelskammer, § 111 Abs. 2 S. 5 ArbGG. Diese wies den<br />
Antrag zurück, da der Ausschuss nur für bestehende Ausbildungsverhältnisse zuständig sei. Der früheste<br />
Verhandlungstermin sei der 1.3.2016. Zu diesem Zeitpunkt bestehe das Ausbildungsverhältnis unstreitig<br />
nicht mehr. Die Klage des Auszubildenden auf Feststellung des Fortbestands des Ausbildungsverhältnisses<br />
bis zum 29.2.2016 hatte in allen Instanzen Erfolg.<br />
Zunächst steht die unverzichtbare Prozessvoraussetzung (vgl. BAG, Urt. v. 13.4.1989 – 2 AZR 441/88<br />
Rn 31 ff., NZA 1990, 395) der Durchführung einer Verhandlung vor dem Schlichtungsausschuss nach<br />
§ 111 Abs. 2 S. 5 ArbGG nicht entgegen, da der Ausschuss die Durchführung des Verfahrens verweigert<br />
hatte, was dem Kläger nicht angelastet werden kann. In einem solchen Fall kann er deshalb unmittelbar<br />
Klage erheben, wie das BAG bereits früher entschieden hat (Schließung der Verhandlung durch den<br />
Ausschuss ohne Spruch: BAG, Urt. v. 12.2.2015 – 6 AZR 845/13 Rn 25, NZA 2015, 741; zuvor bereits: BAG,<br />
Urt. v. 27.11.1991 – 2 AZR 263/91 Rn 21, NZA 1992, 506).<br />
Das Kündigungsschreiben wahrte den besonderen Schriftformzwang des § 22 Abs. 3 BBiG, wonach die<br />
Kündigung in den Fällen des § 22 Abs. 2 BBiG schriftlich unter Angabe der Kündigungsgründe erfolgen<br />
muss. Dafür genügte die Angabe des Klägers, er wolle die Berufsausbildung aufgeben. Das BAG entscheidet<br />
ferner, der vorzeitigen Kündigung des Klägers stehe die Vorschrift des § 22 Abs. 2 Nr. 2 BBiG nicht entgegen.<br />
Diese Norm legt keine zwingende Kündigungsfrist fest, die vom Auszubildenden nicht überschritten<br />
werden kann. Zwar ist die in dieser Bestimmung vorgesehene vierwöchige Kündigungsfrist gem. § 25 BBiG<br />
unabdingbar, darf also nicht durch Vereinbarungen zwischen den Parteien des Ausbildungsverhältnisses zu<br />
Lasten der Auszubildenden verlängert werden. Die Frist ist aber als Höchstkündigungsfrist nur einseitig<br />
zwingend. Deshalb dürfen die Auszubildenden bei einer Berufswechselkündigung das Ausbildungsverhältnis<br />
zu dem von ihnen beabsichtigten Zeitpunkt der Aufgabe der Berufsausbildung auch mit einer<br />
längeren als der gesetzlich normierten Frist von vier Wochen kündigen. Von dieser ihm rechtlich eröffneten<br />
Möglichkeit zu einer vorzeitigen Kündigung hat der Kläger vorliegend Gebrauch gemacht.<br />
Unerheblich ist die Löschung des Ausbildungsvertrags aus dem Verzeichnis der Berufsausbildungsverhältnisse<br />
durch die Industrie- und Handelskammer im vorliegenden Fall. Zwar ist gem. § 35 Abs. 2 BBiG<br />
der eingetragene Vertrag zu löschen, wenn das Ausbildungsverhältnis vorzeitig aufgrund einer Berufsaufgabekündigung<br />
beendet wird. Diese Löschung wirkt sich jedoch auf die Wirksamkeit des Ausbildungsvertrags<br />
nicht aus.<br />
b) Weiterbeschäftigung nach Bestehen der Abschlussprüfung<br />
Nach der Vorschrift des § <strong>24</strong> BBiG gilt ein Arbeitsverhältnis auf unbestimmte Zeit als begründet, wenn<br />
Auszubildende im Anschluss an das Berufsausbildungsverhältnis beschäftigt werden, ohne dass hierüber<br />
ausdrücklich etwas vereinbart worden ist. Der Eintritt dieser Fiktion setzt nicht nur voraus, dass der<br />
Auszubildende nach Beendigung des Berufsausbildungsverhältnisses weiterarbeitet, sondern grundsätzlich<br />
auch, dass dies mit Wissen des Ausbildenden geschieht. Dies folgt aus dem Wortlaut der<br />
Bestimmung („werden Auszubildende (…) beschäftigt“), der nicht lediglich eine Arbeitsleistung des vormaligen<br />
Auszubildenden verlangt, sondern eine Handlung des Ausbildenden.<br />
Wie das BAG im Urteil vom 20.3.<strong>2018</strong> (9 AZR 479/17, NZA <strong>2018</strong>, 943) in Weiterentwicklung seiner<br />
bisherigen Rechtsprechung ausführt, ist grundsätzlich die positive Kenntnis des Ausbildenden oder<br />
eines zum Abschluss von Arbeitsverträgen berechtigter Vertreters von der Beendigung des Berufsausbildungsverhältnisses<br />
weitere Voraussetzung für die Begründung eines Arbeitsverhältnisses nach<br />
§ <strong>24</strong> BBiG, obwohl diese Vorschrift keine ausdrückliche Regelung über ein subjektives Tatbestands-<br />
1298 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong>
Arbeitsrecht Fach 17 R, Seite 925<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />
merkmal enthält. Allerdings legt bereits der Wortlaut durch die Verwendung des Passivs („werden<br />
Auszubildende im Anschluss an das Berufsausbildungsverhältnis beschäftigt“) nahe, dass die Fiktion auch zur<br />
Voraussetzung hat, dass der Auszubildende mit Wissen des Ausbildenden im Anschluss an das<br />
Berufsausbildungsverhältnis tätig wird. Setzen Auszubildende ihre betriebliche Tätigkeit ohne entsprechende<br />
Kenntnis des Ausbildenden fort, „werden“ sie nicht i.S.v. § <strong>24</strong> BBiG beschäftigt, sondern<br />
beschäftigen sich nur selbst. Ferner stehen nach dem BAG für diese Auffassung Systematik und<br />
Gesamtzusammenhang der gesetzlichen Regelung, ebenso wie deren Sinn und Zweck.<br />
Endet das Berufsausbildungsverhältnis nach § 21 Abs. 2 BBiG vorzeitig vor Ablauf der Ausbildungszeit<br />
mit Bekanntgabe des Ergebnisses durch den Prüfungsausschuss, ist der subjektive Tatbestand des § <strong>24</strong><br />
BBiG erfüllt, wenn der Ausbilder dem Auszubildenden Arbeit zuweist, obwohl er weiß, dass die vom<br />
Auszubildenden erzielten Prüfungsergebnisse zum Bestehen der Abschlussprüfung ausreichen. Rechtlich<br />
unerheblich ist die Kenntnis, ob dem Auszubildenden das Ergebnis der Abschlussprüfung durch den<br />
Prüfungsausschuss eröffnet worden ist.<br />
Grundsätzlich trägt der Auszubildende für die subjektiven Tatbestandsmerkmale des § <strong>24</strong> BBiG die<br />
Darlegungs- und Beweislast. Besteht insofern Streit, gilt jedoch eine abgestufte Darlegungs- und<br />
Beweislast. Hieran scheiterte die beklagte Sparkasse.<br />
2. Rückzahlung von SGB-II-Leistungen: Verspätete Lohnzahlung<br />
Die Parteien stritten über die Pflicht des Beklagten, den Kläger wegen verspäteter Lohnzahlung von der<br />
Erstattung von Leistungen nach dem SGB II freizustellen (BAG, Urt. v. 17.1.<strong>2018</strong> – 5 AZR 205/17, NZA<br />
<strong>2018</strong>,784).<br />
Der Kläger war bei dem Beklagten beschäftigt. Dieser zahlte den Lohn für April 2014 erst am 10.6.2014 und<br />
den für Mai 2014 erst am 14.7.2014. Auf Antrag des Klägers vom 2.6.2014 bewilligte ihm das zuständige<br />
Jobcenter am 10.7.2014 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für den Zeitraum<br />
Juli bis November 2014. Nachdem der Kläger die Nachzahlung des Lohns für Mai 2014 erhalten hatte, hob<br />
das Jobcenter im Juli 2014 wegen fehlender Hilfebedürftigkeit für Mai 2014 die Bewilligung von Leistungen<br />
auf und verlangte vom Kläger die Erstattung von rund 535 €. Über die vom Kläger dagegen nach<br />
erfolglosem Widerspruch erhobene Klage zum SG ist noch nicht entschieden. Mit der arbeitsgerichtlichen<br />
Klage im August 2014 verlangt der Kläger von dem Beklagten Freistellung von der Erstattungsforderung des<br />
Jobcenters. Er vertrat die Auffassung, durch die Rückforderung von Leistungen nach dem SGB II erleide er<br />
einen Vermögensschaden, den ihm der Beklagte wegen der verspäteten Lohnzahlung für Mai 2014 ersetzen<br />
müsse. Das LAG gab dem Begehren statt. Die von ihm zugelassene Revision des Beklagten hatte Erfolg.<br />
Entscheidungserheblich ist, ob dem Kläger ein Vermögensschaden entstanden ist. Dieser bemisst sich<br />
zunächst nach der Differenzhypothese durch Vergleich der infolge des haftungsbegründenden Ereignisses<br />
eingetretenen Vermögenslage mit derjenigen, die ohne dieses Ereignis bestünde. Die Differenzhypothese<br />
ist aber nur Ausgangspunkt für die Beurteilung, ob ein Schaden eingetreten ist. Sie muss stets einer<br />
normativen Kontrolle unterzogen werden. Erforderlich ist eine wertende Überprüfung des zunächst<br />
gewonnenen Ergebnisses gemessen am Schutzzweck der Haftung und an der Ausgleichsfunktion des<br />
Schadensersatzes.<br />
Im Falle des Verzugs des Arbeitgebers mit der Entgeltzahlung hat der Arbeitnehmer keinen Anspruch auf<br />
Arbeitsentgelt und zugleich auf die aus dem Verzug herrührenden zusätzlichen Leistungen nach dem<br />
SGB II. Bei zeitlicher Kongruenz von Arbeitsentgelt und Sozialleistung geht der Anspruch auf<br />
Arbeitsentgelt in Höhe der bezogenen Sozialleistung auf den Leistungsträger über, § 115 Abs. 1 SGB X.<br />
Bei zeitlicher Inkongruenz entfällt der Anspruch auf die Leistung nach dem SGB II rückwirkend, sofern der<br />
Arbeitnehmer wegen des nach Bewilligung der Sozialleistung zugeflossenen Arbeitsentgelts im Bezugszeitraum<br />
oder Teilen davon objektiv nicht hilfebedürftig i.S.v. § 9 Abs. 1 SGB II war. Das BAG hält es auch<br />
unter Beachtung des Sozialstaatsprinzips für ausgeschlossen, eine berechtigte Rückforderung von<br />
SGB II-Leistungen wegen verspätet gezahlten Arbeitsentgelts als Schaden des Arbeitnehmers zu werten.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong> 1299
Fach 17 R, Seite 926<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />
Arbeitsrecht<br />
3. Anspruch auf Kündigung einer Direktversicherung bei Entgeltumwandlung<br />
Die Parteien des vorliegenden Verfahrens stritten darüber, ob die beklagte Arbeitgeberin verpflichtet ist,<br />
eine zugunsten des Klägers seit Anfang 2001 bestehende Direktversicherung durch Entgeltumwandlung<br />
(§ 1b Abs. 2 i.V.m. § 1a Abs. 1 S. 1 BetrAVG) zu kündigen und den Originalversicherungsschein an die<br />
Versicherung herauszugeben. Die Beklagte ist Versicherungsnehmerin, der Kläger ist Versicherter. Die am<br />
1.12.2028 ablaufende Versicherung ruht seit dem Jahre 2009. Am 1.12.2015 betrugt ihr Vertragswert knapp<br />
7.000 €.<br />
Anfang 2013 kündigte der Kläger den Versicherungsvertrag und trug vor, er befinde sich in einer<br />
„finanziellen Notlage“, da er mit der Tilgung eines Baudarlehens i.H.v. rund 17.075 € im Rückstand sei.<br />
Er benötige das Geld aus der Direktversicherung, um zu verhindern, dass die Bank seinen Baudarlehensvertrag<br />
kündige und die Zwangsvollstreckung seiner Immobilie einleite. Die Beklagte habe diese<br />
wirtschaftlichen Schwierigkeiten dadurch mitverursacht, dass sie Entgeltfortzahlungsansprüche aus<br />
dem Jahre 2012 erst nach gerichtlicher Geltendmachung durch den Kläger erfüllt habe. Die Beklagte<br />
weigerte sich, der Kündigung zuzustimmen oder den Vertrag selbst zu kündigen.<br />
Die Klage des Klägers, mit der er u.a. beantragte, die Beklagte zu verurteilen, den bei der Lebensversicherung<br />
bestehenden Vertrag zu kündigen, blieb in allen Instanzen erfolglos. Ein entsprechender<br />
Anspruch des Klägers ergibt sich, wie das BAG entschieden hat (Urt. v. 26.4.<strong>2018</strong> – 3 AZR 586/16, NJW<br />
<strong>2018</strong>, 2346 m. Anm. WITSCHEN), weder aus einer entsprechenden Regelung in der Umwandlungsvereinbarung<br />
der Parteien noch aus § <strong>24</strong>1 Abs. 2 BGB, wonach jede Partei nach dem Inhalt des<br />
Schuldverhältnisses verpflichtet sein kann, auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen ihres Vertragspartners<br />
Rücksicht zu nehmen.<br />
Nach Auffassung des BAG hat der Kläger kein im Rahmen von § <strong>24</strong>1 Abs. 2 BGB zu berücksichtigendes<br />
schützenwertes Interesse an einer Auflösung des Versicherungsvertrags, was auch dann gelten soll,<br />
wenn man zu seinen Gunsten annimmt, die von ihm behauptete finanzielle Notlage stehe mit dem<br />
Arbeitsverhältnis insoweit im Zusammenhang, als die Beklagte frühere Entgeltfortzahlungsansprüche<br />
erst nach gerichtlichen Auseinandersetzungen erfüllt hat. Der Arbeitgeber dürfe bei seiner Entscheidung,<br />
eine zugunsten des Arbeitnehmers bestehende Direktversicherung nicht aufzulösen, sozialpolitische<br />
Erwägungen einbeziehen. Mit Hilfe der betrieblichen Altersversorgung soll der Lebensstandard<br />
der Arbeitnehmer (ggf. seiner Hinterbliebenen) nach Ausscheiden aus dem Berufs- bzw.<br />
Erwerbsleben zumindest teilweise gesichert werden, da das beständig sinkende Rentenniveau in der<br />
gesetzlichen Rentenversicherung zu Versorgungslücken führt. Mit der Einführung eines gesetzlichen<br />
Anspruchs auf Entgeltumwandlung in § 1a BetrAVG hat der Gesetzgeber zum Ausdruck gebracht, dieses<br />
Interesse fördern zu wollen. Den besonderen Schutz von Versorgungsanwartschaften, jedenfalls soweit<br />
sie auf Zusagen beruhen, die, wie im Fall des Klägers, nach dem 30.12.2000 erteilt wurden (§ 30f Abs. 1<br />
S. 2 BetrAVG), hat der Gesetzgeber für die im Wege der Entgeltumwandlung erfolgende betriebliche<br />
Altersversorgung durch flankierende Regelungen zum Ausdruck gebracht. Insofern verweist das BAG<br />
auf die Bestimmung in § 1b Abs. 5 BetrAVG, wonach solche Anwartschaften sofort unverfallbar und<br />
damit sogleich nach § 7 Abs. 2 BetrAVG insolvenzgeschützt sind. Die Intention des Gesetzgebers, Lücken<br />
in der betrieblichen Altersversorgung zu vermeiden, lässt sich ferner der Vorschrift des § 1a Abs. 4<br />
BetrAVG entnehmen, die für den Fall einer Entgeltumwandlungsabrede vorsieht, dass Arbeitnehmer<br />
auch im laufenden Arbeitsverhältnis das Recht haben, die Versicherung oder Versorgung mit eigenen<br />
Beiträgen fortzusetzen, wenn sie kein Entgelt erhalten.<br />
Ein schützenswertes Interesse, das geeignet wäre, die mit der Entgeltumwandlungsvereinbarung<br />
bezweckte Absicherung im Alter zu beseitigen, hat der Kläger nicht dargelegt. Das Gericht lässt offen,<br />
ob etwas anderes gelten würde, wenn eine Zwangsversteigerung seines Hauses unmittelbar<br />
bevorstünde und die Auflösung der Direktversicherung mit der Auszahlung des Rückkaufwerts den<br />
Verlust des selbst genutzten Wohnungseigentums verhinderte. Eine solche akute Notlage hat der<br />
Kläger jedoch nicht vorgetragen, sondern lediglich eine abstrakte Gefahr behauptet.<br />
1300 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong>
Arbeitsrecht Fach 17 R, Seite 927<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />
4. Ausschlussfrist<br />
a) Tarifliche Ausschlussfrist: Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall<br />
Die Parteien streiten über Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Der seit dem Jahr 2012 bei dem beklagten<br />
Bauunternehmen als gewerblicher Arbeitnehmer beschäftigte Kläger erhielt Stundenlohn i.H.v. 13 €<br />
brutto. Nach Erhalt der Kündigung meldete sich der Kläger arbeitsunfähig krank und legte der Beklagten<br />
Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vor. Die Beklagte verweigerte die Entgeltfortzahlung für den Monat<br />
Oktober 2015, weshalb der Kläger mit am 18.1.2016 zugestelltem Schriftsatz die Entgeltfortzahlung im<br />
Krankheitsfall für den Monat Oktober 2015 verlangte. Der Kläger ist der Ansicht, sein Anspruch sei nicht<br />
verfallen. Die Ausschlussfristenregelung des für allgemeinverbindlich erklärten § 14 Abs. 1 BRTV-Bau sei<br />
insgesamt unwirksam, weil sie den Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn nicht ausnehme. Die Klage<br />
hatte in allen drei Instanzen im Umfang des Mindestlohns (von damals 8,50 € je Stunde) Erfolg. Der<br />
übersteigende Anteil der Forderung ist aufgrund der tariflichen Ausschlussfrist verfallen.<br />
Nach Auffassung des BAG (Urt. v. 20.6.<strong>2018</strong> – 5 AZR 377/17, EzA-SD <strong>2018</strong>, Nr. 22, 8) folgt der Entgeltfortzahlungsanspruch<br />
des Klägers für die Zeit seiner krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit aus § 3<br />
Abs. 1 i.V.m. § 4 Abs. 1 EFZG in Höhe des Mindestlohns, nicht jedoch unmittelbar aus § 1 MiLoG, weil die<br />
Bestimmungen über den Mindestlohn nur für tatsächlich geleistete Arbeit gelten. Der Arbeitgeber habe<br />
dem Arbeitnehmer für die Zeit, die infolge krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit ausfalle, das Entgelt zu<br />
zahlen, das er ohne den Arbeitsausfall bei Erbringung der Arbeitsleistung erhalten hätte. Damit bleibe ihm<br />
auch der Mindestlohn als untere Grenze des fortzuzahlenden Entgelts erhalten. Zugleich gebiete es der<br />
Schutzzweck des § 3 S. 1 MiLoG, den Entgeltfortzahlungsanspruch in Höhe des gesetzlichen Mindestlohns<br />
entsprechend zu sichern. Vereinbarungen, welche die Geltendmachung des fortzuzahlenden Mindestlohns<br />
i.S.d. § 3 S. 1 MiLoG beschränken, seien insoweit unwirksam. Zu solchen Vereinbarungen gehörten zum<br />
einen arbeitsvertragliche und zum anderen auch tarifliche Ausschlussfristen. Anders als bei Ausschlussfristen,<br />
die arbeitsvertraglich in Allgemeinen Geschäftsbedingungen vereinbart seien, unterlägen Tarifregelungen<br />
gem. § 310 Abs. 4 S. 1 BGB indes keiner Transparenzkontrolle.<br />
Hinweise:<br />
• Das BAG hat entschieden, dass der Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall nach § 3 Abs. 1<br />
