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ZEIT_2015_39_10036

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24. SEPTEMBER <strong>2015</strong> DIE <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong><br />

ÖSTERREICH<br />

Das Porträt<br />

36<br />

Heimat<br />

einmal<br />

anders<br />

Der Lienzer Schuldirektor<br />

Johannes Moritz sieht in<br />

Flüchtlingskindern die Chance,<br />

das langsame Aussterben<br />

Osttirols zu verhindern<br />

VON BARBARA BACHMANN<br />

»Die Lienzer sind nicht<br />

weltoffen, aber dafür sind sie<br />

menschlich großartig.«<br />

Johannes Moritz in der<br />

Michael Gamper-Volksschule<br />

Foto: Gerhard Berger für DIE <strong>ZEIT</strong><br />

Am dritten Schultag, einem Freitag<br />

im September, sitzt Johannes<br />

Moritz in der Pfarrkirche zur<br />

Heiligen Familie und freut sich<br />

wie ein kleines Kind. Der Direktor<br />

der Michael-Gamper-Volksschule<br />

in Lienz wurde »zum<br />

Glück religionslos« erzogen, trotzdem ist das eine<br />

besondere Messe. »Den Schritt, den der Pfarrer<br />

heute gegangen ist, den würden nicht viele Katholiken<br />

gehen«, sagt er. In diesem Jahr hat er auch die<br />

muslimischen Kinder begrüßt, er hat sie gesegnet<br />

und das Kreuzzeichen weggelassen. Er hat von Abraham<br />

gesprochen, bei dem Christen und Muslime<br />

zusammenkämen. »Es tut sich etwas in Lienz«,<br />

denkt Johannes Moritz, eckige Brille, runder Bauch,<br />

in solchen Momenten. Er stammt aus einer Arbeiterfamilie,<br />

ist hier aufgewachsen und kennt Osttirol,<br />

den Hinterhof Österreichs, genau.<br />

Erst zwei Tage zuvor hat der 56-Jährige, der seit<br />

26 Jahren Schulleiter ist, einen Anruf erhalten:<br />

Flüchtlingskinder sind in Lienz eingetroffen, untergekommen<br />

in einem aufgelassenen Traditionsgasthaus,<br />

dem Neuwirt in der Schweizergasse. Ob<br />

der Direktor sie in seiner Schule aufnehmen könne,<br />

fragt die Beauftragte für Flüchtlinge. Sofort<br />

Im Auftrag einer smarten<br />

Energiezukunft.<br />

Danke, Wasserkraft!<br />

sagt er für ein afghanisches Geschwisterpaar zu,<br />

acht und sieben Jahre alt. Jawad und Mariam Rahimi<br />

sind zwei von 200 in Lienz untergebrachten<br />

Flüchtlingen und zwei von rund 5000 Flüchtlingskindern,<br />

die in diesem Jahr in Österreich<br />

eingeschult werden.<br />

Unvorbereitet und kurz vor Schulbeginn war die<br />

Michael-Gamper-Schule mit einer neuen Situation<br />

konfrontiert, einer Herausforderung. »Und einer<br />

großen Chance«, sagt Johannes Moritz. Denn Jawad<br />

und Mariam, die beiden Kinder aus der Fremde, sind<br />

für ihn eine Bereicherung für das alternde Lienz.<br />

Es steht nicht eben zum Besten um die Stadt mit<br />

ihren 12 000 Einwohnern, noch trister sieht die Zukunft<br />

für den ganzen Bezirk aus. Seit Jahren kämpft<br />

man gegen Abwanderung, 2030 könnte der Bezirk<br />

statt 50 000 nur noch 35 000 Einwohner haben, die<br />

im Schnitt 70 Jahre als sein werden. Gut Ausgebildete<br />

ziehen wegen fehlender Arbeitsplätze fort. Nur knapp<br />

mehr als vier Prozent Ausländer leben im Bezirk. Die<br />

Arbeitslosenrate liegt mit zehn Prozent über dem österreichischen<br />

Durchschnitt.<br />

Dass die Guten gehen, weiß Johannes Moritz aus<br />

eigener Erfahrung. Seine früheren Freunde, heute Universitätsprofessoren<br />

oder Rechtsanwälte, haben Lienz<br />

verlassen. Von den 74 Kindern, die in seinem Wohnblock<br />

aufgewachsen sind, ist kaum mehr jemand da.<br />

Auch seine eigenen, eine Psychologin, ein Wirtschaftsingenieur,<br />

ein Sozialpädagoge, sie sind alle fort. Mit<br />

der höheren Bildung wandere auch vieles andere ab,<br />

