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Centurion Germany Spring 2019

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GEISTESWISSENSCHAFT LEONARDO DA VINCIS NOTIZEN, ZEICHNUNGEN UND MODELLSKIZZEN ERMÖGLICHEN FASZINIERENDE EINBLICKE IN DAS WESEN DES GENIES. 500 JAHRE NACH SEINEM TOD SIND DIESE CODICES WELTWEIT ZU BEWUNDERN – ALS ERSTES IN DEN UFFIZIEN VON FLORENZ. VON LEE MARSHALL A nfang letzten Jahres begutachtete ich im schummrigen Licht der alten Biblioteca Ambrosiana in Mailand einen Ausschnitt aus Leonardo da Vincis Notizbüchern, einem Teil der heute als Codex Atlanticus bekannten, 1.119 Seiten starken Sammlung. Die abgebildete Reihe von Schlaginstrumenten (Musik war eines von vielen Interessen da Vincis) war ein wunderbares Beispiel der Kunstfertigkeit, von der selbst diese überaus persönlichen Arbeiten des Florentiner Genies zeugen. Die Seite zeigte beiläufig und zugleich geschickt angefertigte Notizen in da Vincis unverkennbarer, von rechts nach links verlaufender Spiegelschrift, die sich mit Zeichnungen von Holzhämmern, Zahnrädern, Schallwellendiagrammen und drei hübschen, geschwungenen Flöten abwechselten – all das in Sepia-Tusche und mit dem instinktiven Raumgefühl eines Grafikdesigners angeordnet. Dann bemerkte ich die Ringe: zwei sich überschneidende Kreise in blassem Rosa mit einem dunkleren Klecks links darunter. Ich konnte es mir bildlich vorstellen: Tief in seine Arbeit versunken hatte sich da Vinci (der auf losen Blättern arbeitete, die erst später zu Bänden zusammengefasst wurden) einen Kelch Chianti gegönnt und das Glas direkt auf den leeren Teil des Blattes gestellt. In seine Arbeit vertieft verschüttete er beim Einschenken einen Tropfen. Er war Linkshänder und der Fleck deckt sich mit einer Einschenkbewegung von links. Leere Teile seines Notizbuchs wurden oft erst Tage, Monate oder gar Jahre später gefüllt – zu irgendeinem dieser Zeitpunkte muss er den Fleck überschrieben oder überzeichnet haben, als sich weitere Gedankenströme aus seinem Kopf ergossen. Doch vielleicht war es auch gar nicht da Vinci, der den Fleck hinterließ. Vielleicht war es der Bildhauer Pompeo Leoni, der gegen Ende des 16. Jahrhunderts einige von da Vincis Notizbüchern erstand, die Seiten trennte und auf großen Atlasblättern befestigte, um den Codex Atlanticus zu schaffen. Vielleicht war es auch ein unachtsamer Ambrosiana-Bibliothekar, der den Codex seit 1637 besaß, oder gar Napoleon, der den Band beschlagnahmte, nachdem er 1796 in Mailand einmarschiert war. (Nach einem kurzen Zwischenspiel in Paris wurde er 1815 im Zuge der Niederlage Napoleons zurückgegeben.) Im Bewusstsein der Tatsache, dass – wie es der führende Da-Vinci-Forscher Martin Kemp in seinem neuesten Buch Living with Leonardo beschreibt – das Leben und Werk des Künstlers „in einem Ausmaß zur Sammelstelle wilder Theorien wurde, das von keiner anderen Persönlichkeit je erreicht wurde“, überlasse ich meinen eigenen Beitrag zur Da-Vinci-Forschung dem Urteil der Experten und Kohlenstoffdatierer. Der einzige Grund meiner Erzählung ist Folgendes: Die Codizes bringen uns Leonardo da Vinci auf eine Art und Weise näher, wie es nichts anderes vermag – nicht einmal die grazilen Pinselstriche des einem Rinnsal gleichenden Haarmusters der Mona Lisa (viel Erfolg beim Erkennen dieses Musters hinter der Sicherheitsabsperrung und dem Panzerglas des Louvre). Mit finanzieller Unterstützung des Florentiner Modeunternehmens Stefano Ricci wurden am 30. Oktober in den Uffizien vier der Ambrosiana-Blätter gemeinsam mit 13 anderen aus der ganzen Welt dem als wertvollsten Codex da Vincis betrachteten Codex Leicester beigefügt. Mit der Zusammenstellung dieses Codex begann der Künstler 1504. Letztmals in der toskanischen Stadt gezeigt wurde er 1982, als er noch – nach dem damaligen Besitzer, dem Ölmagnaten Armand Hammer – als Codex Hammer bezeichnet wurde. Bill Gates, der den Codex 1994 ersteigerte, brach mit der Tradition und änderte den Namen des 72-seitigen Notizbuchs auf den früheren Titel Codex Leicester zurück, welcher auf den britischen Grafen zurückgeht, der ihn 1719 erstanden hatte. „Codex Gates … Ich fand, das klingt albern“, erklärte Links: Folio 82R aus dem Codex Atlanticus, eines von mehreren Notizbüchern, die in den Florenzer Uffizien zu sehen waren. CENTURION-MAGAZINE.COM 61

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