EFZG trotz seiner Unabdingbarkeit (§ 12 EFZG) grundsätzlich einer tariflichen Ausschlussfrist<br />
unterworfen werden kann.<br />
• Eine den Mindestlohn umfassende vertragliche Ausschlussfrist ist nach § 307 BGB insgesamt<br />
unwirksam.<br />
• Eine tarifliche Ausschlussfrist (vgl. § 14 BRTV-Bau, § 37 TV-L, § 37 TVöD, § 70 BAT etc.) ist nur im<br />
Umfang des § 3 S. 1 MiLoG unwirksam, soweit sie auch den während der Arbeitsunfähigkeit nach §§ 3<br />
Abs. 1; 4 Abs. 1 EFZG fortzuzahlenden gesetzlichen Mindestlohn erfasst. Im Übrigen bleibt die<br />
Ausschlussfrist wirksam und der übersteigende Tariflohn verfällt.<br />
b) Ausschlussfrist: Hemmung wegen Vergleichsverhandlungen nach §§ 203 S. 1, 209 BGB analog<br />
Das BAG (Urt. v. 20.6.<strong>2018</strong> – 5 AZR 162/17) hat erstmalig zur Hemmung wegen Vergleichsverhandlungen<br />
entschieden. Dem Fünften Senat lag folgender Sachverhalt vor: Der Kläger begehrte Urlaubsabgeltung<br />
und Überstundenvergütung. Er war vom 1.1.2014 bis zum 31.7.2015 bei dem Beklagten als technischer<br />
Sachbearbeiter gegen 4.361 € brutto monatlich beschäftigt. Der Arbeitsvertrag enthält eine zweistufige<br />
Ausschlussklausel: „Lehnt die Gegenseite den Anspruch ab oder äußert sie sich nicht innerhalb von zwei Wochen<br />
ab Zugang der Geltendmachung, so ist der Anspruch innerhalb von weiteren drei Monaten ab Zugang der<br />
Ablehnung bzw. Ablauf der Zweiwochenfrist bei Gericht anhängig zu machen. Anderenfalls ist der Anspruch<br />
verfallen und kann nicht mehr geltend gemacht werden.“<br />
Mit Schreiben vom 14.9.2015 forderte der Kläger von dem Beklagten die Abgeltung von 32 Urlaubstagen mit<br />
einem Gesamtbetrag von 6.387,52 € brutto sowie weitere 4.671,88 € brutto als Vergütung von 182,25<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong> 1301
Fach 17 R, Seite 928<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />
Arbeitsrecht<br />
Überstunden. Der Beklagte lehnte mit Schreiben vom 28.9.2015 die Ansprüche ab. Zugleich wies er darauf<br />
hin, er strebe eine einvernehmliche Lösung an. In der Folgezeit führten die Parteien über die von ihnen<br />
beauftragten Rechtsanwälte Vergleichsverhandlungen, die bis zum 25.11.2015 andauerten. Im Ergebnis<br />
blieben sie erfolglos. Der Kläger hat am 21.1.2016 Klage erhoben, mit der er seine Ansprüche verfolgt.<br />
Während ArbG und LAG die Klage wegen Verfalls abwiesen, hatte der Kläger vor dem BAG im Sinne der<br />
Zurückverweisung Erfolg. Ausschlussfristen und Verjährungsfristen haben zwar eine unterschiedliche<br />
Rechtswirkung; erstere vernichten das Recht, letztere geben dem Schuldner eine Einrede und hindern damit<br />
die Durchsetzung der rechtlich fortbestehenden Forderung (§ 214 BGB). Doch bei beiden geht es im Kern<br />
darum, dass der Anspruchsinhaber seinen Anspruch gegen den Willen des Anspruchsgegners nur innerhalb<br />
bestimmter Fristen verwirklichen kann. Faktisch verkürzt eine Ausschluss- die Verjährungsfrist, weshalb<br />
sie den Anforderungen des § 202 Abs. 1 BGB, der eine Erleichterung der Verjährung bei Haftung wegen<br />
Vorsatz im Voraus durch Rechtsgeschäft untersagt, genügen muss. Wie beim Verjährungsrecht soll mit<br />
einer Ausschlussfrist das im Interesse des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit anzuerkennende Klarstellungsinteresse<br />
des Schuldners in Einklang gebracht werden mit dem berechtigten Anliegen des<br />
Vertragspartners, vor Beschreiten des Rechtswegs die Sach- und Rechtslage abschließend prüfen zu können<br />
und nicht zu einer voreiligen Klageerhebung gezwungen zu sein. Nimmt eine einzelvertragliche Verfallklausel<br />
mit dem Erfordernis einer gerichtlichen Geltendmachung zudem auf einen vom Verjährungsrecht<br />
zur Hemmung der Verjährung zur Verfügung gestellten Tatbestand (§ 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB) Bezug, gebieten<br />
die Ähnlichkeit von Funktion und faktischer Wirkung, auf die Ausschlussfrist diejenigen Verjährungsvorschriften<br />
entsprechend anzuwenden, deren Zweck dem Wesen der Ausschlussfrist nicht widerspricht.<br />
Danach gilt: Auf arbeitsvertragliche Ausschlussfristen findet § 203 S. 1 BGB entsprechende Anwendung.<br />
Die Ausschlussfrist ist gehemmt, solange die Parteien vorgerichtliche Vergleichsverhandlungen<br />
führen. Der Verhandlungszeitraum, während dessen die Vergleichsverhandlungen andauern,<br />
wird entsprechend § 209 BGB in die Ausschlussfrist nicht eingerechnet. Dagegen ist § 203 S. 2 BGB, der<br />
bestimmt, dass die Verjährung frühestens drei Monate nach dem Ende der Hemmung eintritt, auf<br />
arbeitsvertragliche Ausschlussfristen nicht anwendbar.<br />
Hinweise:<br />
• Unter Vergleichsverhandlungen i.S.v. § 203 S. 1 BGB ist grundsätzlich jeder ernsthafte Meinungsaustausch<br />
über den Anspruch oder seine tatsächlichen Grundlagen zu verstehen, sofern der Schuldner<br />
dies nicht sofort und erkennbar ablehnt. Verhandlungen schweben schon dann, wenn eine der Parteien<br />
Erklärungen abgibt, die der jeweils anderen die Annahme gestatten, der Erklärende lasse sich auf<br />
Erörterungen über die Berechtigung des Anspruchs oder dessen Umfang ein (vgl. BAG a.a.O., Rn 32).<br />
• Zwar war die vertraglich vereinbarte Verfallklausel insgesamt unwirksam, weil sie den Anspruch auf<br />
den gesetzlichen Mindestlohn nicht ausdrücklich aus ihrem Anwendungsbereich ausnahm (vgl. nun:<br />
BAG, Urt. v. 18.10.<strong>2018</strong> – 6 AZR 232/17 (A), EzA-SD <strong>2018</strong>, Nr. <strong>24</strong>, 12 f.; zum AEntG bereits: BAG, Urt. v.<br />
<strong>24</strong>.8.2016 – 5 AZR 703/15 Rn 29 f., BAGE 156, 150). Das hat das BAG jedoch ausdrücklich dahinstehen<br />
lassen, um in der Sache zu §§ 203, 209 BGB entscheiden zu können!<br />
• Die Entscheidung ist zu einer zweistufigen arbeitsvertraglichen Ausschlussfrist ergangen. Die<br />
Begründung nimmt ausdrücklich auf § 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB Bezug. Die Rechtsprechung erscheint auf<br />
zweistufige tarifliche Ausschlussfristen nicht ohne Weiteres übertragbar, weil die Auslegung entweder<br />
vom erkennbaren Tarifwillen getragen sein müsste oder einer gesetzlich zwingenden Regelung<br />
entsprechen müsste.<br />
II.<br />
Kündigungsrecht<br />
1. Nachträgliche Zulassung der Kündigungsschutzklage<br />
Mit Urteil vom 25.4.<strong>2018</strong> (2 AZR 493/17, NZA <strong>2018</strong>, 1147) hat das BAG erstmalig zur nachträglichen<br />
Zulassung der Kündigungsschutzklage bei nicht nur vorübergehender Abwesenheit des Arbeitnehmers<br />
entschieden und dabei erhöhte Sorgfaltsanforderungen an die Postkontrolle gestellt.<br />
1302 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong>
Arbeitsrecht Fach 17 R, Seite 929<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />
Die Parteien streiten über die nachträgliche Zulassung einer Kündigungsschutzklage. Der Kläger war bei<br />
der beklagten Klinikbetreiberin seit Februar 2010 als Chefarzt beschäftigt. Im Jahr 2013 bat der<br />
Prozessbevollmächtigte des Klägers unter Vorlage einer Postzustellungsvollmacht den Prozessbevollmächtigten<br />
der Beklagten zu veranlassen, dass alle für den Kläger bestimmten Schreiben ausschließlich<br />
an ihn zugestellt werden. Zuvor waren Erklärungen übergeben oder per Post an die Wohnanschrift<br />
gesandt worden. Im Dezember 2013 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis der Parteien und stellte<br />
die entsprechenden Schreiben an die Wohnanschrift des Klägers in A zu. Ihr Prozessbevollmächtigter<br />
unterrichtete parallel den Prozessbevollmächtigten des Klägers über die Kündigungen.<br />
In der Folgezeit nahm der Kläger eine Beschäftigung als Arzt in Katar auf. Sein Wohnhaus in A<br />
vermietete er. Mit Schreiben vom 31.5.2016 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis der Parteien zum<br />
30.6.2017. Das Schreiben wurde am 7.6.2016 um 14:50 Uhr durch einen Botendienst in den mit dem<br />
Namen des Klägers versehenen Briefkasten an seinem Haus in A eingeworfen. Der Prozessbevollmächtigte<br />
der Beklagten hatte zu diesem Zeitpunkt keine Kenntnis von der Kündigung. Den<br />
Prozessbevollmächtigten des Klägers informierte die Beklagte nicht über diese Kündigung.<br />
Der Kläger erlangte tatsächliche Kenntnis von dem Kündigungsschreiben erst am 1.7.2016, als er für<br />
einige Tage nach Deutschland zurückkehrt war. Mit einem am 5.7.2016 beim ArbG eingegangenen<br />
Schriftsatz hat der Kläger die vorliegende Klage erhoben und vorsorglich beantragt, sie als Kündigungsschutzklage<br />
nachträglich zuzulassen.<br />
Nach Auffassung des BAG hat der Kläger – nach einem objektiven wie subjektiven Maßstab – die ihm nach<br />
Lage der Umstände zuzumutende Sorgfalt nicht beachtet. Er hat keine ausreichenden Vorkehrungen<br />
getroffen, um eine zeitnahe Kenntnisnahme von in seinen Briefkasten eingeworfenen Schriftstücken<br />
sicherzustellen. Er war nicht nur vorübergehend – wie im Falle einer urlaubsbedingten Abwesenheit von<br />
bis zu sechs Wochen – von einer ansonsten ständig von ihm benutzten Wohnung abwesend. Er hielt sich<br />
vielmehr umgekehrt aufgrund einer in Katar aufgenommenen Beschäftigung nur noch gelegentlich in A<br />
auf, vor der Kündigung nach seinem eigenen Vorbringen zuletzt vom 28.1. bis 1.2.2016 und damit im<br />
Zeitpunkt ihres Zugangs bereits seit mehr als vier Monaten nicht mehr. Da er dennoch weiterhin einen<br />
Briefkasten mit seinem Namen dort vorhielt, hätte er – anders als bei bloß vorübergehender urlaubsbedingter<br />
Abwesenheit, bei der ein solcher Aufwand nicht zumutbar erschiene – dafür Sorge tragen<br />
müssen, dass er zeitnah von für ihn bestimmten Sendungen Kenntnis erlangte. Ist nämlich, wie z.B. hier<br />
aus beruflichen Gründen, die Abwesenheit von der „ständigen“ Wohnung die Regel, muss der Adressat<br />
besondere Vorkehrungen treffen, damit er normalerweise rechtzeitig Kenntnis von Zustellungen erlangt.<br />
Dem ist der Kläger nicht ausreichend nachgekommen. Er hätte in Anbetracht seiner nur noch<br />
gelegentlichen Anwesenheit in A eine Person seines Vertrauens damit beauftragen müssen, die für ihn<br />
bestimmte Post regelmäßig zu öffnen und ihn oder einen zur Wahrnehmung seiner Rechte beauftragten<br />
Dritten zeitnah über ihren Inhalt zu informieren oder sie an einen zu ihrer Öffnung und zur<br />
Wahrung seiner Rechte bevollmächtigten Dritten weiterleiten zu lassen.<br />
Hinweise:<br />
• Bei einer Abwesenheit ist zu unterscheiden: Ist diese nur vorübergehend – wie gewöhnlich bei der<br />
Erfüllung der Urlaubsansprüche – so sind keine erhöhten Sorgfaltsanforderungen zu stellen (zu dieser<br />
Fallgestaltung vgl. BVerfG, Urt. v. 18.10.2012 – 2 BvR 2776/10 Rn 17 zur Wiedereinsetzung in den vorigen<br />
Stand gegen die Versäumung der Einspruchsfrist gegen einen Strafbefehl; BVerfG, Urt. v. 11.2.1976 –<br />
2 BvR 849/75, BVerfGE 41, 332 zur Versäumung der Einspruchsfrist gegen einen Bußgeldbescheid).<br />
• Bei einer dauerhaften Abwesenheit – wie vorliegend – wg. einer Auslandstätigkeit (vgl. BPatG, Urt. v.<br />
22.11.1999 – 5 W (pat) 6/99), bedarf es einer Organisation dergestalt, dass vertragsrelevante Schreiben<br />
dem Abwesenden zugehen.<br />
• Das BAG geht zunächst anhand des Wortlauts und des Zwecks der Norm (§ 5 KSchG) von einem<br />
objektiven abstrakten Sorgfaltsmaßstab aus (BAG a.a.O. Rn 21; Urt. v. <strong>24</strong>.11.2011 – 2 AZR 614/10 Rn 16).<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong> 1303
Fach 17 R, Seite 930<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />
Arbeitsrecht<br />
• Dann berücksichtigt das BAG subjektive Umstände, die in der konkreten Situation den Schutz des<br />
Arbeitnehmers auch in Anbetracht der Interessen des Arbeitgebers geboten erscheinen lassen, weil die<br />
prozessuale und materiell-rechtliche Frist der §§ 4, 7 KSchG einerseits den Zugang zu Gericht nicht<br />
ungebührlich erschweren und andererseits das Interesse des Arbeitgebers an einer alsbaldigen auch<br />
materiell-rechtlichen Rechtssicherheit der Auflösung eines Arbeitsverhältnisses durch arbeitgeberseitige<br />
Kündigung schützen soll (vgl. BAG, Urt. v 21.9.2017 – 2 AZR 57/17 Rn 19).<br />
• Konkret: Wer bei mehr als sechswöchiger Abwesenheit einen Briefkasten unterhält, muss Vorkehrungen<br />
für dessen regelmäßige Leerung und die Informationsweitergabe treffen. Dazu genügen die Sammlung<br />
der Post und das einmal monatliche Übersenden nicht. Die Vorkehrungen müssen alle rechtsgeschäftlichen<br />
Erklärungen betreffen, weshalb die Wochenfrist des § 59 ArbGG – als kürzeste prozessuale Frist –<br />
die Sorgfaltspflicht konkretisiert. Ausreichend wäre – so das BAG – auch ein Nachsendeauftrag im vorliegenden<br />
Fall nach Katar. Ob dieser zwingend erforderlich wäre, lässt das BAG offen. Nach Ansicht<br />
der Verfasser erscheint dies angesichts der Dauer der Nachsendung fraglich.<br />
2. Außerordentliche Kündigung<br />
a) Maßstab der außerordentlichen Arbeitnehmerkündigung<br />
Auch die vom Arbeitnehmer ausgesprochene außerordentliche Kündigung bedarf zu ihrer Wirksamkeit<br />
eines wichtigen Grundes i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB. Es gelten dieselben Maßstäbe wie für die Kündigung des<br />
Arbeitgebers (vgl. BAG, Urt. v. 22.3.<strong>2018</strong> – 8 AZR 190/17, NZA <strong>2018</strong>, 1191). Der Umstand, dass der<br />
Arbeitnehmer infolge einer Erkrankung für unabsehbare Zeit nicht in der Lage ist, seine vertraglich<br />
übernommene Arbeit zu verrichten, kann geeignet sein, eine außerordentliche Kündigung zu<br />
rechtfertigen. Beiden Vertragsparteien kann in einem solchen Fall die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses<br />
unzumutbar sein. Arbeitgeber und Arbeitnehmer sind jeweils gehalten, darauf hinzuwirken, das<br />
Arbeitsverhältnis nach Möglichkeit bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist in einer für beide<br />
Teile zumutbaren Weise aufrechtzuerhalten.<br />
Vor dem BAG war allein noch die Widerklage auf Zahlung einer Vertragsstrafe i.H.v. 680 € Streitgegenstand.<br />
Der Klage auf Urlausabgeltung war rechtskräftig stattgegeben. Die Klägerin war bei der beklagten<br />
Arbeitgeberin als hauswirtschaftliche Helferin seit 1999 beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis war anlässlich<br />
zweier Abmahnungen und des Begehrens auf Entfernung konfliktbelastet. Eine einvernehmliche<br />
Vertragsauflösung auf den von der Klägerin angestrebten Termin des 6.4.<strong>2018</strong> scheiterte, weil die Klägerin<br />
die von der Beklagten verlangte Abgeltungsklausel nicht akzeptierte. Kurze Zeit später ging der Beklagten<br />
am 2.4.2015 eine klägerseitig ausgesprochene außerordentliche Kündigung zum 6.4.2015 zu. Am 7.4.2015<br />
trat die Klägerin eine anderweitige Arbeitsstelle an. Die Widerklage ist auf die vertragswidrige Beendigung<br />
gestützt, weil der Klägerin kein wichtiger Grund, das Arbeitsverhältnis fristlos zu kündigen, zur Seite stehe.<br />
Alle drei Instanzen wiesen den Anspruch der Beklagten auf Zahlung der begehrten Vertragsstrafe ab.<br />
Das BAG lässt dahinstehen, ob die im Arbeitsvertrag getroffene Vertragsstrafenregelung einer AGB-<br />
Kontrolle standhielt. Die Vertragsstrafe sei nicht verwirkt, weil das Arbeitsverhältnis nicht in einer<br />
vertragswidrigen Art und Weise beendet worden sei. Der Klägerin sei ein wichtiger Grund i.S.v. § 626<br />
Abs. 1 BGB zuzusprechen. Zum einen habe die Erkrankung ihre Ursache in einem Arbeitsplatzkonflikt<br />
gehabt. Zum anderen sei die Klägerin bei einer Fortdauer des Arbeitsverhältnisses für unabsehbare Zeit<br />
nicht in der Lage gewesen, die vertraglich geschuldete Arbeit zu verrichten. Zum Kündigungszeitpunkt<br />
habe die Gefahr bestanden, dass sich der Gesundheitszustand der arbeitsunfähigen Klägerin bei einer<br />
Fortdauer des Arbeitsverhältnisses weiter verschlechtern würde. Die Vernehmung der behandelnden<br />
Ärztin als Zeugin habe die Befürchtung gerechtfertigt, dass bei einer Fortdauer des Arbeitsverhältnisses<br />
die Gefahr einer weiteren Verschlechterung des Gesundheitszustands der Klägerin bis hin zu einem<br />
„Abrutschen“ in die Psychiatrie bestanden habe.<br />
Bei der Unzumutbarkeitsprüfung auf der zweiten Stufe – nach Bejahung eines wichtigen Grundes „an<br />
sich“ –sind die beiderseitigen Interessen der Arbeitsvertragsparteien gegeneinander abzuwägen. Die<br />
1304 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong>
Arbeitsrecht Fach 17 R, Seite 931<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />
Wertung des LAG Stuttgart (Urt. v. 9.12.2016 – 12 Sa 16/16) war nicht zu beanstanden: Die Klägerin<br />
konnte ihre Genesung nur durch die außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses beschleunigen.<br />
