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Loretta Lux / Nachmann Privatsammlung
6<br />
nachmann news<br />
8<br />
my art<br />
ein titan in weiSS<br />
Günther Uecker<br />
18<br />
my neighbourhood<br />
iSt unSer<br />
politiScheS<br />
SyStem am ende?<br />
Prof. Dr. Dieter Frey<br />
28<br />
my munich<br />
luxuS iSt<br />
die idee deS Schönen<br />
in unS<br />
Petra-Anna Herhoffer<br />
42<br />
nachmann client<br />
SchweStern werk<br />
und GotteS BeitraG<br />
Schwester Theodolinde Mehltretter<br />
50<br />
philosophy<br />
ich finde ÜBerraSchunGen<br />
etwaS wunderBareS!<br />
Dr. Susanne Gaensheimer<br />
Impressum<br />
Herausgeber: Josef Nachmann<br />
Beratung und Supervision:<br />
Andreas Lukoschik<br />
Chefredaktion: Jens Magers<br />
Art Director: Janis Birznieks<br />
Textredaktion: Amadeus AG, Schwyz<br />
70<br />
my bavaria<br />
unSer wohlStand<br />
BaSiert auf wiSSenS-,<br />
innovationS- und<br />
induStriekompetenz<br />
Dr. Günter von Au<br />
80<br />
my germany<br />
auS wirtSchaftlicher<br />
Sicht iSt der atomauS-<br />
StieG fÜr die deutSche<br />
exportlandSchaft eine<br />
rieSenchance!<br />
Hannes Schwaderer<br />
92<br />
my europe<br />
GuteS<br />
unternehmen – Geht!<br />
Konstanze Frischen<br />
102<br />
my world<br />
ein BeSondereS<br />
mÜnchner kindl<br />
Alice Sara Ott<br />
Anschrift<br />
Nachmann Rechtsanwälte<br />
Theatinerstraße 15<br />
80333 München<br />
www.nachmann.com<br />
Telefon +49 89 2420740
Liebe Leser,<br />
im Angesicht weltweiter Krisenszenarien, wachsender<br />
gegenseitiger Kritik von Politik und Wirtschaft, wer die<br />
Verantwortung für welche Fehlentwicklung trägt, wollen wir<br />
wieder Personen und Unternehmen vorstellen, die vorbildhaft<br />
an der Weiterentwicklung unseres Gemeinwesens und der<br />
wirtschaftlichen Entwicklung arbeiten. Sie sind die Nachdenker,<br />
Vorbilder und Mutmacher, die wir jetzt brauchen.<br />
Andreas Lukoschik hat gemeinsam mit uns Gesprächspartner<br />
ausgewählt, die mit Erfolg ihre Projekte umsetzen, ihr Leben leben.<br />
Und dies im Sinne der Gesellschaft und der Schaffung dauernder<br />
Werte. Glaubwürdig.<br />
Unser beruflicher Alltag zeigt uns, dass es viele Gedanken<br />
und Projekte gibt, die uns Mut und Hoffnung geben, weil sie<br />
auf eine qualitativ wachsende Wirtschaft und eine vernünftige<br />
Weiterentwicklung der gesellschaftlichen Lebensgestaltung<br />
gerichtet sind. Es gibt so viele engagierte, innovative und<br />
leistungsbereite Menschen, dass uns im Grunde nicht Bange<br />
sein muss, wenn wir nur notwendige Korrekturen nicht als<br />
Weltuntergang, sondern als normalen Gang der Dinge betrachten –<br />
also mehr Gelassenheit als Gebot der Stunde.<br />
Jede Krise bietet auch die Chance, sich auf Grundsätzliches<br />
zu besinnen. So zum Beispiel, dass Kapital und Produktivität<br />
zusammengehören und Wetten auf Unternehmen und Staaten<br />
verboten werden müssen. Oder dass wir den kleinen Einheiten<br />
wieder mehr Glauben schenken sollten, dem was wir politisch und<br />
wirtschaftlich überblicken können und wo Korrekturen weniger<br />
schmerzhaft, weil begrenzter sind.<br />
Wir hoffen, dass wir wieder einen Sie interessierenden Mix aus<br />
Themen, Menschen und unterhaltsamen Texten zusammenstellen<br />
konnten. Wir danken Andreas Lukoschik, der neugierig und offen<br />
unsere Interviewpartner für spannende und aussagekräftige<br />
Gespräche gewinnen konnte.<br />
Mit besten Grüßen,<br />
Ihr Josef Nachmann<br />
kindler/nachmann<br />
handbuch insolvenzrecht in europa<br />
Herausgegeben von Prof. Dr. Peter Kindler<br />
und Rechtsanwalt Josef Nachmann<br />
daS neue deutSche inSolvenzrecht – deutSchland-teil<br />
deS handBuchS in ÜBerarBeiteter neuauflaGe.<br />
Zum 1.1.2012 wird das Gesetz zur erleichterten Sanierung von<br />
Unternehmen (kurz: ESUG) in Kraft treten und die seit dem 1.1.1999 geltende<br />
Insolvenzordnung erneut reformieren. Neben der Einführung eines sog.<br />
„Schutzschirmverfahrens“, in dem dem potentiellen Insolvenzschuldner die<br />
Möglichkeit gegeben werden soll, unter Aufsicht eines vorläufigen Sachwalters<br />
Sanierungsmaßnahmen einzuleiten, wird insbesondere der Einfluss der<br />
Gläubiger auf die Maßgaben des Insolvenzverfahrens gestärkt. Schon bei<br />
überschaubaren Unternehmensgrößen (mehr als 10 Mitarbeiter, mehr als<br />
2 Mio. € Jahresumsatz) soll künftig vom Insolvenzgericht ein vorläufiger<br />
Gläubigerausschuss bestimmt werden, der bei der Auswahl des (vorläufigen)<br />
Insolvenzverwalters mitwirkt.<br />
Die Konkurrenzfähigkeit des „Insolvenzstandortes“ Deutschland<br />
soll nach den Vorstellungen des Gesetzgebers nicht nur durch das<br />
o.g. Schutzschirmverfahren, sondern auch durch eine Stärkung des<br />
Insolvenzplanverfahrens verbessert werden. Künftig wird die Eigenverwaltung<br />
durch den Schuldner bzw. dessen Geschäftsführung die Regel werden.<br />
Erstmalig wird auch der sog. Debt-Equity-Swap als Mittel zur Stärkung der<br />
Eigenkapitalbasis eines Unternehmens in einen gesetzlichen Rahmen gegossen.<br />
Neue Wege beschreitet der Gesetzgeber zudem bei der sog. Vorbefassung<br />
des Insolvenzverwalters. War es nach der bisherigen Praxis bundesdeutscher<br />
Insolvenzgerichte noch undenkbar, dass ein Insolvenzverwalter bereits vor dem<br />
Insolvenzantrag beratend oder sanierungsbegleitend für das schuldnerische<br />
Unternehmen tätig war, so soll jetzt – wenn auch in engen Grenzen – eine<br />
Vorbefassung kein Ausschlusskriterium mehr darstellen. Es bleibt abzuwarten,<br />
welche Auswirkungen diese Regelungen auf die Auswahl eines geeigneten<br />
Insolvenzverwalters haben.<br />
Diese und vorangegangene gesetzliche Änderungen wurden in dem<br />
umfassend neu bearbeiteten Deutschland-Teil des Handbuchs für Insolvenzrecht<br />
in Europa berücksichtigt. Auch künftig wird damit eine kurze und prägnante<br />
Einführung in die deutsche Insolvenzpraxis zur Verfügung gestellt.<br />
Erscheinungstermin der Ergänzungslieferung: voraussichtlich<br />
1. Quartal 2012.
my art<br />
Seite 8<br />
GüNTHER<br />
UEcKER –<br />
EIN TITAN<br />
IN WEISS<br />
Feld 2008, 90 x 90 cm, Nägel,<br />
Latex, Leinwand, Holz<br />
Seine arbeiten hängen in allen<br />
großen museen der welt und werden<br />
meist an einem element seiner<br />
handschrift erkannt – dem nagel.<br />
unser autor andreas lukoschik traf<br />
ihn in seinem atelier und sprach<br />
mit ihm über Bleistift und nagel,<br />
versenkung und ausdruck, wort und<br />
Bildsprache.<br />
Günther uecker's bauchtiefe<br />
heiterkeit der diesseitigen welt<br />
gegenüber – bei gleichzeitiger tiefer<br />
kenntnis anderer Gesetzmäßigkeiten<br />
und zusammenhänge – hat etwas von<br />
einem zen-meister. diese urkraft wird<br />
immer wieder schalkhaft erschüttert<br />
durch sein, den ganzen mann zum<br />
Beben bringendes lachen. dieser<br />
mann ist trotz seiner 81 Jahre ein Berg<br />
von einem kerl. und gleichzeitig der<br />
empfindsame Übergang einer anderen<br />
welt in die unsere.<br />
? herr uecker, Sie haben in einem<br />
interview gesagt: „da, wo ich immer<br />
mehr sprachfähig werde, vermindert<br />
sich meine Gestaltungsfähigkeit im<br />
Bildnerischen.“ ist das so?<br />
! In meiner Kindheit auf der Insel in<br />
dem mecklenburgischen Traum war ich<br />
recht sprachlos. Dort schaut man zum<br />
Horizont und sagt nicht so viel. Man<br />
überlegt erst lange, was man sagt. Dann<br />
ist es zu spät, es zu sagen. Und man sagt<br />
sich am nächsten Tag: „Hättste das doch<br />
mal gesagt.“ Und so geht die Zeit dahin.<br />
Das Sprechen habe ich hier im Rheinland<br />
gelernt. Hier spricht man ja alles aus.<br />
Aber es stimmt schon. Das Sprachliche<br />
vernichtet das bildphänomenologische<br />
Denken.<br />
Ich hab´ mich schon mit 22 Jahren<br />
bemüht, unalphabetisch zu denken. Was ganz<br />
schwierig ist, Gedanken im Sinne alphabetischer<br />
Zusammenhänge auszulöschen.<br />
Denken ist ja nicht, Buchstaben aneinander<br />
zu reihen, sondern Erkenntnis – und Wahrnehmungspraxis!<br />
Und das Wahrgenommene<br />
dann in Sprache zu überführen, also in Buchstaben<br />
mit kausalen Zusammenhängen und<br />
dem eine semantische Bedeutung zu geben,<br />
das ist erst erlernbar mit der Zeit.<br />
Das phänomenologische Denken aber,<br />
das ja eigentlich den Philosophen zu eigen<br />
ist, ist mir erst mit großer Konzentration<br />
gelungen: für Zehntelsekunden eine<br />
Wahrnehmung zu erlangen, die ohne<br />
Buchstaben und Satzbedeutungen<br />
auskommt. Das war sozusagen die<br />
erste Hoffnung. Denn die Welt denkt<br />
sich selbst. Und wir partizipieren mit<br />
unseren Synapsen in Kurzschlussform<br />
und erfahren so die Ereignisse des<br />
Geschehens.<br />
? wenn Sie sagen „phänomenologisches<br />
denken“, ist das dann bildhaft?<br />
! Es ist farbig und auch ausgelöscht –<br />
und erhellend. Es hat vielleicht etwas zu<br />
tun mit den Versenkungspraktiken der<br />
buddhistischen Lehre. Aber die gibt´s auch<br />
bei den christlichen Mystikern. Auf jeden<br />
Fall habe ich diese Gegenwelt erfahren.<br />
Ich war von der DDR geprägt, dass alles<br />
sagbar sein muss. Demzufolge stand diese<br />
Aussagbarkeit im Vordergrund und eine<br />
andere Existenz trat in den Hintergrund,<br />
wurde verschwiegen und verkümmerte.<br />
Durch diese Prägung im dialektischen<br />
Materialismus habe ich eine Gegenwelt<br />
gesucht und fing erstmal damit an, den<br />
Koran zu lesen. Da ich ja atheistisch<br />
erzogen war, gab es keine herkömmlichen<br />
Vorbehalte gegenüber anderen Religionen.<br />
Ich habe dann auch in der Bhagavad Gita,<br />
dem Taoismus, im großen und kleinen Boot,<br />
in der christlich-jüdischen Glaubenslehre<br />
und im Zen Vertiefungen erlebt, die es mir<br />
ermöglichten, zu erfahren, dass es eine<br />
andere Seinsdimension gibt. Die ist nicht<br />
unbedingt individuell identisch mit der<br />
eigenen figurierenden Seinserfahrung,
sondern ein Sein als Dasein.<br />
Diese Prozesse hatten parallel laufend<br />
zur Folge, das so Erfahrene auch bildnerisch<br />
sichtbar zu machen – und damit ist Ihre<br />
Frage vielleicht beantwortet –, das dann<br />
in Farben und Reihungen und Strukturen<br />
zum Ausdruck kam. In dem Versuch, immer<br />
dasselbe zu tun und zu scheitern, erfuhr ich<br />
im Scheitern meine eigene Individualität.<br />
? Scheitern wird in deutschland<br />
ja immer gerne als „versagen“<br />
interpretiert.<br />
! Na ja, aber die Individualität ist ohne<br />
Scheitern niemals erkennbar. Denn das ist<br />
ja der eigentliche „Unterscheid“, der sich da<br />
kundtut. So ist Scheitern auch eine Kunst.<br />
Wo die Sprache versagt, beginnt das Bild.<br />
„individualität iSt ohne<br />
Scheitern niemalS erkennBar.“<br />
? wie sind Sie bei diesen erkenntnisprozessen<br />
auf den nagel gekommen?<br />
! Nicht wie auf den Hund (lacht<br />
vergnügt), sondern durch die Erfahrung des<br />
Zeichnens. Während man zeichnet, merkt<br />
man, dass ein gezeichneter Akt unerreichbar<br />
ist in der Vergleichbarkeit dessen, was man<br />
sieht. Und der Versuch, mit dem spitzen<br />
Bleistift in der Pupille und den Hautfalten<br />
des Abzubildenden herumzustochern, um<br />
das zu erfassen, was man sieht, ist eine Lüge<br />
an sich selbst.<br />
Wenn ich zeichne, habe ich zwar eine<br />
Linie, die auch eine reale Linie ist, aber<br />
der Bleistift ist auch die Realität dessen,<br />
womit die Linie gezogen ist. Und er ist<br />
noch mehr die Fortsetzung der Linie in<br />
die Realität hinein. Und da komme ich in<br />
die Nähe eines poetischen Gedankens von<br />
Majakowski: „Poesie wird mit dem Hammer<br />
gemacht.“ Der Bleistift, der in das Papier<br />
geschlagen ist, bildet die plastische Linie,<br />
die in den Raum weist, in dem man lebt und<br />
der einen Schatten wirft, der auch wieder<br />
eine Linie ist – und der unsere kosmischen<br />
Zusammenhänge über den Tag offenbart wie<br />
bei einer Sonnenuhr. Denn sein Schatten<br />
wandert durch vergehendes Licht. So wie<br />
man sich nachts in die Dunkelheit bettet<br />
und morgens mit Erschrecken sieht, dass<br />
man einen Schatten aus dieser Nacht<br />
herauswirft. Das ist ja das größte Geschehen<br />
der Seins-Erfahrung, die über den Tag vergeht<br />
und wieder in die Dunkelheit mündet.<br />
Solche Prozesse führten dazu, dass ich<br />
anstatt des Bleistiftes dann einen Nagel<br />
eingeschlagen habe. Aber zuerst waren es<br />
Bleistifte in plastischer Masse. Da gibt es noch<br />
viele frühe Bilder.<br />
? vom Bleistift also zum Stahlstift.<br />
hat das fixierende des nagels auch eine<br />
Bedeutung?<br />
! Natürlich. Man sagt ja auch, man<br />
treffe den Nagel auf den Kopf, oder,<br />
wir machen Nägel mit Köpfen. In der<br />
Sprachwissenschaft gibt es sogar den Begriff<br />
„festmachen“. Das ist aber ein gescheiterter<br />
Versuch, der dazu führt, dass man die<br />
Zeit erst wahrnimmt, wenn man sie zu<br />
befestigen versucht oder misst. Mit der<br />
Sonnenuhr wird durch die Schattenwirkung<br />
eines plastischen Gegenstandes Zeit in der<br />
Realität kinetisch wahrgenommen. Das<br />
ist für mich am Ende der 50er Jahre eine<br />
künstlerische Entdeckung als Material: die<br />
Linie in ihrer Vielfalt, der Stab, der eine<br />
Struktur bildet, eine Struktur, die ich dann<br />
weiterentwickelt habe. Am Ende wurden<br />
es Felder, die, mit meiner Innerlichkeit<br />
vergleichbar, Selbstporträts sind.<br />
(Er macht eine lange Pause.)<br />
Bei meinen Arbeiten sehe ich nicht,<br />
was ich mache, sondern ich handle. Und<br />
am Ende des Handelns habe ich ein Bild<br />
dessen, was aus mir zum Ausdruck kommt.<br />
Ein inneres Bild wird zum Abbild und<br />
für mich betrachtbar als eine Erkenntnis<br />
meiner selbst. Deshalb mache ich auch<br />
alle Jahre – in höchster Konzentration und<br />
in größter Öffnung meines Inneren – ein<br />
großes Feld, worin ich erkenne, in welcher<br />
Verfassung ich mich befinde. Das ist<br />
vergleichbar mit dem Erbrochenen, auf<br />
dem man ausrutschen kann und dabei eine<br />
reale Gravitationswirklichkeit erfährt. Es ist<br />
etwas Engelhaftes geboren, aber auch der<br />
Fall darin enthalten. Dieser Prozess führt<br />
dazu, mich auf diese Art künstlerisch zu<br />
formulieren.<br />
(Wieder eine Pause)<br />
Das ist heute allgemeines<br />
Wahrnehmungsgut in der Rezeption<br />
geworden. Man betrachtet eine Arbeit<br />
und sagt: „Aha, das ist ein Bild von<br />
Uecker.“ Aber am Anfang war das nicht<br />
so. Da sagte Alfred Schmela (der große<br />
Galerist, die Red.) 1958 zu einigen<br />
meiner Arbeiten: „Bring mir die mal<br />
vorbei.“ Und nach einigen Tagen: „Die<br />
kannste wieder mitnehmen“ (lacht aus<br />
vollem Halse). Aber dann hat er 1960<br />
doch eine Einzelausstellung gemacht.<br />
Aber er brauchte diese Zeit, das als<br />
Kunst anzusehen. Denn meine Arbeiten<br />
hatten keine innere Gestalt auf einem<br />
Feld, sondern sie waren eine Gestalt<br />
selbst. Wie „Eikon“ – das Bild. Das ist das<br />
Anbetungswürdigste, was man erfahren<br />
kann: dass etwas bildhaft wird und den<br />
Ort der Sehnsucht erschafft, der ja flüchtig<br />
ist. Dieses Flüchtige ist im „Eikon“ – dem<br />
Bild – gebannt und wird in der Rezeption<br />
angebetet oder geküsst, was ich in<br />
orthodoxen-russischen Verhältnissen oft<br />
erlebt habe.<br />
Und da offenbart sich dem Betrachter,<br />
dass da etwas geweckt ist, das etwas<br />
zutiefst Menschliches enthält, das nicht<br />
grundsätzlich zur Ablehnung führt<br />
und zum Widerspruch. Es erweckt im<br />
Betrachter höchste Erregungsmomente.<br />
Das sind geistige, früher hat man gesagt,<br />
Erweckungen. Also die provozierte<br />
Wachheit für eine andere Wirklichkeit.<br />
? Sie sprachen gerade über licht<br />
und Schatten. arbeiten Sie – ganz<br />
pragmatisch gesprochen – bei tages-<br />
oder bei kunstlicht?<br />
! Immer nur bei Tageslicht. So ein<br />
elektrisches Licht bildet eindeutig einen<br />
Schatten und widerspricht dem, was ich<br />
vorhin sagte. Es schafft nicht die kosmische<br />
Beziehung, dass alles sich im Wandel<br />
befindet, eben weil es immer konstant<br />
bleibt. Dagegen erfährt man bei Tageslicht<br />
die Begegnung mit der Nacht durch die
zunehmende Verminderung des Lichts.<br />
Zunehmendes Licht ist abnehmendes<br />
Dunkel – und umgekehrt.<br />
? Gibt es eine tageszeit, in der Sie<br />
am liebsten arbeiten?<br />
! Ja, bildnerisch nach der Mittagszeit<br />
bis abends um zehn. Und vormittags eher<br />
am Schreibtisch oder im Garten.<br />
? Sie sagten einmal: „ich wollte<br />
immer alt werden.“<br />
! Ich wollte nicht. Ich will! Das Eigentliche<br />
ist noch nicht getan.<br />
? ist das wichtigste werk noch nicht<br />
geschaffen?<br />
! Das eigentliche Werk ist das Gesamte, wo<br />
im Ganzen das Einzelne erkennbar bleibt.<br />
„daS eiGentliche iSt<br />
noch nicht Getan.“<br />
? kommen wir zu ihrer arbeitsweise<br />
ganz konkret. ich finde, wenn man sich<br />
als Betrachter einem werk nähert, sollte<br />
man den arbeitsabstand des künstlers<br />
zur leinwand einhalten, um zu fühlen,<br />
was ihn dabei bewegt und gezwungen hat.<br />
! Jeder Schritt zurück, den der Künstler<br />
vor seinem Werk tut, ist der Abgrund. Man<br />
darf nie vor seinem Werk zurücktreten,<br />
um eine Korrektur anzubringen. Dieses<br />
vor und zurück ist eine alte Praxis, die auf<br />
Korrekturen beruht, in dem Sinne, dass der<br />
Künstler eine bestimmte Vorstellung hat, die<br />
er verwirklichen will und für die er dauernd<br />
seine Arbeit korrigiert. Dabei verfälscht er<br />
sich über viele Schritte hinweg. Was ja auch<br />
ein interessanter Prozess ist. Gerade habe<br />
ich die Willem de Kooning-Ausstellung in<br />
New York gesehen: erschütternd, existenziell<br />
ringend – er und die Malerei. Er ist der Stier<br />
und der Torero zugleich, ringend um diese<br />
„Women Faces“, dieses Zahn-orientierte<br />
Lachen.<br />
? ringen Sie auch mit der leinwand?<br />
! Ich ringe schon mit dem Material. Es<br />
wird ja nicht nur eine Leinwand gespannt<br />
oder auf eine Holzplatte aufgebracht,<br />
sondern verwurschtelt. Es geschieht auf dem<br />
flachen Boden oder hängend oder gespannt.<br />
Das Material wird so behandelt, wie man<br />
früher die Wäsche gewaschen hat, wo die<br />
Frauen noch am Fluss die Wäschestücke<br />
auf den Stein geschlagen haben: die<br />
Verlorenheit des Jüngferlichen in der<br />
Aussage als Hervorbringung von Ausdruck.<br />
Da ist der Ausdruck in seiner Präsenz<br />
erfahrbar.<br />
? hören Sie dabei musik?<br />
! Nein, nein. Wenn Sie mich sehen<br />
könnten, wie ich arbeite, dann würden Sie<br />
denken, wie mein Vater sagte: „Der Junge<br />
