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59.3 Geher in der Sackgasse

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RUBRIK

BARBARA BACHMANN

Geher in der

Sackgasse

Mit manipulierten

Dopingtests

lassen sich

missliebige Sportler

disqualifizieren.

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REPORTAGEN #59

Menschen gehen einmal um den Block, wenn sie sich die Beine vertreten

müssen. Sie gehen auf Berge und um Seen herum, wenn sie die Stadt satt

haben. Sie gehen manchmal auch, um sich selbst ein bisschen besser

zu verstehen. Menschen, die nicht gehen, sind sehr alt, haben ein gebrochenes

Bein oder sitzen im Gefängnis. Alex Schwazer ist ein Mensch,

der nicht mehr gehen darf. Dabei ist er gesund, ja topfit. Eine Strecke von

50 Kilometern kann er schneller gehen als ein ambitionierter Hobbysportler

im fliegenden Laufschritt.

Doch der Weg des Südtiroler Gehers Alex Schwazer, Olympiasieger

und Europameister, führt zuletzt nicht über Asphalt oder Tartanbahnen

zu einer Ziellinie, sondern an den Gehstrecken dieser Welt vorbei.

Unterwegs sind nur noch seine Körperflüssigkeiten, Blut und Urin,

von Labor zu Labor. Sein Fall, ein Krimi aus der Sportwelt, macht Schwazer

bekannter, als es im Drehbuch für seine Randsportart vorgesehen ist.

Denn für eine Figur interessiert sich die Öffentlichkeit vielleicht noch

mehr als für einen strahlenden Sieger: für den gefallenen Helden.

Seine Geschichte ist die eines Täters, der zum Opfer wird.

Schwazer hat Dopingmittel genommen, er wird überführt und gesperrt.

Er versucht ein sauberes Comeback. Doch dabei wird ihm zum

Verhängnis, dass er sich einen neuen Trainer wählt, mit dem noch so

einige Köpfe aus der Sportwelt eine Rechnung zu begleichen haben.

Nach einem zweiten positiven Dopingbefund beteuert er: «Ich habe

nicht gedopt, ich wurde Opfer eines Komplotts.» Weil es Anzeichen

für eine Manipulation seiner Dopingprobe gibt, kämpft er für eine

grössere Sache als für Rekorde und Medaillen: für den Beweis seiner

Unschuld. Und für das Recht, wieder gehen zu dürfen. Zwei Gerichte

klären im Frühjahr 2021, ob Alex Schwazer rehabilitiert wird. Bekommt

er mit 36 Jahren noch eine Chance, sich ein letztes Mal für Olympische

Spiele zu qualifizieren?

Schwazers Karriere beginnt im Alter von 14 Jahren, als der Sohn

einer Schulhauswartin und eines Strassenarbeiters über die Jugendspiele

zum Gehen kommt, einer für Aussenstehende wunderlichen

Sportart. Geher müssen stets mit einem Fuss Bodenkontakt haben. In

der Bewegung darf das jeweils vordere Bein ab dem Aufsetzen nicht

gebeugt werden, das Knie muss gestreckt sein. Das führt zu einer markanten

Hüftbewegung, die Geher wie watschelnde Enten aussehen lässt.

Dabei fordert die Disziplin, seit 1932 olympisch, höchste Konzentration.

Bei einer unsauberen Technik kann der Geher mit einer gelben

Kelle verwarnt werden. Bei Regelverstössen stellen Kampfrichter Disqualifikationsanträge

durch das Zeigen einer roten Karte. Bei der dritten

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LEICHTATHLETIK

war der Wettkampf bis 2018 vorbei, seither folgt vor der Disqualifikation

noch eine Zeitstrafe. Schwazer wählt die Sportart als Jugendlicher, weil

in seiner Nähe eine Gruppe von Gehern trainiert. Und weil er gut darin

ist. «Was mich an diesem Sport am meisten fasziniert, ist die Distanz»,

sagt er einmal. So wie der Zehnkämpfer der vielseitigste Leichtathlet

ist und der 100-Meter-Sprinter der schnellste, so ist der Geher über

50 Kilometer der ausdauerndste. Was er zu Beginn seiner Karriere nicht

weiss: Ausdauer wird eine Eigenschaft sein, die ihm auch ausserhalb

des Sports abverlangt wird.

Mit 18 gewinnt Schwazer ohne spezifisches Training die Junior-

Italienmeisterschaft. Er tritt in die Sportgruppe der Carabinieri ein.

2005 wird er bei der WM in Helsinki unerwartet Dritter über 50 Kilometer.

Ein «unbeschreiblicher Glücksmoment», vielleicht der schönste

seines Sportlerlebens. Er ist der jüngste Leichtathlet Italiens, der eine

WM-Medaille holt. 2007 stellt er einen bis heute unangefochtenen

Italienrekord über 50 Kilometer auf. Schwazer gilt fortan als Ausnahmetalent.

Er ist eifrig und streng zu sich selbst. Italienische Medien

nennen ihn den «Soldaten».

