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40. Jahrgang N r.129 / Juni 2000 Einladung zur Bildersuchfahrt am ...

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P F L I C H T L E K T Ü R E<br />

Am 2. <strong>Juni</strong> <strong>2000</strong> wird er 80 Jahre alt, der Mann, den<br />

man als den „Literaturpapst“ bezeichnet - was er<br />

selbst allerdings in aller Bescheidenheit strikt von<br />

sich weist. Die von ihm moderierte Fernsehsendung<br />

„Das literarische Quartett“ hat seit 12 Jahren<br />

Einschaltquoten, von denen andere Sendungen nur<br />

träumen können. Mit einem wechselnden Gast und<br />

im Troika-Gespann mit dem promovierten Germanisten,<br />

Dr<strong>am</strong>atiker und Autor Hellmuth Karasek und<br />

der in Berlin lebenden österreichischen Kritikerin<br />

Sigrid Löffler bringt er darin den Zuschauern mit<br />

einer unvergleichlichen Eloquenz „Literrraturrr“<br />

direkt in die Wohnstuben, macht sie neugierig, erst<br />

recht, wenn er das Werk verbal auseinander nimmt,<br />

nichts mehr gutes daran läßt. Das „Trio infernale“<br />

schenkt sich in diesen literarischen Auseinandersetzungen<br />

nichts, völlig konträre Meinungen provozieren<br />

einander, reizen auch den Zuhörer letztendlich,<br />

das Buch selbst zu kaufen, sich beim<br />

Lesen eigene Meinung zu bilden.<br />

Schon allein die Sprachkunst des alten Herrn, die in<br />

ihrer beeindruckend klaren Ausdrucksweise weder<br />

Goethe noch Thomas Mann nachsteht, fesselt den<br />

Zuschauer, der aufgeht in konzentriertem Zuhören.<br />

Das rollende ‚R’ und das lispelnde ‚S’ sind akustische<br />

Markenzeichen des in Polen geborenen<br />

langjährigen Literaturchefs der FAZ geworden. Er<br />

begeistert gleichzeitig durch hintergründigen Humor<br />

und mitunter durchaus deutlich deftige Worte, wo er<br />

es für notwendig erachtet. Der Ehrendoktor der<br />

Universitäten Uppsala/Schweden und Düsseldorf<br />

liebt spürbar die deutsche Sprache, hat ein geradezu<br />

sinnliches Verhältnis zu ihr, dessen liebevolle<br />

Pflege in jedem Satz deutlich wird. Er lebt Sprache<br />

und Literatur. Des Sprachkünstlers erstes eigenes<br />

Buch, seine Autobiographie mit dem schlichten Titel<br />

„Mein Leben“, liegt seit 35 Wochen unangefochten<br />

auf Platz 1 der ‚Spiegel’-Bestseller-Liste und wurde<br />

in Deutschland bislang in über 500.000 Exemplaren<br />

verkauft. Das wiederum soll den Schriftsteller Martin<br />

Walser zu der Bemerkung veranlaßt haben: „Er hat<br />

viele Jahre lang über unsere Bücher genörgelt und<br />

uns das Geschäft verdorben. Und jetzt hat er uns<br />

auch noch die Leser weggenommen.“<br />

Die Rede ist, wie Du, lieber<br />

Bundesbruder, es natürlich<br />

längst erkannt hast, von dem<br />

Literaturkritiker Marcel Reich-<br />

Ranicki.<br />

Im Rahmen einer Gesprächsreihe<br />

zum Zeitgeschehen gibt<br />

der Mann, der wohl unbestritten<br />

der beste Kenner der<br />

deutschen Literatur überhaupt ist, eine für Schüler<br />

wie Lehrer gleichermaßen interessante Einschätzung<br />

dessen wieder, was jeder Schüler bis zum<br />

Abitur gelesen haben sollte.<br />

Doch geben wir das Wort direkt Marcel Reich-<br />

Ranicki:<br />

(Zitat u. Foto in: WELT <strong>am</strong> SONNTAG Nr..21, S.34)<br />