ist nicht ganz normal.“ Wenn ich arbeite,<br />
arbeite ich sehr intensiv – auch immer<br />
allein in Obsession und erwecke mich dann<br />
aus diesem Zustand, der manchmal auch<br />
der Endzustand des Bildes ist. Aber das<br />
hat etwas Manisch-Konvulsivisches. Das<br />
geschieht in einer großen Geschwindigkeit<br />
und ist wie eine platzende Kaugummiblase,<br />
die in die Zeit hinausplatzt. Der Atem, der<br />
in die Zeit und den großen Raum platzt. Es<br />
sind ganz große Selbsterfahrungen auf den<br />
Spuren der sichtbar werdenden Erinnerung.<br />
Darin offenbart sich etwas, von dem ich<br />
sage: „Das ist also in mir.“<br />
Damit muss man ja erst mal umgehen –<br />
ohne Korrektur – und sagen: „Ah, da könnte<br />
man im Sinne einer Vorstellung von Kunst<br />
korrigieren, was es werden soll.“<br />
Diesen Prozess sehr konzentriert<br />
durchzuhalten, dauert Stunden, Tage<br />
manchmal auch nur wenige Zeit. Und<br />
Spirale 2008, 90 x 90 cm,<br />
Nägel, Latex, Leinwand, Holz
Kosmisches Feuer, 2010, Pigment, Sand,<br />
Leim auf Leinwand, 300 x 300 cm<br />
Planet - Blau, 2010/11,<br />
Pigment, Tinte, Leim auf<br />
Leinwand, 300 x 300 cm<br />
Alle Abbildungen sind<br />
courtesy walter storms<br />
galerie.<br />
Günther Uecker wird seit 30 Jahren<br />
vertreten von der walter storms<br />
galerie, Schellingstr. 48, 80799<br />
München. www.storms-galerie.de
das Ergebnis dann zu akzeptieren und<br />
nichts mehr daran zu ändern, DAS ist<br />
die Wahrhaftigkeit, die man entwickeln<br />
muss, um mit sich umzugehen und daraus<br />
Erkenntnisse zu gewinnen. Statt immer<br />
korrektiv zu arbeiten und zu sagen:<br />
„Das ist nicht gelungen, das muss ich<br />
wegwerfen und dann mach ich doch<br />
wieder was Neues.” Alles muss erhalten<br />
bleiben, um es im Zusammenhang – also<br />
als Gesamtwerk – erkennbar zu machen.<br />
? wann ist ein Bild oder eine arbeit<br />
fertig?<br />
! Das ist überhaupt nicht benennbar.<br />
Es ist ein Gefühl. Das Bild-Werk ist<br />
hervorgebracht und der bildnerische<br />
Ausdruck ist die Wahrnehmung für den,<br />
der davor steht und es sieht. Damit ist das<br />
Bild erst erfüllt. Wenn Sie es in den Keller<br />
stellen und das Licht ausmachen, existiert<br />
Kunst nicht. Es ist nur Augenschein.<br />
? Gibt es etwas, das Sie sich<br />
wünschen, was im Betrachter passieren<br />
sollte, wenn er mit arbeiten von ihnen<br />
in kommunikation tritt?<br />
! Niemals. Es ist schon schwer genug,<br />
dass ich es aushalte, was ich da gemacht<br />
habe. Und es zu akzeptieren, das ist der<br />
größte Schritt, den man zu sich selber tun<br />
kann.<br />
Wenn man das so konsequent<br />
macht, ist das wahrscheinlich auch<br />
die Faszination für den Betrachter im<br />
Museum oder in einer Galerie. Der dann<br />
sagt: „In dieser Arbeit ist etwas enthalten,<br />
das in mir auch vorkommt, aber bisher<br />
noch nicht entdeckt war.“<br />
? Sie arbeiten ja nicht nur mit dem<br />
allen menschen bekannten nagel,<br />
sondern auch mit vielfältigen weichen<br />
materialien. ändert sich dadurch ihr<br />
zugang zu dem, was ausgedrückt wird?<br />
! Ja, ja. Viele sagen, der Uecker nagelt<br />
nur. Aber eigentlich sind das wehrhafte<br />
Prozesse, die eine Bildsensibilität im<br />
Hintergrund verbergen. Eigentlich<br />
vergleichbar mit einem Liebesbrief in<br />
der Schule: das erste Mädchen, dem man<br />
einen Liebesbrief schreibt und den man<br />
dann in der Tasche zusammenknüllt<br />
und ihn lange mit sich herumträgt.<br />
Diese verborgenen Geheimnisse haben<br />
eine starke Wirkung. Auch über das<br />
ganze Leben hinweg. Das Verheimlichte<br />
führt zu „Heimeligkeiten“, indem<br />
man Elternverhältnisse durch Ehe<br />
wiederherstellt und sich ein Sofa<br />
anschafft.<br />
„Erste Liebesbriefe an einen<br />
Unbekannten, zerrissen, über den Berg<br />
geweht und unerhalten” – das ist dieser<br />
zerrissene Wahnsinn im Kopf und der<br />
ist zu benennen als eine schöpferische<br />
Qualität im bildnerischen Ausdruck.<br />
Diese innere Struktur, die den Aufbau der<br />
Figuration „Mensch“ bedeutet und seine<br />
Funktion erkennbar werden lässt, ist<br />
für mich so etwas wie ein Blick in einen<br />
Sternenhimmel.<br />
Es gibt dabei aber auch Künstlervernichtungsprozesse,<br />
mit denen man gut<br />
umgehen muss, um nicht daran Schaden<br />
zu nehmen. Wenn man nicht dauernd<br />
arbeitet, kondensieren sich die manischen<br />
Verdichtungen so stark, dass sie einen<br />
vernichten und sich gegen den Künstler<br />
selbst wenden. Also ist er darum bemüht,<br />
das zu bannen und bildhaft zu machen,<br />
was ihn so erschüttert und drängt.<br />
? malt eS sich durch Sie, was<br />
Gestalt annehmen soll?<br />
! Das ist eigentlich besser gesagt, als ich<br />
es sagen kann. Ich begreife mich schon wie<br />
ein Medium. Und früher habe ich das auch<br />
geschrieben: „Ich möchte ein Loch sein. Und<br />
alles geht durch mich hindurch, so dass<br />
nichts aufgehalten wird.“<br />
? wenn „eS sich malt“, was<br />
kommt dann als erstes? der impuls<br />
oder das material? wie ist ihr<br />
Schaffensprozess?<br />
! Ich arbeite bewusstlos. Ich denke<br />
nicht Bilder vor. Ich denke nicht über<br />
Bilder nach.<br />
? dennoch berücksichtigen Sie<br />
aber bestimmte ästhetische dinge wie<br />
proportionen dabei.<br />
! Ja, das sind die erarbeiteten handschriftlichen<br />
Notationen, wie ich sie am<br />
Anfang beschrieben habe. Da habe ich<br />
mir sozusagen eine Handschrift geschaffen,<br />
die manchmal sehr plastischen<br />
Ausdruck findet und manchmal einfach<br />
nur ein steuerndes Moment ist, das man<br />
wegwischen möchte, das irritiert und ein<br />
starkes Energiefeld bildet.<br />
Ab 1962 war ich beteiligt, zusammen<br />
mit Mathematikern des MIT, in New York<br />
auszustellen, auch 1965 im Museum of<br />
Modern Art in „The Responsive Eye“-<br />
Exhibition – „Die Irritierung des Auges<br />
mit Hilfe optischer Mittel“. Man kann mit<br />
Hilfe von Interferenzen Welterkenntnis<br />
gewinnen. Und: Man braucht nicht zu<br />
sehen, wo man den Ansatz setzt.<br />
Interferenzen, also die Ringe, die<br />
sich durch ins Wasser geworfene Steine<br />
von zwei Punkten ausgehend bilden und<br />
überlagern, sind eine Wahrnehmung der<br />
Wirklichkeit. Meine Handlung, diese<br />
beiden Punkte anzulegen, ist nur, um die<br />
Wirklichkeit zu provozieren. Und so sind<br />
meine Bilder auch zu verstehen.<br />
? ins wasser geworfene Steine?<br />
! Da wirken Interferenzen ineinander<br />
und geben mir die Freiheit der Verfügbarkeit,<br />
was dann zum bildnerischen<br />
Ausdruck führt.<br />
Da wird nicht der einzelne Punkt<br />
überlegt eingesetzt, sondern einem<br />
innergesetzlichen Kontinuum folgend eins<br />
zum anderen vermehrt. Wie wenn man<br />
die Null und auch die digitalen Systeme<br />
verwendet, die die Grundlage bieten für<br />
unsere heutige Kommunikation.<br />
Das ist das, was meiner Arbeit<br />
zugrunde liegt. Was ja auch in den großen<br />
Bildern zu sehen ist, die jetzt bei Walter<br />
Storms in seiner Münchner Galerie<br />
gezeigt werden.<br />
? die letzte fragen: was bedeutet<br />
Glück für Sie?<br />
! Haben! Glück hat man, oder nicht.<br />
Und man kann damit nie umgehen.<br />
Man kann nur überwältigt sein, wenn<br />
man´s hat (lacht aus vollem Herzen).<br />
Und dann ist es wieder weg. Und dann<br />
kommt die Melancholie. Deswegen habe<br />
ich mir als Kind immer gesagt: „Ganz<br />
tief fallen, irgendwann gibt es dann<br />
eine Gegenenergie, die dich in äußerste<br />
Höhen schleudert.“ Und so habe ich<br />
mich immer fallen lassen. Auch in diese<br />
Unbehaglichkeit der Empfindung vor<br />
der Welt. Und dann schleudert es einen<br />
wieder daraus hervor.<br />
•<br />
N7 Günther Uecker´s Werk steht für die<br />
Kraft deutscher Künstler, am Weltmarkt mit<br />
nachhaltigem Schaffen zu bestehen.
my neighbourhood<br />
Seite 18<br />
Fotos: Ralf Kaspers<br />
IST UNSER<br />
POLITIScHES<br />
SYSTEM AM ENDE?<br />
EINE PROVOKATION<br />
er hat den lehrstuhl für<br />
Sozialpsychologie an der ludwigmaximilians-universität<br />
zu münchen<br />
inne, ist akademischer leiter der<br />
Bayerischen eliteakademie und leiter<br />
des lmu-centers for leadership<br />
and people management. das macht<br />
prof. dr. dieter frey zu einem höchst<br />
kompetenten Gesprächspartner für die<br />
aktuellen fragen der Gegenwart. insbesondere<br />
auch deshalb, weil er sich nicht<br />
hinter beschönigenden formulierungen<br />
versteckt, sondern missstände beim<br />
namen nennt.<br />
? herr professor frey, ist es nicht<br />
eine merkwürdige Situation, wie<br />
sich in geradezu hysterischer weise<br />
finanzinstitutionen, politik, Börse<br />
und Journalismus gegenseitig in eine<br />
abwärtsschraube der vernichtung<br />
wirtschaftlicher werte hineintreiben<br />
und man sich die frage stellen muss:<br />
ruiniert sich gerade der kapitalismus<br />
selbst?<br />
! In der Tat kann man erschrecken,<br />
wenn man die Medienberichte jeden Tag<br />
liest. Man erkennt in der Politik das sehr<br />
häufige Versagen, Führung zu zeigen ebenso<br />
wie wissenschaftlich-ethische Standards<br />
einzuhalten. In der Finanzwelt regiert nach<br />
wie vor die vorhandene Gier, schneller zu<br />
großem individuellen Reichtum zu kommen,<br />
und der Glaube, dass Geld die Welt regiert.<br />
Es hat in der Tat den Anschein, dass die<br />
Verteilung des Geldes die zentrale Frage der<br />
Menschen ist. Materialismus und Egoismus<br />
– ich wünschte man könnte es anders<br />
nennen – scheinen die entscheidenden<br />
Triebfedern zu sein.<br />
Es gibt Gott sei Dank zwar auch<br />
noch andere Personen, die sich jenseits<br />
von reinem Materialismus und reiner<br />
Gier gesellschaftlich wichtigen Aufgaben<br />
zuwenden. Aber leider muss man wohl<br />
sagen: Es herrscht die Devise „Was hab<br />
ich davon?“, „Was bringt es mir?“, „Welche<br />
Vorteile habe ich?“ – also dieses Ich-Denken,<br />
dieses egozentrische, kurzfristige Denken<br />
gepaart mit dem Ignorieren dessen, was<br />
die Schwachen und die Zukunft betrifft.<br />
Und in der Tat kann man sagen: Mit diesem<br />
Verhalten ruiniert sich der Kapitalismus<br />
selbst.<br />
? was glauben Sie, wie es weitergeht?<br />
! Ich bin nicht sehr optimistisch, dass<br />
sich vieles bessern wird. Oft braucht<br />
Illustration: Liga Kitchen
es die Oberkatastrophen, wie zum<br />
Beispiel die Erdbebenkatastrophe in<br />
Japan, die gleichzeitig auch mit einer<br />
Reaktorkatastrophe verbunden war,<br />
damit ein Umdenken einsetzt. Bei der<br />
Finanzkrise 2008 dachte man, es habe sich<br />
im Anschluss vieles verändert. De facto<br />
hat es das aber nicht getan, weder an<br />
den Kontrollmechanismen noch an den<br />
Mechanismen der Finanzinstitutionen.<br />
Schneller Erfolg, die Gier nach mehr, hohe<br />
und höchste Renditen, Rücksichtslosigkeit,<br />
kurzfristiges Denken herrschen vor. Und<br />
dieses wird begründet mit „Systemzwang“.<br />
? müssen wir Bürger uns gefallen<br />
lassen, wie eine kleine Schar<br />
höchstdotierter angehöriger einer<br />
finanzelite kokainrauschgleich die<br />
Grundwerte eines funktionierenden<br />
wirtschaftslebens ruinieren?<br />
Ralf Kaspers, Frankfurter Bõrse, 2008<br />
! Die Bürger, teilweise auch die Medien<br />
und natürlich auch die Politik stehen dem<br />
ohnmächtig gegenüber. Wir lassen uns vom<br />
Primat des Geldes und des Marktes zu sehr<br />
beeinflussen. Es gibt nach wie vor keine<br />
Personen und Institutionen, die hier Titfor-Tat<br />
sagen und handeln. Mehrere Punkte<br />
kommen dabei zusammen:<br />
• Das Phänomen Too-Big-to-Fail: Wir<br />
haben Institutionen, wie zum Beispiel<br />
Banken, bei denen man sich sagt, sie<br />
seien zu groß, als dass sie untergehen<br />
dürften, weil sonst das gesamte System<br />
zusammenbricht.<br />
• Der Lobbyismus der Banken und<br />
Finanzinstitutionen und deren Ignoranz.<br />
• Und das internationale Spiel, bei dem<br />
nationale Politik und nationale Alleingänge<br />
machtlos sind.<br />
Ich wünschte, ich könnte sagen: „Die Bürger<br />
müssen sich gar nichts gefallen lassen.“ Aber<br />
sie sind hilflos. Gefragt ist die Führung<br />
in der Politik und zwar sowohl national<br />
wie international in Form gemeinsamen<br />
Handelns. Gefragt ist aber auch Führung<br />
an den Universitäten, wo hochrangige<br />
Wissenschaftler sich mehr positionieren<br />
müssen. Aber von denen hört man ja, von<br />
Ausnahmen abgesehen, nichts.<br />
? deswegen ist es ja schon mal gut,<br />
wenn Sie jetzt die Stimme erheben.<br />
! Einen Aha-Effekt hatte ich durch den<br />
Beitrag von Frank Schirrmacher in der<br />
FAZ, in dem er sagte, er glaube, dass die<br />
Linken Recht hatten und dass die so genannten<br />
Reichen unser Wirtschaftssystem<br />
kaputtmachen (siehe ders., „Ich beginne<br />
zu glauben, dass die Linke recht hat”, in:<br />
FAZ.NET vom 15. 8. 2011). Ich glaube, da<br />
ist etwas Wahres dran. Wobei ich die Lage<br />
noch wesentlich dramatischer einschätze.<br />
Es bricht ja noch viel mehr über das<br />
bürgerliche Lager herein.<br />
Bedenken Sie doch einmal, wie viele<br />
Kehrtwendungen in der jüngsten Vergan-<br />
genheit stattgefunden haben. Die Mitglieder<br />
der bürgerlichen Schicht gingen doch bisher<br />
eigentlich davon aus, dass sie die Guten<br />
sind, die nicht betrügen. Und plötzlich<br />
wurde einem Freiherrn zu Guttenberg genau<br />
das Gegenteil nachgewiesen. Und mit ihm<br />
einigen weiteren Vertretern des politischen<br />
Lebens. Sie alle hatten sich akademische<br />
Würden erschummelt.<br />
Ein anderes Beispiel ist die Atompolitik.<br />
Da haben die meisten Anhänger konservativer<br />
Parteien über Jahrzehnte hinweg<br />
allen, die es hören wollten – oder auch nicht<br />
– vorgebetet, diese Technologie sei sicher,<br />
ohne Risiko und würde die Energiefrage für<br />
die Zukunft nachhaltig sichern. Und dann<br />
passiert Fukushima und die Konservativen<br />
müssen sich fragen, ob die Anti-Atomkraft-<br />
Aktivisten nicht doch Recht hatten.<br />
Und zum Schluss – zumindest hoffe<br />
ich, dass das der Schluss ist – stellt sich die<br />
Frage, ob der Markt wirklich alles so viel<br />
besser regeln kann oder ob nicht doch nur<br />
einige wenige superreich werden und der<br />
Mittelstand nichts davon hat, sondern in die<br />
Röhre schaut und verarmt.<br />
? was verstehen Sie unter dem<br />
„bürgerlichen lager“ oder den<br />
„konservativen“?<br />
! Konservativ bedeutet für mich, ein<br />
gefestigtes Wertegerüst zu haben, von dem<br />
aus man neue Entwicklungen beurteilt<br />
und im Prinzip begrüßt, sofern diese<br />
Neuerungen in Einklang zu bringen sind<br />
mit diesem Wertegerüst. Aber da liegt<br />
aus meiner Sicht der Hase nur allzu oft<br />
im Pfeffer. Es wird zu wenig klar und zu<br />
wenig überlegt auf richtige Neuerungen<br />
eingegangen, sie durchdacht und integriert.<br />
Im Gegenteil: Erst wird zu lange im Alten<br />
verharrt und dann, wenn es gar nicht<br />
mehr anders geht, aktionistisch „gehudelt“,<br />
wie der Bayer sagt. Manchmal aber wird<br />
auch gar nichts getan, obwohl dringender<br />
Handlungsbedarf besteht. Das gilt vor
allem für Themen, die kompliziert sind.<br />
Dann kann das notwendige Handeln<br />
nämlich leicht im Dickicht der Fachdetails<br />
verschleppt werden. Stichwort: Finanzkrise.<br />
Da hat sich doch nicht wirklich etwas<br />
verändert. Banken können sich auch<br />
weiterhin durch Fusionen zu systemischen<br />
Machtapparaten aufschwingen, Geschäfts-<br />
und Investmentbanken sind auch weiterhin<br />
nicht konsequent separiert und durch<br />
immer neues, billiges Geld wird ein neues<br />
Spekulationskarussell in Gang gesetzt. All<br />
das legt die Vermutung sehr nahe, dass der<br />
Staat von der Finanzelite gekapert worden<br />
ist und die altkommunistische Stamokap-<br />
Theorie in die Tat umgesetzt wird: Unter<br />
Führung einer Finanzoligarchie wird die<br />
Endphase des Kapitalismus eingeleitet,<br />
bei dem die Gewinne privatisiert und die<br />
Verluste sozialisiert werden. Und damit<br />
das ungestört vonstatten gehen kann,<br />
muss der Staat seine Verbindlichkeiten aus<br />
den Steuern seiner Bürger auch weiterhin<br />
bedienen, was Zinslasten und Fälligkeiten<br />
betrifft, die natürlich in die Finanzwelt<br />
zurückfließen. Eigentlich sind wir Zeuge<br />
eines ungeheuerlichen Prozesses.<br />
? wie konnte es dazu kommen?<br />
! Streng genommen, kann man sagen:<br />
Wenn die gesamte Elite von Politik, Wirtschaft<br />
und Wissenschaft nicht versagt hätte,<br />
wäre diese Entwicklung nicht in dieser Form<br />
entstanden. Diese Elite hat zu wenig gezeigt,<br />
dass sie sich ihrer Verantwortung bewusst<br />
ist, sowohl was die Ursachenbekämpfung<br />
als auch die Entwicklung von Lösungsideen<br />
betrifft. Aber es ist nicht allein die Elite,<br />
die versagt hat. Wir brauchen überall<br />
einen Aufbruch – in den Schulen und<br />
Universitäten, in Firmen, Verbänden. Wir<br />
brauchen mehr Diskussionen über die<br />
Ursachen und die Lösungsmöglichkeiten<br />
im Sinne von Think-Tanks. Wir müssen uns<br />
in ganz Europa fragen: Wo hat ein Land<br />
Potenzial? Wie kann es das Potenzial von<br />
Motivation und Kreativität seiner Bürger, seiner<br />
Institutionen, seiner Infrastruktur noch<br />
stärker ausschöpfen? Wo kann und muss<br />
man sich gegenseitig helfen? Wo braucht<br />
man ganz simple Marschallpläne, um Regionen<br />
voranzutreiben? Hier ist Politik alleine<br />
überfordert. Genauso wichtig ist es, dass die<br />
Elite aus Wirtschaft und Wissenschaft nicht<br />
verstummt, sondern ihre intellektuellen<br />
Beiträge leistet. Dazu gehört vor allem auch<br />
der Bezug zu den Werten, die Europas<br />
Kultur prägen. Nämlich eine offene Gesellschaft<br />
im Sinne einer funktionierenden<br />
Demokratie sowie eine sozial-ökologische<br />
Marktwirtschaft. Dieses ist ein hohes<br />
Kulturgut, das durch die jetzige Finanz- und<br />
Schuldenkrise auf Dauer massiv bedroht ist.<br />
Es hat den Anschein, dass dieser Bezug<br />
zu den zentralen Werten Europas den<br />
Eliten noch zu wenig bewusst ist. Kurzum:<br />
Leadership ist gefragt – in allen Bereichen,<br />
insbesondere in Politik, Wirtschaft und<br />
Wissenschaft.<br />
Es bedarf also nicht nur des Vorbildes<br />
der politischen Führung, sondern auch<br />
der Führung aller anderen Institutionen,<br />
die glaubwürdig das Warum und Wozu<br />
vermitteln und kreative Lösungsideen<br />
implementieren müssen.<br />
? Sie vertreten das fach der Sozial-<br />
und wirtschaftspsychologie an der<br />
ludwig-maximilians-universität in<br />
münchen. welche möglichkeiten sehen<br />
