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Rotary Magazin 02/2016

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Rotary Magazin 02/2016

SCHWERPUNKT – ROTARY

SCHWERPUNKT – ROTARY SUISSE LIECHTENSTEIN – FEBRUAR 2016 SIE NENNT SICH EVIN UND IST 32 JAHRE ALT Sie ist Kurdin, aber aus der Türkei, nicht dem Irak, und sie hat enge verwandtschaftliche Beziehungen zu den Jesiden. «Sie sind auch Kurden», sagt sie. Die Welt weiss viel zu wenig über Kurden; Jesiden sind noch unbekannter, obwohl sie in den letzten Jahren öfter in den Schlagzeilen waren. Im Irak zählten sie etwa 500 000, wobei viele von ihnen in der Nähe des Sinjar-Gebirges nahe der syrischen Grenze lebten. Sie haben eine alte und synkretistische Religion, mit Elementen vom Zoroastrismus, Mithraismus und Islam. Einige jesidische Praktiken ähneln muslimischen: So essen sie etwa kein Schweinefleisch. Die Jesiden wurden aber jahrhundertelang vor allem von Muslimen als «Teufelsanbeter» verfolgt. Die Jesiden leben nicht mehr in der Stadt Sinjar, weil nicht mehr viel von Sinjar übrig ist. Als die ISIS-Truppen im August 2014 einmarschierten, hatten sie so viele Menschen, wie sie nur konnten, niedergemetzelt oder versklavt. Tausende von Frauen wurden als Sexsklavinnen verkauft. Die restliche Bevölkerung floh, einige zum Sinjar-Gebirge, wo sie seither Zuflucht finden. Dort leiden sie unter den harten Wintern und höllischen Sommertemperaturen. Viele sind gestorben. Evins Weg zu ihrem Engagement für Flüchtlinge war umständlich. Nach ihrem Abschluss in Geisteswissenschaften deckte sie mit ihrer Arbeit Menschenrechtsverletzungen gegen Kurden auf. Kurdistan setzt sich aus Teilen des Iraks, der Türkei, Syriens und des Irans zusammen. Sie untersuchte aber auch die Auswirkungen der neuen riesigen türkischen Staudämme auf Menschen und Umwelt. Dazu besuchte sie den nördlichen Irak, um zu sehen, wie sich der Damm auf die Flüsse Euphrat und Tigris auswirkte, deren Quellen in den türkischen Bergen entspringen und die durch Syrien und Irak zum Persischen Golf fliessen. Der Euphrat ist bereits fast ausgetrocknet. SIE BRAUCHT EINEN ROTARY CLUB ALS SPONSOR Als sich die Lage in Syrien zuspitzte, begann sie für humanitäre Nichtregierungsorganisationen als Übersetzerin zu arbeiten. Nachdem sie ihren Verlobten, ein im Irak lebender Kurde aus Syrien, kennengelernt hatte, zog sie dorthin, heiratete und begann ehrenamtlich in Flüchtlingslagern zu arbeiten, in die Tausende von Syrern und Jesiden geflüchtet waren. Eigentlich wollte sie weiter studieren, wusste aber nicht wie finanzieren. Erst als sie einen Absolventen des Rotary Friedenszentrums der Chulalongkorn-Universität, Bangkok, kennenlernte – ein gebürtiger Iraker – und dieser sie überzeugte, sie solle sich doch bei Rotary für ein Friedensstipendium bewerben, sah sie ihren weiteren Weg. Ganz so einfach war dies allerdings nicht: Es gab 16 «SIE TÖTETEN ALLE MÄNNER, SIE NAHMEN DIE FRAUEN UND KINDER MIT. MÄDCHEN WURDEN AUF DEM BASAR VERKAUFT.» EVIN, FRIEDENSSTIPENDIATIN

