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Bock E-Paper 2024 KW18

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4 Bock | Dienstag, 30. April 2024 Bock | Dienstag, 30. April 2024 5 Reportage Reportage Der grosse Report zum klaffenden Unterschied zwischen dem gewaltigen Medikamentenüberschuss und dem akuten Mangel von Arzneimitteln Gewisse Medikamente «räumen den Magen auf». Doch mittlerweile bereitet das Thema rund um die Arzneimittel viel eher Bauchschmerzen. Einerseits ertrinkt nicht nur die Schweiz im Überschuss, der jährlich produziert wird. Aufgrund strenger Regulierungen und daraus entstehender Verkettungen landen schliesslich Tausende von Tonnen an Medikamenten im Müll. Andererseits herrscht zugleich ein grosser Mangel an medizinischen Versorgungsmitteln, weil die Produktion aus Kostengründen in Länder wie China oder Indien verschoben wurde und nun die Lieferfristen nicht mehr gewährleistet sind. Die «Bock»-Reportage zeigt auf, dass auf allen Ebenen geklagt wird. Lösungen – oder zumindest Ansätze – gibt es, doch es braucht auch diejenigen, die Verantwortung übernehmen und dem Patienten das richtige Heilmittel abgeben. REPORTAGE SCHAFFHAUSEN/SCHWEIZ Ronny Bien Erst im Februar berichtete der Kassensturz, dass 2022 in der Schweiz rund 4800 Tonnen Medikamente im Müll landeten. Umgerechnet ist das ein Warenwert von geschätzten vier Milliarden Franken, der wohl jährlich vernichtet wird. Man stelle sich die Zahl vor: 4 000 000 000 Franken! Gelder, die vielleicht anderswo, wie etwa in der Forschung, eingesetzt werden könnten. Offensichtlich wird das Problem dann, wenn der Fokus auf die praktische Handhabung gerichtet wird. Sehr oft werden zu grosse Packungen an Patient:innen abgegeben, die dann nicht vollständig aufgebraucht werden und schliesslich im Abfall landen. Oder anders beschrieben: Die Medikamentenpackungen sind nicht mit der benötigten Menge an Arzneimitteln kompatibel. Grund dafür: Kleinstmengen, wie etwa einzelne Pillen, dürfen von Gesetzes wegen nicht herausgegeben werden. Deshalb erhält die Kundschaft in den Arztpraxen oder Apotheken oft zu viele Tabletten oder diese gar in Grosspackungen, da die Verfügbarkeit von kleineren Dosen nicht immer gewährleistet ist. Und gleichwohl gibt es in der Schweiz vereinzelte Apotheken, die einzelne Medikamente oder Filmstreifen herausgeben. Doch es bleibt ein Tropfen auf den heissen Stein, um den Abfallberg zu minimieren, da sich niemand der Verantwortung annehmen will. Fribourger Modell versenkt Die neuste Posse ereignete sich Anfang April. 2002 führte der Kanton Fribourg ein Modell ein, welches dafür sorgte, dass jährlich rund 3,4 Millionen Franken eingespart werden konnten. Hierfür wurden in Alters- und Pflegeheimen, welche nicht schon solche führten, hausinterne Apotheken eingerichtet. Diese erwarben Grosspackungen und gaben den Bewohner:innen nur so viele Medikamente ab, wie sie benötigten. Um Anreize zu schaffen, wurde eine Pauschalvergütung von 5.50 Franken pro Person und Tag eingeführt. Dieses Modell sorgte für vielerlei Vorteile und erhöhte die Qualität in der gesamten Gesundheitsbranche. Beabsichtigt war auch, dass alle Kantone dem Fribourger Modell folgen, doch 2018 geschah genau das Gegenteil: Weil im Bereich des «Ein Kräuterbonbon am Kiosk kostet mittlerweile viel mehr als eine Tablette» Risikoausgleichs Anpassungen gemacht wurden, um die gesunden Versicherten zu entlasten, muss seither wieder über sämtliche Medikamentenabgaben bei allen Heimbewohner:innen Buch geführt werden. Die 15-jährige Erfolgsgeschichte des Kantons Fribourg fand daher keine Fortsetzung, auch wenn dieser nicht klein beigab, sondern in Bern eine Standesinitiative einreichte, welche die Weiterführung des eigenen Systems erlaubte. Während der Nationalrat die Initiative mit seinem Segen durchwinkte, verwarf der Ständerat diese an der Danja Spring Leiterin Kommunikation, Sandoz Pharmaceuticals. letzten Frühlingssession haarscharf mit 21:20 Stimmen. Ausschlaggebend soll der plötzliche Stimmungswechsel der Mitte-Partei gewesen