Sie als experte für eine veränderung der<br />
verhältnisse in dieser zeit?<br />
! Zuerst muss der Sinn, das Wozu,<br />
politischer Maßnahmen vermittelt<br />
werden. Dazu muss den unterschiedlichen<br />
Bevölkerungsgruppen zum Beispiel in<br />
den Ländern, die jetzt für die Schulden<br />
geradestehen, erklärt werden, warum die<br />
Rettungsmaßnahmen notwendig sind. In<br />
Ländern wie Griechenland muss man den<br />
Menschen erklären, warum sie Opfer bringen<br />
Kaspers,<br />
und warum sie Abstriche vom Status quo Ralf<br />
Einemilliondreihundertsechzigtausend, 2007
machen müssen. Gelingt es nicht, die Wozu-<br />
und Warum-Frage zu vermitteln, besteht die<br />
Gefahr, dass die Bevölkerung jeweils das<br />
eigene Land als unfair behandelt sieht.<br />
Die Europäische Union und der Euro<br />
sind kein Selbstzweck. Deshalb sollte<br />
nicht nur erklärt werden, dass wir Europa<br />
brauchen, sondern auch warum wir Europa<br />
und den Euro brauchen. Bedingt durch die<br />
mangelnde Idee, was man mit Europa eigentlich<br />
anfangen will, mangelt es auch an<br />
der Zielvorstellung, wo man hin will. Doch<br />
gerade wer Änderungen und Opfer fordert,<br />
muss Sinn und eine Vision bieten.<br />
? nun ist das einfordern von opfern<br />
ja nicht gerade populär...<br />
! Ohne Einsparungen verbunden mit<br />
harten Einschnitten werden sich die Probleme<br />
nicht lösen lassen. Wer Akzeptanz bei<br />
Einsparungen in der Bevölkerung erreichen<br />
will, muss transportieren, dass es nach<br />
dem Fairnessprinzip zugeht. Dabei gibt es<br />
mindestens drei Arten von Fairness, nämlich<br />
• Ergebnisfairness,<br />
• prozedurale Fairness und<br />
• informationale Fairness.<br />
Es stellt sich dabei die Frage, ob alle im<br />
Verhältnis gleich viel einsparen sollen, ob<br />
die finanziell Leistungsfähigeren stärker zur<br />
Kasse gebeten werden oder ob man auf sozial<br />
Schwache besondere Rücksicht nehmen<br />
soll? Es liegt in der Natur der Sache, dass<br />
diese Ergebnisfairness am schwierigsten<br />
zu erreichen sein wird, da Einsparungen<br />
immer schmerzliche Einschnitte für den<br />
Einzelnen bedeuten. Jeder Betroffene präferiert<br />
natürlich jenes Verteilungsprinzip, wo<br />
er am wenigsten Opfer zu bringen hat. Wie<br />
auch immer man sich entscheidet, ist es<br />
wichtig, dass der Bevölkerung die Kriterien<br />
transparent gemacht werden, nach denen<br />
Opfer gebracht werden müssen. Dabei muss<br />
die Ursache bzw. die Kausalität und das<br />
Ziel bzw. die Finalität der Einsparungen<br />
veranschaulicht werden.<br />
Prozedurale Fairness bedeutet, dass die<br />
Kriterien offengelegt werden, warum welche<br />
Einsparungen umgesetzt werden müssen.<br />
Der Philosoph Friedrich Nietzsche umschrieb<br />
es so: „Wer ein Warum zu leben hat,<br />
erträgt fast jedes Wie.“<br />
Ebenso ist informationale Fairness<br />
geboten, das heißt, die Menschen müssen das<br />
Gefühl haben, dass es keine Hidden Agenda,<br />
also keine Hintergedanken, gibt, sondern<br />
dass sie ehrlich und umfassend informiert<br />
werden. Die Fairnessforschung liefert also<br />
gute Grundlagen über die Akzeptanz von<br />
Einsparungen.<br />
? was ist, wenn die einschnitte<br />
gemacht sind? wie soll's dann<br />
weitergehen?<br />
! Die Europäische Union sollte sich im<br />
Sinne eines Problemlösers hinsichtlich der<br />
Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der<br />
krisengebeutelten Länder verstehen. Aufbauend<br />
auf traditionellen Stärken sollte der<br />
Fokus vor allem auf Förderung von Innovationen<br />
liegen. Notwendig dazu wären geballte<br />
Think-Tanks, die ausloten, wie die bisher<br />
ungenutzten Potenziale aktiviert werden<br />
können. Innovationszentren in Universitäten<br />
und Firmen wären genauso wichtig wie die<br />
Förderung von Existenzgründern. In Unternehmen,<br />
aber auch in den Behörden könnte<br />
die Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse<br />
über Innovationen forciert werden. Es<br />
gilt, dass jedes Land seine gesamten Ressourcen<br />
mit Hilfe Europas aktiviert. Vor allem<br />
neue, weitgehend unbesetzte Technologien,<br />
etwa im Bereich der erneuerbaren Energien,<br />
könnten durch die EU gefördert werden. In<br />
der effektiven Hilfe zur Selbsthilfe liegt die<br />
eigentliche Solidarität, die die EU seinen<br />
Mitgliedsländern schuldet. Vor allem ist ein<br />
konkreter, nachvollziehbarer Maßnahmenplan<br />
notwendig. Ansonsten drohen viele der<br />
Vorschläge bereits im Keim zu ersticken.<br />
Besonders wichtig ist es auch, den Menschen<br />
eine Perspektive zu geben. Es muss vermittelt<br />
werden, dass die krisengebeutelten Länder<br />
es tatsächlich schaffen können, wenn sie<br />
sich anstrengen. Es gilt, dabei eine Kultur der<br />
Eigeninitiative zu etablieren. Es geht darum,<br />
dass in den Schulen und Universitäten, aber<br />
auch in den Firmen verstärkt unternehmerisches<br />
Denken und Handeln aktiviert wird,<br />
dass mehr reflektiert wird: Wo kann jeder<br />
sein Know-how umsetzen, um sich möglicherweise<br />
selbständig zu machen? Wo gibt<br />
es innerhalb der Firmen, der Universitäten,<br />
des Landes Know-how, das in Produkte oder<br />
Dienstleistungen umgesetzt werden kann?<br />
Alle von der Schuldenfrage betroffenen<br />
Staaten müssen sich mit Hilfe der Führung<br />
von Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und<br />
Verwaltung darauf besinnen, ihre Potenziale<br />
und Stärken zu aktivieren.<br />
? welche rolle spielen die medien<br />
beim notwendigen entstehen eines<br />
solchen aufbruchs. müssen die medien<br />
dazu nicht erst selbst ihr menschenbild<br />
verändern? wird der mensch im<br />
fernsehen nicht von einer breiten front<br />
von Sendeanstalten als pausenclown<br />
vorgeführt – und damit nicht gerade als<br />
vorbild für andere gezeigt? wer schaut<br />
den verantwortlichen, die nur mit der<br />
wurst nach der Speckseite werfen, auf die<br />
finger und hindert sie daran, die verdummungsmaschinerie<br />
immer weiter laufen<br />
zu lassen. wer von den Gebührenzahlern<br />
empört sich endlich, dass auch öffentlich-<br />
rechtliche Sender oft gebührenfinanzierte<br />
Bedürfnisbefriedigung betreiben,<br />
statt ihrem auftrag nach Bildung und<br />
information nachzukommen? finden wir<br />
daraus selbst einen ausweg oder muss<br />
erst wieder einer kommen, der von oben<br />
ein konzept wie das „gesunde volksempfinden“<br />
durchsetzt?<br />
! Gott sei Dank gibt es einige Medien, die<br />
den Anspruch von Information und Aufklä-<br />
rung gut umsetzen – zum Beispiel DIE ZEIT,<br />
Süddeutsche Zeitung, FAZ und auch einige<br />
Rundfunk- und Fernsehsender. Andererseits<br />
muss man aber schon sagen, dass die Mehrzahl<br />
der Medien dazu beiträgt, den Menschen<br />
die Realität zu verschleiern – oder noch<br />
schlimmer – die Bürger zu entmündigen. Mit<br />
einer, wie ich es nenne, „Karnevalisierung der<br />
Gesellschaft”: Fun, Action und Unterhaltung.<br />
Am meisten ist der Rückzug der Intellektuellen<br />
zu beklagen – fast überall. Politik,<br />
Wirtschaft und Wissenschaft sind dabei nur<br />
Zuschauer, aber nicht Akteure. Es fehlt, auch<br />
an den Universitäten, eine kritische Analyse<br />
des Status quo – ganz in dem Sinne, wie Sie<br />
es beschreiben. Es wird viel zu wenig getan,<br />
um sich der unglaublich wertvollen Werte<br />
Europas bewusst zu werden. Weiterhin unternehmen<br />
wir einzeln und als Gemeinschaft<br />
zu wenig dafür, dass wir dieses nur bewahren<br />
können, wenn wir ökonomisch erfolgreich<br />
sind: mit Produkten und Serviceleistungen,<br />
die international Anklang haben, zum Beispiel<br />
Umwelttechnik, Medizintechnik – letztlich<br />
auch Produkte, die die Probleme dieser<br />
Welt minimieren, etwa Umweltprobleme oder<br />
Probleme der Demographie. Das ist aber mit<br />
einer Fun-Gesellschaft nicht möglich. Wer<br />
kennt schon unsere Nobelpreisträger?<br />
Ich möchte unser Land nicht schlecht reden.<br />
Aber es wird in der Tat zu wenig getan,<br />
um die „Verblödung der Massen” durch die<br />
Medien zu verhindern und zu vermindern.<br />
Und dies wird viel zu wenig thematisiert.<br />
Letztlich beginnt es doch schon in den<br />
Familien: chaos, mit hohen Trennungs-<br />
und Scheidungsquoten und einer massiven<br />
Verunsicherung, welche Werte der nächsten<br />
Generation weitergegeben werden sollen.<br />
Diese Wertediskussion ist für mich das<br />
zentrale Moment. Es kann eben nicht nur<br />
darum gehen, „Me, Myself, and I“ im Sinne<br />
von Narzissmus, Ichlingen und Fun zu fördern.<br />
Sondern es geht letztlich um wichtigere<br />
Dinge in unserer Gegenwart und Zukunft:<br />
Verantwortung für sich und andere übernehmen.<br />
Das heißt, sich zuständig fühlen
für lokale, regionale, nationale und globale<br />
Probleme. Solidarität für jene, denen es nicht<br />
so gut geht. Nachhaltigkeit im Denken und<br />
Handeln. Wir brauchen eine bessere Balance<br />
als bisher zwischen Ich-Verwirklichung und<br />
Verantwortung für die Zukunft der Gesellschaft<br />
und Gemeinschaft.<br />
Wir lassen derzeit letztlich die Familien<br />
in ihrer Erziehung alleine. Und seit vielen,<br />
vielen Jahren fordere ich eine Erziehungsausbildung<br />
für Eltern und Erzieher. Das löst<br />
zwar keine Strukturprobleme, aber es ist ein<br />
wichtiger Beitrag zur stärkeren Reflexion<br />
von Fragen wie „Welche Werte leiten mein<br />
Verhalten?”, „Welche Werte sollten in der Erziehung<br />
stärker transportiert werden?”. Diese<br />
Diskussion fehlt in Elternhäusern, Schulen,<br />
Universitäten und Unternehmen weitgehend.<br />
Manchmal denke ich, die Führungselite hat<br />
sich abgemeldet und ist untergetaucht.<br />
? ihr fazit?<br />
! Wir müssen endlich aufwachen und<br />
mit dem Nachdenken, Umdenken und<br />
Umsetzen anfangen. Nicht aktionistisch<br />
und hektisch, sondern klug und nachhaltig.<br />
Kein Land und keine Region ist so frei wie<br />
Deutschland und Europa. Wir sollten das<br />
nicht aus Bequemlichkeit verspielen.<br />
? anstelle der frage nach dem „und wo<br />
geht es hin?“, möchte ich Sie um ihre meinung<br />
zu einem zitat eines kollegen bitten.<br />
der slowenische philosoph und pychoanalytiker<br />
Slavoj Žižek hat in der zeit gesagt<br />
(ders., „der autoritäre kapitalismus ist der<br />
Gewinner der krise”, in: zeit-online<br />
vom 25.8.2011): „der autoritär geführte<br />
kapitalismus ist der Gewinner der jetzigen<br />
krise. er ist heute die größte Gefahr für<br />
demokratie und menschenrechte. es ist<br />
außerordentlich ironisch, dass heute, nach<br />
dem triumph des kapitalismus über den<br />
kommunismus, die kommunisten, die an<br />
der macht blieben, die besten manager des<br />
kapitalismus sind. dreißig Jahre nachdem<br />
deng xiaoping sagte, dass nur der kapitalismus<br />
china retten könne, gebärden sich<br />
die politischen führer des westens, als ob<br />
nur china den kapitalismus retten könnte.<br />
hegel hätte diese umkehrungen geliebt!“<br />
! Na ja. Es ist natürlich schon etwas<br />
ironisch, wenn man zum Beispiel die politischen<br />
Führer chinas beobachtet, wie sie<br />
die kapitalistischen Länder ermahnen, sich<br />
ökonomisch vernünftig zu verhalten, also<br />
sowohl das Fehlverhalten bei der Finanzkrise<br />
im Jahre 2008/2009 als auch die massive<br />
Schuldenkrise der meisten kapitalistischen<br />
Länder zu korrigieren. Ob china nun wirklich<br />
der Gewinner der jetzigen Krise ist und ob<br />
china wirklich den Kapitalismus retten kann,<br />
das wage ich schon zu bezweifeln. Trotz<br />
meiner Kritik am kollektiven Versagen der<br />
Elite bleibe ich in Folgendem optimistisch:<br />
Dass man durch Krisen auch lernen kann und<br />
dass Krisen letztlich auch immer chancen<br />
sind, grundlegend umzudenken. Nach wie vor<br />
hoffe ich, dass die Privilegien, die wir gerade<br />
in Europa haben, überleben werden und die<br />
Vernunft über die Gier siegen wird, oder beides<br />
zumindest eine gute Balance erhält, so dass wenigstens<br />
die schlimmsten Fehlentwicklungen<br />
korrigiert werden können. Je mehr menschliche<br />
Schwächen wie Gier, Grenzverletzungen<br />
usw. vorhanden sind, umso mehr brauchen wir<br />
funktionierende lokale, nationale und globale<br />
Institutionen, die dieses wirksam eingrenzen.<br />
Diese finanzmarktregulierenden Institutionen<br />
haben ihr Potenzial derzeit bei weitem noch<br />
nicht ausgeschöpft. Keine Frage: china hat<br />
hervorragende Manager. Aber die große Frage<br />
wird sein, ob es dem Land wirklich gelingt,<br />
Kapitalismus ohne eine offene Gesellschaft<br />
auf Dauer weiterzuentwickeln. china hat<br />
innerhalb weniger Jahrzehnte erreicht, wofür<br />
der Westen gut doppelt so lange gebraucht hat.<br />
Insofern können wir in der Tat von chinas<br />
Management einiges lernen. Andererseits sind<br />
viele Exzesse des chinesischen Kapitalismus,<br />
zum Beispiel das Fehlen von sozialer Absicherung<br />
der Bevölkerung, für den Westen nicht<br />
Ralf Kaspers, Cent, New York, 2003<br />
unbedingt ein Vorbild. Was wir brauchen<br />
ist ein Wirtschaftssystem mit menschlichem<br />
Antlitz. Also Systeme, die individuelle<br />
Freiheiten geben, aber gleichzeitig auch für<br />
die Schwachen da sind. Weltweit hat man das<br />
Gefühl, es geht fast nur noch ums Geld – egal<br />
ob im Sport, in der Politik oder in der Kultur.<br />
Und Geld korrumpiert eben in vielen Fällen.<br />
Wir brauchen eine bessere Balance mit Werten<br />
wie Solidarität, Gemeinschaftsgefühl und<br />
Verantwortungsübernahme auch für andere.<br />
Hier sind wir alle gefordert, jede/r sollte bei<br />
sich selbst beginnen.<br />
N7 Nachmann Rechtsanwälte sehen in<br />
den teilweise provokativen Thesen des<br />
Sozialpsychologen Prof. Dr. Frey bedenkenswerte<br />
Impulse, um die aktuelle Diskussion<br />
über die Zukunft unseres Finanzsystems voranzubringen<br />
und dabei die essentielle Bedeutung<br />
des Mittelstandes zu erkennen.<br />
•
my munich<br />
Seite 28<br />
Luxus ist<br />
die Idee des<br />
Schönen<br />
in uns<br />
Foto: © Hubertus Hamm / BMW Gran Coupé
wussten Sie eigentlich, dass die<br />
herstellung von luxusprodukten<br />
eine vielzahl an arbeitsplätzen in<br />
deutschland sichert und damit nicht<br />
nur ein wichtiger wirtschaftsfaktor,<br />
sondern vor allen dingen ein wichtiger<br />
kulturfaktor ist?<br />
die öffentliche wahrnehmung<br />
in unserem land ist bekanntermaßen<br />
anders, oft ideologisch. wer das<br />
wort luxus in den mund nimmt,<br />
muss damit rechnen, als jemand<br />
eingestuft zu werden, der abgehobener<br />
Superverdiener ist, dessen herz nicht<br />
am richtigen platz sitzt und der für die<br />
wirtschaftlich schwierige Situation<br />
vieler menschen in unserem lande<br />
eigentlich persönlich haftbar gemacht<br />
werden müsste.<br />
andere verkürzen luxus auf<br />
die magazin-vips, die es geschafft<br />
haben und mit den oligarchen<br />
auf den yachten dieser welt die<br />
champagnergläser kreuzen. mit<br />
anderen worten: luxus wird mit<br />
hochemotionalen assoziationen<br />
versehen, die mit der realität nur wenig<br />
zu tun haben. doch das ist sowohl<br />
falsch als auch kontraproduktiv. denn<br />
luxus „made in Germany” ist meist das<br />
resultat deutscher ingenieursleistung<br />
und ebensolcher handwerkskunst. und<br />
beides ist eine kulturleistung.<br />
um das thema also einmal<br />
emotionslos und in seiner wirtschaft-<br />
lichen Bedeutung beleuchten zu<br />
lassen, habe ich mich mit petraanna<br />
herhoffer vom „institut für<br />
luxus“ – kurz „inlux” – getroffen.<br />
nicht zum champagnertrinken,<br />
sondern auf eine latte macchiato aus<br />
der institutseigenen neSpreSSomaschine.<br />
ich wollte von der<br />
luxusexpertin mit lehrauftrag an der<br />
munich Business School wissen, was<br />
man eigentlich unter luxus subsumiert.<br />
! Luxus ist etwas, das erst stattfindet,<br />
wenn ich meine notwendigsten<br />
Lebensbedürfnisse erfüllt habe. Da gibt<br />
es die Definition von den Soziologen, die<br />
sagen, dass das Kleidung, Nahrung, Bildung<br />
und ein Dach über dem Kopf ist. Für mich<br />
gilt eine Erweiterung dieser Definition.<br />
Ich finde, jeder hat auch ein Anrecht auf<br />
eine bestimmte Form des Vergnügens. Also<br />
etwas, das mit Freizeit (= freier Zeit) zu tun<br />
hat, die ich mit etwas Schönem für mich<br />
erfülle. Aber sobald ich einen Tick über<br />
diese Grundbedürfnisse hinausgehe, wenn<br />
ich zum Beispiel den Bedarf nach Kleidung<br />
dadurch erfülle, dass ich mir hochwertige<br />
Mode kaufe, die mir gefällt – oder noch<br />
weiter gehend – die meine Persönlichkeit<br />
ausdrückt, dann ist das schon kein Erfüllen<br />
eines Grundbedürfnisses mehr, sondern<br />
die Realisierung eines Wunsches nach<br />
Luxus. Nach diesem Verständnis erfüllen<br />
sich die meisten Menschen in entwickelten<br />
Industrienationen meistens Luxuswünsche.<br />
Nur die wenigsten fahren aus überzeugung<br />
einen DAcIA, sondern ein Auto, das<br />
eine gewisse Facette ihrer Persönlichkeit<br />
herausstellt – von Sportlichkeit über<br />
Familientauglichkeit bis zu ökologischen<br />
Einstellungen. Insofern treffen wir alle<br />
permanent Kaufentscheidungen, die<br />
durchaus schon mit Luxus zu tun haben.<br />
Woran man sieht – und darauf werden wir<br />
in diesem Gespräch sicher noch einmal<br />
zurückkommen –, wie wichtig eine genaue<br />
Definition von Luxus ist und wie abhängig<br />
diese vom persönlichen Blickwinkel oder<br />
einer Branche ist.<br />
Ich würde mich über mehr<br />
wissenschaftliches Engagement und<br />
Unterstützung von Seiten der Industrie<br />
im Bereich der Luxusforschung freuen.<br />
Zum Beispiel über das Einrichten eines<br />
Lehrstuhls, in den Sozial- und – wichtiger<br />
noch – in den Wirtschaftswissenschaften.<br />
Zum Beispiel könnte ich mir<br />
vorstellen, dass die eher ablehnende<br />
Haltung in Deutschland gegenüber Luxus<br />
Illustration: Liga Kitchen
auch durch einen „Overload” an Vulgärem<br />
in Zusammenhang mit Luxus zustande<br />
kommt. Zu Recht finden es die Menschen<br />
unanständig, wie die Oligarchen in<br />
Russland oder die Neureichen in china<br />
ihren Reichtum zur Schau stellen. Das<br />
wird noch dadurch unterstützt, dass sich<br />
Luxusartikel auch in gewissen Milieus<br />
– genauer gesagt in der Prostitution und<br />
Zuhälterei – durchgesetzt haben. Oder in<br />
der Rapper-Kultur, wo dicke Goldketten und<br />
hochkarätige Diamanten gerne zur Schau<br />
gestellt werden.<br />
? haben diese milieus den Begriff<br />
„luxus“ eigentlich beschädigt?<br />
! Nein. In Amerika, wo diese Milieus<br />
ja sehr stark auf sich aufmerksam machen,<br />
