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Rotary Magazin 02/2016

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Rotary Magazin 02/2016

SCHWERPUNKT – ROTARY

SCHWERPUNKT – ROTARY SUISSE LIECHTENSTEIN – FEBRUAR 2016 ROTARY FRIEDENSSTIPENDIAT WILL PLOWRIGHT WAS MOTIVIERT MENSCHEN IN BEWAFFNETEN GRUPPEN WIE ISIS? Es ist ein ganz besonderes Geräusch, wenn auf einen geschossen wird. Zuerst hört man, wie die Kugel mit einem Krachen die Schallmauer durchbricht. Dann hört man den Knall des abgefeuerten Gewehrs. Das ist das Geräusch, das der Rotary Friedensstipendiat Will Plowright hörte, als er sich 2013 in der nördlichen syrischen Stadt Aleppo aufhielt. Zu der Zeit war die Stadt unter der syrischen Regierung, der Freien Syrischen Armee, dem Islamischen Staat, der Nusra-Front und einigen Al-Qaida-Mitgliedern aufgeteilt. Rotary Friedensstipendiat Will Plowright daten mit Fragen über sein Land, seine noch immer Menschen, nur in schrecklich, war in Aleppo, um Interviews für seine Pro- Identität und seine Tätigkeit. wirklich schrecklich abnormalen Situatio- 20 motion über bewaffnete Gruppen und ihre Motive durchzuführen. Er fand durch Journalistenkontakte einige zuverlässige Berater und schaffte es in die Stadt zu gelangen. Eines Tages fuhren ihn seine Berater in das alte Aleppo, das teilweise von der AUS VERZWEIFLUNG «Ich traf Menschen, die zu den Waffen gegriffen hatten, nachdem ihre Familien getötet oder nachdem ihre Gemeinschaft angegriffen worden war. Ein Kämpfer in nen.» Zwei Wochen gelang es ihm, in der Stadt von Gruppe zu Gruppe zu gehen und Anführer der Freien Syrischen Armee, der Nusra-Front und der früheren Syrischen Islamischen Befreiungsfront zu interviewen, bevor ein zerbrechlicher Waffenstill- ISIS kontrolliert war. Dort sass Plowright in Syrien erzählte mir, dass er nachdem seine stand gebrochen wurde und ihm der Lärm einer lokalen ISIS-Zentrale. Es hingen über- Familie bei einem Bombenangriff ums Le- der Schüsse sagte, dass es Zeit war, aufzu- all schwarze Flaggen und Gewehre lehn- ben kam, dachte, dass er, keine andere brechen. ten an den Wänden. Mehrere Stunden lang sprach er mit einem Befehlshaber, einem grossen, bärtigen, breitschultrigen Wahl hätte, als sich der nächstgelegenen bewaffneten Gruppe anzuschliessen, da sonst niemand wäre, um ihm zu helfen», REISEN MIT SINN Als er in Syrien ankam, war Plowright Mann Mitte 30. Sie sassen zusammen am sagt Plowright. «Wir denken, dass sie Psy- schon einige Jahre lang gereist, seit er das Boden, tranken Tee und assen kleine chopathen sind, dass sie böse sind. Aber Abitur abgeschlossen und Vancouver, Snacks. Gelegentlich löcherten ihn die Sol- Menschen in bewaffneten Gruppen sind B.C., verlassen hatte, wo er aufgewachsen war. Zuerst reiste er nach England, woher seine Eltern kamen, dann nach Australien und weiter nach Südamerika und Afrika. «Ich habe festgestellt, dass ich reisesüchtig war», sagt er. «Aber die Art, wie ich reiste, trug nichts dazu bei, Leid und die Armut, die ich an diesen Orten sah, zu bekämpfen. Ich wollte weiterhin reisen, aber auch auf eine Art arbeiten, die auch für andere Leute als für mich selbst von Nutzen war.» Plowright setzte seine Ausbildung mit einem Studium der Politikwissenschaften fort und erlangte dann einen Master in Konfliktforschung an der London School of Economics and Political Science. Wäh- Will Plowright, Rotary Friedensstipendiat. renddessen reiste er weiterhin und arbeitete ehrenamtlich für Organisationen wie War Child Holland und Darfur Australia

