BB_OhneSchweisskeinPreis
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Heisses Pflaster
WM-Austragungsort am Amazonas
VENEZUELA
Äquator
Es gibt einen Satz in
Manaus, der immer
passt, um ins Gespräch
zu kommen: «Heiss
heute, oder?» Egal zu
welcher Uhrzeit, der
Schweiss klebt an der
Kleidung und die Kleidung an der
Haut. Die Haare sind nicht zu bändigen,
die Finger schwellen an. Einzig
die Minuten unter der Dusche verheissen
eine kurze Zeit der Linderung:
Wenn kaltes Wasser an einem perlt.
Die Klimaanlagen in den Räumen
vermitteln das Gefühl eines Jahreszeitenwechsels.
Draussen, der Naturgewalt
Sonne ausgesetzt, tut man gut
daran, sich nicht zu viel zu bewegen.
Und spätestens ab dem Moment, an
dem man jeden Schritt abwägt und
sich die Frage stellt: «Muss ich das
heute erledigen, oder geht es auch
morgen?», teilt man den Gemütszustand,
der diese Stadt bestimmt.
Willkommen in Manaus, der
Hauptstadt des Amazonas, des grössten
der 26 Gliedstaaten Brasiliens.
Hereinspaziert in die ZweiMillionen
Metropole am wasserreichsten Fluss
der Welt, mit Temperaturen von bis
zu 40 Grad und einer Luftfeuchtigkeit
von 95 Prozent. Im umstrittensten
Austragungsort der Fussballweltmeisterschaft
2014 werden vier Vorrundenspiele
stattfinden. Zu den acht
bei der WM-Gruppenauslosung gezogenen
Mannschaften zählt auch die
Schweiz. Am 25.Juni wird sie hier
auf Honduras treffen. Der Schweizer
Nationaltrainer Ottmar Hitzfeld
nannte die Wahl des Standorts Amazonas
«fast unverantwortlich».
Träge Gemüter
Mit den Befürchtungen, unter den
klimatischen Bedingungen von Manaus
keinen guten Fussball spielen zu
können, steht er nicht allein da. Laut
der Presse von England, dessen Nationalteam
hier auf Italien trifft, fürchten
die Spieler die Stadt. Der «Daily Mirror»
bezeichnete sie als «Drogenhöhle»,
in der die «Kriminalität ausser
Kontrolle» gerate, und erzürnte mit
den Behauptungen nicht nur den Bürgermeister
der Stadt.
Der Hafen von Manaus an einem
Morgen im April: Träge Gemüter starren
in trübe Gewässer. Unter bunten
Sonnenschirmen bieten sie Schifftickets
für Routen entlang des Amazonas
an. Kleine Boote und grosse
Dampfer kämpfen um ihren Platz. Ein
Fischer sagt: «Hier schlägt das Herz
der Stadt.» Wenn der Hafen die
Lebenspumpe von Manaus ist, muss
der Markt dahinter so etwas wie sein
Magen sein. Mit dem Motorboot fahren
Männer die jüngste Ladung zum
Amazonas
BOLIVIEN
Manaus
BRASILIEN
São Paulo
1000 km
Brasilia
Rio de
Janeiro
Eingang. Rohe Fischkörper klatschen
aufeinander, grobe Frauenhände
schaben ihre Schuppen ab. Auf der
Strasse werden Fleischspiesse bis spät
in die Nacht grilliert.
In kleinen Kiosken mit Flussblick
gibt es Mittagsmenus für umgerechnet
drei Euro; Chilisaucen in alten
Plasticflaschen gammeln verdächtig
vor sich hin. Ein Geruchsgemisch aus
Urin, verfallenem Obst und frittiertem
Hähnchen beisst sich in die Nasenhöhlen.
Hinter dem Markt reihen sich
heruntergekommene Kolonialgebäude
in bunten Farben, keines
gleicht dem anderen, dazwischen
ragen ein paar Hochhäuser empor,
Elektrokabel suchen sich ihren Weg
von einem zum anderen.
Manaus gilt als Tor zum Amazonas,
wer hierherkommt, sollte gegen Tetanus,
Diphtherie, Polio, Hepatitis B und
Typhus geimpft sein; eine Malariaprophylaxe
in der Reiseapotheke wird
empfohlen. Sie ist besonders wichtig,
wenn man an einem der ein bis
mehrtägigen Ausflüge in den umliegenden
Dschungel teilnimmt. Es steht
auf dem Programm: Piranhafischen,
Schwimmen mit rosaroten Delphinen,
Klettern auf 60 Meter hohe Bäume.