sagt der Direktor mit dem kahlen Kopf. »Was bleibt,<br />

ist die Bodenständigkeit, die Tradition.«<br />

Und die Engstirnigkeit. »Die Osttiroler sind einfache<br />

Menschen«, sagt Moritz. Als Musiker, der einen<br />

Männerchor leitet und mehrere Instrumente spielt,<br />

darunter Gitarre, vermisst er andere Töne. Selten sei<br />

ein Live-Jazz zu hören. Im konservativen Milieu von<br />

Lienz mache Andersartigkeit vielen Angst.<br />

Als Direktor der Michael-Gamper-Schule, deren<br />

Schüler er selbst war, ist Anderssein für Johannes<br />

Moritz nichts Fremdes. Die meisten Sozialwohnungen<br />

fallen in seinen Sprengel, er hat die<br />

sozial Schwächsten der Stadt an seiner Schule.<br />

Luxusprobleme wie an der Volksschule Nord<br />

kennt er nicht.<br />

Vergangenes Jahr hat Johannes Moritz um eine<br />

zusätzliche Stelle angesucht, zur Unterstützung<br />

lernschwacher Schüler. Von Flüchtlingen war damals<br />

noch keine Rede. Die Mail schickte er ab mit<br />

dem Betreff: »VS Michael Gamper: Ein herausfordernder<br />

Arbeitsplatz«. Kurz vor Schulbeginn<br />

kommt die Zusage. Er freut sich, da er nun auch die<br />

Flüchtlingskinder fördern kann. Und nicht nur<br />

sie: Neben den afghanischen Geschwistern sind<br />

zwei weitere Kinder eingeschult worden, die kein<br />

Wort Deutsch sprechen, dazu kommen allein in<br />

den ersten Klassen vier Schüler mit einer<br />

Deutschschwäche.<br />

Doch am ersten Schultag die böse Überraschung.<br />

Moritz öffnet seine Mailbox und sieht<br />

eine Nachricht: Das Land Tirol will nur noch<br />

eine halbe Stelle genehmigen. In solchen Momenten<br />

bringt ihn das System zum Verzweifeln.<br />

Es sei nicht vorbereitet auf die neue Herausforderung,<br />

die durch die Flüchtlingskinder auf die<br />

Schulen zugekommen sei, zumindest nicht an<br />

Orten wie Lienz.<br />

Derweil weichen Jawad und Mariam einander<br />

nicht von der Seite. Sie orientieren sich an<br />

den anderen Kindern und lernen schnell. Die<br />

Klassenlehrerin der 1a bittet sie, ihren Namen<br />

auf ein Arbeitsblatt zu schreiben. Jawad schreibt<br />

seinen auf Dari. »Super, aber das können wir<br />

nicht lesen«, sagt die Lehrerin und zeigt ihm, wie<br />

man den Namen in lateinischen Buchstaben<br />

schreibt. Da kommt der Direktor herein, in<br />

Jeanshose und Lederjacke.<br />

Er grüßt die Kinder und bückt sich, um<br />

nicht allzu groß zu wirken. Jawad und Mariam<br />

gibt er die Hand. »Wie geht es euch heute?«,<br />

fragt er. Sie lächeln und sagen »ja« und »danke«,<br />

wie sie das immer tun, wenn sie etwas gefragt<br />

werden. »So offene und robuste Kinder.<br />

Sie scheinen nicht traumatisiert zu sein«, sagt<br />

der Direktor später: »Sie lächeln mich schon<br />

an. Das Eis ist gebrochen.« Vieles laufe am Anfang<br />

nonverbal, da die Kommunikation noch<br />

Schwierigkeiten bereite. Am Tag zuvor standen<br />

die Rahimis schon um 7.15 Uhr vor dem<br />

Schultor, obwohl der Unterricht erst um acht<br />

Uhr beginnt.<br />

Johannes Moritz kennt alle 115 Schüler beim<br />

Namen. Er hat sich einst bewusst für die Volksschule<br />

entschieden, weil er mit den Kleinsten am<br />

besten kann. Er hat als junger Lehrer mit<br />

Schwerstbehinderten gearbeitet, zahlreiche Aktionen<br />

gestartet, Flohmärkte fürs Jugendrotkreuz<br />

organisiert, und doch sagt er »andere tun hundert<br />

Mal mehr für die Kinder«.<br />

Er sagt auch, er sei ein Beziehungsmensch,<br />

einer, der das Vertraute brauche. Er hat Lienz nie<br />

für lange verlassen, hat hier eine Familie gegründet.<br />

Seine Frau, eine Krankenschwester, ist wie er<br />

verbunden mit der Heimat, also ist das Paar geblieben.<br />