gibt es eine neue Begrifflichkeit dafür.<br />
Da gilt so etwas als „Bling-Bling“. Dieses<br />
Wort zeigt sehr schön die Inhaltslosigkeit<br />
derartiger Protzerei. Solch spielerische<br />
Begrifflichkeit gibt es bei uns im Deutschen<br />
noch nicht. Der deutsche Ausdruck<br />
„protzen“ hat ja schon von der Lautmalerei<br />
her etwas Aggressives an sich.<br />
? welche vorteile für die<br />
wirtschaft hat die Beschäftigung mit<br />
dem luxus?<br />
? Wolfgang Reitzle, früher Vorstand<br />
bei BMW und dann bei Jaguar, hat sich als<br />
einziger Industriekapitän die Frage nach<br />
dem Luxus gestellt und darüber sogar<br />
ein Buch mit dem Titel „Luxus schafft<br />
Wohlstand“ geschrieben. Seine Aussage<br />
darin lautet: Luxus ist Innovationsmotor<br />
und braucht Forschung und Entwicklung.<br />
Denn nur so findet man das bessere<br />
Produkt. Eines seiner Beispiele dafür ist<br />
das Navigationssystem, das ursprünglich<br />
mit großem Aufwand für sehr luxuriöse<br />
Limousinen entwickelt wurde und heute bei<br />
ALDI im Angebot ist. Das ist der „Trickle-<br />
Down-Effekt“ von solchen Innovationen,<br />
die letztendlich für viele Konsumenten<br />
verfügbar werden.<br />
? haben Sie eine ahnung, wie viele<br />
arbeitsplätze in deutschland mit der<br />
herstellung von luxusprodukten zu tun<br />
haben?<br />
! Wir arbeiten gerade daran, das<br />
herauszufinden. Dabei hängt diese Zahl<br />
von der Definition ab, wen wir zu den<br />
Luxusproduzenten rechnen: Teile der<br />
Uhren- und Schmuckindustrie gehören mit<br />
Sicherheit dazu. Aber welche Segmente<br />
in der Textil- und Modeindustrie mit<br />
ihren 4ooooo Arbeitsplätzen? Wo ziehen<br />
wir die Grenze zwischen Premium und<br />
Luxus? Produzieren Unternehmen, die<br />
Design, Funktionalität und Materialität im<br />
Sinne der „Best of category“ verdichten,<br />
ebenfalls Luxusprodukte? Und wie sieht<br />
es mit denjenigen Unternehmen aus, die<br />
es schaffen, ein Produkt emotional so<br />
aufzuladen, dass der Verbraucher einen<br />
psychologischen Nutzen hat und schon<br />
beim Kauf weiß, dass er dafür einen<br />
Mehrpreis bezahlt?<br />
Daran können Sie sehen, dass da eine<br />
ganze Menge deutscher Arbeitsplätze im<br />
Gespräch sind. Und das finde ich auch<br />
richtig. Denn ich bin sehr dafür, nicht so<br />
zu tun, als ob es sich bei Luxusprodukten<br />
um ein kleines, nettes Nischchen handeln<br />
würde, bei dem nur ein paar hundert<br />
Männlein als fleißige Maßschuster,<br />
Sattelmacher oder Edeltäschner in ihren<br />
Werkstätten Maßgeschneidertes für eine<br />
völlig abgehobene Klientel mit dem Munde<br />
dengeln.<br />
Man muss auch unterscheiden,<br />
ob man den Begriff „Luxus” für die<br />
Gesellschaft definieren möchte – oder ob<br />
ein Unternehmen eines seiner Produkte zu<br />
einem Luxusprodukt stilisieren möchte.<br />
Ein Beispiel für Letzteres: Ich habe hier<br />
auf dem Tisch dieses Wasser aus Osttirol:<br />
„Urleiten“. Das sprudelt seit vielen hundert
Jahren aus der Erde. Damit ist es also weder<br />
ein neues Produkt, noch per se Luxus. Um<br />
dieses Wasser nun zu einem Luxusprodukt<br />
zu machen, brauche ich ein Gutachten,<br />
das die Qualität dieses Wassers ermittelt.<br />
Das fiel in diesem konkreten Fall sehr<br />
gut aus. Im nächsten Schritt hat man eine<br />
neue Flaschenform entwickelt, welche<br />
die Eleganz und Qualität dieses Wassers<br />
verkörpert. Dann mussten Textetiketten<br />
entwickelt werden, die klar machten, dass<br />
es sich um ein artesisches Wasser handelt,<br />
das nur aus dieser einen Quelle sprudelt.<br />
Darüber hinaus kommuniziert man<br />
heute dem Handel und Verbraucher, dass<br />
„Urleiten” von seinem Geschmack her ein<br />
idealer Begleiter zum Wein ist. Kurzum:<br />
Um eine Marke zu einer Luxusmarke zu<br />
machen, muss sie viele Inhalte in sich<br />
tragen. Und wenn wir nochmal zu den<br />
Arbeitsplätzen kommen, dann muss<br />
man all diese Arbeitsplätze, an denen<br />
solch eine „Raffinierung“ eines Produkts<br />
stattfindet, eigentlich auch dazurechnen.<br />
Womit wir bei bestimmten Zweigen des<br />
Dienstleistungsgewerbes sind.<br />
Es kommt also bei der gesamten<br />
Luxusdiskussion sehr darauf an, dass man<br />
ganz genaue Kriterien schafft, um den<br />
Begriff „Luxus“ in den Griff zu bekommen.<br />
? wenn ich bei ihrem Beispiel<br />
bleibe und mal den advocatus diaboli<br />
gebe, dann taucht ja schnell bei einer<br />
solchen Beschreibung die vermutung<br />
auf, dass es sich bei luxusprodukten<br />
um marketing-Geraschel handelt.<br />
! Nein, weil die Qualität dieses<br />
Wassers stimmt – wenn wir bei diesem<br />
konkreten Beispiel bleiben. Man kann<br />
natürlich auch ein Wasser über einen<br />
Goldfilter fließen lassen, wie „Gize” aus<br />
Kanada das macht. Das funktioniert<br />
sicherlich auch eine Zeit lang ganz gut.<br />
Aber ich denke, das ist nicht nachhaltig.<br />
? luxusprodukte müssen also auch<br />
eine gewisse nachhaltigkeit haben?<br />
! Ja, in jedem Fall! Verlassen wir<br />
mal den Lebensmittelbereich, dann<br />
wird das deutlicher. Luxusgüter sind<br />
immer an eine gewisse Langlebigkeit<br />
gekoppelt. Das Unternehmen HERMÈS hat<br />
Luxusgegenstände als Objekte definiert, die<br />
es lohnt, zu reparieren. Und für die es auch<br />
die Ersatzteile gibt, sowie die Bereitschaft,<br />
die Objekte zu erhalten.<br />
Luxusprodukte werden ja auch gerne<br />
in die nächste Generation weitergegeben.<br />
Dabei leidet auch nicht ihre Schönheit,<br />
weil Luxusgegenstände eine gewisse<br />
Zeitlosigkeit in ihrem Design haben. Das<br />
Gegenteil ist... „Bling-Bling”!<br />
Luxushersteller müssen sich<br />
darüber hinaus heute noch einer weiteren<br />
Herausforderung stellen: Sind die einzelnen<br />
Komponenten auch recycelbar? Gehen<br />
sie also in den Kreislauf zurück oder<br />
wandern sie auf eine Müllhalde. Allein die<br />
Assoziation Müllhalde ist ausgesprochen<br />
kontraproduktiv für jedes Luxusprodukt.<br />
? Gehört das wirklich zur<br />
definition von luxusgegenständen<br />
dazu?<br />
! Ich finde schon. Stichwort<br />
„NESPRESSO“. Sehr guter Kaffee in genialer<br />
Verpackung mit stylischen Apparaten<br />
produzierbar, dargeboten von einer<br />
Hollywood-Ikone. Die gesamte Erscheinung,<br />
Geschichte und Qualität ist also absolut<br />
stimmig. Aber es gibt keine vernünftigen<br />
Behälter, in denen man die gebrauchten<br />
Kapseln sammeln kann – ohne dass sie<br />
schimmeln – und retournieren kann. Da<br />
fehlt der letzte Schritt.<br />
? damit sind wir bei der frage, ob<br />
luxusgegenstände zwangsläufig nur<br />
in kleinen und kleinsten Stückzahlen<br />
gefertigt werden müssen. ein 7er Bmw<br />
Foto: © Hubertus Hamm
ist ja zweifelsfrei ein luxusgegenstand,<br />
der nachhaltig und langlebig ist, der<br />
aber keineswegs in zehn-exemplarauflagen<br />
von hand gefertigt wird,<br />
sondern als ein massenprodukt<br />
aufgelegt ist.<br />
! Deswegen sage ich, dass man die<br />
einzelnen Branchen – ob Schmuck, Food<br />
oder Autos – voneinander trennen muss.<br />
Die Autoindustrie hat andere Volumina, weil<br />
man damit ja auch Eliten weltweit bedient.<br />
In jedem Kontinent weiß man, was ein BMW<br />
ist. Aber man weiß nicht unbedingt überall,<br />
was eine Uhr von A. LANGE & SÖHNE<br />
ist, obwohl sie genauso viel kosten kann<br />
wie ein 7er BMW. Und dann gibt es ja auch<br />
noch kleinere Serien und ganz besonders<br />
seltene Stücke wie den jüngst vorgestellten<br />
BMW-Steinway-7er, der mit einem<br />
besonderen Klavierlack versehen ist und<br />
dadurch noch feiner und satter glänzt als<br />
der herkömmliche Autolack. Das sind aber<br />
„Frills“, bei denen man über das Marketing<br />
einer speziellen, abgrenzungsbedürftigen<br />
Klientel noch eine kleine Besonderheit an<br />
die Hand geben will.<br />
? wenn ich all das höre, scheint<br />
mir der Begriff „luxus“ in Bezug<br />
auf seine vielfältigkeit ein plural-<br />
Begriff zu sein – wie der englische<br />
ausdruck für oberschicht, den es ja<br />
auch nur im plural gibt, nämlich „the<br />
upper classes“. Gehört zur vielfalt<br />
dessen, was luxus ist, auch dazu, dass<br />
luxus etwas – wie soll ich sagen –<br />
Spielerisches hat?<br />
! Unbedingt. Nehmen Sie das iPhone:<br />
Im Vergleich mit einem BlackBerry kann<br />
man ein iPhone ja in viel höherem Maße<br />
selbst gestalten und individualisieren.<br />
Welche Apps lädt man sich runter,<br />
welche Fotos lässt man drauf? Womit wir<br />
bei der spielerischen Komponente des<br />
Luxus sind. Denn die gehört eindeutig<br />
dazu. Man kann es auch die sinnlich<br />
erfahrbare, hedonistische Komponente<br />
nennen. Ein iPhone gehört fast schon<br />
zur eigenen „Body Decoration“ dazu. Und<br />
diese höchst individuelle Verbindung<br />
mit einem Produkt ist das, was ich als<br />
Liebesbeziehung zwischen Verbraucher<br />
und Produkt bezeichne. Ich kann das<br />
natürlich auch zu meinem BIc-Feuerzeug<br />
haben, zum Beispiel weil es mich gerettet<br />
hat, als ich eine Nacht auf dem Haleakalā<br />
auf Maui verbringen musste und damit ein<br />
Feuer entfachen konnte. Aber das ist eher<br />
selten. Ein Luxusprodukt mit persönlichen<br />
Erinnerungen aufzuladen, heißt, ihm eine<br />
individuelle Wertigkeit zu geben. Zum<br />
Beispiel wenn Sie Ihrem Sohn zum Abitur<br />
einen MONTBLANc-Füller schenken. Dann<br />
wird das ein Stift sein, der eine gewisse<br />
Wertschätzung der Leistung zum Ausdruck<br />
bringt und diesen jungen Menschen mit<br />
einer solchen Geste in die Erwachsenenwelt<br />
hereinholt. Das wird man mit einem<br />
Billigprodukt nicht erreichen können.<br />
? luxus hat ja wohl auch immer<br />
Belohnungscharakter?<br />
! So ist es. Natürlich kann man sich<br />
als alleinstehende Rechtsanwältin ein Paar<br />
schicke Weißgold-creolen oder etwas<br />
Schönes von JIL SANDER als Belohnung für<br />
eine besonders anstrengende Arbeitszeit<br />
leisten. Gerade wenn man keinen Kerl<br />
an der Seite hat, der einem so etwas<br />
schenkt. Luxusgegenstände müssen etwas<br />
Besonderes sein, sonst sind sie vielleicht<br />
teuer – aber kein wirklicher Luxus.<br />
ABER! Wenn sich Abramowitsch die<br />
größte Yacht der Welt bauen lässt, dann<br />
hat das nichts mit Belohnung zu tun,<br />
sondern mit der Demonstration von Macht.<br />
Und vielleicht ist es auch genau das, was<br />
viele Menschen bei uns spüren, wenn sie<br />
Luxusgüter skeptisch sehen.<br />
Alte Luxusobjekte lassen sich leichter<br />
lieben, wie zum Beispiel eine Vintage-<br />
Kelly-Bag von HERMÈS. Sie hat Patina und<br />
zeigt Substanz, schön zu altern – sowohl<br />
von der Qualität und der Nachhaltigkeit<br />
als auch von der zeitlosen Ästhetik her.<br />
Sie zeigt auch, dass man sich schon lange<br />
so etwas leisten kann. Außerdem wirkt<br />
sie erst auf den zweiten Blick (diskret<br />
und trotzdem abgrenzend), ist immer<br />
gepflegt worden (reparaturfähig), und ist<br />
porentief ökologisch, weil man ein solches<br />
Objekt niemals wegwerfen wird. Ein<br />
Luxusgegenstand in der zweiten Generation<br />
hat noch eine weitere Ausstrahlung, die man<br />
mit Geld nicht kaufen kann: Tradition.
Foto: Ralf Kaspers, Kaviar, 2008<br />
? wenn man berücksichtigt,<br />
dass deutschland bereits jetzt<br />
weltweit den dritten platz als luxusproduktionsstandort<br />
einnimmt, würde<br />
ich gerne ihren vergleich kennen lernen<br />
zwischen der wahrnehmung von luxus<br />
„made in Germany“ und luxus „made<br />
in france“ oder luxus „made in italy“?<br />
! An erster Stelle unterscheiden<br />
sich diese drei Ursprungsorte durch die<br />
Wahrnehmung. Wir Deutsche bezeichnen<br />
ja freiwillig Frankreich als die Wiege des<br />
Luxus. Das hat gewisse geschichtliche<br />
Wurzeln. Am französischen Hof in<br />
Versaille lebten immerhin 20000 Menschen,<br />
die sich alle mit immer größeren und<br />
schöneren Luxusgegenständen gegenseitig<br />
zu übertrumpfen trachteten. Das hat eine<br />
großartige Qualität an Handwerkskünsten<br />
hervorgebracht, die bis heute ihre<br />
Ausstrahlung auf unser kollektives<br />
Unbewusstes haben. Daraus leitet sich auch<br />
die Wirkung von Kofferherstellern wie<br />
LOUIS VUITTON oder Sattelmachern wie<br />
HERMÈS her. Dennoch steht Frankreich im<br />
Luxusbereich schwerpunktmäßig für Mode<br />
– allerdings mit diesem Handwerksaspekt,<br />
denn Haute couture ist ja auch<br />
Maßanfertigung per Hand. Dazu kommt<br />
Kosmetik und Parfüm, also weitgehend<br />
alles, was mit weiblicher Selbstoptimierung<br />
zu tun hat.<br />
Auch Italien steht für Mode, aber<br />
mehr in Richtung „Bella Figura“, wozu eine<br />
Zeit lang auch eine gewisse Schnittigkeit<br />
von Autokarosserien dazugehörte. Nicht<br />
zuletzt gestattet das Matriarchat in Italien<br />
dem Mann in dieser Hinsicht eine Art<br />
Pfauenrolle zu übernehmen, weshalb wir<br />
einen gewissen männlichen Schwerpunkt<br />
bei der Selbstdarstellung haben. Generell<br />
liegt die Hauptkompetenz der Luxusartikel<br />
Italiens aber im Bereich des Leders. Also<br />
Schuhe und Taschen. Damit ist es auch ein<br />
sehr handwerkslastiger Luxus.<br />
Im Luxus „Made in Germany“ findet<br />
sich ebenfalls eine starke Fraktion im<br />
Manufaktur- respektive Handwerksbereich<br />
(von Meißen über Arzberg bis Dibbern),<br />
die sowohl in einem traditionellen als auch<br />
sehr frischen Design daherkommen. Die<br />
andere starke, sehr viel modernere Seite<br />
liegt im Ingenieursbereich. Stichwort:<br />
Luxusautos (PORScHE, MAYBAcH,<br />
ROLLS ROYcE, BENTLEY usw.), Uhren (A.<br />
LANGE & SÖHNE, die Glashütte-Region),<br />
Musikakustik (Burmester), aber auch im<br />
Einrichtungs- und Ausstattungsbereich von<br />
Häusern (DEDON, ROLF BENZ, WALTER<br />
KNOLL). Manche Branchen werden von<br />
deutschen Herstellern sogar dominiert –<br />
beispielsweise Küchen, Badeinrichtung,<br />
Musikinstrumente und Megayachten.<br />
Und damit nicht genug: Wir haben,<br />
wie die Uni Berlin erforscht hat, einen<br />
Gründerboom im Luxusbereich in der Zeit<br />
zwischen 2000 und 2005 erlebt. Und zwar<br />
– große überraschung – in Berlin (!), wo<br />
sich viele junge Firmen gegründet haben.<br />
Wie zum Beispiel die Brillenmanufaktur<br />
„MYKITA“ oder „ic! Berlin“, die ja von der<br />
Materialität her innovativ sind mit ihren<br />
Scharnieren und Gelenken. Die außerdem<br />
einen tollen Werbeauftritt haben und<br />
sehr schnell global Erfolg hatten. Und<br />
wenn wir in Berlin bleiben, weil es ja<br />
immer heißt, Berlin habe kein Geld, sei<br />
aber sexy, dann muss man auch einmal<br />
die vielen jungen Firmengründungen im<br />
Modebereich dort sehen wie „lala Berlin“,<br />
„kaviar gauche“ aber auch „Irene Luft“<br />
hier aus München. Da sieht man bei allen<br />
dreien ein Superdesign aus hochwertigsten<br />
Materialien, die alle fantastisch in unsere<br />
Zeit passen. Diese Labels werden es –<br />
wenn sie nicht von Investoren aufgekauft<br />
werden – sicher noch eine ganze Zeit<br />
sehr schwer haben, ehe sie ihre Marken<br />
etabliert haben. Aber das ist nur eine<br />
wirtschaftliche Frage. Keine, welche die<br />
Qualität in Frage stellt. Und all das basiert<br />
nicht so sehr auf Ingenieurskunst, sondern<br />
auf Kreativität! Mein Kollege Klaus Heine
von der TU Berlin spricht sogar von einem<br />
Luxusbranchenwunder, dessen Ausmaße<br />
man besser beurteilen könnte, wenn die<br />
Luxuslandschaft bereits katalogisiert,<br />
vermessen und kommuniziert wäre.<br />
All das sollte passieren, damit<br />
sich so etwas einstellt wie Stolz auf die<br />
eigene Luxusgüterindustrie, statt gebannt<br />
jenseits des Rheins zu schauen und das<br />
französische „Savoir Vivre“ zu bestaunen<br />
respektive das „Dolce Vita“ jenseits der<br />
Alpen. Denn auch wir Deutsche haben<br />
eine stark hedonistische Komponente in<br />
unserem Lebensgefühl – auch wenn wir<br />
noch keine Begrifflichkeit dafür gefunden<br />
haben. Wobei wir natürlich wissen, dass das<br />
„Wording” – siehe „Savoir Vivre“ und „Dolce<br />
Vita“ – sehr wichtig für die Bewusstwerdung<br />
dessen ist. Da mangelt es uns noch an<br />
Identität und Selbstdarstellung. Allerdings<br />
glaube ich, dass wir kurz davor sind,<br />
diese Hürde zu nehmen und uns dazu zu<br />
bekennen.<br />
? fehlt es uns vielleicht an den<br />
medialen plattformen für diese welt des<br />
luxus?<br />
! Absolut. Wie kaum ein anderes<br />
Land verfügt Deutschland mit über 1400<br />
Weltmarktführern – „Hidden champions”<br />
genannt – über ein enormes Potenzial,<br />
dass aber eben gerade auch das deutsche<br />
Defizit zum Ausdruck bringt. Nämlich<br />
führend zu sein in Ingenieurs- und<br />
Handwerkskunst, aber zu bescheiden<br />
und unsicher in der Verwertung dieser<br />
Qualität und dem Aufbau strahlender<br />
Marken und ihrer Emotionalisierung.<br />
Bisher verdient nur der Boulevard sein<br />
Geld damit. Und das ist maßlos schade.<br />
Dieses „Red carpet-Phänomen“ lässt uns zu<br />
Schlüssellochguckern verkommen, obwohl<br />
wir Regisseure und Ausstatter großer<br />
Luxusmarken sein könnten. Und von dieser<br />
chance sollten wir unbedingt Gebrauch<br />
machen.<br />
Denn Luxus ist ein genialer<br />
Gegenentwurf zum marodierenden<br />
Discount, der mit seiner „H&M-isierung”<br />
die Innenstädte verstopft und die Leute<br />
mit seinen Billigversprechen in die<br />
Discountmärkte der Vorstädte lockt.<br />
Und dann haben wir plötzlich wieder<br />
irgendeinen Lebensmittelskandal und<br />
merken, dass man eben doch ein bisschen<br />
mehr Geld für saubere und reine Nahrung<br />
ausgeben muss. Das ist nämlich ebenfalls<br />
eine Seite des Luxus – die gute, saubere,<br />
nachhaltige Qualität, die Kennerschaft und<br />
Einsicht erfordert, statt „Instant Pleasure“<br />
für kleines Geld zu versprechen. Ein<br />
connaisseur weiß, WAS er genießt, und<br />
warum es gut ist. Und zwar im Detail. Und<br />
er kennt und schätzt auch den Mangel. Ja,<br />
er sucht ihn sogar gezielt auf, um aus dem<br />
Kontrast die Fähigkeit zum Genuss zur<br />
Kunst zu verfeinern. Eine Haltung, die dem<br />
Fastfood-Anhänger völlig abgeht. All das<br />
verdichtet sich in dem Satz: „Nicht das Teure<br />
ist das Bedenkliche, sondern das Billige<br />
ist das, worüber wir nachdenken müssen!“<br />
Es hört sich zwar ungewohnt an, aber das<br />
Thema „Luxus“ könnte uns einige wichtige<br />
Ideen genau dafür geben.<br />
•<br />
N7 Nachmann Rechtsanwälte begrüßen<br />
die Einstellung, dass die Herstellung von<br />
Luxusgütern eine wichtige Rolle in der<br />
deutschen Wirtschaft spielt und ihr ermöglicht,<br />
in einer immer globaleren Wettbewerbssituation<br />
Spitzentechnologien zu entwickeln.
