59.3 Geher in der Sackgasse
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
RUBRIK
BARBARA BACHMANN
Geher in der
Sackgasse
Mit manipulierten
Dopingtests
lassen sich
missliebige Sportler
disqualifizieren.
65
REPORTAGEN #59
Menschen gehen einmal um den Block, wenn sie sich die Beine vertreten
müssen. Sie gehen auf Berge und um Seen herum, wenn sie die Stadt satt
haben. Sie gehen manchmal auch, um sich selbst ein bisschen besser
zu verstehen. Menschen, die nicht gehen, sind sehr alt, haben ein gebrochenes
Bein oder sitzen im Gefängnis. Alex Schwazer ist ein Mensch,
der nicht mehr gehen darf. Dabei ist er gesund, ja topfit. Eine Strecke von
50 Kilometern kann er schneller gehen als ein ambitionierter Hobbysportler
im fliegenden Laufschritt.
Doch der Weg des Südtiroler Gehers Alex Schwazer, Olympiasieger
und Europameister, führt zuletzt nicht über Asphalt oder Tartanbahnen
zu einer Ziellinie, sondern an den Gehstrecken dieser Welt vorbei.
Unterwegs sind nur noch seine Körperflüssigkeiten, Blut und Urin,
von Labor zu Labor. Sein Fall, ein Krimi aus der Sportwelt, macht Schwazer
bekannter, als es im Drehbuch für seine Randsportart vorgesehen ist.
Denn für eine Figur interessiert sich die Öffentlichkeit vielleicht noch
mehr als für einen strahlenden Sieger: für den gefallenen Helden.
Seine Geschichte ist die eines Täters, der zum Opfer wird.
Schwazer hat Dopingmittel genommen, er wird überführt und gesperrt.
Er versucht ein sauberes Comeback. Doch dabei wird ihm zum
Verhängnis, dass er sich einen neuen Trainer wählt, mit dem noch so
einige Köpfe aus der Sportwelt eine Rechnung zu begleichen haben.
Nach einem zweiten positiven Dopingbefund beteuert er: «Ich habe
nicht gedopt, ich wurde Opfer eines Komplotts.» Weil es Anzeichen
für eine Manipulation seiner Dopingprobe gibt, kämpft er für eine
grössere Sache als für Rekorde und Medaillen: für den Beweis seiner
Unschuld. Und für das Recht, wieder gehen zu dürfen. Zwei Gerichte
klären im Frühjahr 2021, ob Alex Schwazer rehabilitiert wird. Bekommt
er mit 36 Jahren noch eine Chance, sich ein letztes Mal für Olympische
Spiele zu qualifizieren?
Schwazers Karriere beginnt im Alter von 14 Jahren, als der Sohn
einer Schulhauswartin und eines Strassenarbeiters über die Jugendspiele
zum Gehen kommt, einer für Aussenstehende wunderlichen
Sportart. Geher müssen stets mit einem Fuss Bodenkontakt haben. In
der Bewegung darf das jeweils vordere Bein ab dem Aufsetzen nicht
gebeugt werden, das Knie muss gestreckt sein. Das führt zu einer markanten
Hüftbewegung, die Geher wie watschelnde Enten aussehen lässt.
Dabei fordert die Disziplin, seit 1932 olympisch, höchste Konzentration.
Bei einer unsauberen Technik kann der Geher mit einer gelben
Kelle verwarnt werden. Bei Regelverstössen stellen Kampfrichter Disqualifikationsanträge
durch das Zeigen einer roten Karte. Bei der dritten
66
LEICHTATHLETIK
war der Wettkampf bis 2018 vorbei, seither folgt vor der Disqualifikation
noch eine Zeitstrafe. Schwazer wählt die Sportart als Jugendlicher, weil
in seiner Nähe eine Gruppe von Gehern trainiert. Und weil er gut darin
ist. «Was mich an diesem Sport am meisten fasziniert, ist die Distanz»,
sagt er einmal. So wie der Zehnkämpfer der vielseitigste Leichtathlet
ist und der 100-Meter-Sprinter der schnellste, so ist der Geher über
50 Kilometer der ausdauerndste. Was er zu Beginn seiner Karriere nicht
weiss: Ausdauer wird eine Eigenschaft sein, die ihm auch ausserhalb
des Sports abverlangt wird.
Mit 18 gewinnt Schwazer ohne spezifisches Training die Junior-
Italienmeisterschaft. Er tritt in die Sportgruppe der Carabinieri ein.
2005 wird er bei der WM in Helsinki unerwartet Dritter über 50 Kilometer.
Ein «unbeschreiblicher Glücksmoment», vielleicht der schönste
seines Sportlerlebens. Er ist der jüngste Leichtathlet Italiens, der eine
WM-Medaille holt. 2007 stellt er einen bis heute unangefochtenen
Italienrekord über 50 Kilometer auf. Schwazer gilt fortan als Ausnahmetalent.
Er ist eifrig und streng zu sich selbst. Italienische Medien
nennen ihn den «Soldaten».