sein, die zuerst geschlossen hinter dem Nationalrat stand. Danach jedoch entschied sich die Hälfte der Mitte-Ständeräte dagegen. Groteskerweise reichte dieselbe Partie ein Postulat zur Kostendämpfung des Gesundheitswesens ein, bei dem auch das Fribourger Modell wieder zur Sprache kam. Schliesslich erklärte das Bundesamt für Gesundheit, dass es für das System in Fribourg gar keine Gesetzesänderung gebraucht hätte. Der Hund liegt darin begraben, dass die Krankenkassen keinen Mehraufwand leisten wollen und gleichzeitig die Vorgaben des Risikoausgleichs eingehalten werden müssen. Auch Engpässe machen zu schaffen Es klingt schon fast etwas surreal, doch es gibt eben auch die Kehrseite des Überschusses, nämlich den Medikamentenmangel. Die Fälle häufen sich, dass gewisse Medikamente schlicht nicht erhältlich sind. Bei rund 800 Arzneimitteln bestehen Stand Ende 2023 akute Lieferengpässe in der Schweiz, bei 200 sei die Situation ernsthafter Natur. Tendenz steigend. Der «Bock» wollte das genauer wissen und sprach unter anderem mit Danja Spring, Leiterin Kommunikation von Sandoz Pharmaceuticals mit Sitz in Rotkreuz ZG, und dem Facharzt für Allgemeine Innere Medizin Doktor Tilman Eckle, der seit März in der Rhypraxis in Feuerthalen tätig ist. Die Gründe für Lieferengpässe seien sehr vielseitig, wie alle Fachpersonen bestätigen. Ressourcenknappheit und Unterbrechungen der Lieferketten stechen dabei heraus. «Oft kommt es zu Engpässen, wenn ein Mitbewerber kurzfristig nicht lieferfähig ist und entsprechend die Nachfrage bei den anderen Anbietern so stark steigt, dass der Engpass nicht aufgefangen werden kann», erklärt Danja Spring. Grosse Challenge bei Generika Zudem hätten sich grosse Pharmakonzerne aufgrund des Wegfalls des Patentschutzes von ihren ‹Klassikern› getrennt, weil die Geschäfte nicht mehr lukrativ genug seien, führt Tilman Eckle weiter aus: «Viele der Grundstoffe der jetzt verfügbaren Generika werden aus Kostengründen oft nur noch in China oder Indien hergestellt, die den gesamten Weltmarkt versorgen. Eine Liefergarantie bieten diese Länder aber nicht», mahnt der Facharzt. Selbiges hat Andreas Petrosino, Mediensprecher des Gesundheitsdienstleisters Galenica, der unter anderem auch Apotheken beliefert, bemerkt. «Wir stellen fest, dass manche Anbieter günstige Generika in der Schweiz nicht mehr auf den Markt bringen oder den Vertrieb einstellen.» Danja Spring sieht genau bei Generika folgendes Hauptproblem: «Immer wieder werden Stimmen laut, die fordern, dass die Preise von Generika in der Schweiz weiter gesenkt werden. Genau hier sehen wir jedoch die grösste Gefüllte Blisterpackungen mit unzähligen Medikamente, die unberührt im Abfall landen. 4800 Tonnen Pillen, Pulver, Crèmes und weitere Arzneimittel wurden im Jahr 2022 vernichtet. Nicht etwa weltweit, sondern lediglich in der Schweiz. In anderen Worten werden jedes Jahr rund vier Milliarden Franken zum Fenster hinausgeworfen. Pro in der Schweiz lebende Person sind das umgerechnet unglaubliche 443 Franken. Symbolbild: Ronny Bien Gefahr für die Versorgungssicherheit. Faire Preise sind die Voraussetzung, um im kleinvolumigen Schweizer Markt mit seinen spezifischen und kostentreibenden Regulierungen auch in Zukunft die Grundversorgung mit Medikamenten zu gewährleisten.» Tatsache sei jedoch, dass gerade die Niedrigpreisgenerika unter einem Warenwert von 20 Franken massiv unter Preisdruck stehen, während aufgrund Rohstoffknappheit und zunehmenden Energiekosten die Herstellungskosten um 40 Prozent gestiegen seien. Gleichzeitig werden die vom BAG festgelegten Preise laufend gesenkt. «Wie beim Ibuprofen», nennt Danja Spring ein Beispiel. «Der Bund senkte den Preis 2022 um rund 40 Prozent, wodurch wir noch sieben Rappen pro Tablette verdienen. Zum Vergleich: Ein Kräuterbonbon am Kiosk kostet um einiges mehr.» Alternativ nach Deutschland IIn den vergangenen Jahren hat eine Konsolidierung der Wirkstoffanbieter stattgefunden. Aufgrund des massiven globalen Preisdrucks verschwinden immer mehr Wirkstoffhersteller, wodurch die allgemeine