Ihr war es vor diesem Hintergrund nicht zumutbar gewesen, die Kündigungsfrist einzuhalten.<br />
Gleiches gilt für die Annahme, die Beklagte habe nur ein geringes Interesse an der Aufrechterhaltung des<br />
Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist haben können, sie habe vielmehr aus Gründen<br />
der Planungssicherheit eher an einer frühzeitigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses interessiert sein<br />
müssen. Auch habe die Klägerin erfolglos versucht, mit dem Betriebsleiter der Beklagten über die<br />
ausgesprochenen Abmahnungen zu sprechen. Eine Verpflichtung zur Ankündigung, andernfalls das<br />
Arbeitsverhältnis kündigen zu müssen, bestand nicht. Letzteres hätte den Konflikt nur verstärkt.<br />
Schlussendlich war die Ausschlussfrist des § 626 Abs. 2 BGB gewahrt. Der Dauertatbestand – Erkrankung<br />
im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung – war noch gegeben.<br />
Hinweis:<br />
• Das BAG lässt dahinstehen, was offensichtlich ist. Die Vertragsstrafe mit der Monatsfrist ist bei einer<br />
Kündigungsfrist von vier Wochen zum 15. oder zum Ende des Monats überschießend und daher AGBrechtlich<br />
unwirksam.<br />
• Der Achte Senat des BAG setzt seine bisherige Rechtsprechung anhand des Einzelfalls fort: Ist<br />
der Arbeitnehmer infolge einer Erkrankung für unabsehbare Zeit nicht in der Lage, seine vertraglich<br />
übernommene Arbeit zu verrichten, ist dies auf der ersten Stufe geeignet, eine außerordentliche<br />
Kündigung zu rechtfertigen. Grundsätzlich ist die Aufrechterhaltung des Arbeitsverhältnisses bis zum<br />
Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist zumutbar. So muss ein Arbeitnehmer, der auf Dauer nur<br />
halbtags leichte Büroarbeit verrichten kann, dem Arbeitgeber Gelegenheit geben, ihn nach Maßgabe<br />
seiner verbliebenen Arbeitskraft weiter zu beschäftigen (vgl. BAG, Urt. v. 2.2.1973 – 2 AZR 172/72), sonst<br />
ist die außerordentliche Arbeitnehmerkündigung in aller Regel rechtsunwirksam (vgl. auch APS/VOSSEN,<br />
§ 626 BGB Rn 398; STAUDINGER/PREIS, 2016, § 626 BGB Rn <strong>24</strong>4 m.w.N.; KR/FISCHERMEIER, § 626 BGB Rn 153 f.;<br />
SANDMANN, in: HENSSLER/WILLEMSEN/KALB, Arbeitsrecht Kommentar, 8. Aufl. <strong>2018</strong>, § 626 BGB Rn 316). Bei<br />
Ansteckungsgefahr ist Unzumutbarkeit im Regelfall gegeben, ebenso – wie vorliegend – bei einem<br />
Arbeitsplatzbezug der Erkrankung.<br />
• Der Fall macht prozessual deutlich: Eine als vorläufig bezeichnete Würdigung des Gerichts bleibt – bei<br />
transparenter Änderung – ohne jede Folgen. Das LAG hatte in seinem Vergleichsvorschlag – vorläufig –<br />
ausgeführt, ein wichtiger Grund für eine Eigenkündigung sei nicht ersichtlich und die Beendigung<br />
orientiere sich am Beginn des neuen Arbeitsverhältnisses. In der Folge hat es eine Beweisaufnahme<br />
durch Vernehmung der Ärztin zur Tatsache der Verschlechterung des Gesundheitszustands bei<br />
Fortbestand des Arbeitsverhältnisses angeordnet. Daraus musste der Prozessbevollmächtigte der<br />
Beklagten einen personenbedingten Kündigungsgrund entnehmen. Ein Hinweis war entbehrlich.<br />
• Im Arbeitnehmermandat ist, wenn ein neuer Arbeitsplatz nicht vorliegt, der Arbeitnehmer gut beraten,<br />
sich vor dem Ausspruch der außerordentlichen Kündigung mit der Agentur für Arbeit in Verbindung zu<br />
setzen, um die Verhängung einer Sperrzeit nach § 159 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB III zu vermeiden.<br />
b) Verweigerung einer amtsärztlichen Untersuchung zur Feststellung der Arbeitsfähigkeit/<br />
Präventionsverfahren<br />
Der Zweite Senat bestätigt seine Rechtsprechung, dass auch eine Nebenpflichtverletzung, vorliegend<br />
die Pflicht zur amtsärztlichen Untersuchung, eine außerordentliche Kündigung wegen beharrlicher<br />
Arbeitsverweigerung begründen kann (BAG, Urt. v. 25.1.<strong>2018</strong> – 2 AZR 382/17, NZA <strong>2018</strong>, 845 zu § 5 Abs. 2<br />
Manteltarifvertrag für die Beschäftigten der Mitglieder der TGAOK (BAT/AOK-Neu) vom 7.8.2003 i.d.F.<br />
vom 27.9.2012).<br />
Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung. Der Kläger ist schwerbehindert.<br />
Er war zum Zeitpunkt der Kündigung 50 Jahre alt und seit 18 Jahren bei der Beklagten<br />
beschäftigt. Nach einem auf das Arbeitsverhältnis anwendbaren Tarifvertrag war das Arbeitsverhältnis<br />
ordentlich nicht mehr kündbar. Der Tarifvertrag räumt dem Arbeitgeber aber das Recht ein, bei gegebener<br />
Veranlassung beim Gesundheitsamt durch eine amtsärztliche Untersuchung feststellen zu lassen, ob der<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong> 1305
Fach 17 R, Seite 932<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />
Arbeitsrecht<br />
Arbeitnehmer arbeitsfähig ist. Aufgrund der nur sehr geringen Arbeitsleistung des Klägers hatte die<br />
Beklagte Zweifel an dessen Arbeitsfähigkeit und beabsichtigte, diesen beim Gesundheitsamt auf seine<br />
Arbeitsfähigkeit untersuchen zu lassen. Nachdem der Kläger mehrfach und trotz zweier Abmahnungen<br />
nicht zu den Untersuchungsterminen erschienen war, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit<br />
Zustimmung des Integrationsamts außerordentlich und fristlos. Der Kläger ist der Ansicht, er sei nicht<br />
verpflichtet gewesen, an der Untersuchung seiner Arbeitsfähigkeit mitzuwirken.<br />
Während das ArbG die Klage abwies, gab das LAG ihr statt. Die Arbeitgeberin habe eine amtsärztliche<br />
Untersuchung der Arbeitsfähigkeit jedenfalls deswegen (noch) nicht verlangen dürfen, weil sie zuvor ein<br />
Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX nicht durchgeführt hatte.<br />
Die Revision der Arbeitgeberin hatte im Sinne der Zurückverweisung Erfolg. Entgegen der Auffassung<br />
des LAG könne der Arbeitgeber auch dann bei gegebener Veranlassung eine ärztliche Untersuchung zur<br />
Feststellung der Arbeitsfähigkeit des schwerbehinderten Klägers verlangen, wenn nicht zuvor ein<br />
Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX durchgeführt worden sei. Weder dem Wortlaut noch<br />
dem Sinn und Zweck der Tarifvorschrift könne ein solches Erfordernis entnommen werden. Das<br />
Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX und die tarifvertraglich geregelte Möglichkeit, bei<br />
gegebenem Anlass die Arbeitsfähigkeit amtsärztlich untersuchen zu lassen, stehen nach Ansicht des<br />
BAG nicht in einem Rangverhältnis zueinander. Die beharrliche Weigerung eines Arbeitnehmers, der<br />
tariflichen Verpflichtung entsprechend an der vertraglichen Nebenpflicht der Untersuchung seiner<br />
Arbeitsfähigkeit mitzuwirken, ist auf der ersten Stufe der Prüfung an sich geeignet, einen wichtigen<br />
Grund gem. § 626 Abs. 1 BGB zur außerordentlichen und fristlosen Kündigung darzustellen. Ob<br />
vorliegend ausreichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorgelegen hätten, um Zweifel an der<br />
Arbeitsfähigkeit des Klägers haben zu dürfen, muss das LAG weiter aufklären.<br />
Hinweise:<br />
• Die Entscheidung folgt der bisherigen Rechtsprechung des BAG zum betrieblichen Eingliederungsmanagement<br />
(bEM) und zum Präventionsverfahren, die im Regelfall keine Tatbestandsvoraussetzung<br />
sind, wenn dies gesetzlich, tariflich oder arbeitsvertraglich nicht geregelt ist (vgl. zum Weisungsrecht:<br />
BAG, Urt. v. 18.10.2017 – 10 AZR 47/17, NZA <strong>2018</strong>, 162).<br />
• Aber: Hat der Arbeitgeber ein Präventionsverfahren entgegen § 84 Abs. 1 SGB IX a.F. (jetzt 167 Abs. 1 SGB IX)<br />
nicht durchgeführt, trifft ihn eine erhöhte Darlegungslast im Hinblick auf denkbare, gegenüber einer Beendigungskündigung<br />
mildere Mittel, um die zum Anlass für die Kündigung genommene Vertragsstörung<br />
zukünftig zu beseitigen (Rn 49). Die erhöhte Darlegungslast entfällt nicht deshalb, weil das Integrationsamt<br />
der Kündigung nach § 91 Abs. 4 SGB IX a.F. (jetzt § 174 Abs. 4 SGB IX) zugestimmt hat (Rn 52).<br />
• Der Zweite Senat hat bereits zuvor den Verstoß gegen eine tarif- oder einzelvertragliche Nebenpflicht<br />
zur ärztlichen Untersuchung der Feststellung der Arbeitsfähigkeit als Kündigungsgrund angesehen (zu<br />
§ 3 TV Nahverkehrsbetriebe Berlin: BAG, Urt. v. 27.9.2012 – 2 AZR 811/11, ZTR 2013, 265; zu § 7 Abs. 2 BAT:<br />
BAG, Urt. v. 7.11.2002 – 2 AZR 475/01, NZA 2003, 719 [B I 2 a]; zu § 59 Abs. 1 Unterabs. 2, § 7 Abs. 2 des<br />
Angestelltentarifvertrags der Deutschen Bundesbank [BBkAT] vom 11.7.1961: vgl. BAG, Urt. v. 6.11.1997 –<br />
2 AZR 801/96, NZA 1998, 326 [II 3]; erstmalig, die Frage offen lassend noch: BAG, Urt. v. 23.2.1967 – 2 AZR<br />
1<strong>24</strong>/66, DB 1967, 150).<br />
• Ist das Merkmal der „gegebenen Veranlassung“ erfüllt, sind die tariflichen Voraussetzungen gegeben.<br />
Die rechtliche Grenze kann dann allenfalls noch in § <strong>24</strong>2 BGB liegen, mithin bei Schikane oder Willkür.<br />
• Im Arbeitgebermandat ist bei fehlender tarifvertraglicher Befugnis eine arbeitsvertragliche Verpflichtung<br />
des Arbeitnehmers zulässig, Zweifel an der Arbeitsfähigkeit durch eine ärztliche Untersuchung<br />
klären zu lassen.<br />
• Die Untersuchung muss nicht durch einen Amtsarzt erfolgen. Sie kann auch durch einen Betriebsarzt<br />
oder einen Gutachter der Berufsgenossenschaft oder bei Vereinbarung durch jeden anderen geeigneten<br />
Arzt durchgeführt werden. Stets sollte die Festlegung aber im Voraus im Arbeitsvertrag erfolgen.<br />
1306 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong>
Arbeitsrecht Fach 17 R, Seite 933<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />
c) Entgeltfortzahlungskosten/häufige Kurzerkrankungen/Referenzzeitraum<br />
für Gesundheitsprognose<br />
Das BAG hat mit Urteil vom 25.4.<strong>2018</strong> (2 AZR 6/18, NZA <strong>2018</strong>, 1056) seine Rechtsprechung geändert und<br />
teilweise aufgegeben (BAG, Urt. v. 23.1.2014 – 2 AZR 582/13, NZA 2014, 962): Der Zweite Senat judiziert<br />
nun, dass ein wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung mit notwendiger Auslauffrist eines<br />
nach § 34 Abs. 2 S. 1 des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L, ebenso § 34 Abs. 2<br />
TVöD) ordentlich unkündbaren Arbeitsverhältnisses vorliegen kann, wenn anhand der Krankheitszeiten<br />
im Regelreferenzzeitraum von drei Jahren damit zu rechnen ist, der Arbeitgeber werde für mehr als ein<br />
Drittel der jährlichen Arbeitstage Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall leisten müssen.<br />
Dem BAG lag folgender Sachverhalt zur Entscheidung vor: Der 1966 geborene, kinderlose, verheiratete<br />
Kläger war bei der Beklagten seit 1992 tätig. Es ist ein Grad der Behinderung (GdB) von 40 % festgestellt.<br />
Auf das Arbeitsverhältnis findet der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TV-L) Anwendung. Im<br />
Zeitraum vom 29.9.2011 bis zumindest 28.3.2013 fehlte der Kläger ununterbrochen. Im Übrigen war der<br />
Kläger immer wieder für höchstens zehn Arbeitstage arbeitsunfähig erkrankt. Die Erkrankungen<br />
beruhten auf psychischen Ursachen. Mit Schreiben vom 1.8.2016 hörte die Beklagte den Personalrat zur<br />
beabsichtigten außerordentlichen Kündigung mit Auslauffrist an. Dieser stimmte der Kündigung zu,<br />
woraufhin die Beklagte dann das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 22.8.2016 außerordentlich zum<br />
31.3.2017 kündigte.<br />
Die Revision der Arbeitgeberin hat im Sinne der Aufhebung des LAG-Urteils und der Zurückverweisung<br />
Erfolg. Ein ordentlich unkündbarer Arbeitnehmer kann auch krankheitsbedingt mit sozialer Auslauffrist<br />
außerordentlich gekündigt werden. Der Senat bestätigt das Drei-Stufen-Schema: Negative Gesundheitsprognose<br />
(1. Stufe), erhebliche Beeinträchtigungen der betrieblichen Interessen, sowohl aufgrund<br />
von Betriebsablaufstörungen als auch von wirtschaftlichen Belastungen (2. Stufe), umfassende Interessenabwägung,<br />
ob die Beeinträchtigung vom Arbeitgeber billigerweise noch hingenommen werden<br />
müssen (3. Stufe).<br />
Auf der 1. Stufe ist der Zugang zur Kündigung nur eröffnet, wenn die negative Prognose in einem<br />
Regelreferenzzeitraum von drei Jahren getroffen werden kann. Der Ansicht des LAG, ein wichtiger<br />
Grund könne nicht vorliegen, sofern der Arbeitnehmer voraussichtlich noch zu deutlich mehr als der<br />
Hälfte seiner Arbeitszeit zur Verfügung stehe, erteilt das BAG (zweifach) eine Absage. Der Zweite Senat<br />
geht für § 34 TV-L im Wege der Auslegung der Tarifnorm davon aus, dass angesichts des geringen<br />
Lebensalters und der geringen Beschäftigungsdauer als Voraussetzung sowie dem vollständigen<br />
Ausschluss der ordentlichen Kündigung als Rechtsfolge, die Belastung mit Entgeltfortzahlungskosten<br />
für durchschnittlich mehr als ein Drittel der Arbeitstage pro Jahr eine gravierende Äquivalenzstörung<br />
darstelle und deshalb einen wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung eines ordentlich<br />
unkündbaren Arbeitsverhältnisses bilden kann. Weiter seien die verwertbaren Restarbeitszeiten des<br />
Arbeitnehmers lediglich ein Faktor im Rahmen der Interessenabwägung. An dem Maßstab von 18,81<br />
Wochen (vgl. BAG, Urt. v. 23.1.2014 – 2 AZR 582/13 Rn 33, MDR 2014, 1158) halte der Senat nicht mehr<br />
fest. Der Zweite Senat hat erstmalig entschieden, dass (tarifliche) Krankengeldzuschüsse nicht als<br />
kündigungsbegründende Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Interessen des Arbeitgebers anerkannt<br />
werden können.<br />
Hinweis:<br />
• Das BAG geht in ständiger Rechtsprechung von einer dreistufigen Prüfung aus:<br />
• 1. Stufe Negative Gesundheitsprognose: Im Kündigungszeitpunkt müssen objektive Tatsachen<br />
vorliegen, die die Besorgnis weiterer Erkrankungen im bisherigen Umfang befürchten lassen. Häufige<br />
Kurzerkrankungen in der Vergangenheit können indiziell für eine entsprechende künftige Entwicklung<br />
sprechen.<br />
• 2. Stufe: Die prognostizierten Fehlzeiten sind nur dann geeignet, eine krankheitsbedingte Kündigung<br />
zu rechtfertigen, wenn sie zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen führen.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong> 1307
Fach 17 R, Seite 934<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />
Arbeitsrecht<br />
Dabei sind zwei Umstände zu beachten: (1) Betriebsablaufstörungen oder (2) wirtschaftliche<br />
Belastungen, durch zu erwartende, einen Zeitraum von mehr als sechs Wochen pro Jahr<br />
übersteigende Entgeltfortzahlungskosten.<br />
• 3. Stufe Interessenabwägung: Müssen die Beeinträchtigungen vom Arbeitgeber billigerweise nicht<br />
mehr hingenommen werden (vgl. BAG, Urt. v. 23.1.2014 – 2 AZR 582/13 Rn 27, BAGE 147, 162)?<br />
• Bei einer außerordentlichen Kündigung ist der dreistufige Prüfungsmaßstab auf allen drei Stufen<br />
erheblich strenger (gravierende Äquivalenzstörung = sog. sinnentleertes Arbeitsverhältnis).<br />
• Der Zweite Senat bestätigt die Rechtsprechung zum dreijährigen Referenzzeitraum aus dem Jahr 2014,<br />
nun aber erstmalig zu Lasten eines Arbeitnehmers (zugunsten einer 52-jährigen Hilfsgärtnerin mit<br />
durchschnittlich 75,25 Arbeitstagen/Jahr Krankheitszeiten in den letzten zehn Jahren, aber 19, 67 und<br />
55 Arbeitstagen in den letzten drei Jahren: vgl. BAG, Urt. v. 23.1.2014 – 2 AZR 582/13, NZA 2014, 962).<br />
• Besteht eine Arbeitnehmervertretung, beginnt der Regelreferenzzeitraum mit der Einleitung des<br />
Beteiligungsverfahrens.<br />
• Das BAG ändert seine Rechtsprechung in zwei Punkten die 2. Stufe betreffend:<br />
• Tarifliche Zuschüsse zum Krankengeld sind – so der Zweite Senat – kündigungsneutral (offen<br />
gelassen BAG, Urt. v. 21.5.1992 – 2 AZR 399/91 Rn 33, NZA 1993, 497; zuvor: BAG, Urt. v. 6.9.1989 –<br />
2 AZR 2<strong>24</strong>/89, NZA 1990, 434 den Ausschluss der ordentlichen Kündigung verneinend zu § 12 MTV<br />
Metallindustrie Nordwürtt./Nordbaden).<br />
• Bei der Tarifnorm des § 34 Abs. 2 S. 1 TV-L zu erwartende Entgeltfortzahlungskosten im Umfang<br />
von mehr als einem Drittel der Arbeitstage pro Jahr (84 Krankheitstage) stellen einen wichtigen<br />
Grund für eine außerordentliche Kündigung dar (vgl. BAG, Urt. v. 25.4.<strong>2018</strong> – 2 AZR 6/18 Rn 35, NZA<br />
<strong>2018</strong>, 1056; vgl. BAG, Urt. v. 25.11.1982 – 2 AZR 140/81, BAGE 40, 361 keine festen Grenzwerte). Das<br />
BAG folgert die Drittelgrenze aus der Auslegung der konkreten Norm und knüpft ausdrücklich: (1) an<br />
den vollen Ausschluss der ordentlichen Kündigung, (2) die Voraussetzungen des geringen Lebensalters<br />
von 40 Jahren und (3) der nicht allzu erheblichen Betriebszugehörigkeitsdauer von 15 Jahren an.<br />
Der Senat gibt zugleich seine Rechtsprechung der Unerheblichkeit von 18,81 Wochen = 36 % der<br />
Arbeitstage auf.<br />
• Seit dem Jahr 2014 wendet das BAG bzgl. der Ausschlussfrist des § 626 Abs. 2 S. 1 BGB einen „Kniff“ an:<br />
