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BB_OhneSchweisskeinPreis

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Extreme Temperaturen und Feuchtigkeit

und ein Zaubertrank, der helfen könnte:

Was die Schweizer Nationalmannschaft

erwartet, wenn sie an der Fussball-WM in

der Dschungelmetropole Manaus gegen

Honduras spielt. Von Barbara Bachmann

OhneSchweiss

keinPreis

4 NZZ am Sonntag | 15. Juni 2014


Heisses Pflaster

WM-Austragungsort am Amazonas

VENEZUELA

Äquator

Es gibt einen Satz in

Manaus, der immer

passt, um ins Gespräch

zu kommen: «Heiss

heute, oder?» Egal zu

welcher Uhrzeit, der

Schweiss klebt an der

Kleidung und die Kleidung an der

Haut. Die Haare sind nicht zu bändigen,

die Finger schwellen an. Einzig

die Minuten unter der Dusche verheissen

eine kurze Zeit der Linderung:

Wenn kaltes Wasser an einem perlt.

Die Klimaanlagen in den Räumen

vermitteln das Gefühl eines Jahreszeitenwechsels.

Draussen, der Naturgewalt

Sonne ausgesetzt, tut man gut

daran, sich nicht zu viel zu bewegen.

Und spätestens ab dem Moment, an

dem man jeden Schritt abwägt und

sich die Frage stellt: «Muss ich das

heute erledigen, oder geht es auch

morgen?», teilt man den Gemütszustand,

der diese Stadt bestimmt.

Willkommen in Manaus, der

Hauptstadt des Amazonas, des grössten

der 26 Gliedstaaten Brasiliens.

Hereinspaziert in die Zwei­Millionen­

Metropole am wasserreichsten Fluss

der Welt, mit Temperaturen von bis

zu 40 Grad und einer Luftfeuchtigkeit

von 95 Prozent. Im umstrittensten

Austragungsort der Fussballweltmeisterschaft

2014 werden vier Vorrundenspiele

stattfinden. Zu den acht

bei der WM-Gruppenauslosung gezogenen

Mannschaften zählt auch die

Schweiz. Am 25.Juni wird sie hier

auf Honduras treffen. Der Schweizer

Nationaltrainer Ottmar Hitzfeld

nannte die Wahl des Standorts Amazonas

«fast unverantwortlich».

Träge Gemüter

Mit den Befürchtungen, unter den

klimatischen Bedingungen von Manaus

keinen guten Fussball spielen zu

können, steht er nicht allein da. Laut

der Presse von England, dessen Nationalteam

hier auf Italien trifft, fürchten

die Spieler die Stadt. Der «Daily Mirror»

bezeichnete sie als «Drogenhöhle»,

in der die «Kriminalität ausser

Kontrolle» gerate, und erzürnte mit

den Behauptungen nicht nur den Bürgermeister

der Stadt.

Der Hafen von Manaus an einem

Morgen im April: Träge Gemüter starren

in trübe Gewässer. Unter bunten

Sonnenschirmen bieten sie Schifftickets

für Routen entlang des Amazonas

an. Kleine Boote und grosse

Dampfer kämpfen um ihren Platz. Ein

Fischer sagt: «Hier schlägt das Herz

der Stadt.» Wenn der Hafen die

Lebenspumpe von Manaus ist, muss

der Markt dahinter so etwas wie sein

Magen sein. Mit dem Motorboot fahren

Männer die jüngste Ladung zum

Amazonas

BOLIVIEN

Manaus

BRASILIEN

São Paulo

1000 km

Brasilia

Rio de

Janeiro

Eingang. Rohe Fischkörper klatschen

aufeinander, grobe Frauenhände

schaben ihre Schuppen ab. Auf der

Strasse werden Fleischspiesse bis spät

in die Nacht grilliert.

In kleinen Kiosken mit Flussblick

gibt es Mittagsmenus für umgerechnet

drei Euro; Chilisaucen in alten

Plasticflaschen gammeln verdächtig

vor sich hin. Ein Geruchsgemisch aus

Urin, verfallenem Obst und frittiertem

Hähnchen beisst sich in die Nasenhöhlen.

Hinter dem Markt reihen sich

heruntergekommene Kolonialgebäude

in bunten Farben, keines

gleicht dem anderen, dazwischen

ragen ein paar Hochhäuser empor,

Elektrokabel suchen sich ihren Weg

von einem zum anderen.