Gern hätte er studiert, von Lienz aus unmöglich.<br />

Aber möglich war, sich in Fortbildungen<br />

zum Facilitator und Coach ausbilden zu lassen.<br />

Das Bleiben ging mit Verzicht einher. Vor<br />

ein paar Wochen hat er ein Gedicht in sein Notizbuch<br />

geschrieben. Es beginnt so:<br />

Die<br />

weitesten Wege<br />

die wir<br />

fähig sind zu gehen<br />

liegen<br />

weit unterhalb<br />

unserer Träume<br />

Nachdem der Direktor versucht hat, eine Lösung<br />

für die Stellenkürzung zu finden, bekommt er<br />

mittags einen Anruf: Das Land Tirol genehmigt die<br />

volle Lehrstelle. Er ist erleichtert, aber auch sauer.<br />

Die psychische Belastung, die nicht nötig gewesen<br />

wäre. »Aus dem fernen Innsbruck ist es wohl schwer<br />

einzuschätzen, was wir in Lienz brauchen.« Geografisch<br />

ist er in Osttirol weitab vom Schuss, keine<br />

Autobahn führt her, und kein Zug verbindet die<br />

Landeshauptstadt mit dem Bezirk. Umso mehr<br />

muss er kämpfen. Zum Glück habe er Kollegen,<br />

ohne die er nicht vorankäme, sagt er. Aber er würde<br />

lügen, wenn er behaupte, alle seien auf seiner<br />

Wellenlänge. »Der Bruch zwischen links und rechts<br />

zieht sich in Österreich durch alle Berufssparten.«<br />

Die Ablehnung, sie werde nicht immer ausgesprochen,<br />

aber spürbar bleibe sie.<br />

In den raren freien Minuten stampft der Direktor<br />

ständig neue Pläne aus dem Boden. Gerade hat<br />

er beschlossen, einen Integrationschor an seiner<br />

Schule zu gründen. Ende September sollen die<br />

Proben beginnen. Er hat viele Ideen. Es wäre leichter,<br />

einen Schnellzug zu bremsen, als ihn, wenn er<br />

von ihnen erzählt. Und doch lassen sich nur wenige<br />

umsetzen. Schuld daran sei nicht der mangelnde<br />

Wille, sagt der Direktor, sondern es fehlten oft die<br />

Ressourcen. Für Jawad und Mariam hat er Turnsäcke<br />

und Buntstifte organisiert. Geschäfte haben<br />

zugesagt, Hefte zu sponsern. »Die Lienzer sind nicht<br />

weltoffen, aber dafür sind sie menschlich großartig.«<br />

Stabilität ist ein Merkmal, das Johannes Moritz<br />

seinen Mitbürgern zuschreibt. Etwas, das die Geschwister<br />

Rahimi besonders brauchten, um sich in<br />

Osttirol entfalten zu können. Vorausgesetzt, sie<br />

dürfen bleiben. Der Direktor hat gesehen, dass<br />

Kinder wieder gehen mussten, nachdem sie sich<br />

eingelebt hatten. Ein Verlust für alle, weil Menschen<br />

wie er viel Energie in diese Kinder stecken und weil<br />

sie eine Ressource sind, vielleicht ein Schatz. Daher<br />

hofft er, nein, er wünscht sich, dass die Rahimis<br />

bleiben und eine Zukunft aufbauen. Er hofft das<br />

nicht nur für sie, sondern auch für sein Lienz.<br />

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Erfolge<br />

1989<br />

Direktor<br />

Johannes Moritz war noch keine 30<br />

Jahre alt, als er Schuldirektor wurde.<br />

Für einen so jungen Lehrer<br />

ungewöhnlich und ein beruflicher wie<br />

persönlicher Erfolg<br />

2013<br />

Keine Uni, aber ...<br />

Weil er in Lienz bleiben möchte,<br />

verzichtet Moritz auf ein Studium. Als<br />

Kompensation dafür absolviert er bei<br />

Freeman Dhority eine Ausbildung<br />

zum Facilitator. Ein persönliches<br />

Highlight, das ihn erst zu dem<br />

Menschen gemacht habe, der er<br />

heute sei<br />

Misserfolge<br />

1979<br />

Die Freunde gehen<br />

Nach der Schule zerstreuen sich<br />

Moritz’ Jugendfreunde an<br />

verschiedene Universitäten. In Lienz<br />

bleibt außer ihm selbst fast keiner –<br />

und niemand kommt zurück. Die<br />

Trennung von den Jugendfreunden<br />

schmerzt den Direktor bis heute

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