Peking, 22. August 2008: Nach 24 Runden vor dem Leichtathletik­

Stadion und einer auf der Tartanbahn im «Vogelnest» von Peking läuft

Schwazer, Startnummer 2102, als Erster ins Ziel, presst die Hände vors

Gesicht, fällt vor Erschöpfung schluchzend auf die Knie. Bei 3 Stunden,

37 Minuten und 9 Sekunden stoppt die Zeit, olympischer Rekord.

Als Kind malt Schwazer die olympischen Ringe und sich selbst

ganz oben auf dem Siegerpodest. Als junger Erwachsener unterschätzt

er den Nachhall der Spiele. Der Verband, die Sponsoren, das Land Südtirol,

alle feiern sie ihren Volkshelden. Er bekommt einen Werbevertrag

von Ferrero, ein Nordic-Walking-Weg wird nach ihm benannt. Doch

geniessen kann er seinen Erfolg nicht. Schwazer hat sein sportliches

Lebensziel früh erreicht, mit 23. Was kann für einen Geher nach Olympiagold

noch kommen? Für seinen Trainer ein Vertrag mit der chinesischen

Nationalmannschaft. Schwazer trainiert zeitweise mit zehn Chinesen

in Piemont, hat morgens den Geruch von Algensuppe in der Nase und

fühlt sich vernachlässigt. Er würde eine Pause brauchen und macht

dennoch weiter. Alles ist ein Krampf. Je länger Schwazer Teil der Geher­

Szene ist, desto mehr versteht er: um ihn ein Dopingsumpf. Die Griechin

Athanasia Tsoumeleka, Olympiasiegerin von 2004: gedopt. Der Russe

Sergej Kirdjapkin, Weltmeister von 2005: gedopt. Der Spanier Francisco

Fernández, Europameister von 2006: gedopt. Die Russin Olga Kaniskina,

Weltmeisterin 2007 und Olympiasiegerin 2008: gedopt. Schwazer

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GEHER IN DER SACKGASSE

wiederum muss bei der WM in Berlin 2009 aufgeben, weil er körperlich

und geistig ausgebrannt ist.

Sein Hauptsponsor, ein begeisterter Ausdauerathlet und sein

Fan, bietet ihm daraufhin an, einen Kontakt zu Michele Ferrari herzustellen,

weil dieser für sein strukturiertes Training bekannt sei. Der

Sportarzt ist da schon ein verurteilter Sportbetrüger, nachdem er über

Jahre die Radsportelite mit Dopingpräparaten versorgt hat. Zu Schwazer

aber will Ferrari nur gesagt haben: «Wenn du gut trainiert bist und dein

Gewicht niedrig hältst, gewinnst du auch ohne Doping.» Ferrari wird

später lebenslang im Sport gesperrt.

Schwazer hat zu Beginn der 2010er Jahre das Gefühl, besser

zu sein als seine Konkurrenten, die in seinen Augen nur gewinnen,

weil sie vollgepumpt sind mit unerlaubten Substanzen. Nach der EM

2010 in Barcelona erhält Schwazer als Zweiter rückwirkend Gold, weil

der Erstplatzierte, eine Russe, überführt wird. 2011 erzählen ihm russische

Athleten bei einem Bier während der WM in Südkorea, bei der

er Neunter wird, offen von ihren Bluttransfusionen, berichtet Schwazer.

Er nimmt Nahrungsergänzungsmittel, schläft vor seinem Elternhaus in

einem Sauerstoffzelt, aber beides bringt ihn nicht weiter. Schwazer hat

Angst, dass er zurückfällt. Zweiter zu werden, ist keine Option für ihn.

Warum soll ich der Einzige sein, der sich an die Regeln hält, denkt er

damals. Was folgt, ist die oft erzählte Geschichte vom Einzeldoper. Ob

sie stimmt, was Schwazer versichert, oder ob er ein System im Hintergrund

deckt, lässt sich nicht aufklären.

Es beginnt mit einer Testosteron-Crème, die Schwazer in

einer Online-Apotheke bestellt. Er trägt sie auf den Bauch auf, aber da

sie keinen Effekt erzielt, setzt er sie ab. Sein Ziel ist das Blutdopingmittel

Epo, das die Bildung roter Blutkörperchen anregt und so die Sauerstoffaufnahme

verbessert. Es steht seit 1990 auf der Dopingliste. Er

durchwühlt das Internet, in der Türkei sollen Dopingmittel rezeptfrei

erhältlich sein. Im September 2011 fliegt er von Wien nach Antalya.

In einer Apotheke bestellt er die Schachteln, 20 Minuten später liefert

sie ein Kurier tiefgekühlt auf einem Scooter. Das Epo-Mittel Eprex im

Wert von 1500 Euro. Der Präsident der Apothekerkammer von Antalya

wird diese Darstellung später in türkischen Medien anzweifeln.

Wenn Schwazer zurückdenkt, sind das die schäbigsten Szenen

seines Lebens. Am Telefon lügt er seine Familie und die Freundin an.

Sitzt allein im Hotelzimmer und überlegt, wie er das Epo während des

Rückflugs kühlen kann. Zu Hause versteckt er es in einer Schachtel

Vitamintabletten im Kühlschrank. Über Google Scholar lernt er, wie er

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Beim Bier erzählen die Russen ihm von Bluttransfusionen.


LEICHTATHLETIK

es spritzen muss. Am besten in die Armvene, weil es dort weniger lange

nachweisbar ist. Epo hat einen zeitnahen Effekt, daher nimmt er es erst

im März 2012, qualifiziert sich damit für Olympia in London. «Ich ekelte

mich vor mir selbst», erinnert er sich Jahre später.