Peking, 22. August 2008: Nach 24 Runden vor dem Leichtathletik
Stadion und einer auf der Tartanbahn im «Vogelnest» von Peking läuft
Schwazer, Startnummer 2102, als Erster ins Ziel, presst die Hände vors
Gesicht, fällt vor Erschöpfung schluchzend auf die Knie. Bei 3 Stunden,
37 Minuten und 9 Sekunden stoppt die Zeit, olympischer Rekord.
Als Kind malt Schwazer die olympischen Ringe und sich selbst
ganz oben auf dem Siegerpodest. Als junger Erwachsener unterschätzt
er den Nachhall der Spiele. Der Verband, die Sponsoren, das Land Südtirol,
alle feiern sie ihren Volkshelden. Er bekommt einen Werbevertrag
von Ferrero, ein Nordic-Walking-Weg wird nach ihm benannt. Doch
geniessen kann er seinen Erfolg nicht. Schwazer hat sein sportliches
Lebensziel früh erreicht, mit 23. Was kann für einen Geher nach Olympiagold
noch kommen? Für seinen Trainer ein Vertrag mit der chinesischen
Nationalmannschaft. Schwazer trainiert zeitweise mit zehn Chinesen
in Piemont, hat morgens den Geruch von Algensuppe in der Nase und
fühlt sich vernachlässigt. Er würde eine Pause brauchen und macht
dennoch weiter. Alles ist ein Krampf. Je länger Schwazer Teil der Geher
Szene ist, desto mehr versteht er: um ihn ein Dopingsumpf. Die Griechin
Athanasia Tsoumeleka, Olympiasiegerin von 2004: gedopt. Der Russe
Sergej Kirdjapkin, Weltmeister von 2005: gedopt. Der Spanier Francisco
Fernández, Europameister von 2006: gedopt. Die Russin Olga Kaniskina,
Weltmeisterin 2007 und Olympiasiegerin 2008: gedopt. Schwazer
67
GEHER IN DER SACKGASSE
wiederum muss bei der WM in Berlin 2009 aufgeben, weil er körperlich
und geistig ausgebrannt ist.
Sein Hauptsponsor, ein begeisterter Ausdauerathlet und sein
Fan, bietet ihm daraufhin an, einen Kontakt zu Michele Ferrari herzustellen,
weil dieser für sein strukturiertes Training bekannt sei. Der
Sportarzt ist da schon ein verurteilter Sportbetrüger, nachdem er über
Jahre die Radsportelite mit Dopingpräparaten versorgt hat. Zu Schwazer
aber will Ferrari nur gesagt haben: «Wenn du gut trainiert bist und dein
Gewicht niedrig hältst, gewinnst du auch ohne Doping.» Ferrari wird
später lebenslang im Sport gesperrt.
Schwazer hat zu Beginn der 2010er Jahre das Gefühl, besser
zu sein als seine Konkurrenten, die in seinen Augen nur gewinnen,
weil sie vollgepumpt sind mit unerlaubten Substanzen. Nach der EM
2010 in Barcelona erhält Schwazer als Zweiter rückwirkend Gold, weil
der Erstplatzierte, eine Russe, überführt wird. 2011 erzählen ihm russische
Athleten bei einem Bier während der WM in Südkorea, bei der
er Neunter wird, offen von ihren Bluttransfusionen, berichtet Schwazer.
Er nimmt Nahrungsergänzungsmittel, schläft vor seinem Elternhaus in
einem Sauerstoffzelt, aber beides bringt ihn nicht weiter. Schwazer hat
Angst, dass er zurückfällt. Zweiter zu werden, ist keine Option für ihn.
Warum soll ich der Einzige sein, der sich an die Regeln hält, denkt er
damals. Was folgt, ist die oft erzählte Geschichte vom Einzeldoper. Ob
sie stimmt, was Schwazer versichert, oder ob er ein System im Hintergrund
deckt, lässt sich nicht aufklären.
Es beginnt mit einer Testosteron-Crème, die Schwazer in
einer Online-Apotheke bestellt. Er trägt sie auf den Bauch auf, aber da
sie keinen Effekt erzielt, setzt er sie ab. Sein Ziel ist das Blutdopingmittel
Epo, das die Bildung roter Blutkörperchen anregt und so die Sauerstoffaufnahme
verbessert. Es steht seit 1990 auf der Dopingliste. Er
durchwühlt das Internet, in der Türkei sollen Dopingmittel rezeptfrei
erhältlich sein. Im September 2011 fliegt er von Wien nach Antalya.
In einer Apotheke bestellt er die Schachteln, 20 Minuten später liefert
sie ein Kurier tiefgekühlt auf einem Scooter. Das Epo-Mittel Eprex im
Wert von 1500 Euro. Der Präsident der Apothekerkammer von Antalya
wird diese Darstellung später in türkischen Medien anzweifeln.
Wenn Schwazer zurückdenkt, sind das die schäbigsten Szenen
seines Lebens. Am Telefon lügt er seine Familie und die Freundin an.
Sitzt allein im Hotelzimmer und überlegt, wie er das Epo während des
Rückflugs kühlen kann. Zu Hause versteckt er es in einer Schachtel
Vitamintabletten im Kühlschrank. Über Google Scholar lernt er, wie er
68
Beim Bier erzählen die Russen ihm von Bluttransfusionen.
LEICHTATHLETIK
es spritzen muss. Am besten in die Armvene, weil es dort weniger lange
nachweisbar ist. Epo hat einen zeitnahen Effekt, daher nimmt er es erst
im März 2012, qualifiziert sich damit für Olympia in London. «Ich ekelte
mich vor mir selbst», erinnert er sich Jahre später.
