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DAS
FINDELKITZ
Text
BARBARA BACHMANN
Fotos
MICHAEL PEZZEI
Als dieses Reh verletzt
aufgefunden wurde,
war es etwa zehn
Tage alt. Im Frühling
wird es ein aus gewachsener
Bock auf
drei Beinen sein.
Kann ein Mensch einem Reh
die Mutter ersetzen? Als unsere Autorin ein
schwer verletztes Kitz sah, war für
sie zumindest klar: Dieses Wesen muss
einfach weiterleben – und sie würde
dafür sorgen
SÜDDEUTSCHE ZEITUNG MAGAZIN 17
E
Es ist der 21. Juni 2020, ein für die Sommersonnwende
sehr kalter und windiger
Sonntag. Kurz vor Mittag stehe ich in
der Küche und hacke eine Zwiebel, als
mein Partner Franz wortlos den Raum
betritt. Seine Jacke hält er zusammengeknüllt
in den Armen, daraus lugt ein
Köpfchen hervor. Ich muss zweimal hinschauen,
ehe ich erkenne, was es ist. Ein
Rehkitz. »Ein Mann hat es beim Mähen
verletzt. Sollen wir versuchen, es zu retten?«,
fragt er mich und hält das Kitz in
die Höhe. Dessen rechtes Hinterbein ist
oberhalb des Knies abgetrennt, Blut
tropft aus der Wunde, es hat zahlreiche
Verletzungen an Hals und Oberkörper.
Ich schreie vor Schreck auf und antworte,
ohne zu überlegen: »Ja!«
Wir leben auf einem Bergbauernhof
in den Alpen, keine Nachbarn, nur
Wald, Weide, Wiesen. Im Juni wird gemäht.
Zur selben Zeit kommen die
meis ten Rehkitze auf die Welt. Tagsüber
verstecken die Rehmütter die Kleinen
im Gras, um sie vor Fressfeinden wie
Füchsen zu schützen. Sehen Unwissende
so ein Kitz, fassen sie es oft an,
weil sie denken, es benötige Hilfe. Aber
haftet Menschengeruch an einem Kitz,
akzeptiert es die Mutter nicht mehr,
sein Leben in der Wildnis endet jäh.
Rehkitze laufen auch nicht weg, wenn
sich ihnen Gefahr in Form einer Mähmaschine
nähert. Immer öfter werden
die Felder deshalb vorher mit einer
Wärme bildkamera abgesucht. Sonst bemerken
die Bauern die Tiere zu spät –
laut der Deutschen Wildtierstiftung
sind in Deutschland jedes Jahr rund
90 000 Wildtiere vom Mähtod bedroht.
Als Franz mich warnt, wie viel Arbeit
es mache, ein Rehkitz aufzuziehen, und
wie unwahrscheinlich es sei, dass es
durchkommt, höre ich ihm nicht mehr
zu. Ich sehe nur in diese großen, dunklen
Augen. Eine halbe Stunde später
stehen wir mit einer Pappschachtel in
der Hand, darin das in die Jacke gewickelte
Kitz, in der Praxis einer Tierärztin.
Es schreit, für mich klingt es
panisch. Das verletzte Bein muss amputiert
und das Kitz, ein Männchen,
kastriert werden. Als handaufgezogener,
nicht kastrierter Bock würde er den
Menschen später als Artgenossen wahrnehmen
und angreifen. Die Chancen,
dass er die Operation übersteht, stehen
nicht gut.
Die Wartezeit überbrücke ich zu
Hause damit, im Internet alles zu lesen,
was ich über die Rehkitzaufzucht finde.
Ich brauche Ziegenvollmilch, weil sie
Rehmilch am ähnlichsten ist. Dem Gewicht
von 2700 Gramm und der Intensität
der weißen Punkte am Rücken
Nachts weckt mich Findus mit Fiepen.
Ich weiß nicht, ob es Hunger bedeutet
oder Schmerzen, vermutlich beides
nach zu urteilen, ist unser Findling
höchstens zehn Tage alt. Immer wieder
schaue ich aufs Handy. Ich hoffe, dass er
es schaffen wird, und fürchte mich
gleichzeitig vor der damit verbundenen
Verantwortung. Nach vier Stunden meldet
sich die Tierärztin: »Er ist aus der
Narkose aufgewacht und hat die Operation
überstanden. Ihr könnt ihn holen.«
In der Praxis fragt sie mich, wie er heißen
soll. »Findus«, antworte ich und
fahre mit dem völlig erschöpften Rehkitz
und einem Liter Ziegenvollmilch
vom Biobauern nach Hause.
