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Findelkitz_SZ-Mag

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Es ist der 21. Juni 2020, ein für die Sommersonnwende

sehr kalter und windiger

Sonntag. Kurz vor Mittag stehe ich in

der Küche und hacke eine Zwiebel, als

mein Partner Franz wortlos den Raum

betritt. Seine Jacke hält er zusammengeknüllt

in den Armen, daraus lugt ein

Köpfchen hervor. Ich muss zweimal hinschauen,

ehe ich erkenne, was es ist. Ein

Rehkitz. »Ein Mann hat es beim Mähen

verletzt. Sollen wir versuchen, es zu retten?«,

fragt er mich und hält das Kitz in

die Höhe. Dessen rechtes Hinterbein ist

oberhalb des Knies abgetrennt, Blut

tropft aus der Wunde, es hat zahlreiche

Verletzungen an Hals und Oberkörper.

Ich schreie vor Schreck auf und antworte,

ohne zu überlegen: »Ja!«

Wir leben auf einem Bergbauernhof

in den Alpen, keine Nachbarn, nur

Wald, Weide, Wiesen. Im Juni wird gemäht.

Zur selben Zeit kommen die

meis ten Rehkitze auf die Welt. Tagsüber

verstecken die Rehmütter die Kleinen

im Gras, um sie vor Fressfeinden wie

Füchsen zu schützen. Sehen Unwissende

so ein Kitz, fassen sie es oft an,

weil sie denken, es benötige Hilfe. Aber

haftet Menschengeruch an einem Kitz,

akzeptiert es die Mutter nicht mehr,

sein Leben in der Wildnis endet jäh.

Rehkitze laufen auch nicht weg, wenn

sich ihnen Gefahr in Form einer Mähmaschine

nähert. Immer öfter werden

die Felder deshalb vorher mit einer

Wärme bildkamera abgesucht. Sonst bemerken

die Bauern die Tiere zu spät –

laut der Deutschen Wildtierstiftung

sind in Deutschland jedes Jahr rund

90 000 Wildtiere vom Mähtod bedroht.

Als Franz mich warnt, wie viel Arbeit

es mache, ein Rehkitz aufzuziehen, und

wie unwahrscheinlich es sei, dass es

durchkommt, höre ich ihm nicht mehr

zu. Ich sehe nur in diese großen, dunklen

Augen. Eine halbe Stunde später

stehen wir mit einer Pappschachtel in

der Hand, darin das in die Jacke gewickelte

Kitz, in der Praxis einer Tierärztin.

Es schreit, für mich klingt es

panisch. Das verletzte Bein muss amputiert

und das Kitz, ein Männchen,

kastriert werden. Als handaufgezogener,

nicht kastrierter Bock würde er den

Menschen später als Artgenossen wahrnehmen

und angreifen. Die Chancen,

dass er die Operation übersteht, stehen

nicht gut.

Die Wartezeit überbrücke ich zu

Hause damit, im Internet alles zu lesen,

was ich über die Rehkitzaufzucht finde.

Ich brauche Ziegenvollmilch, weil sie

Rehmilch am ähnlichsten ist. Dem Gewicht

von 2700 Gramm und der Intensität

der weißen Punkte am Rücken

Nachts weckt mich Findus mit Fiepen.

Ich weiß nicht, ob es Hunger bedeutet

oder Schmerzen, vermutlich beides

nach zu urteilen, ist unser Findling

höchstens zehn Tage alt. Immer wieder

schaue ich aufs Handy. Ich hoffe, dass er

es schaffen wird, und fürchte mich

gleichzeitig vor der damit verbundenen

Verantwortung. Nach vier Stunden meldet

sich die Tierärztin: »Er ist aus der

Narkose aufgewacht und hat die Operation

überstanden. Ihr könnt ihn holen.«

In der Praxis fragt sie mich, wie er heißen

soll. »Findus«, antworte ich und

fahre mit dem völlig erschöpften Rehkitz

und einem Liter Ziegenvollmilch

vom Biobauern nach Hause.

Am Morgen ist dieses Wesen noch

im Wald aufgewacht, vielleicht mit dem

Atem seiner Mutter im Gesicht, nun

liegt es amputiert und kastriert in einer

Plastikkiste in unserem verdunkelten

Schlafzimmer. Dort stelle ich es in die

ruhigste Ecke, um es behutsam an die

neuen Geräusche zu gewöhnen. Alle

zwei Stunden füttern wir es, auch

nachts. Die Milch muss auf 39 Grad erwärmt

werden, sonst könnte das Rehkitz

Durchfall bekommen und sterben.