nachmann client<br />
Seite 42<br />
Fotos: Hans-Günther Kaufmann<br />
ScHWESTERN WERK<br />
UND GOTTES BEITRAG<br />
ODER WIE EIN<br />
ScHWESTERNORDEN<br />
WASSER IN GüTE<br />
VERWANDELT.<br />
die „kongregation der<br />
Barmherzigen Schwestern vom<br />
hl. vinzenz von paul“ mit ihrem<br />
mutterhaus in münchen ist die<br />
100-prozentige Gesellschafterin der<br />
adelholzener alpenquellen Gmbh. die<br />
Quelle sprudelt und die Schwestern<br />
verwandeln wasser nicht in wein,<br />
sondern in wohltaten. die erlöse<br />
stellen einen hohen Standard in ihren<br />
drei krankenhäusern, sechs alten-<br />
und pflegeheimen sowie in ihrer<br />
Berufsfachschule für krankenpflege<br />
sicher. außerdem finanziert die<br />
ordensgemeinschaft aus den Gewinnen<br />
ihre werke der Barmherzigkeit.<br />
dazu zählen unter anderem auch<br />
Spenden an soziale projekte im<br />
landkreis traunstein, in dem die<br />
adelholzener alpenquellen ihren Sitz<br />
haben. ebenfalls unterstützt werden<br />
kindergärten, Schulen, die feuerwehr,<br />
das rote kreuz und Sportvereine –<br />
unternehmerisch wie auch sozial eine<br />
Glanzleistung.<br />
ich sprach mit der Generaloberin<br />
Schwester theodolinde mehltretter,<br />
die in der Geschäftsführung von<br />
adelholzener lange Jahre das personal<br />
geführt hatte und seit 2004 die<br />
Geschicke des ordens leitet, über ihre<br />
frühere und jetzige arbeit.<br />
als ich ihr zum ersten mal<br />
begegnete, fielen mir als erstes die<br />
hände der Generaloberin auf. Große,<br />
liebevolle hände, die gepflegt sind und<br />
dennoch ein leben lang gewohnt waren,<br />
zu arbeiten. und dann ihre wachen,<br />
gütigen augen. Besser kann man „ora<br />
et labora“ nicht verkörpern, dachte<br />
ich bei mir. und wollte als erstes<br />
wissen, wie es dazu gekommen ist, dass<br />
ein orden christlicher nonnen ein<br />
lifestyle-wasser wie „<strong>active</strong> o2“ auf<br />
den markt bringen konnte.<br />
! Wir hatten damals Herrn Friedrich<br />
Schneider als Geschäftsführer. Er wusste<br />
von diesem mit Sauerstoff angereichertem<br />
Wasser. Ich habe ihm damals gesagt: „Herr<br />
Schneider, wenn wir zwei a Stund z´samm<br />
spazieren gehen, ist es genauso, als wenn<br />
ich dieses Sauerstoffwasser trinken tät.”<br />
Das war meine erste Einschätzung. Und ich<br />
blieb auch ziemlich lange skeptisch. Aber<br />
durch viele Gespräche und die Entwicklung<br />
des Produkts habe ich gesehen, dass es<br />
wirklich etwas Gutes ist und dem Körper<br />
einen Impuls, ja richtig Leben gibt. Das<br />
ist wirklich so. Ich kann es zum Beispiel<br />
auf d'Nacht nicht trinken. Da kann ich<br />
gar nicht mehr richtig einschlafen. Das<br />
ist der Sauerstoff. Der geht sofort in die<br />
sauerstoffunterversorgten Organe über. Ich<br />
trink´s deshalb mittags, wenn ich müd´ bin.<br />
? vielleicht sollten Sie’s zum<br />
frühstück trinken...<br />
! Ja, aber da mag ich lieber Kaffee. Also,<br />
es ist wahr, dass es wirkt. Und wir sind froh<br />
und glücklich, dass wir damals gesagt haben:<br />
„Das wollen wir jetzt versuchen.“ Wir haben<br />
in der Kongregation sogar dem Wunsch<br />
stattgegeben, in andere Länder damit zu<br />
gehen.<br />
? kein schlechter entschluss!<br />
adelholzener „<strong>active</strong> o2“ ist<br />
marktführer in deutschland und wird<br />
auch in einigen anderen ländern<br />
vertrieben. reicht es ihnen, wenn eine<br />
solche entscheidung gut für’s Geschäft<br />
ist, oder gibt es da noch andere motive,<br />
die wichtig sind.<br />
! Schauen S', „Adelholzener“ ist ein<br />
Name, durch den eine Botschaft rüberkommt.<br />
Wir haben das Glück, dass wir unser<br />
Wasser aus der Tiefe der bayerischen Alpen<br />
beziehen. Und das rüberzubringen, ist uns<br />
ganz, ganz wichtig.<br />
Deshalb symbolisieren die Berge auf
den Etiketten die Klarheit und Reinheit<br />
und Ursprünglichkeit. Der Kunde will ja<br />
ein Produkt, das ehrlich ist. Und das ist bei<br />
Adelholzener gegeben.<br />
Wir versuchen, mit unserem<br />
Unternehmen darüber hinaus das zu tun,<br />
was allerorts „Nachhaltigkeit“ genannt<br />
wird, was für uns aber einfach unser<br />
Schöpfungsauftrag ist: Dass man Wasser<br />
und Energie nicht unnötig vergeudet, dass<br />
man die Natur nicht belastet. Wissen Sie,<br />
alle Welt hat das Wort „Umwelt“ im Mund.<br />
Das hört sich so an, als ob das die Welt sei,<br />
die um den Menschen herum stattfindet. Ich<br />
finde das ein bisschen wenig. Denn es ist<br />
doch unser aller Welt. Deshalb haben wir<br />
den Auftrag bekommen, unsere Schöpfung<br />
zu bewahren und zu verwalten, um sie der<br />
Nachwelt so gut wie möglich in die Hände<br />
zu geben. Und da gehört es einfach dazu,<br />
sie zu schonen. Das ist ja noch nicht mal<br />
was Neues. 1807 hat Joachim Heinrich<br />
campe – das war der Lehrer von Wilhelm<br />
von Humboldt – zum Thema Nachhaltigkeit<br />
gesagt: „Nachhalt ist, woran man sich hält,<br />
wenn alles andere nicht mehr hält!“ Das ist<br />
ein toller Satz. „Nachhalt ist, woran man sich<br />
hält, wenn alles andere nicht mehr hält!“<br />
Dieses verbreitete Immer-mehr-undnoch-mehr,<br />
das hält ja nicht lange. Das<br />
bricht zusammen. Und drum ist das Wort<br />
von campe ganz wichtig. Dieser Ausspruch<br />
ist mir übrigens zugefallen.<br />
? wobei wir ja wissen, dass dieses<br />
„zufallen“ einem nicht zufällig passiert.<br />
! Das ist richtig. Das ist wirklich immer<br />
ein Zeichen.<br />
? wenn Sie sagen, dass „wir“ diesen<br />
auftrag haben, meinen Sie das dann für<br />
ihren orden oder...?<br />
! Nein, nein, für alle Menschen. Das gilt<br />
meines Erachtens für jeden Unternehmer –<br />
einfach für jedermann: Dass man sich nach<br />
Kräften einsetzt, die Zukunft so zu gestalten,<br />
dass sie lebenswert ist. Das ist nicht an<br />
einzelne Menschen gebunden. Das gilt für<br />
alle Menschen!<br />
? ist das ihre philosophische<br />
weltsicht oder leitet sich das aus dem<br />
katholischen Glauben heraus ab?<br />
! Jeder muss so handeln, der vernünftig<br />
denkt. Wir haben doch auch etwas von<br />
unseren Vorfahren als Erben in die Hände<br />
bekommen. Sie, ich, jeder. Und wir müssen<br />
mit dem Erbe so umgehen, dass wir es<br />
wieder in andere Hände geben können. So<br />
wie wir auf den Schultern unserer Eltern<br />
stehen, so steht die kommende Generation<br />
auf unseren Schultern. Und das soll ja auch<br />
wieder eine lebbare Welt sein, in der die<br />
nächste Generation leben wird. Das ist doch<br />
einfach logisch. Da muss ich nicht einen<br />
katholischen Glauben dazu haben. Das ist an<br />
kein Alter und keine Religion gebunden. So<br />
wie „Gutes tun” auch an kein Alter und keine<br />
Religion gebunden ist.<br />
? wir erleben in unserer heutigen<br />
zeit eher das Gegenteil. die leute wollen<br />
immer mehr Geld und werden trotzdem<br />
nicht besonders glücklich.<br />
! Geld braucht man. Das ist nun mal<br />
so. Aber es ist eine Frage, welche Priorität<br />
räume ich dem Geld ein.<br />
Es ist ein Ziel unseres Unternehmens,<br />
Adelholzener so zu wirtschaften, dass<br />
auch was übrig bleibt, wenn die Löhne<br />
bezahlt, die Investitionen getätigt sind, um<br />
auf dem Markt bestehen zu bleiben. Es ist<br />
ein wichtiger Auftrag an und von uns, die<br />
Arbeitsplätze zu sichern.<br />
Dennoch soll so gewirtschaftet werden,<br />
dass etwas übrig bleibt. Denn das bleibt<br />
nicht bei der Geschäftsführung, sondern<br />
fließt in die Kongregation zurück, und diese<br />
finanziert soziale Projekte. Außerdem sind<br />
wir als Kongregation für die Versorgung<br />
unserer alten Schwestern zuständig. Wir<br />
haben im Augenblick 345 Schwestern.<br />
Davon sind sehr viele im Altenheim und<br />
dafür müssen wir Sorge tragen. Dafür<br />
brauchen wir auch dieses Geld.<br />
? Geld verdienen ist ja auch nicht<br />
unanständig.<br />
! Nein. Es steht ja in der Bibel: „Macht<br />
Euch die Erde untertan“ – und schaugts,<br />
dass was Gutes damit getan wird.<br />
? Bekommt die kongregation für<br />
ihre aufgaben noch von anderswoher<br />
Geld?<br />
! Nein. Also früher bekamen unsere<br />
Schwestern Gestellungsgelder, weil sie in<br />
den Kliniken angestellt waren. Das ist jetzt<br />
nicht mehr der Fall, weil wir keine jungen<br />
Schwestern mehr haben und die meisten<br />
nicht mehr im Arbeitsleben stehen. Deshalb<br />
müssen wir sehen, dass wir uns selbständig<br />
erhalten. Wir bekommen auch keinen<br />
Pfennig Kirchensteuer, weil wir als Orden ja<br />
unabhängig von der Institution Kirche sind.<br />
Die Kongregation muss also schauen, dass<br />
wir mit dem Erwirtschafteten die Häuser in<br />
die Zukunft führen können.<br />
? adelholzener mineralwasser<br />
zu trinken, ist also nicht nur gesund,<br />
sondern hilft ihnen auch ihre<br />
karitativen arbeiten leisten zu können.<br />
! Wir tun viel Gutes mit dem Erlös, den<br />
wir aus dem Verkauf des Wassers erzielen.<br />
Man darf darüber auch sprechen. Aber man<br />
soll es auch nicht übertreiben. Dennoch<br />
kann ich mit Fug und Recht sagen, dass viel<br />
Gutes getan wird.<br />
? wie haben Sie die marke<br />
„adelholzener“ strukturiert, damit sie<br />
auf dem markt bestehen kann?<br />
O2<br />
ACTIVE
! Die Philosophie von Adelholzener<br />
besteht aus vier Säulen. Die eine ist<br />
die „Tradition“. Die „Kongregation der<br />
Barmherzigen Schwestern vom hl. Vinzenz<br />
von Paul“ gibt es seit 1832 in Bayern. Das<br />
sind nächstes Jahr 180 Jahre. Und wir<br />
haben die Adelholzener Primusquelle 1907<br />
erworben. Das sind auch immerhin mehr<br />
als 100 Jahre. Da kann man schon von einer<br />
Tradition reden.<br />
Die zweite Säule ist die „Innovation“.<br />
Unsere Geschäftsführer schätzen sehr, dass<br />
die Kongregation der Innovation immer<br />
wieder neuen Raum gibt.<br />
Dann die menschliche<br />
„Kommunikation“ – einer der wichtigsten<br />
Grundpfeiler trotz der elektronischen<br />
Vermittlung wie E-Mail, Fax und wer weiß,<br />
was da noch alles kommen wird.<br />
Und dann die „Vision“: Wir müssen<br />
ja auch bedenken, was in fünf Jahren<br />
sein wird. Auf diese Gedanken muss man<br />
sich aber nicht allein verlassen, weil ja<br />
auch noch einer von oben, Gott, mitlenkt.<br />
Aber wir müssen alle unsere Fähigkeiten<br />
einsetzen, um zu schauen, wie man unsere<br />
Unternehmen – ob Industrie, Altenheim<br />
oder Krankenhaus – in die Zukunft führen<br />
kann.<br />
Dieses „Vier-Säulen-Modell“ haben wir<br />
in Bad Adelholzen immer praktiziert. Und<br />
das hat sich gut bewährt. Wir haben das<br />
immer mit einem einfachen Bild dargestellt:<br />
Man darf nicht nur den Wald zu verstehen<br />
suchen, sondern auch jeden einzelnen Baum.<br />
So ist die Kongregation der Wald und jede<br />
Einrichtung unserer Kongregation sind<br />
die Bäume – und die muss ich pflegen und<br />
hüten, damit es einen gesunden Wald gibt.<br />
? wenn Sie „kommunikation“<br />
sagen, dann ist damit ja nicht nur<br />
gemeint, eine Botschaft von a nach B<br />
zu transportieren, sondern da gehört<br />
viel mehr dazu. was ich über Sie gelesen<br />
habe, würde ich das mit „viel herz“<br />
beschreiben. oder?<br />
! Ja, das ist wichtig. Als ich noch in<br />
Bad Adelholzen operativ tätig war, war<br />
mir wichtig, dass die Mitarbeiter aus<br />
ihrer Erfahrung heraus Vorschläge in das<br />
Unternehmen einbringen sollten. Und<br />
diese Erfahrung der älteren Mitarbeiter mit<br />
der Flexibilität der jüngeren Mitarbeiter<br />
zusammenzubringen, das habe ich immer<br />
versucht. Und wenn´s gar zu rau wurde,<br />
dann habe ich mit denjenigen einen langen<br />
Spaziergang gemacht. Da kann man anders<br />
miteinander reden als in einem Büro. Und<br />
dann ging´s meistens wieder gut.<br />
? was bedeutet es, wenn Sie sagen,<br />
man müsse auch eine „vision“ haben?<br />
! Wir haben – zunächst in der<br />
Kongregation – damit begonnen, eine<br />
zeitgemäße Wertearbeit zu installieren.<br />
In der Kongregation wurden Werte<br />
immer schon gelebt. Nur muss man sie<br />
heute in unserer Zeit neu definieren und<br />
aussprechen. Das haben wir versucht.<br />
Die christlichen Grundwerte unserer<br />
Kongregation sind:<br />
• „Barmherzigkeit leben.” Das heißt,<br />
miteinander und füreinander da sein.<br />
• „Leben würdigen“ nicht nur im<br />
Krankenhaus, sondern auch im Altenheim.<br />
• „Miteinander und füreinander dienen.“<br />
Das ist einer der wichtigsten Grundsätze,<br />
den wir einfordern.<br />
• „Wertschätzung pflegen und fördern.“<br />
• „Wirtschaftlich und verantwortlich<br />
handeln als Schöpfungsauftrag.“<br />
Diese Werte gelten für die Kongregation.<br />
Die Werte für die Führungskräfte in<br />
Bad Adelholzen werden wir demnächst<br />
definieren, weil ein wirtschaftliches<br />
Unternehmen ja doch noch anders<br />
funktioniert wie eine Kongregation. Dazu<br />
gehört: „Verlässlichkeit“, „Toleranz“,<br />
„Beständigkeit“, „Offenheit“, „Ehrlichkeit“,<br />
„Maßhalten“ und auch „Mut zeigen“. Wenn<br />
das zusammenwirkt, stellt sich aus meiner<br />
Sicht auch ein unternehmerischer Erfolg<br />
ein. Denn nur mit Ellenbogen kommt man<br />
nicht weit. Das größte Kapital in einem<br />
Betrieb ist immer noch der Mensch – nicht<br />
die Maschinen und nicht die Abfüllanlagen.<br />
Der Mensch bringt das Leben in ein<br />
Unternehmen.<br />
? das heißt aber doch – wenn wir mal<br />
bei adelholzener bleiben, weil das ein sehr<br />
weltliches unternehmen ist und unseren<br />
lesern am nächsten –, dass die mitarbeiter<br />
nicht nur ausführende handlanger sind?<br />
! Wir wollen unseren Mitarbeitern<br />
mehr geben als Lohn. Denn jeder ist<br />
einmalig und hat viele Fähigkeiten<br />
und Talente. Das macht eben dieses<br />
Zusammenspiel aus, das das gemeinsame<br />
Arbeiten schön und erfolgreich macht. Aber<br />
natürlich sind wir auch dabei, Prozesse<br />
zu optimieren, Arbeitsabläufe enger<br />
in den Blick zu nehmen. Aber immer
im Zusammenhang mit denen, die das<br />
ausführen – das „Warum“ und „Weshalb“.<br />
Man muss die Menschen dort abholen, wo<br />
sie stehen. Das versuchen wir täglich. Das<br />
kann man nur, wenn einer die Richtung<br />
angibt und die anderen mitnehmen will und<br />
zwar jeden mit seinen Fähigkeiten. Einer<br />
kann mehr, der andere bewegt weniger. Das<br />
ist nun mal so. Man muss der Ehrlichkeit<br />
halber auch sagen, dass das nicht immer<br />
gelingt. Aber ich denke, der Wille zu diesem<br />
Mitnehmen der Mitarbeiter ist da.<br />
Als ich damals in Bad Adelholzen als<br />
Personalleiterin für unsere Mitarbeiter im<br />
Betrieb zuständig war und dort tagtäglich<br />
mitgearbeitet habe, habe ich das wie eine<br />
Familie erlebt. Natürlich war ich damals<br />
mehr anwesend im Betrieb, als es jetzt<br />
mein Nachfolger sein kann, weil ich als<br />
Ordensschwester ja keine Familie habe.<br />
Mein Nachfolger hat aber eine Familie.<br />
Die darf unter der Arbeit nicht leiden.<br />
Denn eine Familie ist das Rückgrat eines<br />
Arbeitnehmers und die darf er nicht<br />
vernachlässigen. Deswegen kann und soll<br />
man meine Arbeit und seine Arbeit nicht<br />
vergleichen.<br />
? kommen wir nochmal zur<br />
„innovation“. da haben Sie also<br />
marketingexperten, eine werbeagentur<br />
und andere Spezialisten. aber Sie<br />
müssen ja letztendlich entscheiden,<br />
welche Strategie eingeschlagen und was<br />
gemacht werden soll. wie finden Sie den<br />
richtigen weg für das unternehmen? ist<br />
es der heilige Geist oder gründliches<br />
nachdenken, was Sie weiterbringt bei<br />
solchen entscheidungen.<br />
! (Lacht aus vollem Herzen) Wichtig<br />
ist für uns, Produkte zu entwickeln, die<br />
ein langsames aber stetes Wachstum<br />
haben. Wenn wir jetzt zum Beispiel ein<br />
Energiegetränk machen, das momentan<br />
einen Boom auslöst, aber längere Zeit nicht<br />
durchsetzbar ist, dann ist das nichts für uns.<br />
Jede Innovation soll ein kontinuierliches<br />
Wachstum in einer Firma anstoßen. Es muss<br />
etwas Handfestes ergeben.<br />
Und wie kommt es dazu? Tja, da ist es<br />
dann eben der Einfall oder die Inspiration<br />
eines Einzelnen, den man diskutiert, prüft<br />
und entwickelt, indem man Probefüllungen<br />
macht, kostet und verfeinert. Ich denke, da<br />
müssen alle Abteilungen zusammenhelfen,<br />
damit dann EIN Produkt auf den Markt<br />
kommt. Als ich noch im aktiven Geschäft<br />
in Bad Adelholzen war, da ging das immer<br />
eine gewisse Zeit, bis das neue Produkt so<br />
gestanden hat, dass wir gesagt haben, das<br />
geben wir jetzt dem Beirat zur Entscheidung.<br />
? Gibt es das, dass die kongregation<br />
oder der Beirat auch mal sagen: „nein,<br />
das machen wir nicht!“?<br />
! Wenn´s nicht stimmig ist, dann<br />
schon. Das ist zum Beispiel bei der Werbung<br />
wichtig. Wenn die Werbung nicht stimmig<br />
ist für die Kongregation, dann geht es gar<br />
nicht. Da muss alles von uns genehmigt<br />
werden, was die Werbestrategie betrifft.<br />
Auch jede Aussage.<br />
? also mit nackerten ist da nix zu<br />
machen?<br />
! überhaupt nix! Das würde ja auch<br />
gar nicht zu uns passen. Bei uns sehen<br />
sie die tolle Gebirgswelt, den Schnee, die<br />
Schöpfung. Und dann das Produkt: Das<br />
muss sonnenklar, rein und eindeutig sein.<br />
Adelholzener muss sich nach dem<br />
Geschmack der Kunden richten – nicht<br />
nach unseren Ideen. Wenn es dem Kunden<br />
nicht schmeckt, hilft alles nichts.<br />
Diese Kundenorientierung versuchen<br />
wir auch mit unserem Außendienst zu<br />
erreichen. Der Kundenkontakt mit den<br />
Getränkemärkten ist uns nämlich ganz<br />
wichtig. Wenn ein Kunde reklamiert, dann<br />
wird dem sofort nachgegangen. Das gehört<br />
zur Kommunikation und dem „Miteinander“<br />
dazu! Da investieren wir stark ins Personal.<br />
Ja, das ist sogar ein Schwerpunkt in Bad<br />
Adelholzen. Deswegen bauen wir auch<br />
den Außendienst nicht ab, weil der alles,<br />
was dem Unternehmen schaden könnte,<br />
auffangen und von ihm abwenden kann<br />
– und soll. Die Außendienstmitarbeiter<br />
kümmern sich um unsere Kunden. Damit<br />
bin ich sehr zufrieden. Wir haben nämlich<br />
wirklich gute, verlässliche Mitarbeiter.<br />
Sehr viele von ihnen kenne ich noch<br />
