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mav 07-08.2017

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TRENDZukunft der

TRENDZukunft der Mobilität Stephan Reuter, Juniorprofessor am Institut für Mess-, Regel- und Mikrotechnik der Universität Ulm „Das mulmige Gefühl ist weg“ Bis autonome Fahrzeuge im Stadtverkehr sicher unterwegs sind, wird es noch mindestens zehn Jahre dauern. Der Ulmer Professor Stephan Reuter erklärt, warum. Das Interview führte: Wolfgang Hess 38 Juli/August 2017

■■■■■■ Sie beschäftigen sich mit „Multi-Objekt-tracking mit gleichzeitiger Zustands- und Existenzschätzung unter Verwendung von Random Finite Sets“, heißt es auf Ihrer Homepage. Übersetzen Sie uns das bitte, Herr Professor Reuter. Reuter: Hier geht es um mathematische Ansätze, die Lösungen für das automatisierte Fahren liefern. Um das verkehrssicher zu regeln, muss man wissen, wo sich Fahrzeuge, Fußgänger und alle anderen Verkehrsteilnehmer befinden. Und wir brauchen Informationen, mit welcher Geschwindigkeit sie sich wohin bewegen. Dazu setzen wir mehrere Sensortypen ein: Video, Laser, Radar. Durch die Modellierung mit Random Finite Sets können wir gleichzeitig auch abschätzen, wie sicher das Objekt existiert. Zudem ermöglicht die Methode die Modellierung von Abhängigkeiten im Verhalten der Verkehrsteilnehmer, beispielsweise ob ein vorausschauender Fahrer frühzeitig vom Gas gehen kann. mav: Heißt das, dass Sensoren manchmal falsche Messungen liefern? Reuter: In der Tat bekommen wir mitunter Mess ergebnisse für Objekte, die gar nicht da sind. Auch das Gegenteil passiert: Im Nebel liefern Kameras oft kein Ergebnis für real existierende Objekte. Die angesprochene Methode berechnet für jedes Objekt eine Existenzwahrscheinlichkeit. Je höher sie ist, desto entschiedener wird ein automa tisiertes Fahrzeug reagieren. mav: Wie kommt ein Ingenieur dazu, solche Methoden einzusetzen? Reuter: Das grundsätzliche Verfahren der Objektverfolgung, der sogenannte Kalman- Filter, ist Bestandteil vieler Ausbildungen. Den Umgang mit Random Finite Sets vermitteln dagegen nur wenige Universitäten auf der Welt, etwa die in Ulm. Zusammen mit zwei Forschern in Australien habe ich Stephan Reuter ist seit Mai 2016 Juniorprofessor am Institut für Mess-, Regel-und Mikrotechnik der Universität Ulm. Geboren in Crailsheim, promovierte Reuter (*1981) an der Ulmer Universität. Im Herbst 2016 wurde er ausgezeichnet mit dem „Reinhard von Koenig-Förderpreis“ für seine Forschung an neuen Ansätzen zur Multi-Objekt-Verfolgung in komplexen Szenarien für den Einsatz in autonomen Systemen. Bild T. Klink (Montage) eine neue Methode gefunden, die Labeled- Multi-Bernoulli-Filterung, mit der sich die Messwerte mehrerer Objekte mathematisch so rasch berechnen lassen, dass wir in Echtzeit in unseren Versuchsträgern Lösungen bekommen. mav: Was ist das Ziel? Reuter: Auf der Autobahn ist die Umgebung überschaubar: Links und rechts haben wir Leitplanken. Die Verkehrsobjekte fahren in der Regel geradeaus. Außer Pkws gibt es fast nur Busse, Motorräder und Lkws. Das heißt: In vielen Fällen braucht man zum automatisierten Fahren lediglich zu wissen, wie schnell der Vordermann gerade fährt. Und das können die bestehenden Tracking-Verfahren sehr gut. Anders sieht es im Stadtverkehr aus. Fußgänger und