SCHWERPUNKT – ROTARY SUISSE LIECHTENSTEIN – FEBRUAR 2016 Network. Er arbeitete mit ehemaligen Kindersoldaten in Uganda und in HIV-Projekten in Swasiland. In Peru half er bei der Errichtung einer Schule für Strassenkinder, betrieben von Developing World Connections, einer von mehreren Rotariern gegründeten Nichtregierungsorganisation. Mit zunehmender Arbeit im Feld liessen ihn die Beweggründe bewaffneter Gruppen nicht mehr los, er nahm sie in seine Doktorarbeit an der University of British Columbia auf. In den nächsten Jahren begann er die Anführer solcher Gruppen über ihren Einsatz von Kindersoldaten in Uganda, im Südsudan und an anderen Orten zu interviewen. Im Norden Myanmars verbrachte er einige Monate und sprach mit Anführern der vielen, gegen die Regierung kämpfenden Gruppierungen. begann. Als er ihre Seite der Geschichte hörte – die Gruppe war eine von der Regierung verfolgte ethnische Minderheit –, begann er ihre Logik zu erkennen. «Diese Treffen sind interessant», sagt er, «weil man die Menschen besser versteht und die Gründe, weshalb sie kämpfen. Auch wenn sie etwas tun, mit dem man nicht einverstanden ist, entdeckt man beim Erzählen ihrer Geschichten, dass sie oft ganz normale Menschen sind.» «MENSCHEN IN BEWAFFNETEN GRUPPEN SIND NOCH IMMER MENSCHEN.» WILL PLOWRIGHT, ROTARY FRIEDENSSTIPENDIAT Chulalongkorn-Universität zurück. Er sprach mit anderen Rotary Stipendiaten über seine Forschung zu den Beweggründen, sich bewaffneten Gruppen anzuschliessen. RADIKALISIERUNG ODER GEHIRNWÄSCHE? «Wenn man einen Begriff wie Radikalisierung verwendet, ist dieser Begriff mit der Vorstellung der Gehirnwäsche verbunden, als ob jemand anders diese Person ausgetrickst hat und sie dazu bringen will, all diese radikalen Dinge zu denken», sagt Plowright. «Doch was eigentlich passiert, ist, dass die Person an diese Dinge zu glauben beginnt, weil sie aus ihrer Sicht ziemlich vernünftig erscheinen.» In den meisten Konflikten, meint Plowright, treffe man selten Menschen, die zum Kämpfen gezwungen werden oder die nur für materiellen Gewinn kämpfen. Deshalb sind Friedensgespräche so kompliziert: Sie müssen den verschiedenen Gruppen Raum bieten, in dem ihre Missstände thematisiert werden. Das Betrachten der Dinge aus einer anderen Sicht ist nicht nur für die Erforschung von Konflikten entscheidend, sondern auch für deren Beendigung. Das ist ein Weg, den Plowright oft gegangen ist. 21 EIN BIER FÜR DEN GAST Eines Morgens kam Plowright bei einem Aussenposten an, der an einem Berghang im tiefen Regenwald lag. Über das Tal waren die Regierungstruppen sichtbar. Als er den kleinen Bambusunterstand betrat und gegenüber vom Befehlshaber einer regierungsfeindlichen Gruppe sass, stellte dieser ein Sechserpack Heineken auf den Tisch. «Ich sagte: ‹Nein danke. In meinem Land trinken wir kein Bier am Morgen.› Aber ich konnte erkennen, dass mein Dolmetscher das nicht übersetzte. Dann sagte er zu mir: ‹Ich denke, du solltest es trinken. Er ist sehr nett zu dir, weil sie hier normalerweise kein Bier trinken. Sie trinken heimische Spirituosen. Er hat sich die grösste Mühe gegeben, um Bier für dich zu besorgen. Und nicht nur er. Du bist der Gast, und in ihrer Kultur können sie nicht trinken, wenn du nicht trinkst, und heute ist ihr freier Tag.›» Also griff Plowright zur Flasche, bedankte sich beim Befehlshaber und das Interview Zurück in Vancouver wurde eine Sache klar, als Plowright seine Erkenntnisse zusammenstellte: «Bewaffneten Gruppen ist die Art und Weise, wie sie dargestellt werden, und was die Menschen auf internationaler Ebene über sie denken, sehr wichtig», sagt er. «Sie möchten als legitim angesehen werden. Hinsichtlich des Einsatzes von Kindersoldaten nehmen viele bewaffnete Gruppen auf der Welt das Thema ernst und versuchen, Kindersoldaten aus ihren Reihen zu entlassen, um ihre internationale Legitimität zu erhöhen.» ROTARY FRIEDENSSTIPENDIUM Ungefähr zur gleichen Zeit erfuhr Plowright von den Rotary Friedensstipendien und bewarb sich. Er wurde angenommen, und er verbrachte 2014 drei Monate an der Chulalongkorn-Universität in Bangkok. Er nahm Unterricht und lernte andere Stipendiaten und weltweite Friedensinitiativen kennen. «Der Anschluss an das Netzwerk der Rotary Stipendiaten ist grossartig», sagt er. Kurz nach seinem Studium in Bangkok bekam Plowright einen Job für Ärzte ohne Grenzen in Afghanistan. Hier leitete er ein Schulungsprogramm an einem 800-Personen-Krankenhaus in der Provinz Helmand. Letzten November kehrte er zum 10. Jahrestags des Friedensprogramms an die «Es ist ein wenig nervenaufreibend, wenn man Menschen interviewt, die von anderen als Kriegsverbrecher beschuldigt wurden», sagt er. «Aber viele von ihnen haben tragische Geschichten. Einige haben ihre ganze Familie an ihre Regierung verloren. Es ist sehr schwer, eine solche Geschichte von jemandem zu hören, auch wenn man die Gruppe, für die sie kämpfen, in keiner Weise unterstützt. Sie sind immer noch Menschen. Sie leiden noch immer. In vielerlei Hinsicht ist das der erschreckendere Teil, weil es keine Monster und Buhmänner auf der Welt gibt. Es sind ganz normale Menschen, die diese schrecklichen Dinge tun.» Frank Bures, RI La version française: rotary.ch (webcode 137)

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