„Diese Werke sollte ein Abiturient gelesen haben<br />

Eine solche Auswahl ist natürlich sehr subjektiv, so<br />

wie auch mein jetzt erschienenes Buch „Hundert<br />

Gedichte dieses Jahrhunderts“. Schüler sollten vor<br />

allem wenig Romane und statt dessen viele<br />

Erzählungen lesen. Aus Gründen des Umfangs.<br />

Beginnen wir mit der frühen deutschen Literatur:<br />

Von Walther von der Vogelweide müsste man drei<br />

Gedichte oder vier lesen und zeigen, dass es die<br />

ganz große deutsche Lyrik schon d<strong>am</strong>als gegeben<br />

hat. Man kann dann einen großen Sprung bis <strong>zur</strong><br />

Barockzeit machen und dann einige Gedichte von<br />

Gryphius und von Hofmannswaldau behandeln.<br />

Aus dem 18. Jahrhundert sollte man den Schülern<br />

gleich Lessing geben. „Emilia“ oder „Nathan“ – sie<br />

sind aus verschiedenen Gründen gleich wichtig.<br />

Dann Goethe. Was soll man vom ganzen Goethe<br />

durchnehmen? „Faust I“ auf jeden Fall, „Werther“<br />

und „Iphigenie“, und Lyrik, frühe Lyrik, „Sensenheimer<br />

Lieder“ zum Beispiel. Von Schiller bitte<br />

unbedingt einige Balladen, vor allem „Die Kraniche<br />

des Ibykus“, und von den Dr<strong>am</strong>en zumindest<br />

„Kabale und Liebe“ und den „Don Carlos“.<br />

Dann kommen die Romantiker. Ohne Kleist und<br />

Hölderlin kann man keine deutsche Literatur<br />

machen. „Prinz von Homburg“ – das ist das Größte,<br />

was Kleist geschrieben hat. Man muss den<br />

Schülern zeigen, dass ein ungeheurer Mut dazu<br />

gehörte, ein Stück über einen preußischen General<br />

zu schreiben, der vor Angst zittert, weil er seinen<br />

Tod fürchtet. Von Hölderlin würde ich einige der<br />

kürzeren Gedichte empfehlen, etwa „Die Hälfte des<br />

Lebens“ – das ist einer der Höhepunkte der ganzen<br />

deutschen Literatur. Ganz wichtig: Heine, Lyrik und<br />

Prosa. Und dann das 20. Jahrhundert: Einige<br />

Gedichte von Rilke und Trakl. Thomas Manns<br />

„Buddenbrooks“ und den „Zauberberg“, womöglich<br />

beide. Ich würde ein Buch von Joseph Roth, etwa<br />

den „Radetzky-Marsch“ vorschlagen und von Musil<br />

den „Zögling Törleß“. Leute im Schulalter lesen<br />

gern Bücher über die Tragödien von Schülern.<br />

Deshalb auch vom ganzen Hermann Hesse<br />

„Unterm Rad“. Das genügt. Dann Kafka: Seine<br />

Romane müssen nicht sein, dafür Parabel-<br />

Geschichten: „Hungerkünstler“ und „Verwandlung“,<br />

„Strafkolonie“ – Texte, die kürzer sind. Einen größeren<br />

Roman sollte man auf keinen Fall vergessen:<br />

„Berlin Alexanderplatz“ von Alfred Döblin.<br />

Und dann die Literatur nach 1945: Ich würde sagen,<br />

Grass’ „Katz und Maus“ sollte man machen.<br />

Natürlich Lyrik. In jeder Schule wird die „Todesfuge“<br />

von Celan gelesen. Und dann bitte drei, vier<br />

Gedichte von Ingeborg Bachmann, von Benn und<br />

mindestens zehn Gedichte von Brecht.“<br />

Soweit MRR. Na, Ihr Abiturienten<strong>2000</strong>, wie sieht’s<br />

denn da bei Euch aus? Und bei uns selbst? Stelle<br />

jeder Vergleiche mit der eigenen Schulzeit oder<br />

seinem Unterrichtsplan an. Zum Nachholen, heißt<br />

Nach-Lesen ist es Gottlob nie zu spät und sogar<br />

(Lehr)Pläne kann man verbessern!<br />

Reiser

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