Als ein Blutwert nach einer kaderinternen Kontrolle auffällig

ist, gesteht Schwazer Pierluigi Fiorella sein Doping. Der Arzt des Nationalkaders

war früher selbst ein Spitzen-Geher im Studentensport.

Er rät Schwazer, jeden Tag ein Blutbild zu machen, um den Wert mit

möglichst vielen unauffälligen Vergleichswerten zu kaschieren. Damit

schützt der Arzt auch sich selbst. Im Juli ist Schwazer nervlich am Ende,

hat sich von allen isoliert. Er trainiert in Deutschland bei seiner Freundin,

der italienischen Eiskunstläuferin Carolina Kostner. In ihrem Badezimmer

spritzt er sich das Epo. Heute weiss er: «Ich war in einem Wahn

drin und bin fast gestorben vor Angst.» Niemand im Team scheint ihm

zu misstrauen, nur einen Mann macht Schwazers Verhalten stutzig:

Sandro Donati, Italiens Symbolfigur des sauberen Sports.

Es ist der 11. Juli 2012, als Donati eine Nachricht an einen Mitarbeiter

der Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) verschickt, wie er das oft tut.

Er schildert darin seinen Verdacht gegenüber Schwazer, der in London

nicht im olympischen Dorf unterkommen will, sondern allein in einem

Stadthotel. Als am 30. Juli die Kontrolleure zu Hause bei Schwazer in

Südtirol klingeln, ist ihm klar, dass seine Probe positiv sein wird, am

Vortag hat er das letzte Mal gedopt. «Ich war froh, dass es vorbei war.»

Eine Woche später ist Schwazer überführt. Auf einer Pressekonferenz

entschuldigt er sich unter Tränen. Sein Blick weicht den Kameras aus,

dem Blitzlichtgewitter, er hält die Hände vors Gesicht, ist ein Bild des

Elends.

Schwazer wird für drei Jahre und neun Monate gesperrt. Der Staatsanwalt

ermittelt gegen ihn. Im Netz zirkulieren Unverständnis, Wut

und Häme. Er fliegt aus der Sportgruppe der Carabinieri, muss seine

Dienstwaffe abgeben. Er wendet sich vom Sport ab, beginnt ein Wirtschaftsstudium,

kellnert. Da seiner Freundin vorgeworfen wird, von

seinem Doping gewusst zu haben, wird auch sie gesperrt, für 21 Monate.

Die beiden trennen sich. Ende 2014 endet das Strafverfahren gegen

ihn mit einem Vergleich und einer achtmonatigen Bewährungsstrafe.

Schwazer beschliesst, es noch einmal mit dem Sport zu probieren.

Sauber. Mit der Hilfe eines Mannes, von dem Schwazer sagt, er sei

«24 Stunden am Tag im Krieg gegen Doping».

Sandro Donati ist heute 74 Jahre alt und von schmächtiger Statur.

Die braunen Haare trägt er seitlich gescheitelt. Bis 1976 trat er als Mit­

Illustration: Luca Schenardi


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LEICHTATHLETIK

telstreckenläufer an, wurde dann Nationaltrainer. Viele Jahre arbeitete

er für das Italienische Olympische Komitee (Coni) und den nationalen

Leichtathletikverband (Fidal) und erhielt tiefe Einblicke in das System.

Schnell merkte er, dass Doping von Trainern und Funktionären geduldet

und manchmal gezielt gefördert wurde. Denn damit die Sportverbände

in den Genuss staatlicher Sportförderung kommen, müssen Medaillen

gewonnen werden. «Die Athleten wählen Doping, wenn sie dahin geführt

werden. Die Verbände wollen es so aussehen lassen, als wäre es

eine individuelle Entscheidung», sagt Donati, gebeugt über Aktenordner,

im Frühjahr 2019 in seiner Wohnung in Rom.

Im Zuge der Ermittlungen gegen Schwazer wird dessen gesamtes

Umfeld untersucht. Als Wada-Berater hat Donati Zugang zu konfisziertem

Material. Auf einer Festplatte von Giuseppe Fischetto stösst

er auf über 12 000 Blutwerte von internationalen Leichtathleten aus

den Jahren 2000 bis 2012. Viele der Werte, vor allem bei russischen

Sportlern, sind auffällig.

Fischetto ist damals nicht nur Leitender Arzt von Fidal, sondern

auch einer der höchsten Anti-Doping-Beauftragten der IAAF. Kontrollierter

und Kontrolleur in einer Person. Hätte man Schwazer nicht

überführt, wäre Fischetto wohl nie durchsucht worden. Einer Kollegin

sagt Fischetto im Juni 2013 in einem mitgeschnittenen Telefonat:

«Dieser crucco (italienisches Schimpfwort für Südtiroler) muss eliminiert

werden.» Rückendeckung erhält der Arzt vom damaligen IAAF-

Präsidenten, dem senegalesischen Funktionär Lamine Diack. Jenem

Mann, der 2020 wegen seiner Beteiligung an einem Korruptionsnetzwerk

verurteilt werden wird, das Millionen Euro für die Vertuschung

von positiven Dopingtests erpresst hat, in erster Linie von russischen

Athleten. Alex Schwazer hat gewaltigen Ärger ausgelöst.