Sowohl prognosefähige häufige Kurzerkrankungen als auch dauerhafte Leistungsunfähigkeit können<br />
einen Dauertatbestand bilden. Damit ist die außerordentliche Kündigung (fast) stets möglich, wenn ein<br />
Teil eines Dauertatbestands vorliegt.<br />
• In seinem obiter dictum weist das BAG auf § 95 Abs. 2 S. 3 SGB IX a.F. (jetzt § 178 Abs. 2 S. 3 SGB IX <strong>2018</strong>)<br />
hin, die Verletzung der Schwerbehindertenvorschriften führt nun zur Unwirksamkeit der Kündigung<br />
(BAG a.a.O. Rn 46, ausführlich GUNDEL ZAT 2017, 50).<br />
• Im Rahmen der Interessenabwägung ist ein erforderliches bEM zu prüfen (BAG a.a.O. Rn 51). Es muss<br />
zeitnah zum Ausspruch der Kündigung liegen. Fehlt ein erforderliches bEM, muss der Arbeitgeber zur<br />
Darlegung der Verhältnismäßigkeit einer auf krankheitsbedingte Fehlzeiten gestützten Kündigung die<br />
objektive Nutzlosigkeit arbeitsplatzbezogener Maßnahmen i.S.v. § 1 Abs. 2 S. 2 KSchG aufzeigen und<br />
dartun, dass künftige Fehlzeiten ebenso wenig durch gesetzlich vorgesehene Hilfen oder Leistungen der<br />
Rehabilitationsträger in relevantem Umfang hätten vermieden werden können. Konkret besteht Veranlassung<br />
zur Prüfung der (Nicht-)Erforderlichkeit des bEM, wenn und weil der Kläger unstreitig einem<br />
bEM nicht zugestimmt hätte.<br />
3. Änderungskündigung<br />
a) Änderungsschutzklage/Streitgegenstand/Klagefrist/Kündigungsrücknahmevereinbarung<br />
Die Parteien streiten vorrangig über die Wirksamkeit von drei Kündigungen. Der Kläger ist bei der<br />
Beklagten, einer Zeitarbeitsfirma, als Kfz-Meister beschäftigt. Das KSchG findet Anwendung. Die<br />
Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis der Parteien mit drei Schreiben: vom 29.6.2016 zum 31.12.2016,<br />
vom 28.7.2016 zum 31.1.2017 und mit Schreiben vom 29.7.2016 erneut zum 31.1.2017. Der Kläger nahm die<br />
mit den ersten beiden Kündigungen vom 29.6. und 28.7.2016 verbundenen Vertragsangebote jeweils<br />
1308 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong>
Arbeitsrecht Fach 17 R, Seite 935<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />
rechtzeitig unter dem Vorbehalt ihrer sozialen Rechtfertigung an und erhob fristgerecht Änderungsschutzklage.<br />
Hinsichtlich des ihm mit der Kündigung vom 29.7.2016 unterbreiteten Vertragsangebots<br />
erklärte er sich zunächst nicht und griff diese Kündigung auch nicht innerhalb von drei Wochen ab ihrem<br />
Zugang mit einem eigenen Klageantrag an. Während der Kündigungsfrist nahm der Kläger das Angebot<br />
der Beklagten, an den Änderungskündigungen vom 29.6. und 28.7.2016 nicht festzuhalten, an und<br />
erweiterte zugleich die Klage u.a. um einen Beendigungsschutzantrag gegen die dritte Kündigung.<br />
ArbG und LAG haben der Klage in vollem Umfang stattgegeben. Die Revision der Arbeitgeberin hat nur<br />
bzgl. der Kündigungsschutzanträge vom 29.6. und 28.7. sowie des Weiterbeschäftigungsantrags Erfolg,<br />
es fehlt am Rechtsschutzbedürfnis nach der Kündigungsrücknahmevereinbarung. Die dritte Kündigung<br />
(29.7.2016) ist rechtsunwirksam. Das BAG (Urt. v. <strong>24</strong>.5.<strong>2018</strong> – 2 AZR 67/18, NZA <strong>2018</strong>, 1127) hat erstmalig<br />
entschieden, dass ein Änderungsschutzantrag nach § 4 S. 2 KSchG die Klagefrist des § 4 S. 1 KSchG für<br />
eine nachfolgende Beendigungskündigung wahrt, die vor dem oder zeitgleich mit dem „Änderungstermin“<br />
der ersten Kündigung wirksam werden soll, jedenfalls dann, wenn der Kläger die Unwirksamkeit<br />
der Folgekündigung noch vor Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz mit einem Antrag<br />
nach § 4 S. 1 KSchG geltend macht. Zwar war die Annahme nach vier Monaten verspätet, doch hat der<br />
Bestandsschutzantrag vom 29.7.2016 Erfolg. Der Zweite Senat wendet § 4 S. 1 KSchG i.V.m. § 6 KSchG<br />
analog an. Das BAG geht von der Rechtsprechung zum sog. erweiterten punktuellen Streitgegenstand<br />
bei der Beendigungskündigung aus. Das gelte auch für die Änderungskündigung, wenn ein Beendigungsschutzantrag<br />
nach § 4 S. 1 KSchG gestellt wurde. Gleichermaßen gelte dies für einen Änderungsschutzantrag<br />
nach § 4 S. 2 KSchG, der wie ein „kleiner Schleppnetzantrag“ wirke. Auch bei der<br />
„Nichtänderungsklage“ werde nicht nur punktuell über die Wirksamkeit der Kündigung und des<br />
verbundenen Änderungsangebots entschieden, weil eine Nichtbeendigung vor dem Ablauf der Kündigungsfrist<br />
vorausgesetzt werde.<br />
Hinweise:<br />
• Der Zweite Senat überträgt die Grundsätze des sog. erweiterten punktuellen Streitgegenstandsbegriffs,<br />
die er zur Beendigungskündigung (BAG, Urt. v. 18.12.2014 – 2 AZR 163/14 Rn 29, BAGE 150, 234)<br />
entwickelt hat,<br />
• auf die nicht angenommene Änderungskündigung und<br />
• gleichermaßen auf die angenommene Änderungskündigung.<br />
Die unterschiedliche Antragsfassung spiele keine Rolle. § 6 KSchG habe zum Ziel, den Arbeitnehmer<br />
davor zu bewahren, seinen Kündigungsschutz aus formalen Gründen zu verlieren, weshalb die Norm<br />
trotz ihrer (zu engen) Formulierung nicht nur auf bestimmte Unwirksamkeitsgründe anzuwenden ist.<br />
• Der Zweite Senat hat die Frage, ob es zur Fristwahrung erforderlich ist, dass der Arbeitnehmer die<br />
nachfolgende Kündigung noch vor dem Schluss der mündlichen Verhandlung in erster Instanz mit<br />
einem Antrag gem. § 4 S. 1 KSchG erfasst, offen gelassen. Er hat aber seine Neigung, dies zu bejahen,<br />
offenbart. Gegebenenfalls wäre die Pflicht des Gerichts zur materiellen Prozessleitung nach § 139 ZPO<br />
zu beachten.<br />
• Haben die Parteien vereinbart, dass Kündigungen keine Wirkung entfalten sollen, fehlt einer<br />
Kündigungsschutzklage das Rechtsschutzbedürfnis. Das gilt auch bei einer Änderungsschutzklage.<br />
Eine Kündigungsschutzklage kann nicht auf die „Kündigungsrücknahmevereinbarung“ gestützt<br />
werden.<br />
b) Bezugnahmeklausel nach Änderungskündigung/Neuvertrag i.S.d. Rechtsprechung zur<br />
Gleichstellungsabrede<br />
Der Zweite Senat bestätigt seine Rechtsprechung zur Bezugnahmeklausel und wendet die Rechtsprechung<br />
erstmalig auf eine Änderungskündigung an (BAG, Urt. v. 27.3.<strong>2018</strong> – 4 AZR 208/17, EzA-SD<br />
<strong>2018</strong>, Nr. 19, 4). Die Parteien streiten über die Anwendbarkeit von Tarifverträgen auf ihr Arbeitsverhältnis<br />
und daraus folgende Differenzvergütungsansprüche der Klägerin auf der Grundlage dynamischer<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong> 1309
Fach 17 R, Seite 936<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />
Arbeitsrecht<br />
Tarifgeltung. Die Klägerin ist seit 1992 Verkäuferin, zuletzt als Supervisorin, in Duty-Free-Shops der<br />
Beklagten an Flughäfen. In dem Arbeitsvertrag vom 21.2.1992 heißt es auszugsweise: „2. Das Anstellungsverhältnis<br />
richtet sich nach den Bestimmungen der Tarifverträge für die Beschäftigten im Einzelhandel des<br />
Landes Nordrhein-Westfalen nebst Nachfolgeverträgen sowie etwaigen Betriebsvereinbarungen/-ordnungen in<br />
ihrer jeweils geltenden Fassung.“ Mit Schreiben vom <strong>24</strong>.4.2009 sprach die Rechtsvorgängerin der Beklagten<br />
eine ordentliche Änderungskündigung zum 31.10.2009 aus und bot der Klägerin zugleich an, sie über<br />
diesen Termin hinaus zu veränderten Bedingungen weiterzubeschäftigen. In dem Schreiben heißt es<br />
dazu u.a.: „Gleichzeitig bieten wir Ihnen an, Sie über diesen Termin hinaus nahtlos als Verkäuferin/Kassiererin nach<br />
Tarifgruppe G II weiterzubeschäftigen. (…) Alle übrigen Vertragsbedingungen würden unverändert bleiben.“ Die<br />
Klägerin nahm das Angebot zu geänderten Arbeitsbedingungen unter dem Vorbehalt an, dass die<br />
Änderung der Arbeitsbedingungen nicht sozial ungerechtfertigt ist. Ihre zunächst gegen die Änderungskündigung<br />
erhobene Änderungsschutzklage vor dem ArbG nahm die Klägerin später zurück. Die<br />
Rechtsvorgängerin der Beklagten trat mit Ablauf des 31.12.2011 aus dem Arbeitgeberverband aus und<br />
bezahlt eine statische Vergütung i.H.v. 2.641 € brutto zuzüglich einer Reinigungspauschale, vermögenswirksamen<br />
Leistungen sowie Essensgeld für eine Vollzeittätigkeit. Die Klägerin begehrt Vergütung nach<br />
Vergütungsgruppe G II aufgrund Tarifdynamik.<br />
Die Klage hat mit Ausnahme eines Teils der begehrten Zinsen vor dem BAG Erfolg. Die Beklagte ist<br />
verpflichtet, die Klägerin nach der Vergütungsgruppe G II (nach fünf Jahren der Tätigkeit) des zum jeweiligen<br />
Fälligkeitszeitpunkt geltenden Entgelttarifvertrags zwischen dem Handelsverband NRW und<br />
ver.di für den Einzelhandel in NRW zu vergüten. Die zuletzt im Arbeitsverhältnis der Parteien anzuwendende<br />
arbeitsvertragliche Bezugnahmeklausel verweist unbedingt zeitdynamisch auf die – aktuellen<br />
– Tarifverträge für die Beschäftigten im Einzelhandel des Landes Nordrhein-Westfalen. Die<br />
Änderungsvereinbarung aufgrund der Änderungskündigung vom <strong>24</strong>.4.2009 bewirkt einen sog. Neuvertrag.<br />
Ob eine Vertragsänderung den gesamten Vertrag erfasst, ist anhand der konkreten<br />
Vertragsänderung unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zu beurteilen. Wurde eine<br />
zuvor bestehende Verweisungsklausel erneut zum Gegenstand der rechtsgeschäftlichen Willensbildung<br />
der Vertragsparteien gemacht, hindert dies die Annahme eines „Altvertrags“ und einer Rechtsfolgenkorrektur<br />
unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes (BAG, Urt. v. 18.11.2009 – 4 AZR 514/08<br />
Rn 25, BAGE 132, 261). So ist es vorliegend.<br />
Hinweise:<br />
• Erstmals hat der Vierte Senat entschieden, dass eine Änderungskündigung denselben Grundsätzen<br />
wie eine (reine) Änderungsvereinbarung unterliegt, und zugleich seine Rechtsprechung zu Bezugnahmeklauseln,<br />
deren Auslegung und der typischen Bedeutung der Klauseln bestätigt.<br />
• Der Vierte Senat wiederholt seine Auslegung, dass eine zuvor bestehende Verweisungsklausel<br />
eindeutig erneut zum Gegenstand der rechtsgeschäftlichen Willensbildung der Vertragsparteien<br />
gemacht worden ist, wenn folgende Formulierungen benutzt werden: „Alle anderen Vereinbarungen aus<br />
dem Anstellungsvertrag [bleiben] unberührt.“ (vgl. BAG, Urt. v. 7.12.2016 – 4 AZR 414/14 Rn 31; Urt. v.<br />
30.7.2008 – 10 AZR 606/07 Rn 49, BAGE 127, 185) oder „die dabei nicht genannten Regelungen gelten weiter“<br />
(vgl. BAG, Urt. v. 21.10.2015 – 4 AZR 649/14 Rn 34). Ein „Altvertrag“ mit der Rechtsfolgenkorrektur unter<br />
dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes (BAG, Urt. v. 18.11.2009 – 4 AZR 514/08 Rn 25, BAGE 132,<br />
261) scheidet aus. Es liegt ein Neuvertrag vor, welcher der aktuellen Rechtsprechung des Vierten Senats<br />
unter Anwendung der AGB-Kontrolle unterliegt. Dies führt zur dynamischen Geltung der vertraglichen<br />
Vereinbarungen.<br />
III. Befristung: Mittelbare Vertretung/Kausalzusammenhang<br />
Grundsatz: Mittelbare Vertretung und gedankliche Zuordnung sind zwei getrennte Sachgründe, die<br />
jeweils ihren eigenen Anforderungen unterliegen. Die mittelbare Vertretung bedarf der Darlegung<br />
eines Kausalzusammenhangs (BAG, Urt. v. 21.2.<strong>2018</strong> – 7 AZR 696/16, NZA <strong>2018</strong>, 1003).<br />
1310 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong>
Arbeitsrecht Fach 17 R, Seite 937<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />
Die Klägerin, eine Theaterpädagogin, unterrichtet in Hamburg im Umfang zwischen 26 % und 62 % das<br />
Fach „darstellendes Spiel“ in einer staatlichen Schule als Lehrerin im Anstellungsverhältnis. Insgesamt<br />
lagen zehn befristete Verträge vor, zuletzt bis 15.7.2015. Die abwesende Frau R unterrichtete bildende<br />
Kunst und Mathematik. Sie wurde durch eine lange Kette verschiedener Kollegen vertreten, die jeweils<br />
wiederum durch andere Kollegen im Umfang der Vertretung vertreten wurden. Die Klägerin vertrat<br />
Frau A und Frau E jeweils im Umfang von deren Vertretung. Weder Frau A noch Frau E oder die Klägerin<br />
haben Fächer unterrichtet, welche Frau R – die Vertretene – jemals unterrichtete. ArbG und LAG gaben<br />
der Befristungskontrollklage statt. Die Kausalität der Vertretung sei nicht dargelegt. Das BAG (Urt. v.<br />
21.2.<strong>2018</strong> – 7 AZR 696/16, NZA <strong>2018</strong>, 1003) wies die Klage ab: Weder der dauerhafte Bedarf einer<br />
Vertretung noch eine mittelbare Vertretung ohne Umverteilung der Tätigkeiten stehen einer<br />
Vertretungsbefristung entgegen. Es lag vielmehr ein Fall der gedanklichen Zuordnung vor. Bei dieser<br />
Fallgestaltung, ist die Kausalität nicht gesondert zu prüfen.<br />
Hinweise:<br />
• Das BAG erklärt den Unterschied zwischen gedanklicher Zuordnung und mittelbarer Vertretung, bei<br />
denen es sich um zwei verschiedene Konstellationen handelt. Der gedanklichen Zuordnung liegt keine<br />
tatsächliche Umverteilung der Aufgaben zugrunde, so dass der Vertreter keinen Aufgabenteil des<br />
Vertretenen übernimmt. Bei der mittelbaren Vertretung muss eine tatsächliche Umverteilung<br />
vorliegen.<br />
• Die ständige Rechtsprechung des Siebten Senats verlangt, wenn der Vertretungskraft ohne tatsächliche<br />
Umverteilung der Arbeitsaufgaben Tätigkeiten übertragen werden, die die Stammkraft nie<br />
ausgeübt hat, die nach außen dokumentierte Zuordnung der Tätigkeit der Vertretungskraft zu einer<br />
vorübergehend abwesenden Stammkraft, um die Kausalität der Einstellung der Vertretungskraft zu<br />
begründen. Dies: (1) Entweder im Arbeitsvertrag (2) oder in der Anhörung der Arbeitnehmervertretung.<br />
Die nach außen erkennbar dokumentierte „gedankliche Zuordnung“ ersetzt damit die<br />
Kausalitätsprüfung (vgl. BAG, Urt. v. 11.2.2015 – 7 AZR 113/13 Rn 20; Urt. v. 18.7.2012 – 7 AZR 443/09<br />
Rn 17, BAGE 142, 308; Urt. v. 14.4.2010 – 7 AZR 121/09 Rn 16; Urt. v. 25.3.2009 – 7 AZR 34/08 Rn 15; Urt. v.<br />
15.2.2006 – 7 AZR 232/05 Rn 15 ff., BAGE 117, 104).<br />
• Demgegenüber ist die mittelbare Vertretung dadurch gekennzeichnet, dass der Arbeitgeber den<br />
vorübergehenden Ausfall der Stammkraft zum Anlass nimmt, die Arbeitsaufgaben tatsächlich umzuverteilen.<br />
Einer gedanklichen Zuordnung der Tätigkeit der Vertretungskraft zu der Stammkraft bedarf<br />
es nicht, da durch die Umverteilung der Arbeitsaufgaben – vermittelt durch eine Vertretungskette –<br />
eine tatsächliche Zuordnung der Vertretungskraft zu der Stammkraft erfolgt.<br />
IV. Elterngeld und Elternzeitrecht<br />
Von den im Berichtszeitraum ergangenen Entscheidungen des BSG zum Elterngeld beanspruchen vor<br />
allem die folgenden Aufmerksamkeit:<br />
1. Kein höheres Elterngeld wegen Provisionszahlungen<br />
Elterngeld wird grundsätzlich i.H.v. 67 % des Einkommens aus Erwerbstätigkeit vor der Geburt des<br />
Kindes gewährt, § 2 Abs. 1 S. 1 BEEG. Es wird bis zu einem Höchstbetrag von 1.800 € monatlich für volle<br />
Monate gezahlt, in denen die berechtigte Person kein Einkommen aus Erwerbstätigkeit hat, § 2 Abs. 1<br />
S. 2 BEEG. Das Einkommen nach Erwerbstätigkeit errechnet sich gem. § 2 Abs. 1 S. 3 BEEG nach Maßgabe<br />
der §§ 2c–2f BEEG aus der um die Abzüge für Steuern und Sozialabgaben verminderten Summe der dort<br />
näher bezeichneten positiven Einkünfte. Eine Regelung zum Elterngeld für Niedrigverdiener enthält § 2<br />
Abs. 2 BEEG. Nach § 2c Abs. 1 S. 2 BEEG in der seit dem 1.1.2015 geltenden Fassung werden Einnahmen,<br />
die im Lohnsteuerabzugsverfahren nach den lohnsteuerlichen Vorgaben als sonstige Bezüge (d.h.<br />
diejenigen Bezüge, die nicht als laufender Arbeitslohn gezahlt werden, § 38a Abs. 1 S. 3 EStG; s. ferner<br />
§ 39b Abs. 3 EStG und Nr. 39b Abs. 1 Lohnsteuerrichtlinien) zu behandeln sind, nicht als Einkommen aus<br />
nichtselbstständiger Erwerbstätigkeit bei der nach § 2 Abs. 1, 2 BEEG zu berechnenden Höhe des<br />
Elterngelds berücksichtigt. Für die bis zum 31.12.2014 geltende Rechtslage hat das BSG entschieden, dass<br />
Provisionen, die im Jahr vor der Geburt neben dem Grundgehalt für kürzere Zeiträume als ein Jahr, aber<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong> 1311
Fach 17 R, Seite 938<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />
Arbeitsrecht<br />
zu regelmäßig vereinbarten Stichtagen gezahlt werden, für die Höhe des Elterngelds bestimmend sind,<br />
und zwar auch dann, wenn solche Provisionen im Lohnsteuerabzugsverfahren als „sonstige Bezüge“<br />
behandelt werden (BSG, Urt. v. 26.3.2014 – B 10 EG 14/13 R).<br />
Hinweis:<br />
Diese Rechtsprechung ist, wie das BSG nunmehr judiziert hat (Urt. v. 14.12.2017 – B 10 EG 7/17 R, hierzu<br />
BERGMANN ZAT <strong>2018</strong>, 14; SCHMIDT ZFSH/SGB <strong>2018</strong>, 308), durch die zum 1.1.2015 eingetretene Gesetzesänderung<br />
obsolet (ebenso BSG v. 14.12.2017 – B 4/17 R, SGb <strong>2018</strong>, 971 mit Anm. GRÄFE, S. 577).<br />