Aber der Tourismus spielt für
Manaus’ Wirtschaft nur eine kleine
Rolle, viel wichtiger sind Industrie
und Transport. Dank der in den
1960ern eingerichteten Freihandelszone
florieren die beiden Zweige. 600
Unternehmen sind in Manaus ansässig,
unter ihnen grosse Namen wie
Samsung und Sony. In den letzten 50
Jahren ist die Bevölkerung auf das
Sechsfache gestiegen. Die Stadt ist
nicht wegen ihrer Schönheit bekannt.
Reich und Arm wohnen in Manaus
oft dicht aneinander, am Wochenende
donnert die Oberschicht in Jetski den
schwarzen Fluss entlang oder vertreibt
sich die Zeit in den neuen Shoppingcentern.
Auf dem Weg zum Wahrzeichen
der Stadt, dem Teatro Amazonas,
sieht man Obdachlose auf Pappkarton
in den Strassen kauern. Ein
Kontrast zum prunkvollen Bau, der
aus einer Zeit stammt, in der Manaus
der einzige Lieferant für Kautschuk
und daher eine der reichsten Städte
der Welt war.
Manaus scheint Gefallen an monumentalen
Bauten zu finden. Die 3,6
Kilometer lange Verbindung über den
Rio Negro gilt als pro Quadratmeter
teuerste Brücke Brasiliens, insgesamt
kostete sie 1,099 Milliarden Reais
(436,3 Millionen Franken). Dank der
FussballWeltmeisterschaft ist die
Stadt nun um ein weiteres Grossprojekt
reicher: die Arena da Amazônia.
Auf der offiziellen Homepage wird das
Gebäude als zukünftiges Postkartenmotiv
angepriesen.
Natur abstrahieren
Es ist kurz nach Mittag, als sich Hubert
Nienhoff im Schatten einer Baubude,
die als provisorischer Eingang dient,
den Schweiss von der Stirn wischt.
«Wir haben uns mit der Identität des
Ortes beschäftigt und versucht, die
Natur zu abstrahieren», sagt der Partner
des deutschen Architekturbüros
GMP-Architekten, das für die Planung
verantwortlich war. Aussenwand
und Dach sind eine Konstruktion aus
Stahlstreben, importiert aus Portugal.
Das Muster findet sich im Handwerk
der Indigenen und auch in der Flora
der Umgebung wieder. Einheimische
haben dem Stadion den Namen
«Cesta» gegeben, was so viel wie Korb
bedeutet.
Dennoch hört man in diesen Tagen
selbst vom grössten Fussballfan, er
könnte weinen, wenn er an den
Unsinn dieses Stadions denke. Die
Kritik der Bewohner richtet sich vor
allem gegen die immens hohen Kosten.
270 Millionen Schweizerfranken
hat der Stadionbau verschlungen, viel
mehr als ursprünglich angegeben.
Nienhoff versteht die aufgebrachte
Bevölkerung, die den Wert nicht
umgesetzt sieht. «Nicht alles Geld
kommt hier an», sagt er. Er muss das
Wort Korruption nicht aussprechen,
um sich verständlich zu machen.
Auch was die Arbeitsbedingungen
betrifft, war der Stadionbau von
Manaus in der Kritik: Moderne Sklavenarbeit
herrsche an der Baustelle;
von den 1800 Arbeitern, die beinahe
rund um die Uhr im Einsatz waren,
kamen 4 ums Leben, sie stürzten vom
Dach oder erlitten einen Herzinfarkt.
Ein Baustopp verzögerte die Einweihung
um Monate.
Jährlich werden rund 2,4 Millionen
Franken nötig sein, um das Gebäude
instand zu halten. Es ist finanziert
durch Steuergelder; die anfangs versprochenen
privaten Financiers konnten
nicht gefunden werden. Mit der
Zukunft des Stadions ist auch Kritik
Coolin
Manaus
Für WM-Besucher in
Manaus empfiehlt sich
dringend ein Hotelzimmer
mit funktionierender
Klimaanlage. Ein Hotel
mit verlässlichem Air-
Conditioning, das im
Moment noch Zimmer
anbietet, ist das «Millennium».
Ausserdem
lockt hier ein Pool, und
auch für neue Flipflops
braucht niemand in
die Hitze zu gehen. Ein
Einkaufszentrum ist Teil
des Hotelkomplexes. Wer
beim Stadtspaziergang
wegen der Temperaturen
zu kollabieren droht,
dem empfehlen wir den
Besuch des Cafés Skina
dos Sucos. Da wird eine
wunderbar grosse Auswahl
an frischen Säften
aus exotischen Früchten
serviert, wie beispielsweise
aus der Guaraná-
Beere oder dem süsslichsauren
Cupuaçu (Grossblütiger
Kakao).
8 NZZ am Sonntag | 15. Juni 2014