und rede auch mit ihnen. Ich sage ihnen<br />
immer wieder gerne, dass die Kongregation<br />
hinter ihnen steht, und mache ihnen Mut,<br />
sich mit notwendigen Veränderungen<br />
zu identifizieren. Veränderungen muss<br />
es geben, um am Markt bestehen zu<br />
bleiben. Der Wettbewerb wird ja immer<br />
härter und jede Veränderung tut erst mal<br />
weh. Das ist im privaten Leben so, das<br />
ist in der Gemeinschaft so. überall! Jede<br />
Veränderung bringt Angst. Aber Wachstum<br />
ist nun mal Bewegung. Wenn Pflanzen<br />
wachsen, dann bewegen sie sich. Aber<br />
unsere Mitarbeiter sollen wissen, dass sie<br />
für die Veränderungen etwas tun können,<br />
damit vieles so bleiben kann, wie es ist.<br />
Und dazu will ich ihnen Mut machen.<br />
? Schwester theodolinde, was<br />
meinen Sie: kann ein weltlicher<br />
unternehmer aus ihren erfahrungen<br />
mit adelholzener lernen?<br />
! Hm! Jeder muss sein Unternehmen<br />
selber auf die Füsse stellen. Da kann man<br />
nichts übertragen. Das geht nicht. Die<br />
Botschaft muss klar sein – und stimmen.<br />
Und wenn die Botschaft den Kunden<br />
anspricht, dann entscheidet er sich, das<br />
Produkt zu kaufen. Und wenn´s ihm<br />
auch noch schmeckt, dann ist es ganz toll.<br />
Mögen Sie noch ein Glaserl?<br />
? Sehr gerne!<br />
? Sie kennen doch das produkt „red<br />
Bull“...<br />
! Also kennen ist vielleicht zu viel<br />
gesagt. Ich weiß, dass es das gibt.<br />
? würde es das bei ihnen geben<br />
können? weil es ja auf seine weise auch<br />
sehr authentisch ist.<br />
! Ja mei! Es langt doch, wenn es schon<br />
einer macht. Da müssen wir das doch nicht<br />
auch noch herstellen.<br />
? nochmal zur „vision“. wie viele<br />
Jahre muss man aus ihrer erfahrung<br />
nach vorne schauen?<br />
! In die Zukunft schauen kann<br />
niemand. Man muss sich zwar Gedanken<br />
machen, was in der Zukunft sein kann. Aber<br />
leben kann man nur die Gegenwart. Denn<br />
letztlich entscheidet der heutige Tag, was der<br />
Kunde kauft.<br />
Außerdem habe ich ein sehr großes<br />
Gottvertrauen und versuche, das Werkzeug<br />
in Gottes Hand zu sein. Und mit meinen<br />
Mitarbeitern zusammen, das Unternehmen<br />
gut in die Zukunft zu führen. In der Bibel<br />
steht 365-mal „Fürchte Dich nicht! Ich, Gott<br />
der Herr, bin bei Dir.“ Und das glaube ich<br />
felsenfest. Und ich spüre das auch. Dazu<br />
muss ich auch gar nicht fromm sein. Das<br />
Leben, das ich führe, ist einer der Wege.<br />
Aber wenn man ein guter Mensch ist,<br />
dann kann jeder das spüren. Ich habe den<br />
Eindruck, dass sich dieser Gedanke immer<br />
stärker durchsetzt.<br />
N7 Nachmann Rechtsanwälte sind<br />
beeindruckt von der „Kongregation der<br />
Barmherzigen Schwestern vom hl. Vinzenz von<br />
Paul“, die soziale Dienste in der Alten- und<br />
Krankenpflege aus der eigenen wirtschaftlichen<br />
Tätigkeit finanzieren.<br />
•
philosophy<br />
Seite 50<br />
MMK Museum für Moderne Kunst<br />
„IcH FINDE<br />
üBERRAScHUNGEN<br />
ETWAS WUNDERBARES!“<br />
Susanne Gaensheimer leitet seit<br />
2009 das museum für moderne kunst<br />
– kurz mmk – in frankfurt am main,<br />
eines der bedeutendsten museen für<br />
Gegenwartskunst. Sie hat den deutschen<br />
pavillon der diesjährigen Biennale kuratiert<br />
und für die reinszenierung von christoph<br />
Schlingensiefs Bühneninstallation „eine<br />
kirche der angst vor dem fremden in<br />
mir“ den Goldenen löwen der Biennale<br />
erhalten. wir unterhielten uns mit frau<br />
dr. Gaensheimer in frankfurt bei einer<br />
tasse tee über christoph Schlingensief, das<br />
leben als künstler und die aufgabe eines<br />
museums im Jahr 2011.<br />
Foto: Mauricio Guillén
? frau dr. Gaensheimer, in der<br />
Bühneninstallation „eine kirche der angst<br />
vor dem fremden in mir“ wird unter<br />
anderem ein Gespräch zwischen christoph<br />
Schlingensief und alexander kluge gezeigt,<br />
in dem kluge fragt, wie Schlingensief<br />
einem außerirdischen richard wagner<br />
erklären würde. diese fragetechnik nehme<br />
ich auf und stelle sie ihnen: „wie würden<br />
Sie einem außerirdischen christoph<br />
Schlingensief erklären?“<br />
! Ich gehe mal davon aus, dass Sie keinen<br />
wirklichen Außerirdischen meinen, sondern<br />
jemanden, der mit der Kunst nicht so viel<br />
zu tun hat. Der Grund, warum ich mich für<br />
Schlingensief entschieden habe, war der –<br />
und das kann man jetzt nach seinem Tod<br />
noch viel deutlicher feststellen –, dass er einer<br />
der wichtigsten Künstler in diesem Land<br />
war. Seine Werke haben einen ungeheuren<br />
Einfluss in verschiedenen Bereichen gehabt.<br />
Er war auch deswegen wichtig, weil er<br />
über Jahre hinweg in den verschiedensten<br />
Medien gearbeitet hat und nie eindeutig<br />
einzuordnen war. Und er war ein absolut<br />
außergewöhnlicher Mensch, der immer das<br />
totale Extrem gegangen ist und auch den<br />
Mut hatte, das in aller Konsequenz zu tun.<br />
? in einem seiner letzten auftritte, in<br />
seinem Stück „remdoogo – via intolleranza<br />
ii“ in münchen, fand ich ihn eher schon<br />
till-eulenspiegel-mäßig unterwegs.<br />
! Ja klar, er war auch unglaublich witzig.<br />
? einer seiner vielen filme heißt<br />
„egomania – insel ohne hoffnung“. wie<br />
egoman war er?<br />
! Er war natürlich sehr auf sich bezogen.<br />
Aber er hatte auch genau das Gegenteilige<br />
in sich. Er ist fast zeitgleich genau so<br />
stark auf seine Mitmenschen eingegangen.<br />
Er hat immer das Innerste in ihnen<br />
angesprochen. Viele Menschen haben sich<br />
bei ihm stärker erkannt und wiedergefunden<br />
als bei irgendjemandem sonst. Es gab<br />
Theaterschauspieler, die nach der Arbeit mit<br />
ihm gesagt haben, sie spielen nicht mehr mit<br />
einem anderen Regisseur.<br />
? wie egoman muss ein künstler<br />
überhaupt sein, um in einer<br />
mediengesellschaft anzukommen?<br />
! Künstler waren immer auch egoman.<br />
Ich glaube eine Künstlerpersönlichkeit<br />
funktioniert nicht ohne diese Ichbezogenheit,<br />
also diese Selbstüberzeugung. Denn sie<br />
müssen ja davon überzeugt sein, dass das,<br />
was sie machen, wirklich wichtig ist. Sie<br />
müssen über Jahre hinweg ihre Arbeiten<br />
machen, ohne dass sie davon leben können<br />
und ohne dass sich da eine Eigendynamik<br />
entwickelt, die sie trägt. Gerade in den<br />
ersten Jahren ist es oft so hart, dass sie es<br />
nur mit einem starken und rückhaltlosen<br />
Ichgefühl schaffen können. Das hat nichts<br />
mit Egoismus zu tun – auch nichts mit<br />
Egozentrik.<br />
Gleichzeitig haben Künstler oft einen<br />
sehr starken Selbstzweifel. Es gibt natürlich<br />
schon irgendwann den Moment, in dem<br />
sie sagen: „Jetzt ist das Kunstwerk gut.“<br />
Aber es gibt auch einen langen Weg dahin.<br />
Es ist ein permanentes Hinterfragen, ob<br />
das Kunstwerk schon DAS Kunstwerk ist<br />
oder noch nicht. Viele Verwerfungen und<br />
Selbstzweifel treten da in Erscheinung.<br />
Das war auch bei Schlingensief so:<br />
permanente Selbsthinterfragung und<br />
Selbstwandlung. Diese Fähigkeit, sich selbst<br />
zu kritisieren und sich auch neu zu sehen<br />
und zu definieren, ist natürlich auch eine<br />
ungeheure Qualität, eine besondere Gabe,<br />
die nur bei wenigen Menschen ausgeprägt<br />
ist.<br />
? für mich ist eine zentrale frage, wann<br />
ein künstler weiß, dass das Bild fertig ist.<br />
! Das finde ich auch eine interessante<br />
Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir.<br />
Bühneninstallation des Fluxus-Oratoriums von Christoph<br />
Schlingensief im Deutschen Pavillon, 2011, Model ©<br />
Thomas Goerge, Christin Berg; Foto: © Roman Mensing,<br />
artdoc.de in Zusammenarbeit mit Thorsten Arendt
Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir. Bühneninstallation des Fluxus-Oratoriums von<br />
Christoph Schlingensief im Deutschen Pavillon. Lunge vertikal. Foto: © Roman Mensing, artdoc.de<br />
Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir.<br />
Bühneninstallation des Fluxus-Oratoriums von Christoph<br />
Schlingensief im Deutschen Pavillon. Altaransicht mit<br />
Filmprojektion. Foto: © Roman Mensing, artdoc.de
Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir. Aufführung<br />
Ruhrtriennale, September 2008 © David Baltzer - Bildbühne.de
Frage. Die Künstler sprechen selbst auch<br />
sehr oft darüber. Da gibt es keine Formel<br />
und kein Rezept. Aber in DEM Moment ist<br />
es dann einfach klar.<br />
? und diesem moment wohnt<br />
vermutlich ein großes Glücksgefühl inne.<br />
! Ja bestimmt. Vor allem, wenn das<br />
Werk dann auch noch wahrgenommen und<br />
rezipiert wird. Denn ein Kunstwerk existiert<br />
nur durch seine Rezeption. Wenn es keine<br />
Wahrnehmung durch ein Publikum gibt, gibt<br />
es auch kein Kunstwerk. Ein Kunstwerk ist<br />
ohne den Betrachter unvollständig. Wenn<br />
Sie ein Kunstwerk schaffen, dass Sie in<br />
Ihrem Atelier verborgen halten, dann ist das<br />
doch sehr unbefriedigend.<br />
Douglas Gordon, Play Dead; Real Time, 2003<br />
© MMK Museum für Moderne Kunst Frankfurt<br />
am Main, Foto: Axel Schneider<br />
? heißt das, dass der museumsdirektor,<br />
der Galerist, der kunstkritiker, der<br />
kunstjournalist teil des kunstwerks sind?<br />
! Jeder! Jeder Betrachter ist Teil des<br />
Kunstwerks. Die Betrachtung ist immer<br />
ein elementarer Teil des Kunstwerks. Viele<br />
Künstler haben ja genau damit gearbeitet.<br />
Die Konzeptkunst in den 60er Jahren hat<br />
sich stark mit der Rolle des Betrachters<br />
beschäftigt. Es gibt ganze Richtungen, wo es<br />
um Partizipation geht – übrigens auch etwas,<br />
womit sich christoph Schlingensief stark<br />
beschäftigt hat. Er hat den Betrachter immer<br />
eingebunden. Beim Theater können Sie es<br />
noch deutlicher sehen. Das Theaterstück<br />
existiert erst durch die emotionale Erregung<br />
des Betrachters. Schlingensief würde<br />
nicht auf der Bühne rumhopsen, wenn da<br />
niemand im Zuschauerraum säße. Und bei<br />
der Kunst ist es genauso.<br />
? war das schon immer so?<br />
! Auch früher war der Hauptzweck der<br />
Kunst die Kommunikation. Was nicht über<br />
Schrift vermittelt werden konnte, wurde<br />
über Bilder vermittelt. Daraus entstand<br />
die religiöse Kunst. Irgendwann kam die<br />
weltliche Kunst dazu und das war am<br />
Anfang immer Auftragskunst. Da wurden<br />
Botschaften über politische Verhältnisse<br />
oder über Mäzenatentum in den Bildern<br />
abgebildet und Machtpositionen aufgezeigt.<br />
Die Botschaft war schon immer der Zweck<br />
des Kunstwerks. Selbst eine Ikone dient der<br />
Kommunikation – der Anschauung. Ohne<br />
Kommunikation existiert die Kunst nicht.<br />
? wenn man die Betrachter zum Beispiel<br />
schon früh in der Schule lehrt, wie sie<br />
kunstwerke betrachten können, dann ist<br />
das eine sehr freiwillige und individuelle<br />
form der kommunikation mit und über<br />
kunstwerke. nun leben wir aber nicht<br />
nur in einer mediengesellschaft, sondern<br />
auch in einer wirtschaftswelt, in der das<br />
marketing eine wichtige rolle spielt. Bei<br />
der interpretation dessen, was man sieht,<br />
kommt also auch schnell der marketingaspekt<br />
fördernd oder ablenkend dazu<br />
und man fragt sich beim Betrachten der<br />
arbeiten des einen oder anderen künstlers,<br />
ob der nicht „gemacht“ sei.<br />
! Das halte ich für ein Klischee. Es gibt<br />
natürlich verschiedenste Kräfte, die darauf<br />
einwirken, dass ein Künstler eine bestimmte<br />
Position hat. Und die hat er auch nicht<br />
dauerhaft. Das ist oft eine Wellenbewegung.<br />
Manchmal ist es so, dass Künstler in einer<br />
bestimmten Zeit fast eine Art „Heldenstatus“<br />
oder „Starstatus“ haben und hundert Jahre<br />
später spricht keiner mehr von ihnen. Nein,<br />
man kann keinen Künstler „machen“, dessen<br />
Werk keine wirkliche Qualität hat. Das ist<br />
meine überzeugung.<br />
Natürlich spielt auch der persönliche<br />
Geschmack eine Rolle. Es gibt Künstler,<br />
die sehr erfolgreich sind und die man<br />
selber nicht gut findet – und umgekehrt.<br />
Es wird auch manchmal die Vorstellung<br />
geäußert, ein Künstler werde verkannt oder<br />
übersehen. Daran glaube ich auch nicht.<br />
Wenn ein Künstler wirklich etwas zu sagen<br />
hat, was auch von breiterem Interesse ist,<br />
setzt sich das durch. Es gibt aber natürlich<br />
immer auch Außenseiterpositionen. Das hat<br />
häufig etwas damit zu tun, dass sich solche<br />
Positionen nicht im aktuellen Diskurs oder<br />
Trend bewegen. Aus diesem Grund gibt es<br />
sicherlich sehr viele interessante Künstler,<br />
die nicht die Wahrnehmung haben, die<br />
ihnen gebührt. Hier muss man aber auch<br />
berücksichtigen, dass es heute für einen<br />
Künstler dazugehört, über sich selbst „zu<br />
kommunizieren“. Oft sind die Künstler<br />
gekränkt und sagen: „Die Leute kennen<br />
mich ja nicht!“ Aber wie soll man sie kennen,<br />
wenn nicht der Künstler selbst seine<br />
Arbeiten und Vorstellungen nach außen<br />
trägt? Es gibt bei jedem Künstler diese Zeit<br />
vor dem Erfolg. Die ist sicher oft sehr hart.<br />
? wie bedeutsam sind auktionshäuser<br />
für den ruf eines künstlers und<br />
Journalisten, die darüber berichten, dass<br />
dieser oder jener künstler für eine neue<br />
rekordsumme verkauft wurde?<br />
! Auktionshäuser sind ein besonderes<br />
Phänomen, weil die völlig unabhängig<br />
von dem Künstler ihr eigenes Geschäft<br />
mit der Kunst machen. Wenn jetzt ein<br />
Thomas Demand für 100 000 Euro oder<br />
ein Gursky oder Richter – wo es in die<br />
Millionen geht – versteigert wird, dann<br />
sieht der Künstler ja nichts davon. Anders<br />
ist es natürlich, wenn eine Galerie das<br />
Werk verkauft. Dann wird die Summe<br />
aufgeteilt. Da arbeiten beide zusammen.<br />
Ein weiteres Problem der Auktionshäuser<br />
ist, dass durch die Eigendynamik des
Katharina Frisch, Tischgesellschaft, 1988 Raumansicht MMK, 2011 Foto: Axel Schneider © VG Bild-Kunst, Bonn 2011
Marktes völlig absurde Preise entstehen,<br />
die dann wiederum das Gesamtgefüge<br />
durcheinanderbringen. Oft wollen die<br />
Künstler nämlich gar nicht so schnell in<br />
solche Kategorien hochkatapultiert werden,<br />
weil es auch sehr schwierig wird, ein solches<br />
Niveau dauerhaft zu halten – und zwar<br />
nicht nur für fünf Jahre, sondern für vierzig,<br />
fünfzig, sechzig Jahre. Das ist nicht leicht.<br />
? aber so ganz unangenehm ist es<br />
den künstlern dann auch nicht, wenn<br />
sie dadurch beim verkauf der nächsten<br />
arbeiten durch ihren Galeristen mehr Geld<br />
bekommen?<br />
! Manchen ist das extrem unangenehm.<br />
Die beschweren sich regelrecht. Die kaufen<br />
teilweise sogar ihre eigenen Bilder in<br />
den Auktionen zurück – auch weil ihnen<br />
bestimmte Arbeiten sehr wichtig sind<br />
und sie nicht wollen, dass sie bei einem<br />
Privatsammler im Depot liegen und nicht<br />
mehr in der Öffentlichkeit gezeigt werden.<br />
auSStellunGen machen<br />
? wenn Sie eine ausstellung kuratieren.<br />
wie gehen Sie da vor. nehmen Sie als erstes<br />
kontakt mit dem künstler auf?<br />
! Ja immer. Also eigentlich ist es so, dass<br />
sich Ausstellungsideen über viele Jahre hin<br />
entwickeln durch eine Beschäftigung und<br />
einen Austausch mit dem Künstler. Es ist<br />
nicht so oft der Fall, dass man erst die Idee<br />
hat und dann den Kontakt. Das gibt´s zwar<br />
auch, aber das ist eher die Ausnahme.<br />
Für ein Museum der Gegenwartskunst,<br />
wie das MMK, ist es völlig undenkbar,<br />
eine Ausstellung NIcHT gemeinsam<br />
mit dem Künstler zu machen. Die enge<br />
Zusammenarbeit mit dem Künstler ist<br />
wesentlich und dadurch sind in den<br />
Ausstellungen im MMK immer ganz<br />
besondere Werke entstanden, die zum<br />
Beispiel stark mit der Architektur dieses<br />
Hauses arbeiteten und dann in unsere<br />
Sammlung eingegangen sind. Deswegen<br />
gibt es bei uns auch eine starke Vernetzung<br />
zwischen Ausstellungsprogramm und<br />
Sammlung.<br />
? dann sind Sie als kunsthistorikerin<br />
nicht so sehr mit der historie von kunst<br />
beschäftigt, sondern eher mit dem<br />
Schaffensprozess?<br />
! Ja genau. Wir sind eigentlich ein<br />
Ort der Produktion. Dazu haben wir im<br />
letzten Jahr eine ganze Gesprächsreihe,<br />
die MMK-Talks, veranstaltet, bei der es um<br />
die Frage ging, inwiefern das Museum für<br />
Gegenwartskunst nicht nur ein Ort der<br />
Präsentation, sondern auch der Produktion<br />
ist – der Produktion von Kunstwerken, von<br />
Wissensinhalten usw.<br />
? wen haben Sie gerade in arbeit?<br />
! Im Moment arbeiten wir an einer<br />
Ausstellung mit Douglas Gordon, die Ende<br />
November eröffnet wird. Auch bei Douglas<br />
ist es so, dass wir uns schon sehr lange<br />
kennen und ich schon vorher mit ihm<br />
zusammengearbeitet habe. Und jetzt war<br />
einfach der richtige Zeitpunkt, zusammen<br />
eine größere Ausstellung zu machen.<br />
Für nächstes Jahr plane ich eine große<br />
Ausstellung mit Thomas Scheibitz, mit dem<br />
ich auch schon seit zwei Jahren darüber im<br />
Gespräch bin.<br />
? wie gehen Sie dabei vor?<br />
! Ich versuche vor allem die Rahmenbedingungen<br />
für den Künstler so zu schaffen,<br />
dass er seine Vorstellungen realisieren kann.<br />
Denn daraus entstehen meiner Erfahrung<br />
nach immer die stärksten Ausstellungen. In<br />
meiner Ausstellungsgeschichte waren das<br />
immer die besten Projekte mit den überzeugendsten,<br />
spannendsten und oft auch<br />
einschneidendsten Ergebnissen, wenn man<br />
die Künstler nur machen lässt. Da muss man<br />
zwar als Kurator wie ein Sparringspartner<br />
zur Seite stehen – bei Fragen muss man das<br />
Ganze vielleicht in die eine oder andere<br />
Richtung steuern. Aber ich versuche immer<br />
möglichst wenig Vorgaben zu machen.<br />
? wie war das bei Schlingensief?<br />
! Während der Vorbereitungen waren<br />
wir auch in einem solchen Gesprächsfluss,<br />
hatten uns regelmäßig getroffen und dabei<br />
waren auch schon einige Ideen entstanden,<br />
so wie ich es in dem Vorwort des Buches<br />
zum Deutschen Pavillon beschrieben<br />
habe (auf Deutsch erschienen im Verlag<br />
Kiepenheuer & Witsch und auf Englisch bei<br />