SCHWERPUNKT – ROTARY SUISSE LIECHTENSTEIN – FEBRUAR 2016 keinen Rotary Club im Irak, der sie sponsern konnte. Doch Evin wusste sich zu helfen und schliesslich wurde ihre Bewerbung vom Rotary Club von Asunción in Paraguay übernommen. WER WEISS SCHON, DASS MAN WEGEN KURDISCHER MUSIK VERHAFTET WIRD «Das Friedensstipendium war ein Meilenstein in meinem Leben», freut sie sich. Natürlich war sie erst mal überwältigt von den vielen Eindrücken aus ihrer Reise in eine «ganz neue Welt», fernab ihrer Heimat und dann von vielen Menschen, die aus Ländern kamen, über die sie zuvor nur gelesen hatte: Sri Lanka, Afghanistan, USA. Sie reiste nach Kambodscha, wo sie, nachdem sie über die Roten Khmer gelesen hatte, Menschen traf, die unter dem Regime gelitten hatten. «Ich habe sehr viel gelernt», sagt sie, und sie teilte ihr Wissen mit den anderen Studenten. «Kurdistan hat so viele und schwerwiegende Probleme», erklärt sie, dass Aussenstehende die meisten davon nicht kennen. Ein Lehrer und Friedensstipendiat, der Musik zur Friedensstiftung förderte, wusste beispielsweise nicht, dass das Spielen kurdischer Musik in der Türkei zur Inhaftierung führen konnte. SIE LEBT WEITERHIN IM NÖRDLICHEN IRAK, OBWOHL SICH DIE BEDINGUNGEN DORT SEIT IHRER ANKUNFT NUR VERSCHLIMMERT HABEN. La Monte Adams, ein Polizist aus Philadelphia, der mit Evin am Rotary Friedenszentrum studierte, schildert Evin als eher ruhige und aufmerksame Zuhörerin: «Sie bringt sich nur in Unterhaltungen ein, wenn sie eine relevante Meinung hat, die der Diskussion förderlich ist. Sie redet nicht nur um des Redens willen.» Evin zählte am Ende des Programms zu den talentiertesten Friedensstipendiaten. «Ich hätte nicht mehr von einer Person beeindruckt sein können», meinte Adams. «Sie zeigt grosse Leidenschaft gegenüber Themen, die sich auf das Leben der Menschen in ihrer Gemeinschaft beziehen, sie ist aber auch sehr besorgt über Menschen in der ganzen Welt.» Nun arbeitet Evin für NGOs und für Journalisten. Dabei organisiert sie Interviews und übersetzt. Sie geht überall dorthin, wo nach ihr gefragt wird, und reist drei oder vier Mal pro Jahr nach Syrien, wo sie sehr viel Zeit in den Lagern mit vertriebenen jesidischen und syrischen Flüchtlingen verbringt. Trotz Schulen und internationalen Organisationen vor Ort seien die Bedingungen schlecht. Die Menschen leben in Zelten, die im extremen irakischen Sommer heiss und im Winter bitterkalt sind. GESCHICHTEN DOKUMENTIEREN Sie arbeitet auch mit den Vereinten Nationen und anderen Organisationen zusammen, um die Geschichten von jesidischen Frauen und Mädchen zu dokumentieren. «Ich versuche, mein Bestes zu geben, um über alles zu berichten, was sie zu erzählen haben.» So erzählt Evin die Geschichte eines jungen Mädchens, dessen Erfahrung typisch war. Ihr Dorf wurde von der ISIS besetzt, und das Mädchen wurde vergewaltigt. «Sie töteten alle Männer; sie nahmen die Frauen und Kinder mit. Mädchen wurden auf dem Basar verkauft.» Frauen, die nicht verkauft werden können, werden oft getötet. In Sinjar, das kürzlich erneut von kurdischen Kämpfern eingenommen wurde, wurden Massengräber entdeckt, darunter eines, in dem nur ältere Frauen begraben waren. Der Kauf, Verkauf und die Massenvergewaltigung von Frauen und Mädchen durch die ISIS ist hinreichend dokumentiert worden, unter anderem von der Organisation Human Rights Watch, die 2015 einen ernüchternden Bericht veröffentlicht hat. ISIS hat offen eingestanden, dass sie Versklavung und Massenvergewaltigung als Methode einsetzt: Frauen werden als Kriegsbeute betrachtet. Es gibt jedoch noch eine andere kaltblütige und niedere Kriegslist als Grund für den Verkauf von Mädchen: Sie können verwendet werden, um ausländische Kämpfer anzulocken. Ich frage Evin, ob es für die Frauen einfach ist, nach so vielen Traumata darüber zu sprechen. «Das hängt von der Frau ab», sagt sie. «Einige sind stark.» Andere nicht. Sie übersetzte für eine Frau, die zu lachen anfing, als sie erzählte, wie ihr Bruder umgebracht wurde. Eine andere Frau sei mehrmals verkauft worden, wurde schwanger und hatte abgetrieben. «Sie hat mir das erzählt, und als mir der

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