Am Morgen ist dieses Wesen noch
im Wald aufgewacht, vielleicht mit dem
Atem seiner Mutter im Gesicht, nun
liegt es amputiert und kastriert in einer
Plastikkiste in unserem verdunkelten
Schlafzimmer. Dort stelle ich es in die
ruhigste Ecke, um es behutsam an die
neuen Geräusche zu gewöhnen. Alle
zwei Stunden füttern wir es, auch
nachts. Die Milch muss auf 39 Grad erwärmt
werden, sonst könnte das Rehkitz
Durchfall bekommen und sterben.
Bei falscher Pflege stehen die Überlebenschancen
gleich null, lese ich. Ich
habe Angst, einen Fehler zu machen.
Nachts weckt Findus mich mit seinem
Fiepen. Ich weiß nicht, ob es Hunger
bedeutet oder Schmerzen, vermutlich
beides. War es richtig, das Tier am Leben
zu halten? Oder hätten wir es »erlösen«
sollen? Aber hat es nicht ein Recht darauf
zu leben, auch mit drei Beinen?
Oder ist dieses Leben nun, außerhalb
seines natürlichen Habitats, eine Zumutung?
Wildtierhaltung wird oft romantisiert.
Ein Reh, wie süß, denkt man.
Aber wie viel Arbeit es bedeutet, kann
Manchmal stellt sich Findus vor das Arbeitszimmerfenster unserer Autorin und wartet darauf,
dass sie eine Pause einlegt, herauskommt und sich zu ihm gesellt.
sich niemand vorstellen, der es nicht
erlebt hat.
Wir benutzen eine Trinkflasche, mit
der man Katzenbabys aufzieht. Beim
ersten Versuch rinnt die Hälfte der
Milch am Mäulchen vorbei. Oft nehmen
Wildtiere das Futter nicht an. Sie
scheinen lieber sterben zu wollen, als
bei Menschen zu leben, bei denen sie
sich unwohl fühlen. Aber Findus trinkt
am nächsten Morgen mehr. Seine Nase
ist feucht, das bedeutet, er hat genug
gekriegt. Zum ersten Mal schnuppert er
an meiner Hand, leckt sie ab. Zaghaft
streichle ich über sein Fell. So weich! Er
lässt es geschehen.
Wir bauen dem Kitz in unserem
Zimmer ein Nest, legen es mit Decken
aus, darauf Handtücher und Erwachsenenwindeln,
die wir mehrmals täglich
wechseln. Wir gehen auf Zehenspitzen
an ihm vorbei, flüstern. Dennoch reagiert
es auf jede Bewegung, dreht
gleichzeitig das linke Ohr nach vorne
und das rechte nach hinten. Wie
groß seine Ohren im Vergleich zum
Kopf sind, so groß wie das ganze Gesicht.
Rühre ich mich nicht, ist es die
Ruhe selbst, wie ein indischer Guru.
Als Findus nach ein paar Tagen
zum ersten Mal auf seinen drei Beinen
steht, zittert er am ganzen Körper.
Dann reckt er das Kinn stolz
nach oben, als wollte er sagen:
Schau, was ich kann! Ich weine vor
Freude und Stolz. Nun darf er in
den Garten. Er schnuppert an allem.
Setzt einen Fuß vor den anderen,
wird schneller, so schnell, dass ich
kaum Schritt halten kann. Sein verbliebenes
Hinterbein stellt er in die
Mitte, um das Gleichgewicht zu halten.
Wenn er rennt, fällt nicht auf,
dass ihm ein Bein fehlt. Ich bewundere
ihn. Für seine Tapferkeit, seine
Kraft, seine Entschlossenheit zu leben.
Die ersten zwei, drei Male im
Freien fürchte ich, dass er wegläuft.
Aber er scheint kein Bedürfnis danach
zu haben.
Nach und nach erfahren unsere
Verwandten und Freunde von dem
Reh. Bei Besuchen schaue ich genau
hin, ob sie sich ihm zu sehr nähern.
Ich spreche mit Wildtierexpertinnen,
informiere mich über die rechtliche
Lage. Ich lese Bücher über Rehe,
hole mir Rat bei einer Frau, die
schon viele Rehe aufgezogen hat,
und kontaktiere eine Wildtierärztin.
Das Reh halte mich nun für seine
Mutter, erfahre ich. Morgens sammle
ich Löwenzahn, Klee, Birken-, Himbeer-,
Erdbeerblätter, Knospen und
Triebe. Findus isst auch Erde, Haferflocken,
spezielles Wildtierfutter, ein
wenig Obst und Gemüse. Kirschen
liebt er, Kern um Kern entferne ich
für ihn. Als ich einmal einen vergesse,
spuckt er ihn lässig aus. Ich muss
lachen, vielleicht übertreibe ich es mit
der Fürsorge.