Im April 2015 sucht der Geher Sandro Donati in Rom auf, um

ihm eine Frage zu stellen: «Würden Sie sich die Hände schmutzig machen

und mich trainieren?» Das saubere Comeback eines Dopers könnte

ein Signal sein, denkt Donati. Er verhört Schwazer stundenlang, aus den

Akten kennt er die Wahrheit. Donati erklärt sich bereit, ihm eine zweite

Chance zu geben – unter einer Bedingung: «Du musst aussagen, was

du weisst.»

Als 2015 ein Verfahren wegen «Beihilfe zum Sportbetrug

durch Mitwisserschaft» gegen die Ärzte Giuseppe Fischetto und Pierluigi

Fiorella sowie eine Fidal-Funktionärin eingeleitet wird (sie werden

2018 zu Geld- und Haftstrafen verurteilt und 2019 in zweiter Instanz

freigesprochen), ist Schwazer Kronzeuge. Er sagt aus, dass die Ärzte vor

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GEHER IN DER SACKGASSE

den Olympischen Spielen in Peking versuchten, den Athleten ein

Asthma-Spray zu verschreiben, offiziell wegen der Luftverschmutzung

vor Ort. Asthmasprays sind gängige Mittel zur Leistungssteigerung,

da sie eine bessere Sauerstoffaufnahme ermöglichen. Er habe es nicht

verwendet, andere Athleten schon, sagt Schwazer. Denn er habe kein

Vertrauen zu Fischetto gehabt. Vor Gericht spricht der Geher das Offensichtliche

aus: dass der Internationale Leichtathletikverband vom

systematischen Doping Russlands gewusst haben muss.

Bevor er im Dezember 2015 diese vielleicht folgenschwere

Aussage macht, werden Alex und Alessandro, der Südtiroler und der

Römer, der reuige Doper und der Dopingbekämpfer, ein Team. Donati

spricht seinen Namen italienisch aus, «Swazer». Der nennt ihn Prof.,

auch heute noch. Schwazer zieht in eine Pension unweit von Donatis

Wohnung. Er investiert mehr als 30 000 Euro in das Comeback, für das

Training verlangt Donati nichts. Es geht ihm um eine grössere Sache,

um den sauberen Sport.

Fünf Stunden trainieren sie täglich, der halbe Sonntag ist frei.

Donatis Methoden sind ungewöhnlich, aber Schwazer vertraut dem

Trainer. Der hegt zunächst noch immer Misstrauen. Mithilfe von zwei

Krankenhäusern in Rom entwickelt Donati ein Kontrollsystem. In

achteinhalb Monaten wird Schwazers Blut 35 Mal untersucht. Zwei

Mal die Woche schickt Donati Schwazer zum Psychologen, um die

Depression zu behandeln, unter der er seit vier Jahren leidet. Es geht ihm

jeden Tag ein wenig besser, er ist auch neu verliebt. Kathrin. Schwazer,

der Soldat, er kämpft wieder.

Alex Schwazer, das ist zu jener Zeit wieder ein Weltklasseathlet

mit einem Ruhepuls von 28 Schlägen pro Minute bei einem

Maximalpuls von 190, mit einem Körperfett-Anteil von 5 Prozent und

einem Lungenvolumen von 7,10 Litern. «Er ist absolut anders als andere

Athleten», denkt Donati. Der Trainer verbessert seine Muskeleffizienz

und Grundschnelligkeit, er verlängert seinen Schritt. Seiner Frau

sagt er: «Dieser Junge ist ein Phänomen.»

Doch nicht alle freuen sich über die Rückkehr des verurteilten

Dopers. Gianmarco Tamberi, Europameister im Hochsprung, bezeichnet

Schwazer als «Schande Italiens». Luciano Barra, Ex-Fidal-Generalsekretär

und erklärter Feind Donatis, versucht Schwazers Olympia-

Qualifikation zu verhindern, indem er einen offenen Brief an den Fidal­

Präsidenten Alfio Giomi schreibt: «Ich empfehle dir, ich flehe dich an,

Schwazer nächste Woche nicht am Weltcup (in Rom) teilnehmen zu

lassen.» Doch Schwazer tritt an und gewinnt den Wettkampf über

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Donati ist am Telefon: «Alex, du bist positiv.»


LEICHTATHLETIK

50 Kilometer in der drittschnellsten Zeit seiner Karriere. Drei Wochen

später qualifiziert er sich in La Coruña auch über 20 Kilometer Distanz

für die Olympischen Spiele in Rio de Janeiro. Vor beiden Wettkämpfen

erhält sein Trainer einen Anruf eines Kampfrichters, der ihm nahelegt,

Schwazer nicht gewinnen zu lassen. Den zweiten Anruf nimmt Donati

auf und übergibt das Material der Polizei. «Für die IAAF war Alex da

schon tot», sagt Donati heute.

Der 21. Juni 2016 ist der längste Tag des Jahres, es sind noch 50 Tage

bis zu den Olympischen Spielen. In Rom hat es morgens schon 25 Grad,

Schwazer packt seine Sachen zusammen und fährt mit dem Auto nach

Südtirol. Zehn Minuten bevor er seine Freundin nach monatelangem

Training erstmals wieder im Arm hält, klingelt das Telefon. Es ist Donati,

er sagt: «Alex, du bist positiv.»