Im konkreten Fall wurden die von dem Kläger im Kalenderjahr 2014 erhaltenen Provisionseinnahmen,<br />
die als „sonstiger Bezug“ beim Lohnsteuerabzugsverfahren behandelt wurden, nicht als für die Höhe des<br />
Anspruchs maßgebliches Einkommen angesehen. Ferner hat das BSG entschieden, es sei ohne<br />
Bedeutung, ob die steuerliche Behandlung als „sonstiger Bezug“ steuerrechtlich zutreffend war.<br />
Anderer Ansicht ist insoweit das LSG München (Urt. v. 16.1.<strong>2018</strong> – L 9 EG 68/15), wonach maßgebend<br />
dafür, ob ein sonstiger Bezug i.S.v. § 2c Abs. 1 S. 2 BEEG vorliegt, die zutreffende lohnsteuerliche<br />
Behandlung ist, die dann nicht von der Elterngeldbehörde zu übernehmen ist, wenn sie sich als falsch<br />
erweist (vgl. SCHÜTZ jurisPR-SozR 7/<strong>2018</strong> Anm. 4).<br />
2. Elterngeldbezug<br />
a) Erhalt „sonstiger Bezüge“<br />
Während die vorgenannte Entscheidung die Anrechnung von zusätzlichen Einkommensteilen im Jahr<br />
vor der Geburt des Kindes als Grundlage eines höheren Elterngeldanspruchs betraf, behandelt das BSG<br />
die Frage, welche Einkünfte aus einer beruflichen Tätigkeit nach der Geburt des Kindes den<br />
Elterngeldanspruch nach § 2 Abs. 3 S. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 und 2 BEEG mindern können (Urt. v. 8.3.<strong>2018</strong><br />
– B 10 EG 8/16 R). Zu den Voraussetzungen für den Anspruch auf Elterngeld gehört nach § 1 Abs. 1 S. 1<br />
Nr. 4 BEEG, dass keine volle Erwerbstätigkeit ausgeübt wird. Von einer solchen ist u.a. dann nicht<br />
auszugehen, wenn die Arbeitszeit 30 Wochenstunden im Durchschnitt des Monats nicht übersteigt, § 1<br />
Abs. 6 BEEG. Nach näherer Maßgabe von § 2 Abs. 3 BEEG wird in diesem Fall allerdings Elterngeld nur<br />
aus dem Unterschiedsbetrag der Erwerbseinkommen vor und nach der Geburt bezahlt.<br />
Im vorliegenden Fall hatte die Klägerin im Bezugszeitraum drei Einmalzahlungen (Heiratsbeihilfe,<br />
Urlaubs- und Weihnachtsgeld) erhalten. Der Arbeitgeber hatte sich nicht für das Lohnsteuerabzugsverfahren<br />
entschieden, sondern im Rahmen des von der Klägerin innegehabten Minijobs auch die<br />
zusätzlichen, einmalig gewährten Leistungen pauschal nach § 40a EStG versteuert. Das BSG vertritt die<br />
Auffassung, diese Zahlungen seien nach § 2c Abs. 1 S. 2 BEEG nicht als Einkommen aus Erwerbstätigkeit<br />
für Monate nach der Geburt nach § 2 Abs. 3 S. 1 BEEG zu betrachten und demnach für die Bemessungsgrundlage<br />
des Elterngeldes unerheblich. Es versteht die Formulierung „im Lohnsteuerabzugsverfahren“<br />
so, dass damit nicht nur solche Einnahmen gemeint sind, von denen der Arbeitgeber<br />
tatsächlich Lohnsteuer abzieht, sondern auch solche, die in einem nur gedachten (fiktiven)<br />
Lohnsteuerabzugsverfahren im Sinne einer „als-ob-Betrachtung“ als sonstige Bezüge zu behandeln<br />
wären. Das Gericht bestätigt diese Auslegung des Wortlauts durch zusätzliche Hinweise auf die<br />
systematische Stellung und den Zweck der Norm sowie auf die Entstehungsgeschichte. Die vorliegend<br />
tatsächlich gewählte Pauschalversteuerung wird demnach im Hinblick auf die Elterngeldberechnung<br />
nach § 2 Abs. 3 S. 1 BEEG als unerheblich angesehen.<br />
b) Mindestbezugszeit<br />
Seit dem 1.1.2015 sieht § 4 Abs. 5 S. 2 BEEG vor, dass ein Elternteil Elterngeld nur beziehen kann, wenn er<br />
es mindestens für zwei Monate in Anspruch nimmt. Im vorliegenden Fall nahm der Kläger Elterngeld für<br />
einen Monat in Anspruch. Er, der in dieser Zeit seine Erwerbstätigkeit nicht ausgeübt hatte, und seine<br />
Ehefrau nahmen ein neugeborenes Kind bei sich auf, dessen Adoption vorgesehen war. Die Aufnahme<br />
musste nach drei Wochen beendet werden, weil die leiblichen Eltern des Kindes dieses wieder bei sich<br />
aufnahmen. Durch Urteil vom 8.3.<strong>2018</strong> (B 10 EG7/16 R) hat das BSG das der Klage stattgebende<br />
1312 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong>
Arbeitsrecht Fach 17 R, Seite 939<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />
Berufungsurteil bestätigt. Der Anspruch auf Elterngeld war zunächst nach § 1 BEEG entstanden, er<br />
endete mit dem Ablauf des Monats, in dem eine Anspruchsvoraussetzung entfallen ist, § 4 Abs. 2 S. 3<br />
BEEG. Die Vorschrift des § 4 Abs. 5 S. 2 BEEG steht dem nicht entgegen. Nach der Intention des<br />
Gesetzgebers ist die dort vorgesehene Mindestbezugszeit vor allem eingeführt worden, um bei einer<br />
Inanspruchnahme von Elterngeld durch beide Elternteile den Aufbau einer intensiven Beziehung<br />
zwischen Kind und dem anspruchsberechtigten Elternteil zu fördern. Die Regelung soll das Verhalten<br />
der Eltern bei der Inanspruchnahme von Elterngeld steuern, aber nicht eingreifen, wenn die Elternzeit<br />
vorzeitig aus Gründen endet, die nicht in der Sphäre der Eltern liegen und aus deren Sicht unfreiwillig<br />
eintreten.<br />
3. Elternzeit: Vorzeitige Beendigung wegen der Geburt eines weiteren Kindes<br />
Das Recht auf eine vorzeitige Beendigung der Elternzeit „wegen der Geburt eines weiteren Kindes“ setzt<br />
tatbestandlich voraus, dass das weitere Kind entbunden ist. Die Rechtsfolge des § 16 Abs. 3 S. 2 Alt. 1<br />
BEEG kann nicht mit Wirkung zu einem Zeitpunkt herbeigeführt werden, der noch in der<br />
Schwangerschaft mit dem weiteren Kind liegt (vgl. BAG, Urt. v. 8.5.<strong>2018</strong> – 9 AZR 8/18, NZA <strong>2018</strong>, 1195).<br />
Bei einem Streit über Differenzvergütungsansprüche zwischen der bezahlten <strong>24</strong>-Stundenwoche und<br />
der Vollzeitvergütung (39 Std.) unter dem Gesichtspunkt des Annahmeverzugs war die Klägerin der<br />
Ansicht, ihre vom 12.10.2015 bis zum 10.10.2017 dauernde Elternzeit „wegen der Geburt eines weiteren<br />
Kindes“ vorzeitig, gestützt auf die weitere Schwangerschaft, durch schriftliche Erklärung zum 12.10.2016<br />
beendet zu haben. Die Arbeitgeberin lehnte die vorzeitige Beendigung der Elternzeit mit Schreiben vom<br />
4.11.2016 aus betrieblichen Gründen ab. Die Klägerin bot ihre Arbeitskraft für eine Vollzeitbeschäftigung<br />
an und verlangte eine entsprechende Vergütung. Unter dem 10.2.2017 zeigte sie der beklagten<br />
Arbeitgeberin die vorzeitige Beendigung der Elternzeit zum 31.3.2017 mit der Begründung an, sie befinde<br />
sich ab dem 1.4.2017 in Mutterschutz. Die Geburt ihres zweiten Kindes sei für den 12.5.2017 errechnet.<br />
Die Klage hatte in allen drei Instanzen keinen Erfolg. Die zulässige Klage ist unbegründet. Die Klägerin<br />
hat keine Ansprüche auf Vergütung wegen Annahmeverzugs nach § 615 S. 1 BGB i.V.m. § 611 Abs. 1 BGB.<br />
Gemäß § 293 BGB kommt der Gläubiger in Verzug, wenn er die ihm angebotene Leistung nicht<br />
annimmt. Der Umfang des Annahmeverzugs richtet sich grundsätzlich nach der arbeitsvertraglich<br />
vereinbarten Arbeitszeit. Die Beklagte war nicht verpflichtet, die Klägerin vom 12.10.2016 bis zum<br />
31.3.2017 mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 39 Stunden zu beschäftigen. Die Eltern(teil)zeit der<br />
Klägerin wegen ihres ersten Kindes endete nicht vor dem 1.4.2017. Weder war eine Zustimmung des<br />
Arbeitgebers nach § 16 Abs. 3 S. 1 BEEG erteilt, noch bestand das einseitige Gestaltungsrecht nach § 16<br />
Abs. 3 S. 2 BEEG.<br />
Hinweis:<br />
Das Recht auf eine vorzeitige Beendigung der Elternzeit „wegen der Geburt eines weiteren Kindes“ setzt<br />
tatbestandlich voraus, dass das weitere Kind entbunden ist. Die Rechtsfolge des § 16 Abs. 3 S. 2 Alt. 1 BEEG<br />
kann nicht mit Wirkung zu einem Zeitpunkt herbeigeführt werden, der noch in der Schwangerschaft mit<br />
dem weiteren Kind liegt. Dies ergibt der Wortlaut der Vorschrift „wegen Geburt“. Auch die systematische<br />
Stellung der Norm und deren Sinn und Zweck bestätigen dies. Die Überschneidung mehrerer Elternzeiten<br />
für verschiedene Kinder soll vermieden und die Elternzeit für jedes Kind nach Möglichkeit voll ausgeschöpft<br />
werden.<br />
Deshalb muss eine zeitliche Kongruenz zwischen dem Zeitpunkt der vorzeitigen Beendigung der<br />
Elternzeit gem. § 16 Abs. 3 S. 2 Alt. 1 BEEG und der Möglichkeit, für das weitere Kind Elternzeit in<br />
Anspruch zu nehmen, bestehen. Der Anspruch auf Elternzeit besteht aber erst ab der Geburt bis zur<br />
Vollendung des dritten Lebensjahres des Kindes (§ 15 Abs. 2 S. 1 BEEG). Bei mehreren Kindern besteht der<br />
Anspruch auf Elternzeit für jedes Kind, auch wenn sich die Zeiträume der Elternzeit überschneiden (§ 15<br />
Abs. 2 S. 4 BEEG). Soweit sich die Zeiträume der einzelnen Elternzeiten überschneiden, führt dies nicht<br />
zu einer Verlängerung der gesamten Elternzeit.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong> 1313
Fach 17 R, Seite 940<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />
Arbeitsrecht<br />
V. Verfahrensrecht<br />
1. Nichtzulassungsbeschwerde des Nebenintervenienten wegen Versagung des rechtlichen<br />
Gehörs<br />
Eine Partei, die für den Fall des ihr ungünstigen Ausgangs des Rechtsstreits einen Anspruch auf<br />
Gewährleistung oder Schadloshaltung gegen einen Dritten erheben zu können glaubt oder den<br />
Anspruch eines Dritten besorgt, kann bis zur rechtskräftigen Entscheidung des Rechtsstreits dem<br />
Dritten gerichtlich den Streit verkünden, § 72 Abs. 1 ZPO. Wenn der Dritte dem Rechtsstreit beitritt, so<br />
bestimmt sich sein Verhältnis zu den Parteien nach den Grundsätzen über die Nebenintervention<br />
(§§ 66 ff. ZPO), § 74 Abs. 1 ZPO.<br />
Im Rahmen der vom BAG durch Beschluss vom 26.4.<strong>2018</strong> (8 AZN 974/17, NJW <strong>2018</strong>, 2078, hierzu MUELLER<br />
ArbRAktuell <strong>2018</strong>, 322) entschiedenen Nichtzulassungsbeschwerde machte die seit Februar 2012 bei der<br />
Beklagten zu 3 beschäftigte Klägerin durch ihre im Oktober 2016 eingegangene Klage gegen die<br />
Beklagte zu 1, hilfsweise gegen die Beklagte zu 2 und (äußerst) hilfsweise gegen die Beklagte zu 3 einen<br />
Anspruch auf Weiterbeschäftigung als Laborassistentin geltend. Zur Begründung verwies sie darauf, ihr<br />
Arbeitsverhältnis sei aufgrund eines Betriebsübergangs auf die Beklagte zu 1 übergegangen und führte<br />
hierzu näher aus.<br />
Hinweis:<br />
Die Frage, ob ein Betriebsübergang erfolgt ist, bestimmt sich nach nationalem Recht aufgrund der<br />
Vorschrift des § 613a BGB und der hierzu ergangenen Judikatur. Für das Verständnis dieser Norm ist<br />
die Rechtsprechung des EuGH zur Richtlinie 2001/23/EG heranzuziehen (s. hierzu etwa jüngst BAG<br />
v. 25.1.<strong>2018</strong> – 8 AZR 309/16, NZA <strong>2018</strong>, 933).<br />
Die Berufung der Beklagten zu 1 gegen das der Klage stattgebende Urteil des ArbG hatte Erfolg. Die<br />
daraufhin eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde (§ 72a ArbGG, zu den Anforderungen an Einlegung<br />
und Begründung s. insb. § 72a ArbGG Abs. 2, 3) der Beklagten zu 2 führte zur Aufhebung und<br />
Zurückverweisung, § 72a Abs. 7 ArbGG.<br />
Die Beklagte zu 2 ist erstinstanzlich Partei des Verfahrens geworden und zwar unbeschadet des<br />
Umstands, dass die gegen sie erhobene Klage als eventuelle subjektive Klagehäufung unzulässig war<br />
(BAG v. 23.2.2010 – 2 AZR 720/08). Auch in diesem Fall wird jedoch ein Prozessrechtsverhältnis<br />
begründet (BAG NJW 1994, 1084 [B II 2b]). Damit war die Beklagte zu 2 zunächst nicht „Dritter“ i.S.v. § 72<br />
ZPO. Allerdings hatte das ArbG rechtsfehlerhaft nicht über die Klage gegen die Beklagte zu 2<br />
entschieden und weder die Klägerin noch die Beklagte zu 2 hatten einen Antrag auf Ergänzung des<br />
Urteils gem. § 321 ZPO gestellt. Damit war mit Ablauf der Antragsfrist des § 321 Abs. 2 ZPO die<br />
Rechtshängigkeit der gegen die Beklagte zu 2 gerichteten Klage entfallen und sie wurde „Dritter“ i.S.v.<br />
§ 72 ZPO (s. schon BAG v. 7.6.2016 – 3 AZR 193/15).<br />
Die Beklagte zu 2 war somit kraft ihrer Stellung als Nebenintervenienten nach § 67 ZPO berechtigt, den<br />
der Klägerin zustehenden Rechtsbehelf einzulegen, auch wenn diese hiervon abgesehen hatte. Anderes<br />
würde nur gelten, wenn die Hauptpartei der Einlegung des Rechtsmittels oder Rechtsbehelfs<br />
ausdrücklich oder jedenfalls durch schlüssiges Verhalten widersprochen hätte, was hier nicht der Fall<br />
war. Es bestand in der Person der Beklagten zu 2 ferner die für die Nichtzulassungsbeschwerde<br />
erforderliche Beschwer, die sich nach der Beschwer der Hauptpartei richtet, hier mithin der Klägerin,<br />
die durch die Abweisung ihrer Klage gegen die Beklagte zu 1 beschwert ist.<br />
Die Beklagte zu 2 hat die Nichtzulassungsbeschwerde damit begründet (§ 72a Abs. 3 S. 2 Nr. 3 Alt. 1<br />
ArbGG), das LAG habe sie nicht zum Termin zur mündlichen Verhandlung geladen. Dies sei ein absoluter<br />
Revisionsgrund – der gem. § 72 Abs. 2 Nr. 3 ArbGG zur Zulassung der Revision zwingt – in entsprechender<br />
Anwendung von § 547 Nr. 4 ZPO. Der Revisionsgrund nach § 547 Nr. 4 ZPO erfasst als<br />
besondere Ausprägung der Versagung des rechtlichen Gehörs auch den Fall, dass eine Partei nicht zur<br />
1314 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong>
Arbeitsrecht Fach 17 R, Seite 941<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />
mündlichen Verhandlung geladen wurde und deshalb hieran weder selbst noch durch einen<br />
gesetzlichen Vertreter teilnehmen konnte. Diese Vorschrift ist, wie das BAG entschied, entsprechend<br />
auf Dritte anwendbar, die entgegen zwingenden Vorschriften nicht beteiligt wurden. Vor dem<br />
Hintergrund, dass sich der absolute Revisionsgrund nach § 547 Nr. 4 ZPO als besondere Ausprägung der<br />
Versagung des rechtlichen Gehörs darstellt, muss dies auch für den Nebenintervenienten gelten, weil<br />
dieser gem. § 71 Abs. 3 ZPO im Hauptverfahren hinzuzuziehen ist, solange nicht die Unzulässigkeit der<br />
Intervention rechtskräftig ausgesprochen ist. Demnach hat der Nebenintervenient ein Recht auf<br />
Teilnahme an der mündlichen Verhandlung und auf Beteiligung an ihrer schriftsätzlichen Vorbereitung.<br />
Er ist auch berechtigt, in den Grenzen des § 67 ZPO Angriffs- und Verteidigungsmittel geltend zu<br />
machen und alle Prozesshandlungen wirksam vorzunehmen.<br />
Hinweis:<br />
In der Regel wird bei Stattgabe der Beschwerde das Beschwerdeverfahren als Revisionsverfahren fortgesetzt.<br />
Die form- und fristgerechte Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde gilt als Einlegung der<br />
Revision, die dann mit der Zwei-Monats-Frist des § 74 Abs. 1 S. 1 ArbGG zu begründen ist. Die Begründungsfrist<br />
beginnt mit Zustellung der Stattgabeentscheidung, § 72a Abs. 6 ArbGG. Hat jedoch das LAG den<br />
Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt, kann<br />
das BAG gem. § 72a Abs. 7 ArbGG abweichend von Vorstehendem in dem der Beschwerde stattgebenden<br />
Beschluss das angefochtene Urteil aufheben und den Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung<br />
an das LAG zurückverweisen, wie dies hier geschehen ist.<br />
2. PKH-Antrag des Rechtsmittelgegners vor Einreichung der Rechtsmittelbegründung<br />
Gegenstand des Beschlusses des BAG vom 23.4.<strong>2018</strong> (9 AZB 5/18, NJW <strong>2018</strong>, <strong>24</strong>33 = NZA <strong>2018</strong>, 1021,<br />
hierzu FISCHER ArbRAktuell <strong>2018</strong>, 381) ist eine Lohnzahlungsklage des Arbeitnehmers, die beim ArbG<br />
Erfolg hatte. Die Beklagte hat am 11.7.2016 fristgerecht Berufung beim LAG eingelegt. Nach Zustellung<br />
der Berufungsschrift an den erstinstanzlichen Prozessbevollmächtigten des Klägers hat dieser sich mit<br />
einem am 22.7.2016 beim LAG eingegangenen Schriftsatz bestellt und beantragt, dem Kläger für die<br />
Berufungsinstanz Prozesskostenhilfe (PKH) unter seiner Beiordnung zu bewilligen. Die Beklagte hat die<br />
Berufung auch innerhalb der verlängerten Frist zur Berufungsbegründung nicht begründet. Das LAG<br />
verwarf die Berufung als unzulässig und hat dem Kläger die Bewilligung von PKH zur Verteidigung<br />
gegen die Berufung versagt. Die zugelassene Rechtsbeschwerde blieb erfolglos.<br />
Nach Auffassung des BAG war dem Kläger die begehrte PKH zu versagen, weil die beabsichtigte<br />
Rechtsverteidigung mutwillig war, § 114 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 ZPO. Nach Auffassung des Gerichts kann<br />
einem in der Vorinstanz anwaltlich vertretenen Rechtsmittelgegner im Allgemeinen PKH erst gewährt<br />
werden, wenn das Rechtsmittel begründet worden ist und die Voraussetzung einer Verwerfung des<br />
Rechtsmittels nicht gegeben ist. Dies wird dem in § 114 Abs. 1 S. 1 ZPO zum Ausdruck gekommenen<br />
Grundsatz entnommen, dass PKH nur in Anspruch genommen werden kann, soweit dies für eine<br />
zweckentsprechende Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendig ist. Bis zur Einreichung<br />