Wir desinfizieren seinen Nabel. Wiegen
ihn. Pro Tag soll er mindestens
100 Gramm zunehmen. Es sind meistens
120 Gramm. Während des Trinkens
massieren wir in den ersten Wochen
seinen After, damit er Kot ablassen
kann. In der Natur leckt die Rehmutter
daran. Es wirkt, als würde die Nähe ihm
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Sicherheit schenken. Findus
wird zutraulicher. Wenn ich
ihm Gute Nacht oder Guten
Morgen sage, dreht er
seine Ohren zu mir. Er
scheint mich zu er kennen,
meinen Geruch, meine
Stimme, meine Bewegungen.
Rehe wittern Menschen
auf 300 Meter Entfernung.
Ich verberge es nicht:
Unter all unseren Tieren ist
Findus meine Nummer
eins. Die Katzen wissen es –
und er weiß es auch.
Findus verteilt seine Zuneigung
großzügig, schleckt
mein Gesicht ab, führt sein
Schnäuzchen auch an das
der Katzen. Anfangs fauchen
sie ihn an und kratzen
ihn, dann merken selbst sie,
dass alles an ihm gut ist.
Dass er niemanden angreift,
sich allenfalls verteidigt. Als
kastriertem Rehbock wird
ihm kein Geweih wachsen,
das er jährlich neu bilden
und abwerfen würde. Seine
einzigen Waffen sind die
Klauen an seinen Hufen,
weich, aber spitz, die tiefe
Wunden verursachen können.
Weil ich ihn nie hart
anpacke, ihn zu nichts zwinge,
muss er sie bei mir nicht
einsetzen, für mich gibt es
keinen Grund, mich vor ihnen
zu fürchten. Nach vier
Wochen bauen wir ihm ein
Gehege in einem Raum zwischen
Haus und Stall. Wir
legen Bäume darin aus, unter
denen er sich verstecken
kann. Ich vermisse es, ihn
morgens als Erstes zu sehen.
Eine schwierige Zeit beginnt:
Die Wunden, die zunächst gut
verheilen, entzünden sich. Auf einmal
eitert auch das linke Knie wegen eines
Sturzes, vermutlich weil er sein Vorderbein
zu sehr beansprucht hat. Zigmal
suchen wir in den kommenden Wochen
die Tierärztin auf. Je größer er wird,
desto komplizierter ist es, ihn ins Auto
zu kriegen. Einer fährt, der andere hält
Findus. Während der Fahrten hören wir
klassische Musik. Mein Reh entspannt
Fremden gegenüber ist Findus immer noch scheu. Wenn er aber unsere
Autorin wittert, kommt er angerannt.
sich bei Mendelssohn. Es versucht währenddessen,
seinen Kopf aus dem leicht
geöffneten Fenster zu stecken, den
Fahrtwind im Gesicht.
Zu Hause spritzt Franz wochenlang
Antibiotika in die zähe Haut, ich scheitere
daran, weil ich ihm nicht wehtun
will. Wir haben uns die Pflege aufgeteilt.
Franz steht nachts auf, ich sorge tagsüber
für Findus. Es funktioniert meistens
gut, und doch empfinden wir die
Situation unterschiedlich. Auf einem
Bergbauernhof aufgewachsen, sah Franz
unzählige Tiere leben und sterben. Er
versteht kaum, wie sehr man an einem
einzelnen hängen kann. Er kümmert
sich vor allem mir zuliebe um das »Kitz«,
wie er ihn nennt. »Findus«, sage ich
dann, er hat doch einen Namen!
Täglich desinfizieren wir die Wunden
und verbinden sie. Findus darf nicht daran
lecken. Als wir ihn festhalten, wehrt
er sich mit aller Kraft. Ich versuche es
mit Geduld statt mit Gewalt, er hält still.
Er reagiert nur auf Zärtlichkeit, nicht
auf Zwang. Immer wenn wir glauben, es
ist überstanden, eitert die Wunde wieder.
Ich verschiebe Reisen und Termine.
Kann mit Franz nur drei Stunden lang
von zu Hause wegbleiben, weil wir Findus
füttern müssen. Ein Sorgenkind, von
Anfang an. Als ich zum ersten Mal über
Nacht weg bin, fühle ich Erleichterung
und rufe doch nach meiner Ankunft sofort
zu Hause an.
Neben den aufreibenden Momenten
gibt es viele schöne. Gemeinsam gehen
wir spazieren, jeden Tag ein Stück weiter.