Versorgungssituation volatiler geworden ist. Die Sprecherin von Sandoz erklärt, dass, sobald ein Hersteller ausfalle, mehrere Generikahersteller nicht mehr mit der gefragten Menge an Wirkstoff beliefert werden können. «Die Nachfrage auf die anderen Anbieter steigt dadurch und diese können folglich die gestiegene Nachfrage mit ihren Volumen auch nicht mehr auffangen.» So komme es zu einem Lieferengpass im gesamten Markt. Für die Patient:innen von Doktor Tilman Eckle kann es teils auch mühsam werden, an das benötigte Medikament zu kommen, wenn es im Raum Schaffhausen nicht erhältlich ist. «Alternativ können sie auch im grenznahen Deutschland ihr Rezept einlösen, aber es kostet Zeit und je nachdem Nerven», gibt der Facharzt zu bekennen. Zwar herrscht in Deutschland auch ein Mangel, dennoch spielt unser nördlicher Nachbar im Weltmarkt in einer ganz anderen Liga als die Schweiz. Um dem Problem zu begegnen, verfolgt Es ist nicht immer davon auszugehen, dass der Gerinnungshemmer «Marcoumar» in der Schweiz einwandfrei verfügbar ist. Um den Patientenbedarf zu decken, wird «Marcumar» bei Mangel aus Deutschland importiert. Bilder: Ronny Bien Sandoz unter anderem das sogenannte «Dual Sourcing» Prinzip. «Das heisst, wir beziehen unsere Produkte von mindestens zwei Anbietern; durch diese Diversifikation können wir die Versorgungssicherheit unsererseits erhöhen», erklärt Danja Spring und fügt bei: «Diese Strategie verursacht im Beschaffungsprozess zusätzliche Kosten. Dies ist mitunter ein Grund, warum wir angemessene Preise für Generika brauchen.» Marktplatz Schweiz nicht attraktiv Beim Pharmakonzern Sandoz ist man bestrebt, schwierige Liefersituationen frühzeitig zu erkennen, um bei Bedarf die Produktion zu erhöhen. Wie das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) zudem informiert, sei der weltweite Mangel durch Covid-19, verbunden mit den Produktionsengpässen, die durch die Lockdowns, wie zum Beispiel in China, entstanden, verstärkt worden. Die Schweiz sei im globalen Weltmarkt sehr klein, verfügt jedoch über spezifische und anspruchsvolle Zulassungsauflagen und ist auf einem hohen Lohnniveau angesiedelt. «Das macht den Marktplatz Schweiz nicht besonders attraktiv», erklärt Tilman Eckle die komplexe Situation. Investieren in Nachhaltigkeit «Wir stellen unter anderem eine deutliche Zunahme der Nachfrage bei Antibiotika fest», bestätigt Sandoz-Sprecherin Danja Spring. «Sandoz ist durchaus in der Lage, die ursprünglich geplanten Mengen an Antibiotika zu produzieren. Wir haben aber nicht die Kapazität, den branchenweiten Gesamtanstieg der Nachfrage zusätzlich kurzfristig abzudecken.» Um den eigenen Bedarf nachhaltig zu decken, investiert das Pharmaunternehmen in erhöhte Kapazitäten, wie Danja Spring anhand eines Fallbeispiels erklärt: «Ein Beispiel sind unsere Investitionen in eine moderne Produktionstechnologie für die Herstellung des Antibiotikums Amoxicillin in unserem Werk im österreichischen Kundl.» Dieses ist indes die letzte verbliebene vertikal integrierte Produktionsstätte für Penicillin in Europa und der westlichen Welt. «Das heisst, wir produzieren über die Fermentation des Wirkstoffs bis hin zur fertig verpackten Tablette alles aus einer Hand im Tirol. Somit kommt dem Standort Kundl eine Schlüsselfunktion bei der Antibiotika-Versorgung zu.» Hype um Medikamente Engpässe gebe es auch bei Medikamenten, die mitunter durch die Medien gehypt werden. Ein Beispiel sei die riesige Nachfrage von patentierten, sehr teuren Mitteln als Hilfe zur Gewichtsabnahme, wie die von den Krankenkassen übernommenen Abnehmspritzen Ozempic, Saxenda und neu seit März Wegovy. «Hier kommt der Hersteller mit der Produktion nicht mehr nach, da es hierfür einen zu grossen Bedarf seitens der Abnehmer gibt. Diese Engpässe werden aber ziemlich sicher rasch wieder verschwinden, da das Geschäft aufgrund der Lukrativität angekurbelt und die Produktion heraufgeschraubt wird, ist sich Tilman Eckle sicher. Richtig problematisch wird es, wenn die Arz- «Die fehlende Transparenz ist mir ein Dorn im Auge. eine