Als ein Blutwert nach einer kaderinternen Kontrolle auffällig
ist, gesteht Schwazer Pierluigi Fiorella sein Doping. Der Arzt des Nationalkaders
war früher selbst ein Spitzen-Geher im Studentensport.
Er rät Schwazer, jeden Tag ein Blutbild zu machen, um den Wert mit
möglichst vielen unauffälligen Vergleichswerten zu kaschieren. Damit
schützt der Arzt auch sich selbst. Im Juli ist Schwazer nervlich am Ende,
hat sich von allen isoliert. Er trainiert in Deutschland bei seiner Freundin,
der italienischen Eiskunstläuferin Carolina Kostner. In ihrem Badezimmer
spritzt er sich das Epo. Heute weiss er: «Ich war in einem Wahn
drin und bin fast gestorben vor Angst.» Niemand im Team scheint ihm
zu misstrauen, nur einen Mann macht Schwazers Verhalten stutzig:
Sandro Donati, Italiens Symbolfigur des sauberen Sports.
Es ist der 11. Juli 2012, als Donati eine Nachricht an einen Mitarbeiter
der Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) verschickt, wie er das oft tut.
Er schildert darin seinen Verdacht gegenüber Schwazer, der in London
nicht im olympischen Dorf unterkommen will, sondern allein in einem
Stadthotel. Als am 30. Juli die Kontrolleure zu Hause bei Schwazer in
Südtirol klingeln, ist ihm klar, dass seine Probe positiv sein wird, am
Vortag hat er das letzte Mal gedopt. «Ich war froh, dass es vorbei war.»
Eine Woche später ist Schwazer überführt. Auf einer Pressekonferenz
entschuldigt er sich unter Tränen. Sein Blick weicht den Kameras aus,
dem Blitzlichtgewitter, er hält die Hände vors Gesicht, ist ein Bild des
Elends.
Schwazer wird für drei Jahre und neun Monate gesperrt. Der Staatsanwalt
ermittelt gegen ihn. Im Netz zirkulieren Unverständnis, Wut
und Häme. Er fliegt aus der Sportgruppe der Carabinieri, muss seine
Dienstwaffe abgeben. Er wendet sich vom Sport ab, beginnt ein Wirtschaftsstudium,
kellnert. Da seiner Freundin vorgeworfen wird, von
seinem Doping gewusst zu haben, wird auch sie gesperrt, für 21 Monate.
Die beiden trennen sich. Ende 2014 endet das Strafverfahren gegen
ihn mit einem Vergleich und einer achtmonatigen Bewährungsstrafe.
Schwazer beschliesst, es noch einmal mit dem Sport zu probieren.
Sauber. Mit der Hilfe eines Mannes, von dem Schwazer sagt, er sei
«24 Stunden am Tag im Krieg gegen Doping».
Sandro Donati ist heute 74 Jahre alt und von schmächtiger Statur.
Die braunen Haare trägt er seitlich gescheitelt. Bis 1976 trat er als Mit
Illustration: Luca Schenardi
RUBRIK
70
LEICHTATHLETIK
telstreckenläufer an, wurde dann Nationaltrainer. Viele Jahre arbeitete
er für das Italienische Olympische Komitee (Coni) und den nationalen
Leichtathletikverband (Fidal) und erhielt tiefe Einblicke in das System.
Schnell merkte er, dass Doping von Trainern und Funktionären geduldet
und manchmal gezielt gefördert wurde. Denn damit die Sportverbände
in den Genuss staatlicher Sportförderung kommen, müssen Medaillen
gewonnen werden. «Die Athleten wählen Doping, wenn sie dahin geführt
werden. Die Verbände wollen es so aussehen lassen, als wäre es
eine individuelle Entscheidung», sagt Donati, gebeugt über Aktenordner,
im Frühjahr 2019 in seiner Wohnung in Rom.
Im Zuge der Ermittlungen gegen Schwazer wird dessen gesamtes
Umfeld untersucht. Als Wada-Berater hat Donati Zugang zu konfisziertem
Material. Auf einer Festplatte von Giuseppe Fischetto stösst
er auf über 12 000 Blutwerte von internationalen Leichtathleten aus
den Jahren 2000 bis 2012. Viele der Werte, vor allem bei russischen
Sportlern, sind auffällig.
Fischetto ist damals nicht nur Leitender Arzt von Fidal, sondern
auch einer der höchsten Anti-Doping-Beauftragten der IAAF. Kontrollierter
und Kontrolleur in einer Person. Hätte man Schwazer nicht
überführt, wäre Fischetto wohl nie durchsucht worden. Einer Kollegin
sagt Fischetto im Juni 2013 in einem mitgeschnittenen Telefonat:
«Dieser crucco (italienisches Schimpfwort für Südtiroler) muss eliminiert
werden.» Rückendeckung erhält der Arzt vom damaligen IAAF-
Präsidenten, dem senegalesischen Funktionär Lamine Diack. Jenem
Mann, der 2020 wegen seiner Beteiligung an einem Korruptionsnetzwerk
verurteilt werden wird, das Millionen Euro für die Vertuschung
von positiven Dopingtests erpresst hat, in erster Linie von russischen
Athleten. Alex Schwazer hat gewaltigen Ärger ausgelöst.