Manaus gilt als Tor zum Amazonas,

wer hierherkommt, sollte gegen Tetanus,

Diphtherie, Polio, Hepatitis B und

Typhus geimpft sein; eine Malariaprophylaxe

in der Reiseapotheke wird

empfohlen. Sie ist besonders wichtig,

wenn man an einem der ein­ bis

mehrtägigen Ausflüge in den umliegenden

Dschungel teilnimmt. Es steht

auf dem Programm: Piranhafischen,

Schwimmen mit rosaroten Delphinen,

Klettern auf 60 Meter hohe Bäume.

Aber der Tourismus spielt für

Manaus’ Wirtschaft nur eine kleine

Rolle, viel wichtiger sind Industrie

und Transport. Dank der in den

1960ern eingerichteten Freihandelszone

florieren die beiden Zweige. 600

Unternehmen sind in Manaus ansässig,

unter ihnen grosse Namen wie

Samsung und Sony. In den letzten 50

Jahren ist die Bevölkerung auf das

Sechsfache gestiegen. Die Stadt ist

nicht wegen ihrer Schönheit bekannt.

Reich und Arm wohnen in Manaus

oft dicht aneinander, am Wochenende

donnert die Oberschicht in Jetski den

schwarzen Fluss entlang oder vertreibt

sich die Zeit in den neuen Shoppingcentern.

Auf dem Weg zum Wahrzeichen

der Stadt, dem Teatro Amazonas,

sieht man Obdachlose auf Pappkarton

in den Strassen kauern. Ein

Kontrast zum prunkvollen Bau, der

aus einer Zeit stammt, in der Manaus

der einzige Lieferant für Kautschuk

und daher eine der reichsten Städte

der Welt war.

Manaus scheint Gefallen an monumentalen

Bauten zu finden. Die 3,6

Kilometer lange Verbindung über den

Rio Negro gilt als pro Quadratmeter

teuerste Brücke Brasiliens, insgesamt

kostete sie 1,099 Milliarden Reais

(436,3 Millionen Franken). Dank der

Fussball­Weltmeisterschaft ist die

Stadt nun um ein weiteres Grossprojekt

reicher: die Arena da Amazônia.

Auf der offiziellen Homepage wird das

Gebäude als zukünftiges Postkartenmotiv

angepriesen.

Natur abstrahieren

Es ist kurz nach Mittag, als sich Hubert

Nienhoff im Schatten einer Baubude,

die als provisorischer Eingang dient,

den Schweiss von der Stirn wischt.

«Wir haben uns mit der Identität des

Ortes beschäftigt und versucht, die

Natur zu abstrahieren», sagt der Partner

des deutschen Architekturbüros

GMP-Architekten, das für die Planung

verantwortlich war. Aussenwand

und Dach sind eine Konstruktion aus

Stahlstreben, importiert aus Portugal.

Das Muster findet sich im Handwerk

der Indigenen und auch in der Flora

der Umgebung wieder. Einheimische

haben dem Stadion den Namen

«Cesta» gegeben, was so viel wie Korb

bedeutet.

Dennoch hört man in diesen Tagen

selbst vom grössten Fussballfan, er

könnte weinen, wenn er an den

Unsinn dieses Stadions denke. Die

Kritik der Bewohner richtet sich vor

allem gegen die immens hohen Kosten.

270 Millionen Schweizerfranken

hat der Stadionbau verschlungen, viel

mehr als ursprünglich angegeben.

Nienhoff versteht die aufgebrachte

Bevölkerung, die den Wert nicht

umgesetzt sieht. «Nicht alles Geld

kommt hier an», sagt er. Er muss das

Wort Korruption nicht aussprechen,

um sich verständlich zu machen.

Auch was die Arbeitsbedingungen

betrifft, war der Stadionbau von

Manaus in der Kritik: Moderne Sklavenarbeit

herrsche an der Baustelle;

von den 1800 Arbeitern, die beinahe

rund um die Uhr im Einsatz waren,

kamen 4 ums Leben, sie stürzten vom

Dach oder erlitten einen Herzinfarkt.

Ein Baustopp verzögerte die Einweihung

um Monate.