An die Stunden danach kann sich Schwazer nicht erinnern. Erst

an den Moment, als sein Trainer vor ihm steht. Keine Sekunde zweifelt

Donati an dessen Unschuld. «Sie haben sich gerächt, weil Alex nicht still

war», sagt Donati. Etwas Ähnliches ist ihm schon einmal passiert.

1997 wird Anna Maria Di Terlizzi des Dopings mit Koffein überführt.

Die Hürdensprinterin wird damals von Donati trainiert. Eine Analyse

ergibt, dass ihre Probe im Anti-Doping-Labor in Rom manipuliert worden

sein muss.

Donati vermutet einen Feldzug italienischer Spitzensportfunktionäre

gegen ihn, bei dem Schwazer – Kronzeuge für die einen, Verräter

für die anderen – die beste Angriffsfläche ist. Im nationalen Verband gilt

Donati seit 1987 als Nestbeschmutzer. Damals deckte er auf, dass italienische

Kampfrichter bei der WM in Rom das Messergebnis des Weitspringers

Giovanni Evangelisti um mehr als 50 Zentimeter manipuliert

hatten, um ihm zu Bronze zu verhelfen. Eine Kamera am Ende der

Sprunggrube bewies den Betrug. Danach musste Fidal-Präsident Primo

Nebiolo, ein mächtiger Strippenzieher der internationalen Sportwelt,

zurücktreten. Donati wurde als Nationaltrainer abgesetzt. Doch auch

als Italiens führender Anti-Doping-Fachmann, zu dem er sich in den folgenden

Jahren aufschwang, schonte er seine Landsleute nicht. Donati

legte in den 1990er Jahren das Dopingsystem des Biochemikers Francesco

Conconi offen, er kam auch dessen Schüler Michele Ferrari auf die

Schliche und belastete Nationalheilige wie den Radrennfahrer Marco

Pantani und die Fussballer von Juventus Turin.

Weil sie ihn im Leichtathletikverband nicht feuern konnten, wurde

Donati in abgelegene Büros versetzt, wo er Bücher über Dopingbekämpfung

schrieb, zum Beispiel Sieger ohne Wert, dessen Auslieferung durch

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LEICHTATHLETIK

Sportfunktionäre gestoppt wurde. 2006 schickte man ihn in Frühpension.

Er weiss, wie sich ein Kampf gegen Windmühlen anfühlt. Trotzdem

trifft ihn Schwazers Fall bis ins Mark: «In all den Jahren war das, was mit

Alex passiert ist, der schlimmste Schlag für mich», sagt Donati.

22. Juni 2016: Schwazer beruft wie vier Jahre zuvor eine Pressekonferenz

ein, bei der er sagt: «Jemand will nicht, dass ich zu den

Olympischen Spielen fahre.» Grund für das positive Ergebnis ist exogenes

Testosteron. Die privat gemachten Bluttests könnten beweisen,

dass er kein Epo genommen hat. Was das Steroid Testosteron betrifft,

das den Muskelaufbau beschleunigt, sind sie aussagelos.

Dopingproben werden auf zwei Urin- oder Blutröhrchen

aufgeteilt, die A- und die B-Probe. Untersucht wird zunächst nur die

A-Probe, die B-Probe bleibt versiegelt und gilt als Garantie für den

Sportler. Am 5. Juli bestätigt die Analyse der B-Probe Schwazers positives

Ergebnis. Seine letzte Chance, noch an den Olympischen Spielen

teilzunehmen, ist eine Berufung beim Internationalen Sportgerichtshof

(CAS). Er tagt kurz vor den Spielen in Rio de Janeiro, also fliegen Schwazer,

sein Anwalt und sein Trainer nach Brasilien. Schwazer ist überzeugt

von einem Freispruch, als er das Anwaltsbüro betritt, in dem die Verhandlung

stattfindet.

Bei Schwazer ist zwischen Oktober 2015 und Mai 2016 nur

eine Probe von zehn Urin- und acht Bluttests auffällig. Einen leistungssteigernden

Effekt schliessen Experten anhand der Werte aus, sie

können kein Dopingverhalten bei dem Athleten erkennen. Doch das

hilft ihm vor dem Sportgericht nicht, das nach Aktenlage entscheidet.

Und die besagt, dass er eine illegale Substanz in der Urinprobe hatte.

Das Gericht bestätigt die Sperre. Als Wiederholungstäter darf der Geher,

damals 31, für acht Jahre an keinen Wettkämpfen teilnehmen. Seine

Karriere ist damit faktisch zu Ende. Auf dem Weg zum Flughafen fährt

Schwazer im Taxi an der Olympia-Strecke vorbei. Er starrt aus dem

Fenster und denkt an die Anstrengung der letzten Monate. Er weiss,

dass er in Form gewesen wäre, zu gewinnen. Was er nicht weiss, ist, wie

das Testosteron in seinen Urin kam.

Am Neujahrstag 2016 stehen zwei Dopingkontrolleure um 7 Uhr 25

vor Schwazers Haustür, er soll eine Urin- und eine Blutprobe abgeben.

Das ist an sich nicht ungewöhnlich: Spitzensportler müssen für Kontrollen

rund um die Uhr erreichbar sein und ihre Aufenthaltsorte im

Voraus online angeben. Das Datum hat aber zur Folge, dass Schwazers

Proben mit dem Identifizierungscode 3959325 nicht direkt in das Institut

für Biochemie der Deutschen Sporthochschule in Köln gebracht

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GEHER IN DER SACKGASSE

werden können, weil das Kontrolllabor an diesem Tag geschlossen ist.