der Rechtsmittelbegründung bedarf der Rechtsmittelgegner i.d.R. noch keines anwaltlichen Beistands,<br />
weil eine ihm nachteilige Entscheidung in der Sache nicht ergehen kann. Dieser Beurteilung stehe § 119<br />
Abs. 1 S. 2 ZPO nicht entgegen, wonach bei der Bewilligung von PKH in einem höheren Rechtszug nicht<br />
zu prüfen ist, ob die Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet oder mutwillig erscheint,<br />
wenn der Gegner das Rechtsmittel einlegt. Die ihr innewohnende Vermutungswirkung, dass die<br />
Verteidigung der vorinstanzlichen Entscheidung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht<br />
mutwillig ist, gilt nur für die Verteidigung der angefochtenen Entscheidung als solche und besteht<br />
demgegenüber nicht dafür, dass die Hinzuziehung eines Anwalts in jeder Lage des Rechtsmittelverfahrens<br />
nicht mutwillig ist. Nicht einschlägig ist, so das BAG, die BGH-Rechtsprechung zur<br />
Kostenfestsetzung. Danach ist die Beauftragung eines Anwalts i.S.v. § 91 Abs. 1 S. 1 ZPO notwendig,<br />
wenn eine verständige Prozesspartei ebenfalls einen Anwalt beauftragen würde. Dies bedeutet<br />
regelmäßig, dass der Rechtsmittelgegner einen Prozessbevollmächtigten bereits dann einschalten darf,<br />
wenn ein Rechtsmittel eingelegt ist. Das BAG schließt sich der Judikatur des BGH an, wonach diese<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong> 1315
Fach 17 R, Seite 942<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />
Arbeitsrecht<br />
Grundsätze sich nicht auf die Bewilligung von PKH übertragen lassen. Auch verfassungsrechtliche<br />
Gründe, hergeleitet aus dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG), dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20<br />
Abs. 3 GG) und dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) und der hierzu ergangenen<br />
Rechtsprechung des BVerfG (s. etwa NJW 2010, 987) sollen nicht für eine Bewilligung von PKH im<br />
vorliegenden Fall streiten, wie das BAG im Einzelnen in seiner Entscheidung darlegt (BAG a.a.O. Rn 7).<br />
3. Anhörung der beweisbelasteten Partei: Beweisführung/freie Beweiswürdigung<br />
Anders als die Parteivernehmung (§§ 445 ff. ZPO) ist die Anhörung der Parteien nach § 141 Abs. 1 ZPO<br />
(s. auch § 51 ArbGG) kein Beweismittel (vgl. bereits BAG, Urt. v. 25.7.1963 – 2 AZR 510/62 Rn 17 f., NJW<br />
1963, 2340). Wenn § 286 Abs. 1 ZPO – die Vorschrift gilt sowohl im Urteilsverfahren als auch im<br />
Beschlussverfahren vor den ArbG entsprechend, §§ 46 Abs. 2, 80 Abs. 2 ArbGG i.V.m. § 495 ZPO –<br />
anordnet, dass das Gericht nach freier Beweiswürdigung zu entscheiden habe und dass deren<br />
Grundlage der gesamte Inhalt der Verhandlung ist, so bedeutet dies, dass sich der Tatrichter allein<br />
aufgrund des Parteivortrags und ohne Beweiserhebung eine Überzeugung bilden kann. An diesem<br />
Grundsatz hat der BGH durch Beschl. v. 27.9.2017 (XII ZR 48/17, MDR <strong>2018</strong>, 172; NASSAL jurisPR-BGHZivilR<br />
5/<strong>2018</strong>, Anm. 3; PRÜTTING JM <strong>2018</strong>, 323) festgehalten (s. bereits BGH v. 7.2.2006 – VI ZR 20/05, NJW-RR<br />
2006, 672). Die Entscheidung hat nach Vorstehendem ebenso Bedeutung für das arbeitsgerichtliche<br />
Verfahren (zur Prüfung der Parteivernehmung nach § 448 ZPO von Amts wegen: BAG, Urt. v. <strong>24</strong>.4.1980<br />
– 2 AZR 521/78; zu § 286 ZPO: BAG, Urt. v. 14.11.2013 – 8 AZR 813/12, NJW 2014, 1326).<br />
Im konkreten Fall hat die Klägerin auf Rückzahlung eines darlehensweise gegebenen Geldbetrags<br />
geklagt. Die Beklagten bestritten den Anspruch und legten im Rahmen einer Anhörung nach § 141 Abs. 1<br />
ZPO „detailreich und frei von Widersprüchen“ (so die Würdigung durch das LG) die Rückgabe des Geldes dar.<br />
Für diese rechtsvernichtende Einwendung trugen sie die Beweislast. Das OLG hat die klageabweisende<br />
Entscheidung des LG aufgehoben, weil es die Anhörung der Beklagten in erster Instanz nur als eine<br />
informatorische Anhörung und nicht als Beweismittel ansah.<br />
Die Revision der Beklagten war im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung erfolgreich. Aus dem<br />
oben dargelegten Grundsatz der freien Beweiswürdigung folgert der BGH, dass der Tatrichter im<br />
Rahmen seiner Würdigung des Verhandlungsergebnisses den Angaben einer Partei im Einzelfall auch<br />
dann Glauben schenken kann und darf, wenn diese ihre Richtigkeit nicht durch eines der formellen<br />
Beweismittel – auch nicht mittels Parteivernehmung nach § 448 ZPO, weil es an der erforderlichen<br />
Anfangswahrscheinlichkeit fehlt – beweisen kann. Dies gilt nach den Ausführungen des BGH selbst<br />
dann, wenn die Gegenseite für die Richtigkeit der gegenteiligen Behauptungen den Zeugenbeweis<br />
führen kann. Ferner hat der BGH entschieden, dass dann, wenn die erste Instanz ihre freie Überzeugung<br />
nach § 286 ZPO auf eine Parteianhörung gestützt hat, das Berufungsgericht sich im Rahmen seiner<br />
Überzeugungsbildung mit dem Ergebnis dieser Anhörung auseinandersetzen und diese nach § 141 ZPO<br />
ggf. selbst durchführen muss, wenn es ihr nicht folgen will.<br />
Hinweise:<br />
• Was soll eine Partei tun, wenn sie auf Erfüllung verklagt wird, obwohl sie die Leistung bereits erbracht<br />
hat, sie aber keine Zeugen, keine Urkunde und kein sonstiges Beweismittel hat? Sie kann zweierlei<br />
versuchen: (1) Im Rahmen der Parteivernehmung (§§ 445 ff. ZPO) den Sachverhalt dem Gericht vorzutragen<br />
– Beweismittel ist dann aber die Vernehmung des Gegners gem. § 445 Abs. 1 ZPO. (2)<br />
Schriftsätzlichen Vortrag und das persönliche Erscheinen vor Gericht, um die eigene Darstellung als<br />
Parteianhörung (vgl. § 141 Abs. 1 ZPO) einzubringen.<br />
• Die Vernehmung der Partei selbst kann nur das Gericht veranlassen (vgl. §§ 447, 448 ZPO), wenn „ein<br />
Anbewiesen sein“ –eine gewisse Anfangswahrscheinlichkeit vorliegt oder eine sog. Vieraugensituation<br />
gegeben ist.<br />
• Verneint das Gericht die Anfangswahrscheinlichkeit muss dies den Anforderungen des § 286 ZPO<br />
entsprechend begründet werden. Das gilt in jeder Instanz.<br />
1316 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong>
Gebührenrecht Fach <strong>24</strong>, Seite 1659<br />
Gebührentipps<br />
Anwaltsgebühren<br />
Gebührentipps für Rechtsanwälte (III/<strong>2018</strong>)<br />
Von VorsRiLG a.D. HEINZ HANSENS, Berlin<br />
Inhalt<br />
I. Neues zur Aktenversendungspauschale<br />
1. Gesetzliche Regelung<br />
2. Abgeltungsbereich der Pauschale<br />
3. Begriff der Aktenversendung<br />
4. Versendung mehrerer Akten<br />
5. Kostenschuldner<br />
II. Unbekannter Aufenthalt des Antragsgegners<br />
im Vergütungsfestsetzungsverfahren<br />
1. Gesetzliche Regelung<br />
2. Durchführung der Anhörung<br />
3. Keine Beibringungspflicht des Antragstellers<br />
4. Praktische Auswirkungen<br />
III. Einigungsgebühr bei Teilklagerücknahme<br />
und Teilanerkenntnis<br />
1. Gesetzliche Regelung<br />
2. Form der Einigung<br />
3. Darlegung im Kostenfestsetzungsverfahren<br />
IV. Verjährung der PKH-Anwaltsvergütung<br />
1. Fall des Bayerischen LSG<br />
2. Verjährung des Vergütungsanspruchs<br />
3. Rechtsfolgen der Verjährung<br />
4. Auch Restanspruch verjährt<br />
5. Richtige Verfahrensweise des Gerichts<br />
V. Dokumentenpauschale für das Einscannen<br />
von Dokumenten<br />
1. Rechtslage bis 31.7.2013<br />
2. Rechtslage ab 1.8.2013<br />
3. Kritik an der Neuregelung<br />
4. Praktische Auswirkungen<br />
I. Neues zur Aktenversendungspauschale<br />
Die Aktenversendungspauschale nach Nr. 9003 GKG KV oder Nr. 2003 FamGKG KV stellt zwar nur einen<br />
verhältnismäßig geringen Auslagenbetrag dar; jedoch fällt diese Pauschale in vielen Gerichtsverfahren<br />
an. Gleichwohl wenden die Gerichte den Auslagentatbestand nicht immer richtig an.<br />
1. Gesetzliche Regelung<br />
Nach Nr. 9003 GKG KV und Nr. 2003 FamGKG KV fällt für die bei der Versendung von Akten auf Antrag<br />
anfallenden Auslagen an Transport- und Verpackungskosten je Sendung eine Pauschale i.H.v. 12 € an.<br />
Hinweise:<br />
• Dabei gilt nach der jeweiligen Anmerkung zu dieser Vorschrift die Hin- und Rücksendung der Akten<br />
durch Gerichte zusammen als eine einzige Sendung.<br />
• Nach § 28 Abs. 2 GKG, § 23 Abs. 2 FamGKG schuldet die Aktenversendungspauschale nur derjenige, der<br />
die Versendung der Akte beantragt hat.<br />
Die Aktenversendungspauschale gehört zu den gerichtlichen Auslagen. Dies ergibt sich bereits aus der<br />
Einordnung der gesetzlichen Vorschrift in den die Auslagen betreffenden Teil 9 GKG KV und Teil 2 FamGKG<br />
KV. Somit fällt die Aktenversendungspauschale auch dann an, wenn das gerichtliche Verfahren, in dem<br />
die Aktenversendung erfolgt, gebührenfrei ist, wie es gem. § 66 Abs. 8 S. 1 GKG für das Verfahren über die<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong> 1317
Fach <strong>24</strong>, Seite 1660<br />
Gebührentipps<br />
Gebührenrecht<br />
Erinnerung gegen den Gerichtskostenansatz gilt (s. Bay. LSG RVGreport <strong>2018</strong>, 396 [HANSENS]). Die Gerichtsgebührenfreiheit<br />
schließt nämlich nicht aus, dass in dem betreffenden Verfahren gerichtliche<br />
Auslagen entstehen, zu denen auch die Aktenversendungspauschale gehört.<br />
2. Abgeltungsbereich der Pauschale<br />
Die Aktenversendungspauschale deckt ihrem Wortlaut nach nur die Auslagen für Transport- und<br />
Verpackungskosten des Gerichts ab. Demgegenüber lösen gerichtsinterne Kosten, wie etwa der<br />
personelle Aufwand für das Heraussuchen der Akten und deren Versandfertigmachung, die Aktenversendungspauschale<br />
nicht aus (Bay. LSG RVGreport <strong>2018</strong>, 396 [HANSENS.]).<br />
3. Begriff der Aktenversendung<br />
Unter dem Begriff der Sendung versteht der allgemeine Sprachgebrauch die Lieferung der in einer mit<br />
der Anschrift des Empfängers versehenen Transportverpackung enthaltenen Gegenstände durch die<br />
Post oder einen anderen Transportdienstleister. Folglich ist es für den Anfall der Aktenversendungspauschale<br />
unerheblich, ob der Briefumschlag des Gerichts oder das von ihm versandte Paket eine oder<br />
mehrere Akten enthalten oder ob mehrere Akten zum gleichen Verfahren gehören (Bay. LSG a.a.O.).<br />
Der Begriff der Versendung bedeutet, dass die Akten tatsächlich an einen anderen Ort geschickt werden<br />
müssen (VOLPERT, in: BURHOFF/VOLPERT, RVG Straf- und Bußgeldsachen, 5. Aufl., Teil A: „Gerichtskosten“<br />
Rn 1115 ff.). Unter diesem „Ort“ ist jedoch nicht die Gemeinde zu verstehen, in der das die Akten führende<br />
Gericht seinen Sitz hat. Vielmehr liegt eine die Aktenversendungspauschale auslösende Versendung schon<br />
dann vor, wenn die Akten das Gerichtsgebäude verlassen und an einen außerhalb des Gerichtsgebäudes<br />
liegenden Ort zum Adressaten gebracht werden (OLG Koblenz RVGreport 2013, 328 [HANSENS] = zfs 2013,<br />
465 m. Anm. HANSENS = AGS 2014, 23; OLG Köln RVGreport 2015, 197 [BURHOFF] = AGS 2014, 513; OLG Celle<br />
AGS 2016, 2<strong>24</strong>; HOWER NJW 2013, 2077).<br />
Beispiel:<br />
Der in Köln kanzleiansässige Verteidiger beantragt bei dem AG Köln, ihm die dort geführten Strafakten in sein Büro<br />
zu übersenden.<br />
Auch die Aktenversendung innerhalb der Stadt Köln löst die Aktenversendungspauschale nach Nr. 9003<br />
GKG KV aus (so AG Köln RVGreport <strong>2018</strong>, 347 [BURHOFF]). Mit der Versendung haben nämlich die Akten das<br />
Gerichtsgebäude verlassen und sind an die Büroanschrift des Verteidigers versendet worden. Das AG Köln<br />
hat im Übrigen die somit angefallene Aktenversendungspauschale auch als erstattungsfähig angesehen.<br />
Dies hat das AG damit begründet, einem ortsansässigen Rechtsanwalt sei nicht zumutbar, das die Akten<br />
führende Gericht für jede Akteneinsicht persönlich aufzusuchen. Es wäre auch nicht für den Verteidiger<br />
kostengünstiger gewesen, die Akte auf der Geschäftsstelle einzusehen oder einen Boten zu schicken. Als<br />
weitere Begründung hat das AG Köln angeführt, es würde zu einer Ungleichbehandlung gegenüber einem<br />
nicht am Gerichtsort kanzleiansässigen Rechtsanwalt führen, wenn man die Erstattung der Aktenversendungspauschale<br />
bei einem ortsansässigen Anwalt verneinen würde.<br />
4. Versendung mehrerer Akten<br />
Schwierigkeiten haben die Gerichte bei der Berechnung der Aktenversendungspauschale häufig dann,<br />
wenn mehrere Akten versendet werden. Dabei sind folgende Sachverhalte zu unterscheiden.<br />
a) In einer Sendung<br />
Erhält derselbe Kostenschuldner von derselben Versendestelle – etwa von demselben Gericht – mehrere<br />
Akten in einer Sendung, fällt die Aktenversendungspauschale nach Nr. 9003 GKG KV nur einmal an.<br />
Hinweis:<br />
Dies gilt unabhängig davon, ob die mehreren Akten dasselbe Gerichtsverfahren betreffen oder – wie im Fall<br />
des Bay. LSG (RVGreport <strong>2018</strong>, 396 [HANSENS]) – verschiedene Verfahren (BSG RVGreport 2015, 356 [HANSENS]<br />
= zfs 2015, 461 m. Anm. HANSENS = AGS 2015, 398; NK-GK/VOLPERT, 2.Aufl. 2017, Nr. 9003 GKG KV Rn 13).<br />
1318 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong>
Gebührenrecht Fach <strong>24</strong>, Seite 1661<br />
Gebührentipps<br />
Nur wenn der Antragsteller ausdrücklich die Übersendung einzelner Aktenteile eines Verfahrens in<br />
gesonderten Teilsendungen beantragt, werden hierdurch mehrere „Sendungen“ veranlasst, so dass die<br />
Pauschale dann mehrfach anfällt (BSG a.a.O.). Wenn jedoch ein entsprechender Antrag auf<br />
Teillieferungen nicht vorliegt, so hängt es nicht von der Handhabung der Geschäftsstelle oder der<br />
Poststelle des Gerichts ab, ob im Einzelfall die Aktenversendungspauschale nur einmal oder mehrfach zu<br />
zahlen ist. Im Fall des BSG (a.a.O.) lagen Bestandteile der angeforderten Akten erst später vor, so dass<br />
das Gericht nacheinander zwei Sendungen gefertigt hatte. In diesem Fall hat das Gericht – so das BSG<br />
(a.a.O.) – die Übersendung erst nach Vorliegen aller angeforderten Akten zu veranlassen, so dass die<br />
Aktenversendungspauschale dann auch nur einmal anfällt.<br />
b) Folgen nicht beantragter Teillieferungen<br />
Beantragt der Antragsteller in einem Gerichtsverfahren die Übersendung sämtlicher Akten und Nebenakten<br />
und übersendet das Gericht diese in mehreren Teillieferungen (so der Fall des BSG a.a.O.) liegt eine<br />
unrichtige Sachbehandlung i.S.v. § 21 GKG bzw. § 20 FamGKG vor. Der Antragsteller ist danach so zu stellen,<br />
als wäre seinem Übersendungsersuchen nur mit einer einzigen Sendung nachgekommen worden. Es kann<br />
dann auch nur eine einzige Aktenversendungspauschale berechnet werden. Die für die weiteren Teillieferungen<br />
entstandenen weiteren Pauschalen bleiben dann wegen unrichtiger Sachbehandlung unerhoben.<br />
c) Übersendung in mehreren Paketen<br />
Sind die auf Antrag des Antragstellers zu übersendenden Gerichtsakten so zahlreich, dass sie weder vom<br />
Gewicht noch von ihrem Umfang in einem einzigen Paket übersendet werden können, so liegt<br />
gleichwohl nur eine Sendung i.S.v. Nr. 9003 GKG KV bzw. Nr. 2003 FamGKG KV vor. Auf die Anzahl der<br />
Pakete kommt es nämlich nicht an. Ebenso wenig ist entscheidend, ob die tatsächlichen Auslagen des<br />
Gerichts für die Transport- und Verpackungskosten durch die dann nur einmalig anzusetzende<br />
Aktenversendungspauschale i.H.v. 12 € abgegolten werden. Es handelt sich nämlich um eine Pauschale,<br />
die von der tatsächlich angefallenen Höhe der Transport- und Verpackungskosten unabhängig ist.<br />
d) Mehrere versendete Akten betreffen verschiedene Verfahren<br />
Beantragt der Rechtsanwalt, ihm in einer Sendung die Akten mehrerer – parallel geführter – Gerichtsverfahren<br />
zu übersenden, fällt auch in diesem Fall die Aktenversendungspauschale nur einmal an. Der<br />
Auslagenbetrag i.H.v. 12 € ist dann nach Vorbem. 9 Abs. 2 GKG KV bzw. Vorbem. 2 Abs. 2 FamGKG KV auf<br />
die mehreren Rechtssachen angemessen zu verteilen (Bay. LSG, RVGreport <strong>2018</strong>, 396 [HANSENS]: Bei<br />
Versendung von Akten dreier Verfahren für jedes Verfahren 4 €).<br />
5. Kostenschuldner<br />
Jedenfalls seit der Entscheidung des BGH (RVGreport 2011, 215 [HANSENS] = zfs 2011, 402 m. Anm. HANSENS =<br />
AnwBl. 2011, 583; ebenso Bay. VGH RVGreport 2007, 399 [HANSENS] = AGS 2007, 539; OVG Hamburg RVGreport<br />
2006, 318 [HANSENS]; Bay. LSG, a.a.O.; LG Düsseldorf RVGreport <strong>2018</strong>, 270 [HANSENS] = AGS <strong>2018</strong>, 274) entspricht<br />
es allgemeiner Auffassung in der Rechtsprechung, dass Schuldner der Aktenversendungspauschale nur der<br />
Prozess- oder Verfahrensbevollmächtigte, nicht aber sein Mandant ist. Nur der Rechtsanwalt selbst hat<br />
nämlich einen Anspruch darauf, dass ihm die Akten in seine Kanzlei übersandt werden. Dies hat zur Folge, dass<br />