Fahrradfahrer sind kaum kalkulierbar. Überdies ist dort oft das Blickfeld der Sensoren verdeckt. Das heißt: Messergebnisse und deren einfache Verarbeitung reichen nicht aus, sondern man muss pro Objekt gleich mehrere Messungen vornehmen. Unser Random-Finite-Sets-Tracking berechnet über die zeitliche Abfolge, welche Messungen zusammengehören. mav: Nach dem, was Sie sagen, wundere ich mich, wieso autonom fahrende Autos bereits zugelassen sind. Der Autohersteller Tesla ist ja nicht nur in den USA gut unterwegs. Reuter: Tesla nennt das System zwar Autopilot. Doch gemäß der Betriebsanleitung muss der Fahrer das System durchgehend überwachen. Für mich heißt das eindeutig: Auch dort ist man noch nicht beim autonomen Fahren angekommen. Überdies unterscheiden sich Innenstädte in Deutschland hinsichtlich der Verkehrssituation deutlich von den US-Städten: Wir haben engere Straßen, mehr Fußgänger und Fahrradfahrer. mav: Auch in Deutschland haben viele 1000 Dollar angezahlt, um bald einen schnittigen Tesla 3 zu besitzen. Doch das autonome Fahren im Tesla wäre in Deutschland gesetzeswidrig? Reuter: Was Tesla unter autonomem Fahren verkauft, bieten deutsche Premiumhersteller auch: Abstandsregeltempomat, Spurhalteassistent, Überholassistent und so weiter. Allerdings fordern die Systeme der deutschen Hersteller häufiger dazu auf, die Hände ans Steuer zu legen. Bei Tesla erfolgt diese „Fußgänger und Radfahrer sind kaum kalkulierbar.“ Anweisung, insbesondere bei langen Geradeaus-Fahrten, deutlich seltener. mav: Sie haben inzwischen zwei automatisierte Fahrzeuge am Institut und waren damit auch schon auf der Autobahn unterwegs. Was ist das für ein Gefühl? Reuter: Bei den ersten Fahrten hat man tatsächlich ein mulmiges Gefühl, wenn der Vordermann bremst und man darauf wartet, ob der eigene Wagen reagiert. Später wird man gelassener. Irgendwann kann man das Fahrzeug einschätzen und weiß, wie es mit einer Situation umgehen wird. Allerdings haben wir uns am Institut bewusst dagegen entschieden, auf der Autobahn zu fahren. mav: Wieso das? Reuter: Weil Forscher und Entwickler von Automobilunternehmen bereits viele automatisierte Autobahnfahrten absolviert hatten, als wir das erste automatisierte Auto aufgebaut haben. Als Universitätsinstitut würden wir der Industrie in diesem Bereich nur hinterherlaufen. Deshalb haben wir uns für Fahrten auf Landstraßen und im städtischen Verkehr entschieden. mav: Mit welchem Ergebnis? Reuter: Blechschäden haben wir selbstverständlich keine produziert. Natürlich kommt es beim Ausprobieren neuer Algorithmen manchmal zu Fehlfunktionen. Doch das zeichnet sich ab, und der Fahrer kann rechtzeitig übernehmen. mav: Wo sehen Sie eine Herausforderung? Reuter: In der „Neuen Mitte“ in Ulm. Das ist ein innerstädtischer Treffpunkt, an dem viele Fußgänger unterwegs sind, die sich gleichberechtigt zum Autoverkehr bewegen: Dort erwarten es die Fußgänger geradezu, dass Fahrzeuge anhalten – nicht nur vor Über wegen. Häufig gibt es Fußgängergruppen, aus denen einer herausbricht und über die Straße geht. Diese Situation muss ein autonomes System verstehen. Es muss jeden einzelnen Fußgänger der Gruppe erkennen. Das Fahrzeug muss sich an diese Situation anpassen – ähnlich wie es ein Autofahrer Juli/August 2017 39

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