Bei falscher Pflege stehen die Überlebenschancen

gleich null, lese ich. Ich

habe Angst, einen Fehler zu machen.

Nachts weckt Findus mich mit seinem

Fiepen. Ich weiß nicht, ob es Hunger

bedeutet oder Schmerzen, vermutlich

beides. War es richtig, das Tier am Leben

zu halten? Oder hätten wir es »erlösen«

sollen? Aber hat es nicht ein Recht darauf

zu leben, auch mit drei Beinen?

Oder ist dieses Leben nun, außerhalb

seines natürlichen Habitats, eine Zumutung?

Wildtierhaltung wird oft romantisiert.

Ein Reh, wie süß, denkt man.

Aber wie viel Arbeit es bedeutet, kann

Manchmal stellt sich Findus vor das Arbeitszimmerfenster unserer Autorin und wartet darauf,

dass sie eine Pause einlegt, herauskommt und sich zu ihm gesellt.

sich niemand vorstellen, der es nicht

erlebt hat.

Wir benutzen eine Trinkflasche, mit

der man Katzenbabys aufzieht. Beim

ersten Versuch rinnt die Hälfte der

Milch am Mäulchen vorbei. Oft nehmen

Wildtiere das Futter nicht an. Sie

scheinen lieber sterben zu wollen, als

bei Menschen zu leben, bei denen sie

sich unwohl fühlen. Aber Findus trinkt

am nächsten Morgen mehr. Seine Nase

ist feucht, das bedeutet, er hat genug

gekriegt. Zum ersten Mal schnuppert er

an meiner Hand, leckt sie ab. Zaghaft

streichle ich über sein Fell. So weich! Er

lässt es geschehen.

Wir bauen dem Kitz in unserem

Zimmer ein Nest, legen es mit Decken

aus, darauf Handtücher und Erwachsenenwindeln,

die wir mehrmals täglich

wechseln. Wir gehen auf Zehenspitzen

an ihm vorbei, flüstern. Dennoch reagiert

es auf jede Bewegung, dreht

gleichzeitig das linke Ohr nach vorne

und das rechte nach hinten. Wie

groß seine Ohren im Vergleich zum

Kopf sind, so groß wie das ganze Gesicht.

Rühre ich mich nicht, ist es die

Ruhe selbst, wie ein indischer Guru.

Als Findus nach ein paar Tagen

zum ersten Mal auf seinen drei Beinen

steht, zittert er am ganzen Körper.

Dann reckt er das Kinn stolz

nach oben, als wollte er sagen:

Schau, was ich kann! Ich weine vor

Freude und Stolz. Nun darf er in

den Garten. Er schnuppert an allem.

Setzt einen Fuß vor den anderen,

wird schneller, so schnell, dass ich

kaum Schritt halten kann. Sein verbliebenes

Hinterbein stellt er in die

Mitte, um das Gleichgewicht zu halten.

Wenn er rennt, fällt nicht auf,

dass ihm ein Bein fehlt. Ich bewundere

ihn. Für seine Tapferkeit, seine

Kraft, seine Entschlossenheit zu leben.

Die ersten zwei, drei Male im

Freien fürchte ich, dass er wegläuft.

Aber er scheint kein Bedürfnis danach

zu haben.

Nach und nach erfahren unsere

Verwandten und Freunde von dem

Reh. Bei Besuchen schaue ich genau

hin, ob sie sich ihm zu sehr nähern.

Ich spreche mit Wildtierexpertinnen,

informiere mich über die rechtliche

Lage. Ich lese Bücher über Rehe,

hole mir Rat bei einer Frau, die

schon viele Rehe aufgezogen hat,

und kontaktiere eine Wildtierärztin.

Das Reh halte mich nun für seine

Mutter, erfahre ich. Morgens sammle

ich Löwenzahn, Klee, Birken-, Himbeer-,

Erdbeerblätter, Knospen und

Triebe. Findus isst auch Erde, Haferflocken,

spezielles Wildtierfutter, ein

wenig Obst und Gemüse. Kirschen

liebt er, Kern um Kern entferne ich

für ihn. Als ich einmal einen vergesse,

spuckt er ihn lässig aus. Ich muss

lachen, vielleicht übertreibe ich es mit

der Fürsorge.

Wir desinfizieren seinen Nabel. Wiegen

ihn. Pro Tag soll er mindestens

100 Gramm zunehmen. Es sind meistens

120 Gramm. Während des Trinkens

massieren wir in den ersten Wochen

seinen After, damit er Kot ablassen

kann. In der Natur leckt die Rehmutter

daran. Es wirkt, als würde die Nähe ihm

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