Jährlich werden rund 2,4 Millionen

Franken nötig sein, um das Gebäude

instand zu halten. Es ist finanziert

durch Steuergelder; die anfangs versprochenen

privaten Financiers konnten

nicht gefunden werden. Mit der

Zukunft des Stadions ist auch Kritik­

Coolin

Manaus

Für WM-Besucher in

Manaus empfiehlt sich

dringend ein Hotelzimmer

mit funktionierender

Klimaanlage. Ein Hotel

mit verlässlichem Air-

Conditioning, das im

Moment noch Zimmer

anbietet, ist das «Millennium».

Ausserdem

lockt hier ein Pool, und

auch für neue Flipflops

braucht niemand in

die Hitze zu gehen. Ein

Einkaufszentrum ist Teil

des Hotelkomplexes. Wer

beim Stadtspaziergang

wegen der Temperaturen

zu kollabieren droht,

dem empfehlen wir den

Besuch des Cafés Skina

dos Sucos. Da wird eine

wunderbar grosse Auswahl

an frischen Säften

aus exotischen Früchten

serviert, wie beispielsweise

aus der Guaraná-

Beere oder dem süsslichsauren

Cupuaçu (Grossblütiger

Kakao).

8 NZZ am Sonntag | 15. Juni 2014


punkt Nummer drei verbunden: Kein

Klub aus Manaus wird 42000 Menschen

zu einem Spiel bewegen. Das

beste Team der Stadt rangiert in der

vierten Liga und füllt nicht einmal ein

Zehntel der Sitzplätze. Ob die grossen

Klubs aus Rio de Janeiro und São

Paulo einige ihrer Partien nach

Manaus verlegen, wie sie es nach Brasilia

tun, bleibt fraglich. Die beiden

Städte Brasilia und Manaus könnten

unterschiedlicher nicht sein.

Kongresse oder Konzerte seien in

der Arena da Amazônia denkbar,

beruhigen die Verantwortlichen. Aber

schon das Teatro Amazonas ist an

Konzertabenden bei freiem Eintritt oft

nur halb voll. Im ursprünglichen Konzept

der deutschen Architekten war

das Stadion als Teil der Stadt gedacht,

als Versammlungsort, ausgestattet

mit einem Shoppingcenter. «Wenn es

nur ein paarmal im Jahr benützt wird,

ist es ein verlorener Fleck», sagt Nienhoff

und verabschiedet sich Richtung

Flughafen.

Recht des Stärkeren

Wenn der Hafen das Herz und der

Markt der Magen der Stadt ist, sind

die Strassen die verstopften Adern

von Manaus. Es ist ein Montag im

April, die Busfahrer streiken, sie fordern

mehr Lohn vor der Weltmeisterschaft.

Am nächsten Tag ist wieder

Normalität eingekehrt, was in Manaus

pures Chaos bedeutet: Menschen warten

an nicht überdachten Haltestellen

und winken überfüllten Bussen hinterher,

die geradeaus an ihnen vorbeifahren,

über den löchrigen Asphalt

ratternd.

Im Amazonas scheint niemand so

genau zu wissen, wozu die weissen

Streifen auf den Strassen, die andernorts

in aller Regel als Fussgängerübergang

dienen, gut sind. Das Recht des

Stärkeren zählt wie im Dschungel

auch im Strassenverkehr. Gemeinschaftsautos

bieten für den doppelten

Preis einer Busfahrt etwas Komfort.

Es gibt in der Zwei­Millionen­Stadt

weder U-Bahn noch Züge, 12000

Moto­Taxifahrer arbeiten ohne

Arbeitserlaubnis. Der Bau einer

Schwebebahn wurde auf unbestimmte

Zeit verschoben.

Brasilien war das einzige Land, das

sich für die WM 2014 beworben hatte.

Es hatte daher so viel Zeit wie kein

anders Gastgeberland zuvor, um sich

darauf vorzubereiten. «Dennoch

brauchten wir ein paar Jahre, bis wir

kapiert haben, dass sie hier tatsächlich

stattfinden wird», sagt ein Stadtbewohner.

Die Fifa schrieb zehn Austragungsorte

vor – zwölf sind nun

über das monströse Land gesät, das

fünftgrösste der Welt.

15. Juni 2014 | NZZ am Sonntag

Egal, mit wem man in Manaus

spricht, auf die Frage, ob die Stadt

ausreichend vorbereitet war auf bis zu

50 000 Besucher pro Spiel, kriegt

man immer dasselbe müde Lächeln

zur Antwort, das klar sagt: Nein,

waren und sind wir nicht. Neben dem

Verkehr betrifft das vor allem die

Unterkünfte. Die verfügbaren Betten

sind Monate im Voraus ausgebucht

und die Preise teilweise um das Zehnfache

nach oben geschnellt.