Stattdessen wird die Kühlbox über Nacht bei der Kontrollfirma GQS in

Stuttgart abgestellt und erreicht das Labor erst anderntags um 10 Uhr 20.

Dort werden jedes Jahr rund 30 000 Dopingproben analysiert. Dort lagern

auch sämtliche Dopingproben, die Schwazer je abgegeben hat.

Der erste Test ist negativ. Der leicht erhöhte Testosteronwert ist

nicht sofort verdächtig, weil Schwazer in der Silvesternacht Alkohol

getrunken hat. Erst am 5. März wird die Probe im Online-Meldesystem

«Adams» als «abnormal» eingestuft. Auf Ansuchen der IAAF wird sie

mit der genaueren IRMS-Methode erneut untersucht. Das Ergebnis:

Das Verhältnis von Testosteron zu Epitestosteron ist zu hoch, ein Hinweis

für eine Zufuhr von Testosteron. Am 13. Mai liegt der IAAF für

Schwazer ein positiver Dopingbefund vor. Es wird 39 Tage dauern, ehe

der Weltverband den Athleten informiert und sperrt.

Gegen Schwazer wird erneut ein Strafverfahren wegen Sportbetrugs

eingeleitet. Seine Anwälte erstatten indes Anzeige gegen Unbekannt.

Sie glauben an eine Manipulation der Probe. Die jüngere Sportgeschichte

ist gespickt mit derlei Geschichten. Nur waren es meist die

Sportler selbst, die ihre Proben manipulierten. Auffällig ist, dass Schwazers

Dopingkontrolle am 15. Dezember 2015 in Auftrag gegeben wird,

just an dem Tag, an dem er gegen die italienischen Verbandsärzte aussagt.

Auf der Urinprobe steht «Racines», Schwazers 4500 Einwohner

zählende Wohngemeinde, in der ausser ihm kein Leistungssportler lebt.

Im Abschlussbericht des Sportlabors ist bei Ort «unbekannt» eingetragen.

Der Besitzer der Kontrollfirma ist ein Bekannter Fischettos, das

belegen E-Mails, die der Staatsanwaltschaft in Bozen vorliegen. Die

Zeugenbefragung in Rio ergibt, dass Schwazers Urin auf dem Weg von

Südtirol bis nach Köln mehrmals unbewacht und in Stuttgart über Nacht

für mindestens sechs Personen zugänglich gewesen ist. Die Verwahrungskette

ist nicht lückenlos. Was paranoid klingt, hat reale Vorbilder.

Welches Mass an krimineller Energie beim Vertuschen von Dopingproben

möglich ist, zeigt das russische Staatsdoping in jenen Jahren.

Dabei werden belastete Proben russischer Athleten nachts über ein Türchen

in einer Wand des Anti-Doping-Labors in Sotschi heimlich ausgetauscht.

Das Sportministerium in Moskau überwacht die Geheimdienstoperation,

die der McLaren-Report der Wada 2016 nachweist.

Die Staatsanwaltschaft fordert die Beschlagnahmung von Schwazers

Dopingprobe in Köln, um sie im Labor der Carabinieri-Sondereinheit

RIS in Parma untersuchen zu lassen. Aber die IAAF, ihr Eigentümer,

stellt sich zunächst dagegen. Kurz darauf wird die Sportwelt von

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LEICHTATHLETIK

einem internen Datenleck der Wada erschüttert. Das Hacker-Kollektiv

«Fancy Bears», das dem russischen Militärgeheimdienst GRU zugerechnet

wird, veröffentlicht im September 2016 interne Unterlagen, die darauf

hindeuten, dass etliche westliche Spitzensportler medizinische

Ausnahmegenehmigungen erhalten haben, um leistungssteigernde Präparate

wie Asthma-Sprays nutzen zu können, die eigentlich auf der

Dopingliste stehen. Der Wada-Hack wirke wie eine Revanche für die

Aufdeckung russischen Staatsdopings, schreiben Sportjournalisten.

Italienischen Medien werden E-Mails aus dem Leck zugespielt,

die den Fall Schwazer betreffen. Eine IAAF-Anwältin schreibt darin

an einen Kollegen, dass es «unmöglich sei, die gentechnische Analyse zu

stoppen» und «dass der Richter den IAAF-Ansatz negativ betrachten

und seine Wahrnehmung zu dem Schluss führen könnte, dass Schwazers

Verdacht in gewisser Weise begründet ist». Im E-Mail-Verkehr

zwischen dem Anti-Doping-Beauftragten der IAAF, dem Franzosen

Thomas Capdevielle, und dem IAAF-Anwalt Ross Wenzel ist von «einem

Komplott gegen AS» die Rede. Die E-Mails werden auch an einen

Wada-Anwalt geschickt, obwohl die Welt-Anti-Doping-Agentur zu

absoluter Neutralität verpflichtet wäre.

Es wird ein Jahr dauern, ehe die Proben in Italien ankommen.