es sich bei der von dem Rechtsanwalt persönlich geschuldeten Aktenversendungspauschale nicht um einen<br />
durchlaufenden Posten i.S.v. § 10 Abs. 6 UStG handelt, sondern die Pauschale nach § 10 Abs. 1 UStG der<br />
Umsatzsteuerpflicht unterliegt. Dies wird von den Gerichten nicht immer beachtet.<br />
II. Unbekannter Aufenthalt des Antragsgegners im Vergütungsfestsetzungsverfahren<br />
Das Vergütungsfestsetzungsverfahren gem. § 11 RVG ist ein verhältnismäßig schnelles, einfaches und<br />
kostengünstiges Verfahren, das es dem Rechtsanwalt ermöglicht, seinen Vergütungsanspruch gegenüber<br />
dem Auftraggeber zu titulieren. Dabei können im Zusammenhang mit der Anhörung des Antragsgegners<br />
– das ist in den allermeisten Fällen der Auftraggeber des Rechtsanwalts – praktische Probleme entstehen.<br />
1. Gesetzliche Regelung<br />
Gemäß § 11 Abs. 1 S. 1 RVG wird die dort näher beschriebene gesetzliche Vergütung des Rechtsanwalts<br />
auf Antrag des Anwalts oder des Auftraggebers durch das Gericht des ersten Rechtszugs festgesetzt.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong> 1319
Fach <strong>24</strong>, Seite 1662<br />
Gebührentipps<br />
Gebührenrecht<br />
Gemäß § 11 Abs. 2 S. 2 RVG sind die Beteiligten zu hören. Diese Anhörung ist Ausdruck der verfassungsrechtlichen<br />
Garantie des Art. 103 Abs. 1 GG auf Gewährung rechtlichen Gehörs.<br />
Hinweis:<br />
Sie betrifft in der Praxis allein den Antragsgegner, da ja der Antragsteller seinen eigenen Vergütungsfestsetzungsantrag<br />
kennt. Nur wenn der Antragsgegner Einwendungen erhebt, ist hierzu im Regelfall der<br />
Antragsteller zu hören.<br />
2. Durchführung der Anhörung<br />
Die Regelung in § 11 Abs. 2 S. 2 RVG ist hinsichtlich der Form der Anhörung neutral. Deshalb kann die<br />
Anhörung in der Praxis auf unterschiedliche Weise erfolgen.<br />
a) Grundsätzlich formlose Anhörung<br />
Im Regelfall reicht eine formlose Anhörung aus (HANSENS, in: HANSENS/N. SCHNEIDER, Formularbuch Anwaltsvergütung<br />
im Zivilrecht, Teil 3 Rn 82; AnwK-RVG/N. SCHNEIDER, RVG, 8. Aufl. 2017, § 11 Rn 176). Somit ist die<br />
Zustellung des Festsetzungsantrags nicht vorgeschrieben, sie ist jedoch in Zweifelsfällen vorzunehmen<br />
(AnwK-RVG/N. SCHNEIDER, a.a.O., § 11 Rn 176; VON EICKEN/DÖRNDORFER, Die Kostenfestsetzung, 23. Aufl. <strong>2018</strong>,<br />
I Rn 1<strong>24</strong> [die hierfür herangezogene Entscheidung des BVerfG NJW 2006, 2<strong>24</strong>8 = FamRZ 2006, 763 betrifft<br />
allerdings die Zustellung im Klageverfahren nach § 495a ZPO]). Wird der Vergütungsfestsetzungsantrag<br />
dem Antragsgegner lediglich mit einfachem Brief übersandt, ist es nämlich unsicher, ob das gerichtliche<br />
Schreiben den Antragsgegner überhaupt erreicht hat und ihm damit das rechtliche Gehör ausreichend<br />
gewährt wurde (OLG Frankfurt JurBüro 1983, 1517).<br />
b) Förmliche Zustellung<br />
Die Frage, ob die Übersendung des Anhörungsschreibens mit einfachem Brief genügt oder eine förmliche<br />
Zustellung erforderlich ist, hat der mit dem Vergütungsfestsetzungsverfahren befasste Urkundsbeamte<br />
der Geschäftsstelle (UdG) oder Rechtspfleger nach eigenem Ermessen zu entscheiden. Ist der Antragsgegner<br />
lediglich mit einfachem Brief angehört worden und kann unter dieser Anschrift der dann<br />
ergehende Vergütungsfestsetzungsbeschluss nicht zugestellt werden, so ist meist zu vermuten, dass das<br />
Anhörungsschreiben den Antragsgegner nicht erreicht hat. In einem solchen Fall muss deshalb zuvor die<br />
Anhörung – ggf. durch öffentliche Zustellung – wiederholt werden. Erst nach Ablauf der eingeräumten<br />
Stellungnahmefrist kann dann der Vergütungsfestsetzungsbeschluss zugestellt werden.<br />
Dass eine förmliche Zustellung der Anhörung erforderlich ist, kann sich auch aus der Art des gerichtlichen<br />
Verfahrens, für das die Vergütung festgesetzt werden soll, ergeben. Insbesondere in asylrechtlichen<br />
Verfahren ändert sich die Anschrift des jeweiligen Klägers/Antragstellers recht häufig. Deshalb kann sich<br />
das Gericht nicht sicher sein, dass die in diesem Verfahren mitgeteilte Anschrift des späteren<br />
Antragsgegners auch noch in dem nachfolgenden Vergütungsfestsetzungsverfahren zutrifft. Auch ein<br />
großer zeitlicher Abstand zwischen der Beendigung des Ausgangsverfahrens und dem dann betriebenen<br />
Vergütungsfestsetzungsverfahren kann die Annahme rechtfertigen, die in den Akten vermerkte Anschrift<br />
des Antragsgegners sei nicht mehr aktuell. In einem solchen Fall muss sich der mit dem Vergütungsfestsetzungsantrag<br />
befasste Rechtspfleger oder UdG der Geschäftsstelle des Zugangs des Anhörungsschreibens<br />
versichern. Dabei bietet nur ein Nachweis der Zustellung verlässlich Auskunft. Somit muss das<br />
Gericht über eine Anschrift verfügen, an der dem jeweiligen Antragsgegner das Anhörungsschreiben<br />
übergeben (§ 177 ZPO) oder im Wege der Ersatzzustellung zugestellt werden kann (§§ 178, 180, 181 ZPO).<br />
c) Öffentliche Zustellung<br />
Ist die Anschrift des Antragsgegners unbekannt oder kann sie nicht ermittelt werden, hat die Anhörung<br />
des Antragsgegners im Wege der öffentlichen Zustellung zu erfolgen (OLG Hamburg JurBüro 1976, 60;<br />
LG Berlin NJW 1959, 1374; VG Hannover RVGreport <strong>2018</strong>, 410 [HANSENS]; GEROLD/SCHMIDT/MÜLLER-RABE, RVG,<br />
23. Aufl., § 11 Rn 223; BISCHOF/JUNGBAUER, RVG, 8. Aufl. <strong>2018</strong>, § 11 Rn 42; AnwK-RVG/N. SCHNEIDER, a.a.O., § 11<br />
Rn 176; a.A. LG Bielefeld NJW 1960, 1817; 1961, 148).<br />
1320 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong>
Gebührenrecht Fach <strong>24</strong>, Seite 1663<br />
Gebührentipps<br />
3. Keine Beibringungspflicht des Antragstellers<br />
In der Praxis stellt sich immer wieder die Frage, ob im Vergütungsfestsetzungsverfahren der Antragsteller<br />
– im Regelfall also der Rechtsanwalt – dem Gericht auch die aktuelle Anschrift des Antragsgegners<br />
mitteilen muss und ob er dann, wenn sich diese Anschrift als nicht mehr zutreffend erweist,<br />
hinsichtlich der aktuellen Anschrift eigene Ermittlungen anstellen muss. In der Praxis wird der den<br />
Vergütungsfestsetzungsantrag stellende Rechtsanwalt dem Gericht im eigenen Interesse die Anschrift<br />
mitteilen, die ihm selbst bekannt ist. Ist diese Anschrift jedoch nicht (mehr) zutreffend, stellt sich die<br />
Frage, ob der Rechtsanwalt die neue Anschrift des Antragsgegners selbst ermitteln muss.<br />
a) Beibringungsgrundsatz<br />
Bei dem Vergütungsfestsetzungsverfahren gem. § 11 RVG handelt es sich um ein Verfahren, das auf<br />
Betreiben des Antragstellers durchgeführt wird. Deshalb unterliegt dieses Verfahren dem Beibringungsgrundsatz.<br />
Nach diesem Grundsatz hat der Antragsteller die Tatsachen vorzutragen, aus denen er<br />
seinen Anspruch auf Vergütung herleitet. Dabei hat der Antragsteller auch glaubhaft zu machen, dass<br />
die geltend gemachten Gebühren und Auslagen angefallen sind. Dieser Beibringungsgrundsatz betrifft<br />
somit die anspruchsbegründenden Tatsachen. Zu diesen anspruchsbegründenden Tatsachen gehört<br />
jedoch nicht die aktuelle Anschrift des Antragsgegners (VG Hannover RVGreport <strong>2018</strong>, 410 [HANSENS]).<br />
b) Ermittlungspflicht des Gerichts<br />
Da die in § 11 Abs. 2 S. 2 RVG geregelte Anhörung des Antragsgegners Ausdruck der verfassungsrechtlichen<br />
Garantie des Art. 103 Abs. 1 GG auf rechtliches Gehör ist, obliegt die Anhörung dem Gericht. Somit hat das<br />
Gericht eine eigene Verpflichtung, die aktuelle Anschrift des Antragsgegners zu ermitteln (VG Hannover<br />
a.a.O.; OLG Hamburg MDR 1976, 3<strong>24</strong>; LG Braunschweig Rpfleger 2012, 568 für die Zustellung im Zwangsversteigerungsverfahren).<br />
Dieser prozessualen Pflicht kann das mit dem Vergütungsfestsetzungsverfahren<br />
befasste Gericht nur genügen, wenn es die aktuelle Anschrift, unter der der Antragsgegner erreichbar ist,<br />
durch Einholung von Auskünften bei Behörden oder Privatpersonen oder durch Einsichtnahme in Register<br />
ermittelt oder zumindest entsprechende Ermittlungsversuche anstellt. Diese prozessuale Verpflichtung des<br />
Gerichts kann nach der zutreffenden Auffassung des VG Hannover (a.a.O.) nicht auf den Antragsteller<br />
verlagert werden. Denn das Gericht hat im Vergütungsfestsetzungsverfahren dem Antragsgegner die<br />
Möglichkeit zu einer vorherigen Stellungnahme auch dann offenzuhalten, wenn der Antragsteller die<br />
Anschrift des Antragsgegners nicht kennt (OLG Hamburg MDR 1976, 3<strong>24</strong>).<br />
4. Praktische Auswirkungen<br />
Kann der den Vergütungsfestsetzungsantrag stellende Rechtsanwalt die aktuelle Anschrift des Antragsgegners<br />
nicht mitteilen oder erweist sich die von ihm mitgeteilte Anschrift als unzutreffend, so hat das Gericht<br />
eigene Ermittlungen zu einer aktuellen Anschrift des Antragsgegners anzustellen, unter der ihm ein Anhörungsschreiben<br />
übermittelt werden kann. Dies schließt zwar nicht aus, dass das Gericht den Antragsteller dazu<br />
befragt, ob ihm etwa eine neuere Anschrift des Antragsgegners bekannt ist oder ob er Anhaltspunkte dafür<br />
hat, unter welcher Anschrift der Antragsgegner postalisch möglicherweise zu erreichen ist. Der Antragsteller<br />
ist jedoch nicht verpflichtet, eigene Ermittlungen hinsichtlich der Anschrift des Antragsgegners anzustellen.<br />
Somit hat das Gericht beispielsweise – ausgehend von der letzten bekannten Adresse des Antragsgegners<br />
– eine Auskunft aus dem Einwohnermelderegister einzuholen oder ggf. aus den Gerichtsakten<br />
bekannte Angehörige des Antragsgegners um Mitteilung der aktuellen Anschrift zu bitten. Haben diese<br />
Ermittlungen des Gerichts keinen Erfolg, so hat das Gericht unter den Voraussetzungen des § 185 ZPO<br />
das Anhörungsschreiben dem Antragsgegner öffentlich zuzustellen. Nach dem auf diese Weise<br />
fingierten Zugang des Anhörungsschreibens durch öffentliche Zustellung hat der Rechtspfleger/UdG<br />
den Vergütungsfestsetzungsbeschluss dem Antragsgegner ebenfalls öffentlich zuzustellen.<br />
Hinweis:<br />
In manchen Fällen hat der Antragsgegner einen neuen Prozess- bzw. Verfahrensbevollmächtigten. Dies kann<br />
insbesondere dann gegeben sein, wenn sich der Auftrag des – das Vergütungsfestsetzungsverfahren betreibenden<br />
– Rechtsanwalts durch Kündigung erledigt hat, bevor das entsprechende Gerichtsverfahren beendet ist<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong> 1321
Fach <strong>24</strong>, Seite 1664<br />
Gebührentipps<br />
Gebührenrecht<br />
und der Auftraggeber einen neuen Prozess- oder Verfahrensbevollmächtigten bestellt hat. In einem solchen Fall<br />
kommt eine Zustellung der Anhörung und später auch des Vergütungsfestsetzungsbeschlusses an diesen neuen<br />
Rechtsanwalt allerdings nur dann in Betracht, wenn das Gericht konkrete Anhaltspunkte dafür hat, dass sich die<br />
Prozessvollmacht des neuen Anwalts auch auf das Vergütungsfestsetzungsverfahren erstreckt (s. OLG München<br />
– 11. ZS – JurBüro 1984, 394 m. Anm. MÜMMLER =Rpfleger 1984, 74; a.A. OLG München – 4. FamS – Rpfleger 1980,<br />
158: Zustellung auch an den zweitinstanzlichen Prozessbevollmächtigten möglich).<br />
III. Einigungsgebühr bei Teilklagerücknahme und Teilanerkenntnis<br />
Im Regelfall fällt dem Prozess- oder Verfahrensbevollmächtigten die Einigungsgebühr an, wenn er<br />
an dem Abschluss eines vor Gericht geschlossenen Einigungsvertrags, der vielfach aufgrund eines<br />
gegenseitigen Nachgebens zustande gekommen ist und deshalb auch einen Vergleichsvertrag i.S.v. § 779<br />
Abs. 1 BGB darstellt, mitwirkt. In der Praxis kommen aber auch Fallgestaltungen vor, in denen es nicht so<br />
eindeutig ist, ob ein solcher Einigungsvertrag geschlossen wurde.<br />
1. Gesetzliche Regelung<br />
Nach Absatz 1 Nr. 1 der Anm. zu Nr. 1000 VV RVG entsteht die Einigungsgebühr für die Mitwirkung beim<br />
Abschluss eines Vertrags, durch den der Streit oder die Ungewissheit über ein Rechtsverhältnis beseitigt<br />
wird. Ein für den Vergleich nach § 779 Abs. 1 BGB und für die frühere Vergleichsgebühr nach § 23 Abs. 1<br />
BRAGO erforderliches gegenseitiges Nachgeben der Vertragsparteien setzt die Einigungsgebühr nicht<br />
voraus. Die Einigungsgebühr entsteht nur dann nicht, wenn sich der Vertrag ausschließlich auf ein<br />
Anerkenntnis oder einen Verzicht beschränkt.<br />
2. Form der Einigung<br />
Der Anfall der Einigungsgebühr erfordert somit nicht zwingend den Abschluss eines Vergleichsvertrags<br />
i.S.v. § 779 BGB. Ebenso wenig ist die Protokollierung eines als Vollstreckungstitel tauglichen Vergleichs<br />
nach § 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO notwendig (s. BGH RVGreport 2007, 275 [HANSENS] = zfs 2007, 469 m. Anm.<br />
HANSENS = AGS 2007, 366; Thür. OLG RVGreport 2017, 139 [HANSENS]; OLG Frankfurt RVGreport <strong>2018</strong>, 419<br />
[HANSENS] = JurBüro <strong>2018</strong>, 465). Vielmehr kann der Einigungsvertrag auch stillschweigend geschlossen<br />
werden. Er ist auch nicht formbedürftig. Dabei muss jedoch Folgendes beachtet werden:<br />
a) Abgabe einseitiger Erklärungen<br />
Geben die Prozessbevollmächtigten der Parteien (in der mündlichen Verhandlung) einseitige Erklärungen<br />
ab, führt dies im Regelfall noch nicht zum Anfall einer Einigungsgebühr. Dies gilt insbesondere für den Fall,<br />
dass die Prozessbevollmächtigen ihre jeweiligen Prozesshandlungen unabhängig von der Erklärung der<br />
anderen Partei bzw. ihres Rechtsanwalts vorgenommen haben. Regelbeispiel hierfür sind die Erklärungen<br />
im Zusammenhang mit der Hauptsacheerledigung. Die Abgabe der – auch übereinstimmenden –<br />
Erklärungen der Prozessbevollmächtigten der Parteien, der Rechtsstreit sei in der Hauptsache erledigt, löst<br />
deshalb für sich genommen noch keine Einigungsgebühr aus (s. OLG Köln RVGreport 2015, 370 [HANSENS];<br />
OLG Hamm AGS 2014, 166; SG Frankfurt RVGreport 2013, 469 [HANSENS).<br />
b) Einigungsvertrag<br />
Demgegenüber kann eine Einigungsgebühr dann entstehen, wenn den Prozesserklärungen der Parteien ein<br />
Einigungsvertrag zugrunde liegt (s. OLG Köln RVGreport 2007, 66 [HANSENS] = JurBüro 2006, 588; Bay. VGH<br />
RVGreport 2008, 385 [HANSENS]; OLG Stuttgart RVGreport 2011, 178 [HANSENS] = AGS 2012, 128). Dies erfordert<br />
somit, dass die Prozessbevollmächtigten der Parteien einen Einigungsvertrag geschlossen haben (s. KG<br />
RVGreport 2005, 4<strong>24</strong> [HANSENS]).<br />
c) Teilanerkenntnis und Teilklagerücknahme<br />
Unter Beachtung dieser Ausführungen kann die Einigungsgebühr auch dann anfallen, wenn die Klage teilweise<br />
anerkannt und zum anderen Teil zurückgenommen wurde. Dies setzt voraus, dass diese Art der Verfahrenserledigung<br />
zwischen den Parteien vereinbart worden ist und es sich deshalb nicht um die Vornahme von<br />
Prozesshandlungen unabhängig von der Erklärung der anderen Partei handelt (s. OLG Stuttgart RVGreport<br />
2011, 178 [HANSENS] = AGS 2012, 128: OLG Frankfurt RVGreport <strong>2018</strong>, 419 [HANSENS] = JurBüro <strong>2018</strong>, 465).<br />
1322 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong>
Gebührenrecht Fach <strong>24</strong>, Seite 1665<br />
Gebührentipps<br />
3. Darlegung im Kostenfestsetzungsverfahren<br />
Nur kurze Zeit nach Inkrafttreten des RVG hatte der BGH die Auffassung vertreten, für die Festsetzung<br />
der Einigungsgebühr nach Nr. 1000 VV RVG sei der Abschluss eines Vergleichs i.S.v. § 779 BGB und die<br />
Protokollierung eines als Vollstreckungstitel tauglichen Vergleichs nach § 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO<br />
erforderlich (BGH RVGreport 2006, 234 [HANSENS] = AGS 2006, 403 m. Anm. N. SCHNEIDER). Kurze Zeit<br />
später hat der BGH seinen Fehler erkannt und festgestellt, dass es für die Festsetzung einer<br />
Einigungsgebühr genüge, wenn glaubhaft gemacht werde, dass die Parteien eine Vereinbarung i.S.v.<br />
Abs. 1 S. 1 der Anm. zu Nr. 1000 VV RVG geschlossen haben. Somit sei die Protokollierung eines als<br />
Vollstreckungstitel tauglichen Vergleichs gem. § 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO nicht erforderlich (so BGH<br />
RVGreport 2007, 275 [HANSENS] = zfs 2007, 469 m. Anm. HANSENS = AGS 2007, 366). Diese – richtige –<br />
Auffassung hat sich in der Praxis und in der Rechtsprechung seitdem durchgesetzt.<br />
Dass einer Verfahrensbeendigung – etwa durch Teilklagerücknahme und Teilanerkenntnis – eine Vereinbarung<br />
der Parteien zugrunde liegt, ist den Gerichtsakten im Regelfall nicht zu entnehmen. Deshalb<br />
muss von der erstattungsberechtigten Partei vorgetragen und vom Gericht festgestellt werden dass die<br />
Erklärungen der Prozessbevollmächtigten ihre Grundlage in einem Einigungsvertrag gehabt haben. Dies<br />
wird in der Praxis jedoch nicht immer beachtet (s. Thür. OLG RVGreport 2017, 139 [HANSENS]; OLG Köln<br />