Sternberg Press). Nach Schlingensiefs Tod<br />
habe ich zusammen mit Aino Laberenz, der<br />
Frau des Künstlers, dann aber sehr schnell<br />
entschieden, diese Ideen nicht zu realisieren,<br />
weil sie in vielerlei Hinsicht noch offen<br />
waren. Ich habe dann ein Team aus engen<br />
Mitarbeitern von Schlingensief gebildet, die<br />
über Jahre hinweg mit ihm gearbeitet haben,<br />
und viele Gespräche mit Leuten geführt, die<br />
ihn und sein Werk sehr gut kannten, wie<br />
zum Beispiel Alexander Kluge und chris<br />
Dercon. So haben wir sehr lange versucht,<br />
einen offenen Prozess in Gang zu halten.<br />
Meine Rolle dabei war die einer Moderatorin,<br />
die an bestimmten Punkten, die mir richtig<br />
erschienen, Entscheidungen getroffen hat.<br />
Aber immer auf der Basis einer Diskussion<br />
mit dem gesamten Team. Ich hätte das<br />
niemals ganz allein machen können.<br />
? das kommt mir so vor wie die arbeit<br />
eines vorstandsvorsitzenden, der sich<br />
zuerst die argumente seiner vorstände<br />
anhört und dann entscheidet, was gemacht<br />
wird.<br />
Ai Weiwei Serge Spitzer, Ghost Gu Coming Down the Mountain, 200506 Raumansicht<br />
MMK, MainTor, 2011 Foto: Axel Schneider
Roy Lichtenstein, We Rose Up Slowly, 1964 © VG Bild-Kunst, Bonn 2011<br />
! So ungefähr (lacht).<br />
? was ist an der gezeigten arbeit „eine<br />
kirche der angst vor dem fremden in mir“<br />
im deutschen pavillon auf der Biennale di<br />
venezia deutsch und was universell?<br />
! Ich habe mich damals bewusst für<br />
einen Künstler entschieden, der sich in<br />
seinem Werk mit Fragen beschäftigt, die<br />
dieses Land betreffen: gesellschaftliche<br />
Fragen, politische Fragen, soziale Fragen,<br />
menschliche Fragen – und das über fast drei<br />
Jahrzehnte hinweg in aller Konsequenz und<br />
Radikalität und kritischer als jeder andere<br />
Künstler. Man könnte vielleicht sagen, dass<br />
christoph Schlingensief sich nicht nur<br />
inhaltlich mit Deutschland beschäftigt hat,<br />
sondern dass auch die Tiefgründigkeit und<br />
Existenzialität mit der er das gemacht hat,<br />
in einer bestimmten deutschen Tradition<br />
steht. Aber gleichzeitig stellt christoph<br />
Schlingensief alle diese Fragen durch<br />
sein Afrikaprojekt in einen globalen,<br />
transnationalen Kontext.<br />
? würden Sie christoph Schlingensief<br />
eher als bildenden künstler, als regisseur<br />
oder als...<br />
! ...Er war einfach Künstler. Und<br />
alle weiteren Bezeichnungen oder<br />
Kategorisierungen finde ich unergiebig.<br />
Er war nie nur Regisseur oder nur<br />
Theatermann. Er hat sich immer gegen<br />
den jeweiligen Betrieb aufgelehnt – auch<br />
gegen den Kunstbetrieb. Vielleicht ist er am<br />
ehesten Filmemacher. Er hat ja mit acht<br />
Jahren angefangen, Filme zu machen. Und<br />
das war er, glaub ich, mit Leib und Seele.<br />
? was meinen Sie, woher kommt bei<br />
ihm dieses alles-in-frage-stellen?<br />
! Das war einfach ein Wesenszug von<br />
ihm. christoph Schlingensief war ja ein<br />
sehr gläubiger Mensch. Er wurde katholisch<br />
erzogen und im Rahmen dessen natürlich<br />
auch zu Ehrlichkeit. Für ihn war es völlig<br />
unmöglich, zu lügen. Das ging so weit, dass<br />
wenn seine Mutter ihn fragte, ob ihm das<br />
Essen schmecke, er nicht die Unwahrheit<br />
sagen konnte. Er hat in jedem Kunstwerk,<br />
in jedem Interview, in jedem Theaterstück<br />
immer sehr ehrlich und sehr direkt seine<br />
Meinung gesagt. Das war natürlich schwierig<br />
für das Publikum und für die Leute, die mit<br />
ihm gearbeitet hatten. Und das wäre für<br />
mich sicherlich auch schwierig geworden.<br />
Ich will mich da gar nicht ausnehmen.<br />
Nein, christoph Schlingensief war von<br />
gnadenloser Ehrlichkeit und Direktheit und<br />
das merkt man seinen Arbeiten auch an.<br />
? wenn man die arbeiten nur<br />
oberflächlich betrachtet, hat man leicht<br />
den eindruck, er sei ein krawallmacher.<br />
! Nein. Das war er überhaupt nicht.<br />
Und auch das Thema der Provokation<br />
stand für ihn nie im Vordergrund. Es ging<br />
ihm wirklich darum, Dinge zu sagen, die<br />
ihn zutiefst beschäftigt haben. Und das<br />
waren eben oft politische, aber auch ganz<br />
persönliche Themen. Er hat sich auch<br />
immer wieder selbst und seine Arbeiten<br />
in Frage gestellt. Und dass das für einige<br />
Leute provokativ war, kann ich mir schon<br />
vorstellen, weil sie sich vielleicht selbst<br />
nicht hinterfragen wollten oder konnten.<br />
Jeder, der sich offen zum Beispiel auf sein<br />
letztes Theaterstück „Remdoogo – Via<br />
Intolleranza II“ eingelassen hat, kam da<br />
nicht ungeschoren heraus. Ich weiß nicht,<br />
wie es Ihnen dabei ging. Mich hat es auf<br />
jeden Fall unglaublich bewegt.<br />
? wenn man ihnen so zuhört, wird<br />
deutlich – und damit kommen wir wieder<br />
auf den anfang unseres Gesprächs<br />
zurück –, wie wichtig es ist, dass es<br />
menschen gibt, die einem die Sprache<br />
eines künstlers übersetzen. fühlt man<br />
sich in ihrer rolle manchmal wie ein
psychotherapeut, der – jetzt mal ganz<br />
hart und böse ausgedrückt – Botschaften<br />
von autisten für die normale welt<br />
übersetzt?<br />
! Ein bisschen ist es vielleicht so. Ja,<br />
das ist schon richtig. Man vermittelt eine<br />
Botschaft. Aber wie gesagt, Künstler sind<br />
alles andere als Autisten. Da gibt es einige<br />
die sind regelrechte Kommunikationsgenies.<br />
daS mmk<br />
? wenn Sie „nur“ kuratorin<br />
wären, würden Sie von museum<br />
zu museum eilen, ihre aufträge<br />
bekommen und wunderschöne und<br />
bewegende ausstellungen machen.<br />
aber als museumsdirektorin müssen<br />
Sie dafür sorgen, dass die menschen<br />
ins museum kommen und all das auch<br />
noch finanziert ist. wie bekommt<br />
man die Spannung zustande, dass<br />
im museum ausstellungen zu sehen<br />
sind, die den kunsthistoriker und<br />
fachmann reizen aber eben auch den<br />
mainstream ansprechen – und ihn<br />
auch ansprechen Sollen –, was ja ein<br />
großer unterschied ist? nur einfach<br />
mit der wurst nach der Speckseite<br />
zu werfen, das haben sich die meisten<br />
fernsehanstalten auf die fahne<br />
geschrieben. für ein museum existiert<br />
da ja noch ein ganz anderer anspruch.<br />
! Ich fand es hier in Frankfurt vom<br />
ersten Tag an wichtig, das Museum stärker<br />
zu öffnen. Das MMK hatte einen elitären<br />
Status. Aber ich sehe ein Museum nicht<br />
als elitären Ort, der sich nur an eine<br />
Bildungselite richtet. Also war es mein Ziel,<br />
die Türen demonstrativ allen möglichen<br />
gesellschaftlichen Gruppen gegenüber zu<br />
öffnen. Das haben wir durch verschiedene<br />
Programme gezielt getan: Programme<br />
für Kinder, Programme für Jugendliche.<br />
Wir haben intellektuell anspruchsvolle<br />
Veranstaltungen geplant ebenso wie solche,<br />
die einfach nur Spaß machen sollten, wie<br />
die MMK-After-Work.<br />
Dabei bin ich allerdings nicht bereit,<br />
die Inhalte zu kompromittieren. Man muss<br />
das Profil eines Hauses sehr stark, klar<br />
und konsequent herausarbeiten. Und im<br />
nächsten Schritt muss man dieses Profil<br />
vermitteln. Das schließt sich nicht aus.<br />
Selbst die kompliziertesten Inhalte lassen<br />
sich vermitteln. Deshalb spielt Vermittlung<br />
bei uns eine zentrale Rolle und dadurch<br />
haben wir das Publikum unseres Hauses<br />
in den letzten zweieinhalb Jahren stark<br />
verändert. Es kommen jetzt viel mehr<br />
jüngere Leute ins Haus. Es kommen<br />
Familien, es kommen Businessleute,<br />
Studenten und endlich auch wieder die<br />
Städelschüler, also die jungen Künstler, was<br />
lange nicht mehr der Fall war. Und es macht<br />
großen Spaß hier in Frankfurt zu arbeiten,<br />
weil die Leute auch schwierige Dinge<br />
annehmen. Das ist einfach toll.<br />
? muss diese vermittlung<br />
„unterhaltsam“ sein?<br />
! „Unterhaltsam“ würde ich nicht sagen,<br />
aber man muss sich schon etwas einfallen<br />
lassen. Wir machen viel partizipatorische<br />
Projekte, gerade mit Kindern. Da haben<br />
wir tolle Workshops, bei denen die Kinder<br />
zum Beispiel eine eigene Museumszeitung<br />
machen, mit Künstlern zusammen etwas<br />
bauen, eigene Ausstellungen kuratieren.<br />
Dabei lernen und begreifen sie wahnsinnig<br />
viel. Auf diese Weise können wir auch ein<br />
bisschen davon kompensieren, was in den<br />
öffentlichen Schulen im inzwischen stark<br />
eingeschränkten Kunstunterricht nicht mehr<br />
möglich ist.<br />
Dann gibt es Workshops für Erwachsene,<br />
die oft in Gesprächsform stattfinden. Das ist<br />
umso wichtiger, weil die Gegenwartskunst<br />
ja keine Kunst ist, die der reinen Erbauung<br />
dient, sondern der Fragestellung und des<br />
Diskurses. Wir verstehen deshalb unser<br />
Haus als einen Ort, in dem Gespräche<br />
geführt werden sollen und diskutiert werden<br />
soll. Es geht nicht darum, dass man am<br />
Mario Merz, At still point of the walking world, 1991 Installationsansicht MMK, 2011 © VG Bild-Kunst, Bonn 2011
Ende alles verstanden hat. Es geht vielmehr<br />
darum, dass man sich durch die Kunstwerke<br />
inspirieren lässt, bestimmte Fragen zu<br />
stellen. Und deshalb ist für mich eine gute<br />
Ausstellung eine, die im Betrachter Fragen<br />
auslöst und Dinge anspricht, die ihm so<br />
noch nicht bekannt waren.<br />
? wie ändert sich unsere fähigkeit,<br />
zu sehen, in einer zeit, in der wir immer<br />
mehr in unseren eigenen vier wänden<br />
mit den unglaublichsten Bildern aus aller<br />
welt zugemüllt werden?<br />
! Die Wahrnehmung, das Sehen der<br />
Menschen hat sich insbesondere durch<br />
die digitalen Medien verändert. Der<br />
Wahrnehmungsmodus ist heute auf die<br />
Oberfläche ausgerichtet, auf Schnelligkeit<br />
und Produktivität – also auf Sehen<br />
und Konsumieren. Das ist EINE Form der<br />
Wahrnehmung. Deshalb ist es wichtig,<br />
eine andere Form dagegen zu setzen.<br />
? was setzen Sie dagegen?<br />
! Das kann alles Mögliche sein.<br />
Wenn Sie eine Ausstellung von Olafur<br />
Eliasson sehen, setzen Sie die sinnliche<br />
Wahrnehmung und deren Komplexität<br />
dagegen. Dann gibt es die Reflexion und<br />
das Hinterfragen, wie zum Beispiel die<br />
Medienreflexion bei Thomas Demand.<br />
Bei christoph Schlingensief ist es der<br />
Stephan Balkenhol, 57 Pinguine, 1991<br />
Installationsansicht MMK, MainTor, 2011, © VG Bild-<br />
Kunst, Bonn, 2011, Foto: Axel Schneider.<br />
direkte Angriff auf die Emotionen. Da<br />
geht es immer um die totale Involvierung<br />
des Betrachters. Oder die Konzeptkunst:<br />
Wenn Sie Hanne Darbovens so genannte<br />
„Schreibzeit“ nehmen, dann sprengt das<br />
alles, was man bisher im herkömmlichen<br />
Umgang mit Zeit gelernt hat.<br />
? in der deutschen Sprache gibt es<br />
den wunderbaren Begriff einfall, was<br />
ja wörtlich aussagt, dass etwas von<br />
oben, der Schwerkraft folgend, in einen<br />
hineinfällt. damit der einfall auch einen<br />
trifft, muss der kopf offen sein, sagen<br />
die einen. andere meinen, er müsse dazu<br />
leer sein. an solche Überlegungen kann<br />
man metaphysische oder meditative<br />
ost-west-Überlegungen anschließen –<br />
oder wie auch immer. in jedem fall ist<br />
ein einfall ein magic moment, weil man<br />
zum ersten mal etwas versteht oder<br />
neu sieht – oder einen zusammenhang<br />
erkennt. kennen Sie solche magic<br />
moments, wenn Sie sich mit einem<br />
künstler beschäftigen? und wenn ja,<br />
wie erleben Sie sie?<br />
! Die gibt´s schon. Zum Beispiel<br />
bei Schlingensiefs „Remdoogo – Via<br />
Intolleranza II“. Da kam ich verändert<br />
wieder heraus... Ein Film, in dem ich<br />
fassungslos drei Stunden lang gesessen<br />
bin, war Lars von Triers „Dogville“. Aber es<br />
gibt auch Kunstwerke, vor denen Sie stehen<br />
und gar nicht in Worte fassen können,<br />
WAS Sie da sehen. Ich finde Kunstwerke<br />
dann am besten, wenn sie erst einmal eine<br />
überraschung in mir auslösen. Und etwas,<br />
was ich noch gar nicht formulieren kann.<br />
? es muss also etwas Überraschendes<br />
haben?<br />
! Ich finde überraschungen etwas<br />
Wunderbares.<br />
? darf ich das als Überschrift<br />
verwenden?<br />
! Gerne.<br />
N7 Nachmann Rechtsanwälte gratulieren<br />
Frau Dr. Gaensheimer zur höchsten Auszeichnung<br />
der „Biennale di Venezia 2011“ – dem<br />
„Goldenen Löwen“ für den von ihr kuratierten<br />
deutschen Pavillon.
my bavaria<br />
Seite 70<br />
„Unser Wohlstand<br />
basiert auf Wissens-,<br />
Innovations- und<br />
Industriekompetenz“<br />
ein Gespräch mit dr. Günter von<br />
au, dem ceo der Süd-chemie, der sein<br />
unternehmen so zukunftsfit aufgestellt<br />
hat, dass er nicht nur Begehrlichkeiten<br />
bei der konkurrenz für eine Übernahme<br />
geweckt hat, sondern mit der clariant<br />
aG einen partner fand, mit dem alle<br />
interessen optimal vereint wurden.<br />
die Süd-chemie stellt mit rund 6500<br />
mitarbeitern an weltweit etwa 120<br />
Standorten innovative katalysatoren<br />
und so genannte adsorbentien her.<br />
diese technologien erhöhen die<br />
effizienz zahlreicher industrieprozesse<br />
und sorgen für einen schonenden<br />
umgang mit natürlichen ressourcen.<br />
wir sprachen mit dr. Günter<br />
von au über zukunftstechnologien,<br />
Biokraftstoffe, china und den<br />
atomausstieg.<br />
? herr dr. von au, ihr unternehmen<br />
ist bemerkenswert gut aufgestellt.<br />
wie finden Sie und ihre forscher die<br />
innovationsfelder, in die Sie investieren?<br />
! Wir stellen uns immer wieder zwei<br />
Fragen. Erstens: Was sind die großen<br />
Herausforderungen für die Menschheit? Und<br />
zweitens: Was können wir zu ihrer Lösung<br />
beitragen? So erkennen wir Megatrends<br />
frühzeitig und finden Bereiche, in denen wir<br />
mit unseren Technologien für Fortschritt<br />
sorgen können. Beispiele dafür sind etwa<br />
die Energiefrage, Maßnahmen gegen den<br />
Klimawandel oder die bessere Versorgung<br />
der wachsenden Weltbevölkerung mit<br />
Nahrungsmitteln.<br />
Nehmen wir einmal die Energiefrage:<br />
Bis heute ist der fossile Rohstoff Erdöl der<br />
zentrale Energieträger der Weltwirtschaft.<br />
Wenn wir so wie bisher weiter produzieren,<br />
wird es Erdöl jedoch schon in wenigen<br />
Jahrzehnten nicht mehr oder nur noch zu<br />
einem unangemessen hohen Preis geben.<br />
Der Rohstoff ist genau wie Gas und Kohle<br />
endlich, deshalb müssen Alternativen her!<br />
Wir haben uns also gefragt, wie und in<br />
Lidaka<br />
welchen Bereichen wir Erdöl als Rohstoff<br />
ersetzen können. Besonders aussichtsreich<br />
Peteris<br />
erschien die Substitution von Erdöl durch<br />
Biomasse in der Kraftstoffherstellung.<br />
Stichwort: Biosprit. Illustration:<br />
Illustration: Liga Kitchen
tank oder teller?<br />
BeideS!<br />
? aber Biotreibstoffe haben ja auch<br />
schon negativschlagzeilen geschrieben.<br />
Stichwort: tank oder teller.<br />
! Da haben Sie völlig Recht. Die bereits<br />
existierenden, so genannten Biokraftstoffe<br />
der ersten Generation werden aus<br />
Pflanzenteilen gewonnen, die eine wichtige<br />
Rolle in der Nahrungsmittelversorgung<br />
spielen. Bei Biokraftstoffen aus Zuckerrohr,<br />
Mais oder Raps kommt es daher<br />
unweigerlich zu einer Konkurrenzsituation<br />
zwischen Tank oder Teller. Das ist<br />
gesellschaftlich nicht akzeptabel. Wir gehen<br />
deshalb einen anderen Weg und haben ein<br />
Verfahren entwickelt, das nicht essbare<br />
Pflanzenteile, beispielsweise Agrarreststoffe<br />
wie Stroh, mit Hilfe spezieller Enzyme in<br />
Kraftstoffe wie Bioethanol umwandelt.<br />
Um das zu erreichen, haben wir vor<br />
fünf Jahren eine zentrale Forschungseinheit<br />
aufgebaut und viele hervorragende<br />
Wissenschaftler akquiriert. Heute stehen<br />
wir kurz vor der Kommerzialisierung des<br />
neuen Verfahrens und haben im Juli den<br />
Grundstein für eine Demonstrationsanlage<br />
gelegt. Sie wird in Straubing, im Herzen<br />
der Kornkammer Niederbayerns, errichtet<br />
und soll schon ab Ende 2011 Biokraftstoff<br />
aus Weizenstroh herstellen. Wir lösen<br />
den Konflikt „Tank oder Teller“, indem wir<br />
ausschließlich Pflanzenreste verwerten<br />
– und den Menschen und Tieren die<br />
Feldfrüchte zur Ernährung lassen.<br />
? der weizen kann weiterhin zu Brot<br />
verarbeitet werden, während das Stroh,<br />
das sowieso untergepflügt würde, in die<br />
herstellung von Biosprit geht?<br />
! Exakt. Ein Teil des Strohs muss<br />
aus düngetechnischen Gründen zwar<br />
weiterhin untergepflügt werden – aber<br />
das haben wir bei der Kalkulation des<br />
Biosprits schon mit eingerechnet.<br />
? und wie sieht es mit der co 2 -<br />
Bilanz aus?<br />
! Auch bei der Verbrennung von<br />
Biosprit entsteht natürlich cO 2 . Aber<br />
diesen Anteil hat sich die Pflanze zuvor<br />
durch Photosynthese aus der Luft geholt.<br />
Das ist ein Kreislauf. Allerdings hat auch<br />
unser neues Verfahren einen gewissen<br />
Energiebedarf, so dass die Bilanz nicht zu<br />
100 Prozent aufgeht – aber immerhin doch<br />
zu 80 bis 90 Prozent, in Zukunft vielleicht<br />
sogar noch besser.<br />
? Sie stellen sich also gesamtwirtschaftliche<br />
fragen und<br />
versuchen herauszufinden, wie man<br />
sie wirtschaftlich attraktiv und in<br />
ökologisch verträglicher form lösen<br />
kann. Stehen Sie damit allein auf weiter<br />
flur?<br />
! Nein. Man sieht ja an vielen Stellen, dass<br />
Innovation gerade bei deutschen Firmen einen<br />
sehr hohen Stellenwert genießt. Die chemische<br />
Industrie hierzulande investiert 3 bis 3,5<br />
Prozent ihres Umsatzes in die Forschung.<br />
Bei der Süd-chemie sind es durchschnittlich<br />
sogar mehr als 5 Prozent. Das mindert zwar<br />
kurzfristig unser Geschäftsergebnis, ist<br />
aber notwendig, um langfristig eine hohe<br />
Innovationskraft zu erhalten. Und die ist für<br />
ein Technologieunternehmen wie die Südchemie<br />
essentiell. Damit sichern wir auch<br />
zukünftig die Gewinne und den Fortbestand<br />
des Unternehmens.<br />
nicht nur SauBer,<br />
Sondern rein<br />
? deutschland lebt nun mal vom<br />
rohstoff „Gehirn“ seiner menschen.<br />
Gab es dieses innovationsdenken schon<br />
immer bei der Süd-chemie?