Vor dem Arbeitsamt von Manaus

sammelt sich an einem gewöhnlichen

Wochentag schon kurz vor sieben Uhr

morgens eine Menschentraube. In der

Stadt wurde eine Kampagne gestartet,

die im Jargon des Fussballs überzeugen

soll: Wenn du nicht ausgewählt

wurdest, Brasilien zu verteidigen – so

der Slogan –, dann hast du jetzt noch

die Möglichkeit, in das Team der Helfer

aufzusteigen.

«Manaus wird einen bleibenden

Eindruck in der Welt hinterlassen»,

sagt eine Frau in einem Cyber­Café,

die Englisch und Spanisch studiert

und damit als eine der wenigen in

Manaus eine Fremdsprache beherrscht.

«Ja, aber welchen?», fragt

ein Mann am Computer daneben. Er

kriegt keine Antwort darauf.

Es gibt einen

Satz in Manaus,

der immer

passt, um ins

Gespräch zu

kommen: ‹Heiss

heute, oder?›

Arena da Amazônia: Nach Ablauf der Fussball-WM wird das

Stadion wohl kaum je wieder gefüllt.

JOSE ZAMITH / AP

Auch in der Amazonashauptstadt

versammelten sich während der landesweiten

Proteste im Juni vergangenen

Jahres rund 100000 Menschen

auf den Strassen, es formte sich die

Bewegung «Vem pra rua», was so viel

bedeutet wie «Geh auf die Strasse».

Dennoch ist das wenig im Vergleich zu

den riesigen Demonstrationen in

Städten wie Rio de Janeiro oder São

Paulo. Es wäre nicht verwunderlich,

wenn die Hitze damit zusammenhinge.

Zweifellos ist sie imstande, den

Keim einer Protestbewegung ersticken

zu lassen.

Nachts, bei leicht abgekühlten

Temperaturen, verläuft das Leben

ungezügelter, auch wenn das Zentrum

wie ausgestorben wirkt. Aber der

Schein trügt, niemand schläft, die

Partys finden nur ausserhalb statt. In

dunklen Kneipen verschmelzen Mann

und Frau zu den Klängen der im Norden

und Nordosten so beliebten

Musik des Forró. Hier genügt ein

Blick, um zu wissen, wer mit wem

kurz darauf das Lokal verlassen wird.

Die Musik und die Bewegungen scheinen

eine Konsequenz aus dem feuchtheissen

Klima von Manaus zu sein.

Am Hafen und verteilt an Strassenecken

in der Stadt stehen sich die

Piranhas – so werden auch Manaus’

Prostituierte genannt, nicht nur die

Fische im Wasser – um diese Zeit die

Füsse platt. Die Tatsache, dass in

Manaus viel mehr Frauen als Männer

leben und der Anteil der Homosexuellen

überproportional hoch ist, löst so

manchen Konflikt aus. Es gibt Nächte,

da erhitzen sich die Gemüter zu sehr,

und eine Kehle kann schnell durchgeschlitzt

sein. Die Manauaras sind so

unkontrollierbar wie ihre Stadt.

Energie und Kraft

Regnet es in Manaus, fällt zuweilen in

der ganzen Stadt die Internetverbindung

aus, manchmal versagt auch das

Stromsystem. Manaus liegt abgeschieden,

es gibt keine Strasse in den

Süden, die einzige Verbindung auf

dem Landweg führt nach Venezuela.

Ein Frachtschiff Richtung Atlantikküste

fährt vier Tage den Amazonas

entlang. Flüge sind teuer, genau wie

alles, was importiert werden muss.

Dafür sind Früchte aus dem umliegenden

Urwald günstig. Einige sind

besonders beliebt, weil sie der Trägheit

entgegenwirken, Energie und

Kraft spenden wie die kleine, dunkelrote

Acai­Beere. Die Menschen im

Amazonas schwören darauf, giessen

ihren Saft üppig über das Essen oder

verzehren ihn gekühlt als Eis. Auf

dem Speiseplan der Schweizer Nationalmannschaft

sollte die Acai­Beere

also nicht fehlen.

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