Ich voraus, er hinterher. Ohne Leine,
ohne Sorge, er könnte weglaufen. Geht
er vor, dreht er sich mehrmals um, als
ob er sich vergewissern wollte, dass ich
noch da bin. Er fiept schrill, wenn ich
mich löse, vermutlich will er sagen:
Bleib bei mir! Komme ich zurück, hört
er sofort damit auf. Wir essen zusammen
Heidelbeeren und kriegen blaue
Münder, liegen im Moos, schauen ins
Tal. Ich entdecke den Wald mit den Sinnen
eines Rehs, zucke bei jedem Rascheln,
jedem Knacksen. Als Fluchttier
entspannt sich Findus immer nur kurz,
überall könnte Gefahr lauern.
Einmal jagt ihn ein Hund. Nie habe
ich ihn so schnell laufen sehen. Hilflos
renne ich hinterher. »Haltet ihn! Mein
Reh hat nur drei Beine!«, schreie ich die
Besitzer an, weil sie zuerst nichts unternehmen.
Der Hund beißt mein Kitz tot,
und ich kann nichts tun!, denke ich. Ich
bin bereit, Findus zu verteidigen, notfalls
mit Gewalt. Die Verfolgungsjagd
endet nach fünf Minuten. Findus liegt
mit Schaum vor dem Mund am Boden.
Unverletzt. Ich trage ihn nach Hause.
Eine halbe Stunde lang pumpt sein
Herz wie verrückt.
Ein andermal, am Morgen auf dem
Weg in den Wald, macht er auf einer
Lichtung Halt, dort steht ein erwachsenes
Reh. Wenige Sekunden lang stehen
sich die beiden gegenüber und
schauen einander an. Als das erwachsene
Reh mich entdeckt, flüchtet es. Findus
humpelt zu mir. Kurz stelle ich mir
vor, er wäre hinterhergerannt. Ich weiß,
dass er in der Natur allein nicht überleben
könnte. Wohl keinen Anschluss
fände bei den anderen Rehen. Ob es
seine Mutter war?
Nach vier Monaten sind alle Wunden
verheilt, die Milchmengen und das
Fläschchen längst größer geworden, die
Fütterungen seltener. Findus sieht
gesund aus und wunderschön, er trägt
jetzt ein glänzendes Winterfell. Springt
er in die Luft, ist er pure Eleganz. Er hat
seine Milchzähne verloren und wiegt
15 Kilo. Noch immer gehen wir gemeinsam
in den Wald, aber nun traut er
sich auch allein dorthin. Tagsüber lassen
wir sein Gehege nun offen, aber er entfernt
sich nie weit. Seine Lieblingsplätze
ändert er alle paar Wochen. Nähere ich
mich ihnen, kommt er angerannt.
Ende November ist Findus kein Kind
mehr, eher ein Teenager, der nachts oft
wegbleibt und bald ganz im Wald
schläft. In seinem Gehege steht immer
Essen bereit, die Tür bleibt offen, für
den Fall, dass er sich hineinlegen möchte.
Das tut er, wenn es regnet und als im
Dezember der erste Schnee fällt. Ich
gönne ihm seine Freiheit. Du sollst nie
ganz zahm sein, denke ich. Sollst dir immer
ein wenig Wildnis bewahren. Ganz
wild kann er nicht mehr werden, auch
wenn ich es ihm wünschen würde. Zur
Sicherheit trägt er ein rotes Seidenhalsband
mit einem Peilsender, damit
ich nachsehen kann, wo er sich gerade
befindet. Und damit Jäger ihn nicht
schießen. Ich hoffe, sie erkennen an
dem Halsband, dass er ein besonderes
Reh ist.
Fremden gegenüber ist Findus immer
noch sehr scheu. Es ist sein Instinkt,
er wird nie ein Haustier sein. Ab und an
stellt er sich vor das Fenster meines
Arbeitszimmers, bis ich eine Pause einlege
und mich zu ihm nach draußen
Du sollst nie ganz zahm sein, denke ich.
Sollst dir immer ein wenig
Wildnis bewahren
setze. Ich weiß viel über ihn und doch
wenig. Nach dem Winter wird er im
Frühling als ausgewachsenes Reh mehr
unterwegs sein. Ganz fortbleiben wird
er wahrscheinlich nie, Rehe sind standorttreu,
und sie können bis zu 20 Jahre
alt werden. Dennoch fürchte ich den
Tag, an dem er nicht mehr sein wird.
Findus, würde ich ihm gerne sagen, du
hast mein Herz nicht nur berührt, du
hast an seinen Mauern gerüttelt. Es ist
leicht, dich zu lieben.
BARBARA BACHMANN
Ein verletztes Reh »schenkt dir sein Leben, um
dein Herz zu erreichen und es zu weiten.« Als die
Autorin dies über die schamanische Bedeutung
des Rehs las, sah sie Findus an und dachte: wie
wahr.
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