10 Milliliter der A- und 6 Milliliter der B-Probe, ein wenig mehr als ein

Esslöffel. Dort stellt ein forensischer Gutachter fest, dass die Proben

Schwazer zuzuordnen sind. Merkwürdig ist, dass der DNA-Wert in der

B-Probe von Schwazers Urin drei Mal höher ist als in der A-Probe. Und

20 Mal so hoch wie in dem Urin, den Schwazer im April 2018 zum

Vergleich abgibt. Dabei müsste es eigentlich andersherum sein, weil

DNA-Spuren im Urin über die Zeit zerfallen, das belegt auch eine eigens

angefertigte Studie mit 100 Probanden.

12. September 2019, Saal A des Landesgerichts Bozen: Der

Gutachter nennt Manipulation als eine von mehreren Möglichkeiten für

die abnormalen Werte des Gehers. Der Richter gibt ein weiteres Gutachten

in Auftrag. Fidal und Wada werden um Mitarbeit gebeten. Der

italienische Leichtathletikverband kooperiert, die Welt-Anti-Doping-

Agentur nicht. Ein Jahr später hat sich Manipulation als die einzig

plausible Erklärung herauskristallisiert. Richter Walter Pelino stellt das

Verfahren wegen Sportbetrugs ein und erklärt den Geher in einem

87 Seiten langen Dokument für unschuldig: «Es steht mit hoher Glaubwürdigkeit

fest, dass die von Alex Schwazer entnommenen Urinproben

manipuliert wurden, um sie positiv zu machen.» Und damit nicht nur

der Athlet, sondern auch sein Trainer diskreditiert werden sollte.

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GEHER IN DER SACKGASSE

Schwazer und Donati glauben, dass die Probe gleich zweimal manipuliert

wurde. Zunächst durch das Hinzufügen fremden, testosteronbelasteten

Urins. Um den Betrug zu vertuschen, wurde die fremde DNA entfernt.

Möglich ist das mit UV-Bestrahlung, aber das vernichtete auch Schwazers

DNA. Als die Proben nach Parma geschickt werden sollten, musste seine

DNA aus einer seiner negativen Proben hinzugefügt werden. Zuerst sei

die A-Probe manipuliert worden, später die B-Probe. So erklären sich

Schwazer und Donati das unterschiedliche DNA-Vorkommen.

Der Richter schreibt dazu: «Die Manipulationen an den Reagenzgläsern

hätten jederzeit in Stuttgart oder in Köln stattfinden können,

wo sich nachweislich unverschlossene, also für den Bedarf leicht

verwendbare Reagenzgläser befanden.» Der Leiter des Kölner Labors

hält die Möglichkeit der Manipulation in dem Labor für ausgeschlossen.

Denn dort werden die Proben nach der Ankunft anonymisiert und sind

Schwazer nicht mehr zuzuordnen. Aber die gehackten E-Mails, die vor

Gericht als Beweismittel zugelassen werden, belasten auch Köln. Ein

IAAF-Anwalt schreibt im Februar 2017 an Capdeville: «Ich denke, die

Realität ist, dass das Labor versucht, so neutral wie möglich zu sein,

aber es würde helfen, wenn sie bereit wären, unsere Position bis zu

einem gewissen Grad zu unterstützen.» Wenig später antwortet derselbe

Anwalt: «Ich glaube, ich habe sie überzeugen können.»

In seiner Urteilsbegründung kritisiert der Richter: «Wada und

IAAF agieren völlig selbstbezogen. Sie dulden keine Kontrollen von

aussen und sind bereit, alles zu tun, um sie zu verhindern, bis hin zur

Erstellung falscher Erklärungen und zur Durchführung von Verfahrensbetrug.»

In einem Tweet schreibt Wada, sie sei «entsetzt über die

zahlreichen rücksichtslosen und unbegründeten Anschuldigungen».

«Jetzt lasst Alex wieder gehen», fordert die Gazzetta dello Sport

am Tag nach der Urteilsverkündung. Doch so einfach ist es nicht. Der

IAAF, 2019 in World Athletics umbenannt, teilt mit, dass die Sportsperre

des Gehers bis zu ihrem Ende 2024 nicht aufgehoben werden

soll. Das Urteil bezeichnet Schwazer trotzdem als seinen «grössten

Sieg». Zwischenzeitlich hat die Aufarbeitung der Dopingfälle aus dem

unbekümmerten und selbstsicheren Olympiasieger von 2008 einen

misstrauischen Mann mit tiefen Stirnfalten gemacht, der nicht mehr

ans Mobiltelefon ging, wenn er eine fremde Nummer auf dem Display

sah. Nun ist die Last von ihm abgefallen. Vorerst.

Kalch, ein 9-Häuser-Nest in den Südtiroler Bergen: Vor Schwazers

Elternhaus ragt ein eisernes Schild in die Höhe, darauf seine Silhouette

und die Siegerzeit bei den Olympischen Spielen 2008. Am Balkon

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LEICHTATHLETIK

ein verblichenes Banner «Gratulation unserem Olympiasieger schwoz».

Alex Schwazer hat die Insignien seines Erfolgs bei seiner Mutter zurückgelassen,

die Urkunden und Pokale vor dem Verstauben bewahrt.

Im Wohnzimmer, im Flur, überall im Hause Schwazer verteilt sich die

erfolgreiche Vergangenheit des Sohnes.