Warnmeldung wäre gut» neimittel lebenswichtig sind, wie dauerhaft blutdrucksenkende Präparate. Marcoumar ist so ein Beispiel, welches zeitweise nicht immer lieferbar ist. Viele Menschen sind davon abhängig. Allerdings erlaubt es der medizinische Fortschritt seit 2020, den Patient:innen mit biologischen Herzklappen stattdessen «neue/direkte orale Antikoagulanzien» (DOAK respektive NOAK), wie etwa Apixaban, Edoxaban, Otamixaban oder Rivaroxaban, zu empfehlen. Patient:innen mit mechanischer Herzklappe haben, da der Gerinnungshemmer nicht wirkt, hier hingegen das Nachsehen. Dr. med. Tilman Eckle Facharzt Allgemeine Innere Medizin, Rhypraxis, Feuerthalen. Fehlendes Warnsystem Für Tilman Eckle gibt es einen besonderen Störfaktor: «Die fehlende Transparenz ist mir schon lange ein Dorn im Auge. Schon bei der elektronischen Rezeptierung wäre es gut, wenn automatisch eine Warnmeldung käme, die auf einen Mangel hinweist und die genaue Dauer des Mangels angeben könnte.» Zudem fügt der Facharzt bei: «Von den Medikamentenherstellern sollte aus meiner Sicht eine Liefergarantie verlangt werden.» Als Gegenleistung müsste die Kostendeckung für die Vorratshaltung oder eigene Produktion bei den Preisverhandlungen gewährleistet werden. Fehlreize im System beseitigen Des Weiteren sieht Sandoz drei Stossrichtungen, um die Versorgungssicherheit wieder zu erhöhen. «Wir brauchen faire Preise für Generika und sollten nicht den gleichen Fehler wie andere Länder machen und ein Billigstprinzip einführen, welches dann zu einer weiteren Verschärfung der Versorgungssituation führt», warnt Danja Spring. Zudem soll die Schweiz mit weiteren europäischen Ländern gemeinsam die Diversifizierung, sprich Stärkung der europäischen Wirkstoffproduktion, angehen. Als dritten Punkt spricht die Kommunikationsleiterin die regulatorischen Hürden an: «Wenn die vielen regulatorischen Hürden in der Schweiz reduziert, Entscheidungen beschleunigt und Fehlanreize im System beseitigt würden, wäre dies sicherlich ein wichtiger Ansatz, um die Situation zu entschärften.» So würde, um ein konkretes Beispiel zu nennen, die Einführung einer elektronischen Packungsbeilage die Prozesse für die Hersteller stark vereinfachen. Initiative läuft noch bis August Wie ernst die Lage ist, verdeutlicht auch die am 4. April 2023 lancierte Volksinitiative «Ja zur medizinischen Versorgungssicherheit». Diese weist eingehend auf den akuten Medikamentenmangel hin und darauf, dass inzwischen beinahe 1000 Produkte fehlen. Darunter befinden sich viele lebensnotwendige medizinische Versorgungsmittel. «Die Gesundheit der Bevölkerung ist gefährdet», ist auf dem in Apotheken und Praxen aufgelegten Informationsflyer zu lesen. Die Initiative fordert genau diese Vereinheitlichung des Versorgungssystems in der gesamten Schweiz, welche zur Aufgabe des Bundes würde. Weiter will sie aber auch die signifikante Reduktion der Abhängigkeit aus dem Ausland, da aus China und Indien keine Liefergarantie besteht. Zudem solle sichergestellt werden, dass Medikamente nur noch aus Ländern importiert werden, auf die man sich verlassen könne. Effizientes System vonnöten Das Thema verdeutlicht die Komplexität und Herausforderungen im Schweizer Gesundheitssystem bezüglich der Medikamentenversorgung. Es zeigt, dass ein effizientes und nachhaltiges System erforderlich ist, um Verschwendung zu reduzieren, Lieferengpässe zu bewältigen und faire Preise für Medikamente zu gewährleisten. Massnahmen wie das Fribourger Modell oder die Stärkung der europäischen Wirkstoffproduktion könnten dazu beitragen, die Versorgungssicherheit zu verbessern. Es wird deutlich, dass eine ganzheitliche Strategie notwendig ist, die regulatorische, wirtschaftliche und gesundheitspolitische Aspekte berücksichtigt, um langfristig eine qualitativ hochwertige und zugängliche Medikamentenversorgung sicherzustellen. Sowohl in Schaffhausen, in der Schweiz und in Europa als auch auf der ganzen Welt. Wann kommt Nachschub? 800 bis 1000 Medikamente fehlen in der Schweiz.

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