Im April 2015 sucht der Geher Sandro Donati in Rom auf, um
ihm eine Frage zu stellen: «Würden Sie sich die Hände schmutzig machen
und mich trainieren?» Das saubere Comeback eines Dopers könnte
ein Signal sein, denkt Donati. Er verhört Schwazer stundenlang, aus den
Akten kennt er die Wahrheit. Donati erklärt sich bereit, ihm eine zweite
Chance zu geben – unter einer Bedingung: «Du musst aussagen, was
du weisst.»
Als 2015 ein Verfahren wegen «Beihilfe zum Sportbetrug
durch Mitwisserschaft» gegen die Ärzte Giuseppe Fischetto und Pierluigi
Fiorella sowie eine Fidal-Funktionärin eingeleitet wird (sie werden
2018 zu Geld- und Haftstrafen verurteilt und 2019 in zweiter Instanz
freigesprochen), ist Schwazer Kronzeuge. Er sagt aus, dass die Ärzte vor
71
GEHER IN DER SACKGASSE
den Olympischen Spielen in Peking versuchten, den Athleten ein
Asthma-Spray zu verschreiben, offiziell wegen der Luftverschmutzung
vor Ort. Asthmasprays sind gängige Mittel zur Leistungssteigerung,
da sie eine bessere Sauerstoffaufnahme ermöglichen. Er habe es nicht
verwendet, andere Athleten schon, sagt Schwazer. Denn er habe kein
Vertrauen zu Fischetto gehabt. Vor Gericht spricht der Geher das Offensichtliche
aus: dass der Internationale Leichtathletikverband vom
systematischen Doping Russlands gewusst haben muss.
Bevor er im Dezember 2015 diese vielleicht folgenschwere
Aussage macht, werden Alex und Alessandro, der Südtiroler und der
Römer, der reuige Doper und der Dopingbekämpfer, ein Team. Donati
spricht seinen Namen italienisch aus, «Swazer». Der nennt ihn Prof.,
auch heute noch. Schwazer zieht in eine Pension unweit von Donatis
Wohnung. Er investiert mehr als 30 000 Euro in das Comeback, für das
Training verlangt Donati nichts. Es geht ihm um eine grössere Sache,
um den sauberen Sport.
Fünf Stunden trainieren sie täglich, der halbe Sonntag ist frei.
Donatis Methoden sind ungewöhnlich, aber Schwazer vertraut dem
Trainer. Der hegt zunächst noch immer Misstrauen. Mithilfe von zwei
Krankenhäusern in Rom entwickelt Donati ein Kontrollsystem. In
achteinhalb Monaten wird Schwazers Blut 35 Mal untersucht. Zwei
Mal die Woche schickt Donati Schwazer zum Psychologen, um die
Depression zu behandeln, unter der er seit vier Jahren leidet. Es geht ihm
jeden Tag ein wenig besser, er ist auch neu verliebt. Kathrin. Schwazer,
der Soldat, er kämpft wieder.
Alex Schwazer, das ist zu jener Zeit wieder ein Weltklasseathlet
mit einem Ruhepuls von 28 Schlägen pro Minute bei einem
Maximalpuls von 190, mit einem Körperfett-Anteil von 5 Prozent und
einem Lungenvolumen von 7,10 Litern. «Er ist absolut anders als andere
Athleten», denkt Donati. Der Trainer verbessert seine Muskeleffizienz
und Grundschnelligkeit, er verlängert seinen Schritt. Seiner Frau
sagt er: «Dieser Junge ist ein Phänomen.»
Doch nicht alle freuen sich über die Rückkehr des verurteilten
Dopers. Gianmarco Tamberi, Europameister im Hochsprung, bezeichnet
Schwazer als «Schande Italiens». Luciano Barra, Ex-Fidal-Generalsekretär
und erklärter Feind Donatis, versucht Schwazers Olympia-
Qualifikation zu verhindern, indem er einen offenen Brief an den Fidal
Präsidenten Alfio Giomi schreibt: «Ich empfehle dir, ich flehe dich an,
Schwazer nächste Woche nicht am Weltcup (in Rom) teilnehmen zu
lassen.» Doch Schwazer tritt an und gewinnt den Wettkampf über
72
Donati ist am Telefon: «Alex, du bist positiv.»
LEICHTATHLETIK
50 Kilometer in der drittschnellsten Zeit seiner Karriere. Drei Wochen
später qualifiziert er sich in La Coruña auch über 20 Kilometer Distanz
für die Olympischen Spiele in Rio de Janeiro. Vor beiden Wettkämpfen
erhält sein Trainer einen Anruf eines Kampfrichters, der ihm nahelegt,
Schwazer nicht gewinnen zu lassen. Den zweiten Anruf nimmt Donati
auf und übergibt das Material der Polizei. «Für die IAAF war Alex da
schon tot», sagt Donati heute.
Der 21. Juni 2016 ist der längste Tag des Jahres, es sind noch 50 Tage
bis zu den Olympischen Spielen. In Rom hat es morgens schon 25 Grad,
Schwazer packt seine Sachen zusammen und fährt mit dem Auto nach
Südtirol. Zehn Minuten bevor er seine Freundin nach monatelangem
Training erstmals wieder im Arm hält, klingelt das Telefon. Es ist Donati,
er sagt: «Alex, du bist positiv.»