RVGreport 2016, 463 [HANSENS]). Folglich hat die erstattungsberechtigte Partei den Abschluss eines<br />
entsprechenden Einigungsvertrags im Kostenfestsetzungsverfahren darzulegen und im Streitfall gem. § 104<br />
Abs. 2 S. 1 ZPO glaubhaft zu machen (OLG Frankfurt RVGreport <strong>2018</strong>, 419 [HANSENS] = Jur Büro <strong>2018</strong>, 465).<br />
Praxishinweis (Einigungsvertrag wurde geschlossen):<br />
Haben die Parteien vor Abgabe verfahrensbeendender Erklärungen tatsächlich einen Einigungsvertrag<br />
geschlossen, aber keinen gerichtlichen Vergleich protokollieren lassen, so empfiehlt es sich, in der Sitzungsniederschrift<br />
einen entsprechenden Vermerk über die vertragliche Einigung der Parteien aufnehmen<br />
zu lassen oder einen entsprechenden Schriftsatz mit etwa folgendem Wortlaut einzureichen:<br />
„Die Parteien haben hinsichtlich der Erledigung des Rechtsstreits folgende Vereinbarung geschlossen: Der Kläger<br />
nimmt die Klage hinsichtlich der Klageanträge zu 3 und 4 zurück. Der Beklagte erkennt die Klage im Übrigen an<br />
und übernimmt die gesamten Kosten des Rechtsstreits.“<br />
Dies lässt sich in der Praxis naturgemäß nicht immer verwirklichen. Denn bei solchen Formulierungen<br />
merkt auch der Prozessbevollmächtigte des Beklagten, dass sein Mandant die Erstattung der Einigungsgebühr<br />
nicht wird vermeiden können. Werden hingegen lediglich die verfahrensrechtlichen Erklärungen<br />
abgegeben, so hat der Beklagte noch die Chance, dass der Kläger einen diesen Erklärungen zugrunde<br />
liegenden Einigungsvertrag im Kostenfestsetzungsverfahren nicht darlegen und glaubhaft machen kann.<br />
Praxishinweis (kein Einigungsvertrag geschlossen):<br />
Ist hingegen kein Einungsvertrag geschlossen worden, so sollten die Anwälte auf die Aufnahme eines entsprechenden<br />
Vermerks in der Sitzungsniederschrift drängen oder vorab entsprechende Schriftsätze bei<br />
Gericht einreichen. Diese könnten etwa folgenden Inhalt haben: „Ohne vorherigen Abschluss eines Einigungsvertrags<br />
geben die Parteien folgende Prozesserklärungen ab: Der Kläger nimmt die Klage hinsichtlich der Klageanträge zu<br />
3 und 4 zurück. Der Beklagte erkennt die Klage im Übrigen an und übernimmt die gesamten Kosten des Rechtsstreits.“<br />
Dann steht für das Kostenfestsetzungsverfahren und im Übrigen auch im Verhältnis zum eigenen Mandanten<br />
fest, dass die Anwälte einen Einigungsvertrag auch nicht stillschweigend geschlossen haben und<br />
ihnen damit auch keine Einigungsgebühr angefallen ist.<br />
IV. Verjährung der PKH-Anwaltsvergütung<br />
Im Regelfall ist dem im Wege der Prozesskostenhilfe (PKH) beigeordneten Rechtsanwalt daran gelegen,<br />
seinen fälligen Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse möglichst zeitnah zu realisieren. Dies gelingt in<br />
der Praxis häufig nicht, weil – insbesondere bei vielen Sozialgerichten – die Bearbeitungszeiten für die Ent-<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong> 1323
Fach <strong>24</strong>, Seite 1666<br />
Gebührentipps<br />
Gebührenrecht<br />
scheidung über einen Festsetzungsantrag des PKH-Anwalts recht lang sind. In dem vom Bay. LSG<br />
(RVGreport <strong>2018</strong>, 332 [HANSENS]) entschiedenen Fall lag jedoch die Verzögerung an dem Verhalten der<br />
beigeordneten Rechtsanwältin.<br />
1. Fall des Bayerischen LSG<br />
In jenem Fall hatte das SG Landshut der Klägerin für den dort anhängigen Rechtsstreit durch Beschluss<br />
vom 3.3.2008 PKH unter Beiordnung ihrer Prozessbevollmächtigten bewilligt. Der Rechtsstreit endete<br />
durch den am 26.11.2008 in mündlicher Verhandlung geschlossenen Vergleich. Erst am 17.2.2015 beantragte<br />
die der Klägerin beigeordnete Rechtsanwältin, die ihr aus der Staatskasse zu zahlende Vergütung<br />
auf 785,40 € festzusetzen. Unter dem 23.2.2015 wies der UdG die Rechtsanwältin mit kurzer Begründung<br />
darauf hin, dem Antrag könne nur in Höhe eines Betrags von 690,20 € entsprochen werden.<br />
Dementsprechend hat der UdG unter dem unrichtigen Datum vom 23.2.2015 nur einen Vergütungsbetrag<br />
i.H.v. 690,20 € festgesetzt und den Betrag zur Zahlung auf das Konto der Rechtsanwältin angewiesen.<br />
Mit der hiergegen gerichteten Erinnerung vom 11.3.2015 hat die Staatskasse die Einrede der Verjährung<br />
erhoben und geltend gemacht, die Anwältin müsse die zu Unrecht ausgezahlte Vergütung zurückzahlen.<br />
Das SG Landshut hat auf diese Erinnerung der Einrede stattgeben, die Festsetzung vom 23.2.2015<br />
wegen Verjährung aufgehoben und die Vergütung der Rechtsanwältin auf 0 € festgesetzt. Gleichzeitig<br />
hat das SG die Rechtsanwältin zur Rückerstattung der gezahlten Vergütung i.H.v. 690,20 € verpflichtet.<br />
Hiergegen hat die Rechtsanwältin Beschwerde eingelegt. Außerdem hat sie im Beschwerdeverfahren den<br />
seinerzeit nicht ausgezahlten Differenzbetrag i.H.v. (785,40 €–690,20 € =) 95,20 € geltend gemacht.<br />
Letzteres hat die Rechtsanwältin damit begründet, der Betrag sei seinerzeit nicht festgesetzt worden, so<br />
dass sich auch die Einrede der Verjährung nicht hierauf beziehen könne. Die Beschwerde der Anwältin hatte<br />
beim Bay. LSG überwiegend Erfolg.<br />
2. Verjährung des Vergütungsanspruchs<br />
Das Bay. LSG (RVGreport <strong>2018</strong>, 332 [HANSENS]) hat zunächst die Auffassung der Vorinstanz geteilt, der Vergütungsanspruch<br />
der beigeordneten Rechtsanwältin gegen die Staatskasse sei verjährt. Der Vergütungsanspruch<br />
sei nämlich mit Abschluss des den Rechtsstreit beendenden und wirksamen Vergleichs vom<br />
26.11.2008 an diesem Tag gem. § 8 Abs. 1 RVG fällig geworden. Er unterliege gem. § 195 BGB der regelmäßigen<br />
Verjährungsfrist von drei Jahren. Diese Verjährungsfrist beginne mit dem Schluss des Jahres, in dem<br />
der Anspruch entstanden sei, somit am 31.12.2008. Somit sei der Vergütungsanspruch der Anwältin zum<br />
1.1.2012 verjährt. Ihren Festsetzungsantrag hatte die Rechtsanwältin jedoch erst am 17.2.2015 eingereicht.<br />
3. Rechtsfolgen der Verjährung<br />
Das Bay. LSG hat darauf hingewiesen, dass die Rechtsfolgen der Verjährung in § 214 BGB geregelt seien.<br />
Danach sei der Schuldner gem. § 214 Abs. 1 BGB nach Eintritt der Verjährung berechtigt, seine Leistung zu<br />
verweigern. Allerdings bleibe die verjährte Forderung erfüllbar. Es bestehe somit lediglich ein dauerndes<br />
Leistungsverweigerungsrecht. Gemäß § 214 Abs. 2 BGB könne das zur Befriedigung eines verjährten<br />
Anspruchs Geleistete nicht zurückgefordert werden, auch wenn in Unkenntnis der Verjährung geleistet<br />
worden sei. Ein solcher Fall hat hier nach Auffassung des Bay. LSG vorgelegen. Der UdG des SG Landshut<br />
habe nämlich trotz Verjährung des Vergütungsanspruchs den am 23.2.2015 festgesetzten Betrag zur<br />
Auszahlung angewiesen. Diese Auszahlung sei auch erfolgt. Dass die Auszahlung in Unkenntnis der<br />
Verjährung getätigt wurde, ist nach Auffassung des Bay. LSG nach der Bestimmung des § 214 Abs. 2 BGB<br />
ohne Belang. Dies führte im entschiedenen Fall dazu, dass eine Rückforderung des ausgezahlten<br />
Vergütungsanspruchs i.H.v. 690,20 € von der Rechtsanwältin nicht zulässig war.<br />
4. Auch Restanspruch verjährt<br />
Der bei der Festsetzung vom 23.2.2015 unberücksichtigt gebliebene Betrag von 95,20 € brutto ist nach<br />
den weiteren Ausführungen des Bay. LSG ebenfalls verjährt. Die am 11.3.2015 von der Staatskasse<br />
erhobene Verjährungseinrede habe sich nämlich auf den gesamten mit Festsetzungsantrag vom<br />
17.2.2015 von der Rechtsanwältin geltend gemachten Vergütungsbetrag i.H.v. ursprünglich 785,40 €<br />
bezogen und nicht nur auf die letztlich festgesetzten 690,20 €.<br />
13<strong>24</strong> <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong>
Gebührenrecht Fach <strong>24</strong>, Seite 1667<br />
Gebührentipps<br />
5. Richtige Verfahrensweise des Gerichts<br />
Obwohl es im Büro der beigeordneten Rechtsanwältin nach Eintritt der Fälligkeit der Anwaltsvergütung<br />
am 26.11.2008 versäumt worden war, den Anspruch auf Festsetzung der PKH-Anwaltsvergütung<br />
rechtzeitig geltend zu machen, hatte die Anwältin im Fall des Bay. LSG Glück. Denn auch bei der<br />
Staatskasse ist nicht alles so gelaufen, wie es eigentlich hätte sein sollen.<br />
Dem mit dem Festsetzungsantrag der Rechtsanwältin vom 17.2.2015 befassten UdG hätte es eigentlich<br />
auffallen müssen, dass der Ausgangsprozess zu diesem Zeitpunkt schon lange Zeit beendet war. In<br />
diesem Zusammenhang hätte ihm der Gedanke kommen können, dass die Vergütungsforderung der<br />
Rechtsanwältin verjährt sein könnte. Dementsprechend hätte der UdG die Akte vor der Entscheidung<br />
über den Festsetzungsantrag dem Bezirksrevisor vorlegen müssen. Dies ergibt sich aus der weitgehend<br />
bundeseinheitlichen Allgemeinen Verfügung der jeweiligen Landesjustizminister, veröffentlicht als<br />
„Verwaltungsvorschrift über die Festsetzung der aus der Staatskasse zu gewährenden Vergütung –<br />
VwV Vergütungsfestsetzung“ (Abdruck bei HARTMANN, KostG, 48. Aufl. <strong>2018</strong>, S. 1292 ff.).<br />
Nach 1.2.2 VwV Vergütungsfestsetzung hat der UdG vor seiner Entscheidung über den Festsetzungsantrag<br />
die Akten mit einem entsprechenden Hinweis der Vertretung der Staatskasse vorzulegen. Soll<br />
nach Auffassung des Vertreters der Staatskasse die Verjährungseinrede erhoben werden, so hat dieser<br />
nach Nr. 1.4.4 VwV Vergütungsfestsetzung hierzu die Einwilligung des ihm unmittelbar vorgesetzten<br />
Präsidenten des betreffenden Gerichts einzuholen. Bei der Entscheidung darüber, ob die Verjährungseinrede<br />
erhoben wird, hat die Staatskasse sowohl die Belange des beigeordneten Rechtsanwalts als<br />
auch die der bedürftigen Partei angemessen zu berücksichtigen (OLG Frankfurt JurBüro 1988, 1010;<br />
AnwBl 1992, 1210 m. Anm. HERGET). Der Bezirksrevisor hat dann nach pflichtgemäßem Ermessen zu<br />
entscheiden, ob er sich für die Staatskasse auf die Einrede der Verjährung beruft (vgl. OLG München<br />
JurBüro 1984, 1830; OLG Celle JurBüro 1983, 699; OLG Frankfurt JurBüro 1988, 1010) oder nicht.<br />
Hat die Staatskasse die Einrede der Verjährung nicht erhoben, so hat der UdG dies nach 1.2.2 S. 2 VwV<br />
Vergütungsfestsetzung auf dem Formular, auf dem er die Festsetzung vornimmt, zu vermerken. Von<br />
dieser Verfahrensweise ist der UdG des SG Landshut hier abgewichen.<br />
Hinweis:<br />
Diese Verfahrensweise sollte auch jeder Rechtsanwalt kennen. Er kann im Falle der Verjährung seines<br />
Vergütungsanspruchs gegen die Staatskasse dem Bezirksrevisor Umstände vortragen, die zur Verjährung<br />
geführt haben. Mit einigem Glück führt dieses Vorbringen dazu, dass der Bezirksrevisor in Ausübung des<br />
ihm eingeräumten Ermessens die Einrede der Verjährung nicht erhebt.<br />
V. Dokumentenpauschale für das Einscannen von Dokumenten<br />
In der anwaltlichen Praxis werden Dokumente – meist der Inhalt von Gerichts- oder Verwaltungsakten<br />
– häufig nur eingescannt und elektronisch gespeichert und ggf. verarbeitet, ohne dass ein Ausdruck auf<br />
Papier erfolgt. In einem solchen Fall stellt sich die Frage, ob dem Rechtsanwalt die Dokumentenpauschale<br />
nach Nr. 7000 Nr. 1a) VV RVG anfällt.<br />
1. Rechtslage bis 31.7.2013<br />
Bis zum Inkrafttreten des 2. KostRMoG entsprach es weitgehend der einhelligen Auffassung in der<br />
Rechtsprechung, dass die Dokumentenpauschale auch für das bloße Einscannen von Dokumenten<br />
anfällt, ohne dass es hierfür auch eines Ausdrucks auf Papier bedarf (s. OLG Bamberg RVGreport 2006,<br />
354 [HANSENS] = AGS 2006, 432; Bay. LSG RVGreport 2013, 153 [HANSENS] = AGS 2013, 121; LG Dortmund<br />
RVGreport 2010, 108 [HANSENS] = zfs 2010, 103 m. Anm. HANSENS = AGS 2010, 125; LG Kleve RVGreport<br />
2012, 31 [HANSENS] = AGS 2012, 64; a.A. SG Dortmund AGS 2010, 3).<br />
2. Rechtslage ab 1.8.2013<br />
Mit Wirkung zum 1.8.2013 hat der Gesetzgeber diesen Auslagentatbestand neu formuliert und dies wie<br />
folgt in der Gesetzesbegründung zum 2. KostRMoG (BR-Drucks 517/12, S. 444) begründet. Zu der dort<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong> 1325
Fach <strong>24</strong>, Seite 1668<br />
Gebührentipps<br />
Gebührenrecht<br />
geregelten Neufassung der Nr. 7000 VV RVG heißt es: „Wegen der Änderung des Begriffs ‚Ablichtung‘ in<br />
‚Kopie‘ wird auf die Begründung zu Art. 1 § 11 GNotKG-E Bezug genommen.“<br />
Zu § 11 GNotKG heißt es: „Der Entwurf sieht im gesamten Gerichts- und Notarkostengesetz die Verwendung des<br />
Begriffs ‚Kopie‘ anstelle des Begriffs ‚Ablichtung‘ vor. Grund der Änderung ist – neben der Einführung einer heute<br />
gebräuchlicheren Bezeichnung – die Vermeidung von Missverständnissen bei der Erstellung von elektronischen<br />
Dokumenten (Scans). Da auch beim Scannen in der Regel das Papierdokument ‚abgelichtet‘ wird, wird zum Teil<br />
unter dem Begriff der ‚Ablichtung‘ auch ein eingescanntes Dokument verstanden. Nunmehr soll klargestellt werden,<br />
dass es sich hierbei gerade nicht um Ablichtungen im Sinne des geltenden Rechts und damit auch nicht um Kopien<br />
im Sinne des Gerichts- und Notarkostengesetzes handelt. Kopie im Sinne des Kostenrechts ist die Reproduktion<br />
einer Vorlage auf einem körperlichen Gegenstand, beispielsweise Papier, Karton oder Folie."<br />
Aufgrund dieser Neuregelung der Nr. 7000 VV RVG durch das 2. KostRMoG sind sowohl Rechtsprechung<br />
als auch Literatur „umgeschwenkt“. Nach allgemeiner Auffassung löst das bloße Einscannen<br />
von Dokumenten nunmehr keine Dokumentenpauschale aus (KG RVGreport 2015, 464 [BURHOFF] = zfs<br />
2015, 705 m. Anm. HANSENS = AGS 2015, 569; LSG Niedersachsen-Bremen AGS 2017, 329; Bay. LSG<br />
RVGreport <strong>2018</strong>, 460 [HANSENS.]; GEROLD/SCHMIDT/MÜLLER-RABE, RVG, 23. Aufl. 2017, Nr. 7000 VV RVG Rn 15;<br />
AnwK-RVG/VOLPERT, 8. Aufl. 2017, Nr. 7000 VV RVG Rn <strong>24</strong> ff.). Gegenteiliger Auffassung in der<br />
Kommentarliteratur ist – soweit ersichtlich – allein HARTMANN (KostG, 48. Aufl. <strong>2018</strong>, Nr. 7000 VV RVG<br />
Rn 4), der sich allerdings teilweise auf überholte Rechtsprechung bezieht.<br />
3. Kritik an der Neuregelung<br />
In der übrigen Literatur wird teilweise bezweifelt, ob der Gesetzgeber in der vorstehend wiedergegebenen<br />
Gesetzesbegründung (s. oben 2.) mit der Verweisung auf die Begründung zu § 11 GNotKG<br />
tatsächlich in vollem Umfang eine Verweisung auch für die anwaltliche Dokumentenpauschale<br />
beabsichtigt habe (s. KLÜSENER JurBüro 2016, 2; MEYER JurBüro 2014, 127; RECKIN AnwBl 2015, 59). Dabei<br />
wird darauf verwiesen, der Gesetzgeber hätte eine inhaltliche Änderung bei der Dokumentenpauschale<br />
nach Nr. 7000 VV RVG direkt bei den Motiven zur anwaltlichen Dokumentenpauschale selbst zum<br />
Ausdruck bringen müssen. Außerdem seien keine plausiblen Gründe für eine unterschiedliche<br />
Behandlung der Kopie einerseits und des Einscannens andererseits ersichtlich (KLÜSENER JurBüro 2016,<br />
2 und auch das Bay. LSG a.a.O.). Auch das für das RVG zuständige Referat im BMJV ist sich wohl nicht<br />
sicher, ob die Erwägungen des Gesetzgebers zu § 11 GNotKG auch für die anwaltliche Dokumentenpauschale<br />
gelten sollen. Ferner haben sich der DAV und die BRAK in ihrem gemeinsamen Katalog zur<br />
Änderung, Ergänzung und Klarstellung des RVG (s. hierzu HANSENS RVGreport <strong>2018</strong>, 202 ff.) dafür<br />
ausgesprochen, in Nr. 7000 Nr. 1 VV RVG eine ausdrückliche Regelung aufzunehmen, nach der die<br />
Dokumentenpauschale auch für Ausdrucke aus in elektronischer Form überlassenen Akten anfällt.<br />
Hinweis:<br />
Gerade mit Einführung der elektronischen Akte und des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs ist<br />
eine derartige Regelung dringend erforderlich.<br />
4. Praktische Auswirkungen<br />
Andernfalls wären die Anwälte im eigenen wirtschaftlichen Interesse gezwungen, die Dokumente – etwa<br />
die Gerichtsakte – erst einzuscannen und die gescannten Seiten dann auszudrucken. Eine andere<br />
Möglichkeit wäre es, die Gerichtsakte erst zu kopieren und die Kopien dann einzuscannen. In beiden<br />
Fällen würde dies auch nach der geltenden Gesetzeslage eindeutig zum Anfall der Dokumentenpauschale<br />
führen. Dem beigeordneten oder bestellten Rechtsanwalt könnte allerdings die Staatskasse vorhalten,<br />
diese Verfahrensweise sei nicht „zur sachgemäßen Durchführung der Angelegenheit erforderlich“ (s. § 46 Abs. 1<br />
RVG). All diese Probleme könnten dadurch aus dem Weg geschafft werden, dass der Gesetzgeber die bis<br />
zum 31.7.2013 geltende und allseits anerkannte Regelung wieder einführte, wonach auch das bloße<br />
Einscannen von Dokumenten zum Anfall der Dokumentenpauschale führt.<br />
1326 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>24</strong> 19.12.<strong>2018</strong>