Sein Glück findet Alex Schwazer, der nun Hobbyläufer trainiert,

nicht mehr ausschliesslich im Sport. Nach Rio ist die Nachricht,

dass er Vater wird, seine Rettung. Ida. Im September 2019 heiratet Alex

seine Kathrin. An Schwazers Wohnzimmerwand hängt ein gemaltes

Bild, lebensgross. Er hält darauf seine Frau und seine Tochter schützend

im Arm. Im Oktober 2020 wird er zum zweiten Mal Vater. Noah.

Der Geher ist wieder an einem Ziel angekommen. Nur lag es anderswo

als gedacht.

April 2021: Die letzten Wochen hatten es in sich für Schwazer. Er

tritt beim Festival di Sanremo auf, dem wichtigsten TV-Event Italiens.

Der Ausschuss für Kultur, Bildung und Sport der Abgeordnetenkammer

fordert die Regierung und das nationale olympische Komitee auf, bei

den internationalen Sportgremien vorstellig zu werden, damit Schwazer

an den Olympischen Spielen in Tokio teilnehmen kann. Eine dementsprechende

Online-Petition wird Anfang Mai von über 73 000 Menschen

unterstützt. Für den Sommer ist ein Buch von Sandro Donati angekündigt,

Alex und die grosse Verschwörung, das auch zu einer Fernsehserie

werden soll. Denn für eine Figur interessieren sich die Menschen ein

kleines bisschen mehr als für einen gefallenen Helden. Für den gefallenen

Helden, der wieder aufsteht.

Schwazer will gehen. Nicht irgendwann. Diesen Sommer. Im Herbst

2019 hat er mit Donati wieder mit dem Training begonnen. Fünf Stunden

täglich, auf dem Radweg längs der Autobahn, wo er die ersten

Schritte seiner Karriere unternahm. Sein Ziel: die Olympischen Spiele

von Tokio. Seine Anwälte haben beim Schweizer Bundesgerichtshof

einen Antrag auf Aussetzung der Wettkampfsperre eingereicht. Nur

das oberste Gericht der Schweiz kann ein Urteil des Internationalen

Sportgerichtshofs in Lausanne aufheben. Doch der Tag im Mai, an dem

Schwazer sich für den Qualifikationswettbewerb über 50 Kilometer in

Tschechien anmelden müsste, verstreicht. Ohne Post aus der Schweiz.

Bis Ende Juni könnte er sich noch über 20 Kilometer qualifizieren.

Die Zeit läuft wieder einmal gegen Alex Schwazer.

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KONTEXT

EIN POLE GEHT ALLEN DAVON

Der Pole Robert Korzeniowski ist, wie er einmal der Frankfurter Allgemeinen

Zeitung sagte, ein «typisches Produkt des sozialistischen Sports».

Eigentlich wollte Korzeniowski Judoka werden. Weil der Geheimpolizei

das Kampfsporttraining nicht geheuer war, wechselte er zur Leichtathletik.

Dort erlebte er einen derartigen Drill, dass ihm die Füsse bluteten.

Bei den Olympischen Spielen 1992 in Barcelona wurde er im Wettkampf

über 50 Kilometer als Zweitplatzierter 500 Meter vor dem Ziel disqualifiziert.

In Polen wurde danach geraunt, dies sei eine Revanche dafür gewesen,

dass ein polnischer Kampfrichter bei den Spielen von 1980 die

drei führenden Geher disqualifiziert hatte. Die Ungerechtigkeit spornte

Korzeniowski derart an, dass er bei den folgenden drei Sommerspielen

vier Goldmedaillen gewann.

DOPING IN DER ZAHNPASTA

Der Läufer Dieter Baumann wurde 1992 Olympiasieger über 5000 Meter,

der Zielsprint gehört in Deutschland zu den grossen Sportmomenten der

Fernsehgeschichte. Baumann wurde danach auch zum Sympathieträger,

weil er sich gegen Doping engagierte. Umso grösser die Überraschung,

als er 1999 positiv auf Nandrolon getestet wurde. Das Steroid wurde in der

Zahnpasta des Läufers gefunden. Nach der Einreichung von Haarproben

ohne Positivbefund wurde Baumann 2000 vom Deutschen Leichtathletik-Verband

freigesprochen, der Weltverband bestand auf einer Zwei­

Jahres-Sperre. Baumann bestreitet die Einnahme von Doping bis heute.

Experten hielten es für möglich, dass es sich um einen Anschlag ehemaliger

Stasi-Kreise handelte.

AUTORIN

Barbara Bachmann, 35, stammt wie Alex Schwazer aus Südtirol. Sie

kennt den Geher seit 2008. Damals porträtierte sie ihn für ein Südtiroler

Wochenmagazin kurz vor seiner Abreise nach Peking. All die Jahre

über verfolgte sie Medienberichte über ihn, vom Olympiasieg über die erste

Doping-Beichte, das Comeback bis hin zum zweiten Doping-Vorwurf.

Sie fragte sich, wie sehr ihn die Erfahrungen verändert hätten, und kontaktierte

ihn 2018. Seither trafen sie sich in unregelmässigen Abständen

im Café, in seiner Wohnung, im Elternhaus, beim Training, im Gerichtssaal.

Bachmann lernte seine Frau kennen, die Tochter, die Mutter. Traf Anwalt

und Trainer. Die Recherche zog sich länger hin als gedacht. Gutachten

wurden in Auftrag gegeben, Verhandlungen verschoben. 2021 fand die

Geschichte ein vorläufiges Ende.

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