An die Stunden danach kann sich Schwazer nicht erinnern. Erst
an den Moment, als sein Trainer vor ihm steht. Keine Sekunde zweifelt
Donati an dessen Unschuld. «Sie haben sich gerächt, weil Alex nicht still
war», sagt Donati. Etwas Ähnliches ist ihm schon einmal passiert.
1997 wird Anna Maria Di Terlizzi des Dopings mit Koffein überführt.
Die Hürdensprinterin wird damals von Donati trainiert. Eine Analyse
ergibt, dass ihre Probe im Anti-Doping-Labor in Rom manipuliert worden
sein muss.
Donati vermutet einen Feldzug italienischer Spitzensportfunktionäre
gegen ihn, bei dem Schwazer – Kronzeuge für die einen, Verräter
für die anderen – die beste Angriffsfläche ist. Im nationalen Verband gilt
Donati seit 1987 als Nestbeschmutzer. Damals deckte er auf, dass italienische
Kampfrichter bei der WM in Rom das Messergebnis des Weitspringers
Giovanni Evangelisti um mehr als 50 Zentimeter manipuliert
hatten, um ihm zu Bronze zu verhelfen. Eine Kamera am Ende der
Sprunggrube bewies den Betrug. Danach musste Fidal-Präsident Primo
Nebiolo, ein mächtiger Strippenzieher der internationalen Sportwelt,
zurücktreten. Donati wurde als Nationaltrainer abgesetzt. Doch auch
als Italiens führender Anti-Doping-Fachmann, zu dem er sich in den folgenden
Jahren aufschwang, schonte er seine Landsleute nicht. Donati
legte in den 1990er Jahren das Dopingsystem des Biochemikers Francesco
Conconi offen, er kam auch dessen Schüler Michele Ferrari auf die
Schliche und belastete Nationalheilige wie den Radrennfahrer Marco
Pantani und die Fussballer von Juventus Turin.
Weil sie ihn im Leichtathletikverband nicht feuern konnten, wurde
Donati in abgelegene Büros versetzt, wo er Bücher über Dopingbekämpfung
schrieb, zum Beispiel Sieger ohne Wert, dessen Auslieferung durch
73
RUBRIK
74
LEICHTATHLETIK
Sportfunktionäre gestoppt wurde. 2006 schickte man ihn in Frühpension.
Er weiss, wie sich ein Kampf gegen Windmühlen anfühlt. Trotzdem
trifft ihn Schwazers Fall bis ins Mark: «In all den Jahren war das, was mit
Alex passiert ist, der schlimmste Schlag für mich», sagt Donati.
22. Juni 2016: Schwazer beruft wie vier Jahre zuvor eine Pressekonferenz
ein, bei der er sagt: «Jemand will nicht, dass ich zu den
Olympischen Spielen fahre.» Grund für das positive Ergebnis ist exogenes
Testosteron. Die privat gemachten Bluttests könnten beweisen,
dass er kein Epo genommen hat. Was das Steroid Testosteron betrifft,
das den Muskelaufbau beschleunigt, sind sie aussagelos.
Dopingproben werden auf zwei Urin- oder Blutröhrchen
aufgeteilt, die A- und die B-Probe. Untersucht wird zunächst nur die
A-Probe, die B-Probe bleibt versiegelt und gilt als Garantie für den
Sportler. Am 5. Juli bestätigt die Analyse der B-Probe Schwazers positives
Ergebnis. Seine letzte Chance, noch an den Olympischen Spielen
teilzunehmen, ist eine Berufung beim Internationalen Sportgerichtshof
(CAS). Er tagt kurz vor den Spielen in Rio de Janeiro, also fliegen Schwazer,
sein Anwalt und sein Trainer nach Brasilien. Schwazer ist überzeugt
von einem Freispruch, als er das Anwaltsbüro betritt, in dem die Verhandlung
stattfindet.
Bei Schwazer ist zwischen Oktober 2015 und Mai 2016 nur
eine Probe von zehn Urin- und acht Bluttests auffällig. Einen leistungssteigernden
Effekt schliessen Experten anhand der Werte aus, sie
können kein Dopingverhalten bei dem Athleten erkennen. Doch das
hilft ihm vor dem Sportgericht nicht, das nach Aktenlage entscheidet.
Und die besagt, dass er eine illegale Substanz in der Urinprobe hatte.
Das Gericht bestätigt die Sperre. Als Wiederholungstäter darf der Geher,
damals 31, für acht Jahre an keinen Wettkämpfen teilnehmen. Seine
Karriere ist damit faktisch zu Ende. Auf dem Weg zum Flughafen fährt
Schwazer im Taxi an der Olympia-Strecke vorbei. Er starrt aus dem
Fenster und denkt an die Anstrengung der letzten Monate. Er weiss,
dass er in Form gewesen wäre, zu gewinnen. Was er nicht weiss, ist, wie
das Testosteron in seinen Urin kam.
Am Neujahrstag 2016 stehen zwei Dopingkontrolleure um 7 Uhr 25
vor Schwazers Haustür, er soll eine Urin- und eine Blutprobe abgeben.
Das ist an sich nicht ungewöhnlich: Spitzensportler müssen für Kontrollen
rund um die Uhr erreichbar sein und ihre Aufenthaltsorte im
Voraus online angeben. Das Datum hat aber zur Folge, dass Schwazers
Proben mit dem Identifizierungscode 3959325 nicht direkt in das Institut
für Biochemie der Deutschen Sporthochschule in Köln gebracht
75
GEHER IN DER SACKGASSE
werden können, weil das Kontrolllabor an diesem Tag geschlossen ist.
Stattdessen wird die Kühlbox über Nacht bei der Kontrollfirma GQS in
Stuttgart abgestellt und erreicht das Labor erst anderntags um 10 Uhr 20.
Dort werden jedes Jahr rund 30 000 Dopingproben analysiert. Dort lagern
auch sämtliche Dopingproben, die Schwazer je abgegeben hat.
Der erste Test ist negativ. Der leicht erhöhte Testosteronwert ist
nicht sofort verdächtig, weil Schwazer in der Silvesternacht Alkohol
getrunken hat. Erst am 5. März wird die Probe im Online-Meldesystem
«Adams» als «abnormal» eingestuft. Auf Ansuchen der IAAF wird sie
mit der genaueren IRMS-Methode erneut untersucht. Das Ergebnis:
Das Verhältnis von Testosteron zu Epitestosteron ist zu hoch, ein Hinweis
für eine Zufuhr von Testosteron. Am 13. Mai liegt der IAAF für
Schwazer ein positiver Dopingbefund vor. Es wird 39 Tage dauern, ehe
der Weltverband den Athleten informiert und sperrt.
Gegen Schwazer wird erneut ein Strafverfahren wegen Sportbetrugs
eingeleitet. Seine Anwälte erstatten indes Anzeige gegen Unbekannt.
Sie glauben an eine Manipulation der Probe. Die jüngere Sportgeschichte
ist gespickt mit derlei Geschichten. Nur waren es meist die
Sportler selbst, die ihre Proben manipulierten. Auffällig ist, dass Schwazers
Dopingkontrolle am 15. Dezember 2015 in Auftrag gegeben wird,
just an dem Tag, an dem er gegen die italienischen Verbandsärzte aussagt.
Auf der Urinprobe steht «Racines», Schwazers 4500 Einwohner
zählende Wohngemeinde, in der ausser ihm kein Leistungssportler lebt.
Im Abschlussbericht des Sportlabors ist bei Ort «unbekannt» eingetragen.
Der Besitzer der Kontrollfirma ist ein Bekannter Fischettos, das
belegen E-Mails, die der Staatsanwaltschaft in Bozen vorliegen. Die
Zeugenbefragung in Rio ergibt, dass Schwazers Urin auf dem Weg von
Südtirol bis nach Köln mehrmals unbewacht und in Stuttgart über Nacht
für mindestens sechs Personen zugänglich gewesen ist. Die Verwahrungskette
ist nicht lückenlos. Was paranoid klingt, hat reale Vorbilder.
Welches Mass an krimineller Energie beim Vertuschen von Dopingproben
möglich ist, zeigt das russische Staatsdoping in jenen Jahren.
Dabei werden belastete Proben russischer Athleten nachts über ein Türchen
in einer Wand des Anti-Doping-Labors in Sotschi heimlich ausgetauscht.
Das Sportministerium in Moskau überwacht die Geheimdienstoperation,
die der McLaren-Report der Wada 2016 nachweist.
Die Staatsanwaltschaft fordert die Beschlagnahmung von Schwazers
Dopingprobe in Köln, um sie im Labor der Carabinieri-Sondereinheit
RIS in Parma untersuchen zu lassen. Aber die IAAF, ihr Eigentümer,
stellt sich zunächst dagegen. Kurz darauf wird die Sportwelt von
76
LEICHTATHLETIK
einem internen Datenleck der Wada erschüttert. Das Hacker-Kollektiv
«Fancy Bears», das dem russischen Militärgeheimdienst GRU zugerechnet
wird, veröffentlicht im September 2016 interne Unterlagen, die darauf
hindeuten, dass etliche westliche Spitzensportler medizinische
Ausnahmegenehmigungen erhalten haben, um leistungssteigernde Präparate
wie Asthma-Sprays nutzen zu können, die eigentlich auf der
Dopingliste stehen. Der Wada-Hack wirke wie eine Revanche für die
Aufdeckung russischen Staatsdopings, schreiben Sportjournalisten.
Italienischen Medien werden E-Mails aus dem Leck zugespielt,
die den Fall Schwazer betreffen. Eine IAAF-Anwältin schreibt darin
an einen Kollegen, dass es «unmöglich sei, die gentechnische Analyse zu
stoppen» und «dass der Richter den IAAF-Ansatz negativ betrachten
und seine Wahrnehmung zu dem Schluss führen könnte, dass Schwazers
Verdacht in gewisser Weise begründet ist». Im E-Mail-Verkehr
zwischen dem Anti-Doping-Beauftragten der IAAF, dem Franzosen
Thomas Capdevielle, und dem IAAF-Anwalt Ross Wenzel ist von «einem
Komplott gegen AS» die Rede. Die E-Mails werden auch an einen
Wada-Anwalt geschickt, obwohl die Welt-Anti-Doping-Agentur zu
absoluter Neutralität verpflichtet wäre.
Es wird ein Jahr dauern, ehe die Proben in Italien ankommen.
10 Milliliter der A- und 6 Milliliter der B-Probe, ein wenig mehr als ein
Esslöffel. Dort stellt ein forensischer Gutachter fest, dass die Proben
Schwazer zuzuordnen sind. Merkwürdig ist, dass der DNA-Wert in der
B-Probe von Schwazers Urin drei Mal höher ist als in der A-Probe. Und
20 Mal so hoch wie in dem Urin, den Schwazer im April 2018 zum
Vergleich abgibt. Dabei müsste es eigentlich andersherum sein, weil
DNA-Spuren im Urin über die Zeit zerfallen, das belegt auch eine eigens
angefertigte Studie mit 100 Probanden.
12. September 2019, Saal A des Landesgerichts Bozen: Der
Gutachter nennt Manipulation als eine von mehreren Möglichkeiten für
die abnormalen Werte des Gehers. Der Richter gibt ein weiteres Gutachten
in Auftrag. Fidal und Wada werden um Mitarbeit gebeten. Der
italienische Leichtathletikverband kooperiert, die Welt-Anti-Doping-
Agentur nicht. Ein Jahr später hat sich Manipulation als die einzig
plausible Erklärung herauskristallisiert. Richter Walter Pelino stellt das
Verfahren wegen Sportbetrugs ein und erklärt den Geher in einem
87 Seiten langen Dokument für unschuldig: «Es steht mit hoher Glaubwürdigkeit
fest, dass die von Alex Schwazer entnommenen Urinproben
manipuliert wurden, um sie positiv zu machen.» Und damit nicht nur
der Athlet, sondern auch sein Trainer diskreditiert werden sollte.
77
GEHER IN DER SACKGASSE
Schwazer und Donati glauben, dass die Probe gleich zweimal manipuliert
wurde. Zunächst durch das Hinzufügen fremden, testosteronbelasteten
Urins. Um den Betrug zu vertuschen, wurde die fremde DNA entfernt.
Möglich ist das mit UV-Bestrahlung, aber das vernichtete auch Schwazers
DNA. Als die Proben nach Parma geschickt werden sollten, musste seine
DNA aus einer seiner negativen Proben hinzugefügt werden. Zuerst sei
die A-Probe manipuliert worden, später die B-Probe. So erklären sich
Schwazer und Donati das unterschiedliche DNA-Vorkommen.
Der Richter schreibt dazu: «Die Manipulationen an den Reagenzgläsern
hätten jederzeit in Stuttgart oder in Köln stattfinden können,
wo sich nachweislich unverschlossene, also für den Bedarf leicht
verwendbare Reagenzgläser befanden.» Der Leiter des Kölner Labors
hält die Möglichkeit der Manipulation in dem Labor für ausgeschlossen.
Denn dort werden die Proben nach der Ankunft anonymisiert und sind
Schwazer nicht mehr zuzuordnen. Aber die gehackten E-Mails, die vor
Gericht als Beweismittel zugelassen werden, belasten auch Köln. Ein
IAAF-Anwalt schreibt im Februar 2017 an Capdeville: «Ich denke, die
Realität ist, dass das Labor versucht, so neutral wie möglich zu sein,
aber es würde helfen, wenn sie bereit wären, unsere Position bis zu
einem gewissen Grad zu unterstützen.» Wenig später antwortet derselbe
Anwalt: «Ich glaube, ich habe sie überzeugen können.»
In seiner Urteilsbegründung kritisiert der Richter: «Wada und
IAAF agieren völlig selbstbezogen. Sie dulden keine Kontrollen von
aussen und sind bereit, alles zu tun, um sie zu verhindern, bis hin zur
Erstellung falscher Erklärungen und zur Durchführung von Verfahrensbetrug.»
In einem Tweet schreibt Wada, sie sei «entsetzt über die
zahlreichen rücksichtslosen und unbegründeten Anschuldigungen».
«Jetzt lasst Alex wieder gehen», fordert die Gazzetta dello Sport
am Tag nach der Urteilsverkündung. Doch so einfach ist es nicht. Der
IAAF, 2019 in World Athletics umbenannt, teilt mit, dass die Sportsperre
des Gehers bis zu ihrem Ende 2024 nicht aufgehoben werden
soll. Das Urteil bezeichnet Schwazer trotzdem als seinen «grössten
Sieg». Zwischenzeitlich hat die Aufarbeitung der Dopingfälle aus dem
unbekümmerten und selbstsicheren Olympiasieger von 2008 einen
misstrauischen Mann mit tiefen Stirnfalten gemacht, der nicht mehr
ans Mobiltelefon ging, wenn er eine fremde Nummer auf dem Display
sah. Nun ist die Last von ihm abgefallen. Vorerst.
Kalch, ein 9-Häuser-Nest in den Südtiroler Bergen: Vor Schwazers
Elternhaus ragt ein eisernes Schild in die Höhe, darauf seine Silhouette
und die Siegerzeit bei den Olympischen Spielen 2008. Am Balkon
78
LEICHTATHLETIK
ein verblichenes Banner «Gratulation unserem Olympiasieger schwoz».
Alex Schwazer hat die Insignien seines Erfolgs bei seiner Mutter zurückgelassen,
die Urkunden und Pokale vor dem Verstauben bewahrt.
Im Wohnzimmer, im Flur, überall im Hause Schwazer verteilt sich die
erfolgreiche Vergangenheit des Sohnes.
Sein Glück findet Alex Schwazer, der nun Hobbyläufer trainiert,
nicht mehr ausschliesslich im Sport. Nach Rio ist die Nachricht,
dass er Vater wird, seine Rettung. Ida. Im September 2019 heiratet Alex
seine Kathrin. An Schwazers Wohnzimmerwand hängt ein gemaltes
Bild, lebensgross. Er hält darauf seine Frau und seine Tochter schützend
im Arm. Im Oktober 2020 wird er zum zweiten Mal Vater. Noah.
Der Geher ist wieder an einem Ziel angekommen. Nur lag es anderswo
als gedacht.
April 2021: Die letzten Wochen hatten es in sich für Schwazer. Er
tritt beim Festival di Sanremo auf, dem wichtigsten TV-Event Italiens.
Der Ausschuss für Kultur, Bildung und Sport der Abgeordnetenkammer
fordert die Regierung und das nationale olympische Komitee auf, bei
den internationalen Sportgremien vorstellig zu werden, damit Schwazer
an den Olympischen Spielen in Tokio teilnehmen kann. Eine dementsprechende
Online-Petition wird Anfang Mai von über 73 000 Menschen
unterstützt. Für den Sommer ist ein Buch von Sandro Donati angekündigt,
Alex und die grosse Verschwörung, das auch zu einer Fernsehserie
werden soll. Denn für eine Figur interessieren sich die Menschen ein
kleines bisschen mehr als für einen gefallenen Helden. Für den gefallenen
Helden, der wieder aufsteht.
Schwazer will gehen. Nicht irgendwann. Diesen Sommer. Im Herbst
2019 hat er mit Donati wieder mit dem Training begonnen. Fünf Stunden
täglich, auf dem Radweg längs der Autobahn, wo er die ersten
Schritte seiner Karriere unternahm. Sein Ziel: die Olympischen Spiele
von Tokio. Seine Anwälte haben beim Schweizer Bundesgerichtshof
einen Antrag auf Aussetzung der Wettkampfsperre eingereicht. Nur
das oberste Gericht der Schweiz kann ein Urteil des Internationalen
Sportgerichtshofs in Lausanne aufheben. Doch der Tag im Mai, an dem
Schwazer sich für den Qualifikationswettbewerb über 50 Kilometer in
Tschechien anmelden müsste, verstreicht. Ohne Post aus der Schweiz.
Bis Ende Juni könnte er sich noch über 20 Kilometer qualifizieren.
Die Zeit läuft wieder einmal gegen Alex Schwazer.
79
KONTEXT
EIN POLE GEHT ALLEN DAVON
Der Pole Robert Korzeniowski ist, wie er einmal der Frankfurter Allgemeinen
Zeitung sagte, ein «typisches Produkt des sozialistischen Sports».
Eigentlich wollte Korzeniowski Judoka werden. Weil der Geheimpolizei
das Kampfsporttraining nicht geheuer war, wechselte er zur Leichtathletik.
Dort erlebte er einen derartigen Drill, dass ihm die Füsse bluteten.
Bei den Olympischen Spielen 1992 in Barcelona wurde er im Wettkampf
über 50 Kilometer als Zweitplatzierter 500 Meter vor dem Ziel disqualifiziert.
In Polen wurde danach geraunt, dies sei eine Revanche dafür gewesen,
dass ein polnischer Kampfrichter bei den Spielen von 1980 die
drei führenden Geher disqualifiziert hatte. Die Ungerechtigkeit spornte
Korzeniowski derart an, dass er bei den folgenden drei Sommerspielen
vier Goldmedaillen gewann.
DOPING IN DER ZAHNPASTA
Der Läufer Dieter Baumann wurde 1992 Olympiasieger über 5000 Meter,
der Zielsprint gehört in Deutschland zu den grossen Sportmomenten der
Fernsehgeschichte. Baumann wurde danach auch zum Sympathieträger,
weil er sich gegen Doping engagierte. Umso grösser die Überraschung,
als er 1999 positiv auf Nandrolon getestet wurde. Das Steroid wurde in der
Zahnpasta des Läufers gefunden. Nach der Einreichung von Haarproben
ohne Positivbefund wurde Baumann 2000 vom Deutschen Leichtathletik-Verband
freigesprochen, der Weltverband bestand auf einer Zwei
Jahres-Sperre. Baumann bestreitet die Einnahme von Doping bis heute.
Experten hielten es für möglich, dass es sich um einen Anschlag ehemaliger
Stasi-Kreise handelte.
AUTORIN
Barbara Bachmann, 35, stammt wie Alex Schwazer aus Südtirol. Sie
kennt den Geher seit 2008. Damals porträtierte sie ihn für ein Südtiroler
Wochenmagazin kurz vor seiner Abreise nach Peking. All die Jahre
über verfolgte sie Medienberichte über ihn, vom Olympiasieg über die erste
Doping-Beichte, das Comeback bis hin zum zweiten Doping-Vorwurf.
Sie fragte sich, wie sehr ihn die Erfahrungen verändert hätten, und kontaktierte
ihn 2018. Seither trafen sie sich in unregelmässigen Abständen
im Café, in seiner Wohnung, im Elternhaus, beim Training, im Gerichtssaal.
Bachmann lernte seine Frau kennen, die Tochter, die Mutter. Traf Anwalt
und Trainer. Die Recherche zog sich länger hin als gedacht. Gutachten
wurden in Auftrag gegeben, Verhandlungen verschoben. 2021 fand die
Geschichte ein vorläufiges Ende.
Mehr zum Thema Ausdauersport:
#38 — Oma läuft Weltrekord — von Margrit Sprecher
80