! Ich denke schon. Innovation und<br />
Wissensvorsprung haben bei uns eine lange<br />
Tradition und waren gewissermaßen der<br />
Ursprung des Unternehmens. Gegründet<br />
wurde die Süd-chemie 1857, um künstliche<br />
Düngemittel zu produzieren – nach<br />
einem neuen Verfahren, das einer unserer<br />
Gründungsväter, der berühmte chemiker<br />
Justus von Liebig, entwickelt hatte. Später<br />
kamen dann die heute unverzichtbaren<br />
Adsorbentien – auf gut Deutsch<br />
„Bindemittel“ – hinzu.<br />
Wir stellen sie vor allem aus dem<br />
natürlichen Tonmineral Bentonit her –<br />
ein Rohstoff, den wir in der Hallertau<br />
nordöstlich von Freising vor über 100<br />
Jahren entdeckt hatten und heute auf der<br />
ganzen Welt abbauen. Dank seiner Struktur<br />
verfügt der Bentonit über eine extrem große<br />
innere Oberfläche und damit über die<br />
Fähigkeit, unerwünschte Stoffe zu binden –<br />
beispielsweise aus Speiseölen.<br />
Nahezu jedes zweite, heute im Handel<br />
erhältliche Speiseöl wird in der Herstellung<br />
mit einem unserer Produkte behandelt. Es<br />
wäre sonst trüb und nicht so lange haltbar.<br />
? das gute olivenöl, das wir so gerne<br />
verwenden, auch?<br />
! Das Olivenöl der ersten Pressung nicht.<br />
Wenn es in spätere Verarbeitungsstufen<br />
kommt, dann schon.<br />
Wir reinigen mit unseren Adsorbentien<br />
aber nicht nur Lebensmittel, sondern auch<br />
Wasser. Angesichts des weltweit steigenden<br />
Wasserbedarfs ist das eine der größten<br />
Zukunftsherausforderungen. Bereits heute<br />
haben zwei Milliarden Menschen keinen<br />
Zugang zu sauberem Trinkwasser. Wir sind<br />
mit unseren Produkten und Technologien<br />
in ausgewählten Nischenmärkten für<br />
die Wasserreinigung deshalb nicht nur<br />
hierzulande, sondern gerade in den Ländern<br />
Afrikas sowie in den Emerging countries<br />
Südamerikas und Asiens gut vertreten.<br />
? was reinigen Sie sonst noch?<br />
! Luft. Wir sind einer der führenden<br />
Anbieter von Katalysatoren für die<br />
industrielle Luftreinigung. Zudem<br />
entwickeln wir neue Technologien für<br />
die Dieselabgasreinigung bei schwerem<br />
Gerät – also bei Baggern, Trucks und<br />
Omnibussen. Hier gibt es durch immer<br />
strengere Abgasnormen eine weltweit große<br />
Nachfrage.<br />
? Sie stellen also produkte und<br />
technologien her, deren leistungen für<br />
den endverbraucher unsichtbar bleiben?<br />
! Ja. Als Spezialchemieunternehmen<br />
bewegen wir uns in hoch entwickelten<br />
Nischenmärkten, die kaum einer<br />
wahrnimmt. Beispielsweise wenn es um<br />
Lösungen zum Schutz von Medikamenten<br />
oder Elektronikgütern vor Feuchtigkeit geht.<br />
? Sie meinen diese kleinen Beutelchen<br />
in der verpackung, wenn man etwa eine<br />
kamera kauft?<br />
! Im Prinzip ja. Allerdings haben<br />
wir uns auf Hochleistungslösungen<br />
spezialisiert. Unsere Trockenmittel stecken<br />
beispielsweise in den Stopfen vieler<br />
Arzneimittelverpackungen oder sie werden<br />
direkt in die Kunststoffverpackung integriert.<br />
? dementsprechend ist der name Südchemie<br />
auch nur wenigen bekannt.<br />
! Unsere Kunden sind andere<br />
Industriepartner und die kennen uns.<br />
? ist das für die einführung neuer<br />
produkte nicht sehr mühsam? denn<br />
wenn Sie ein neues produkt entwickelt<br />
haben, müssen Sie davon ja erst einmal<br />
ihre kunden überzeugen, damit diese<br />
es im zweiten Schritt in ihre produkte<br />
integrieren.<br />
! Nein. Denn zum einen entwickeln<br />
wir ja die allermeisten unserer Produkte<br />
in enger Anlehnung an unsere Kunden.<br />
Wenn wir aber mit Innovationen ganz<br />
neue Wege beschreiten, dann liegt<br />
darin für ein forschungsgetriebenes<br />
Unternehmen wie die Süd-chemie<br />
unsere besondere Stärke. Denn so<br />
können wir uns auf die Entwicklung<br />
innovativer Verfahren konzentrieren.<br />
Beispiel „Batterietechnik”: Wir haben vor<br />
acht Jahren, anfangs durch reinen Zufall,<br />
eine Möglichkeit zur Herstellung von<br />
Lithium-Eisen-Phosphat entwickelt. Als<br />
so genanntes Kathodenmaterial eignet<br />
es sich hervorragend als Energiespeicher<br />
für Lithium-Ionen-Batterien. Diese<br />
arbeiten bisher mit Batteriematerialien,<br />
die zum überladen neigen, dabei große<br />
Hitze freisetzen und explodieren können.<br />
Bei kleinen Batterien für Laptops oder<br />
Mobiltelefone ist das Risiko relativ gering.<br />
Aber zum Betrieb von Autos oder als<br />
Speichermedium für Solaranlagen in<br />
privaten Haushalten sind weitaus größere<br />
Einheiten erforderlich. Um die Gefahren zu<br />
mindern, werden herkömmliche Lithium-<br />
Ionen-Akkus mit einem Stahlmantel<br />
umgeben. Das macht sie schwer, teuer und<br />
ungeeignet für die Anforderungen der<br />
Elektromobilität.<br />
Elektromobilität ist aber eines der<br />
wichtigsten Zukunftsthemen. Deshalb<br />
haben wir Lithium-Eisen-Phosphat<br />
als Batteriematerial konsequent<br />
weiterentwickelt und verfügen heute
über ein marktreifes Produkt. In Kanada<br />
bauen wir gerade für 60 Millionen Euro die<br />
weltweit größte Anlage für dieses zugleich<br />
leistungsfähige und sichere Batteriematerial.<br />
Sie wird ab Ende 2011 die Produktion<br />
starten. Zudem streben wir direkte<br />
Partnerschaften mit unseren Kunden<br />
– große Batteriehersteller in aller Welt –<br />
an, um die stark wachsende Nachfrage,<br />
insbesondere in china, noch schneller<br />
bedienen zu können. Dies ist der für uns<br />
typische Weg, einen Markt aufzurollen – als<br />
Technologiepartner großer Industrieplayer.<br />
? welche rolle spielt beim thema<br />
„elektromobilität“ das autoland<br />
deutschland?<br />
! Ich bin Mitglied der „Nationalen<br />
Plattform Elektromobilität“. Dieses<br />
Gremium berät die Bundesregierung in<br />
Fragen der Elektromobilität. Erklärtes Ziel<br />
der Regierung ist es, dass auf Deutschlands<br />
Straßen im Jahr 2020 mindestens eine<br />
Million Elektroautos fahren. Das sind zwei<br />
Prozent der bis dahin wohl 50 Millionen<br />
Fahrzeuge. Zwei Prozent klingt nicht<br />
viel. Aber daraus abzuleiten, dass keine<br />
besonderen Anstrengungen nötig sind,<br />
wäre fatal. Denn damit würden wir eine<br />
ganz wichtige Entwicklung verschlafen.<br />
Hier sollte die Automobilindustrie sehr<br />
aufpassen...<br />
? ...weil sie ja schon einige<br />
entwicklungen verschlafen hat?<br />
! Das finde ich zwar nicht. Aber sie muss<br />
jetzt die Entwicklung der notwendigen<br />
Technologien anschieben. Denn die<br />
Elektromobilität wird kommen. Ein Problem<br />
für die deutsche Automobilindustrie ist:<br />
Heute muss sie sich auf Komponenten aus<br />
Asien verlassen, weil es in Deutschland<br />
keine Batteriehersteller mehr gibt. Die<br />
Batterie ist aber die Kernkomponente des<br />
Elektroautos. Deshalb sollte Deutschland<br />
eine solche Industrie wieder aufbauen, erste<br />
Ansätze dazu gibt es bereits.<br />
? wann wurde in deutschland die<br />
wichtige Batterieproduktion aufgegeben?<br />
! Das war in den siebziger Jahren.<br />
Elektrochemie schien damals nicht<br />
besonders attraktiv, weshalb die Forschung<br />
an den Unis erlahmte. Die Produkte aus<br />
Asien waren außerdem deutlich günstiger.<br />
Und so schlief diese Technologie bei uns ein<br />
– und erblühte in Asien. Dadurch haben wir<br />
den Anschluss verpasst.<br />
Das Beispiel zeigt, wie wichtig<br />
Forschung und Innovation für Deutschland<br />
sind! Ohne Innovationen verlieren wir<br />
die Produktion und unsere Bedeutung als<br />
Industriestandort. Wissens-, Innovations-<br />
und Industriekompetenz sind aber die Basis<br />
unseres Wohlstands. Diese Ressourcen sind<br />
unser Kapital im globalen Wettbewerb.<br />
Man sieht übrigens an England, wohin<br />
das führen kann: Die haben sich auf<br />
Dienstleitungen und den Finanzsektor<br />
ausgerichtet und haben den Ausbau ihrer<br />
Industrien deutlich zurückgeschraubt.<br />
Damit verlieren sie aber eine wichtige Basis<br />
für ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit<br />
und die Möglichkeit, dringend benötigte<br />
Arbeitsplätze auch für geringer qualifizierte<br />
junge Menschen nachhaltig anbieten zu<br />
können.<br />
? man kann eben nicht nur das Geld<br />
anderer verwalten?<br />
! So ist es. Man muss „Wert schöpfen“!<br />
Und ich bezweifle, ob Wertschöpfung heißt,<br />
eine Aktie von A nach B zu verkaufen. Was<br />
ist da der Wert?<br />
? und damit sind wir bei den originär<br />
deutschen tugenden.<br />
! Absolut. Das zeigt sich auch im<br />
Geschäftsalltag: Gerade wegen dieser<br />
Kompetenzen sind wir anerkannte und<br />
im Ausland auf allen Industrieebenen<br />
geschätzte Partner, besonders in Asien.<br />
Daraus entstehen unsere Geschäfte.<br />
chineSiSche<br />
ehrerweiSunGen<br />
? nun hat man ja den verdacht, wenn<br />
ich das mal holzschnittartig formulieren<br />
darf, dass sich der chinese alles genau<br />
anschaut, was der deutsche erfindet,<br />
um es danach zu kopieren. ist das eine<br />
ernsthafte Gefahr oder tut sich in<br />
diesem punkt etwas im reich der mitte?<br />
! Beides trifft zu. Dennoch sollten wir<br />
uns vor bequemen Vorverurteilungen<br />
hüten. So hat die gefürchtete Kopierfreude<br />
asiatischer Unternehmen durchaus<br />
kulturelle Wurzeln, und zwar im<br />
konfuzianischen Weltbild. Es besagt, dass<br />
der Unerfahrene dem Weisen nacheifern<br />
und ihn gewissermaßen kopieren solle.<br />
Im Denken der Menschen ist das vielfach<br />
noch tief verankert und wird keineswegs<br />
als verwerflich betrachtet. Im Gegenteil:<br />
Dieses Nacheifern gilt sogar als eine Form<br />
der Ehrerweisung. Zeigt es doch, dass<br />
man den Erfahrenen schätzt und seinem<br />
Vorbild folgt. Das ändert natürlich nichts an<br />
der Tatsache, dass man als Unternehmen<br />
aufpassen muss, am Ende nicht das<br />
Nachsehen zu haben.<br />
Diese Erkenntnis setzt sich auch<br />
in china immer stärker durch. Denn<br />
china ist inzwischen ein Land mit<br />
vielen, sehr innovativen Unternehmen.<br />
Während es bei uns immer schwieriger<br />
wird, hochqualifizierte Arbeitskräfte zu<br />
finden, drängen dort Millionen junge<br />
Wissenschaftler auf den Markt, die an<br />
neuen Technologien forschen wollen – und<br />
es auch können. chinesische Unternehmen<br />
müssen ihr Know-how deshalb inzwischen<br />
selbst vor unberechtigten Zugriffen<br />
schützen. Daher zeichnet sich der klare<br />
Trend ab, das Patentrecht in china zu<br />
stärken und legale Möglichkeiten zu<br />
schaffen, um Patente und Lizenzen<br />
wirksam durchzusetzen.<br />
? Sind Sie oft im reich der mitte?<br />
! Die Süd-chemie betreibt in china<br />
acht eigene Standorte mit fast 1000<br />
Beschäftigten. Unter dem Dach des<br />
clariant-Konzerns sind es nun noch<br />
deutlich mehr geworden. Als Südchemie-Vorstandsvorsitzender<br />
und<br />
sicher auch künftig als Mitglied im<br />
clariant-Verwaltungsrat gehört es zu<br />
meinen Aufgaben, Präsenz zu zeigen und<br />
den regelmäßigen Dialog mit unseren<br />
chinesischen Partnern zu führen.<br />
wie kommt daS neue<br />
in die welt?<br />
? ich möchte noch einmal auf<br />
den anfang unseres Gesprächs<br />
zurückkommen. Sie haben gesagt, dass<br />
ihr unternehmen systematisch nach<br />
neuen Geschäftsmöglichkeiten sucht,<br />
indem es Bedarfssituationen analysiert.<br />
aber wie finden Sie dann die lösungen<br />
für einen erkannten Bedarf?<br />
! Sie müssen die Kreativität ihrer<br />
Mitarbeiter zulassen und fördern. Beides<br />
hört sich simpel an, ist aber nicht einfach<br />
zu realisieren. Kreativität lässt sich nicht<br />
verordnen. Aber wir haben einen Prozess<br />
etabliert, mit dem wir Innovation steuern.<br />
In diesem so genannten „Gate-Review-<br />
Prozess” befinden sich bei uns derzeit<br />
rund 300 Projekte in unterschiedlichen<br />
Entwicklungsphasen. Mit Hilfe eines<br />
speziellen IT-Systems analysieren wir die<br />
jeweiligen Fortschritte und entscheiden,<br />
welches Projekt mit welchem Aufwand<br />
vorangetrieben oder eingestellt wird.
? Geht das bis in den vorstand<br />
hinauf?<br />
! Ja natürlich. Ich bin dabei, wenn die<br />
Entwicklungsteams in letzter Instanz<br />
ihre Projekte vorstellen und diskutieren.<br />
Das gehört zu meinen Aufgaben in der<br />
Süd-chemie und sicher künftig auch bei<br />
clariant.<br />
? man spürt, dass Sie als chemiker<br />
an neuen ideen sehr interessiert sind<br />
und nicht nur die zahlen im kopf<br />
haben.<br />
! Das ist richtig. Denn ich bin davon<br />
überzeugt, dass man technologische<br />
Neuerungen zunächst mal verstehen muss,<br />
um ihre Entwicklung managen zu können.<br />
Zahlen und Marktanalysen allein reichen<br />
nicht aus.<br />
? die erfolge der Süd-chemie<br />
geben ihnen recht. wie man der<br />
fachpresse entnehmen konnte, ist das<br />
unternehmen hervorragend aufgestellt,<br />
weshalb es ja erst die Begehrlichkeiten<br />
aus dem neutralen ausland gab. oder?<br />
! Im Grunde wurde die Süd-chemie<br />
nicht jetzt, sondern bereits vor fünf<br />
Jahren verkauft. Damals sind die<br />
Großaktionäre Allianz, Bayerische<br />
Landesbank, Possehl- und später<br />
auch noch die Messerschmitt-Stiftung<br />
ausgestiegen. Mit One Equity Partners<br />
(OEP) übernahm ein Private-Equity-<br />
Unternehmen ihre Anteile und hielt<br />
schließlich 50,4 Prozent der Aktien. Dass<br />
die OEP als Private-Equity-Gesellschaft<br />
ein Exit-orientiertes Geschäftsmodell<br />
verfolgt hat und sich nach einigen Jahren<br />
mit Gewinn von ihrem Investment Südchemie<br />
getrennt hat, ist ihr gutes Recht<br />
und keine überraschung. Ich bin jedoch<br />
überzeugt, dass eine Lösung gefunden<br />
wurde, die allen Stakeholdern gerecht<br />
wird. Die übernahme durch clariant<br />
ist aus unserer Sicht wirtschaftlich<br />
sinnvoll und bestätigt die hohe<br />
Wertschätzung für die Süd-chemie<br />
aufgrund ihrer guten Marktstellung<br />
und Wachstumsperspektiven. Neben<br />
dem erfolgten Ausstieg von OEP bleiben<br />
dank des Aktientauschs zudem die<br />
Traditionsaktionäre der Süd-chemie<br />
– mit einem nicht unerheblichen<br />
Anteil an clariant und Sitzen im<br />
clariant-Verwaltungsrat – weiterhin<br />
unternehmerisch tätig. Und das operative<br />
Geschäft der Süd-chemie wurde nicht<br />
zerschlagen. Im Gegenteil: Als weitgehend<br />
eigenständige Business-Units „Functional<br />
Materials” und „catalysis & Energy”<br />
unter dem Dach des clariant-Konzerns<br />
profitieren unsere Geschäftsaktivitäten<br />
von den nun noch globaleren Strukturen,<br />
was sowohl im Sinne unserer Kunden<br />
als auch der Mitarbeiter in den<br />
Geschäftsbereichen ist. Süd-chemie<br />
und clariant ergänzen sich und werden<br />
gemeinsam weiter wachsen. Und auch ich<br />
werde nach Aufgabe meines Postens als<br />
Vorstandsvorsitzender bei der Süd-chemie<br />
in den clariant-Verwaltungsrat eintreten.<br />
Momentan als Vorstandschef der Südchemie<br />
gilt mein Hauptaugenmerk jedoch<br />
der Integration der Süd-chemie in die<br />
clariant und der Wahrung der Interessen<br />
unserer Mitarbeiter und Aktionäre.<br />
? eine letzte frage: in dieser<br />
ausgabe sagt der deutschland-chef<br />
von intel, dass der atomausstieg<br />
eine riesenchance für den<br />
technologiestandort deutschland sei.<br />
wie bewerten Sie den atomausstieg?<br />
! Aus Sicht der Süd-chemie müsste ich<br />
sagen: Das kommt uns gerade recht. Wir<br />
bieten ja mit der Treibstoffherstellung<br />
aus nachwachsenden Rohstoffen und<br />
den Materialien zur Energiespeicherung<br />
zwei entscheidende Technologien an,<br />
die jetzt verstärkt gebraucht werden.<br />
Aus volkswirtschaftlicher Sicht ist die<br />
Entscheidung dagegen ein Husarenritt<br />
der Politik. Denn sie wurde getroffen,<br />
ohne zu wissen – oder zumindest<br />
fundiert vorhersagen zu können –, was<br />
2022 die Alternativen zum Atomstrom<br />
sein werden, wie teuer der Ausstieg<br />
sein wird und wie eine sichere<br />
Stromversorgung künftig<br />
organisiert sein soll. Als<br />
Unternehmer und Manager<br />
würde ich niemals eine<br />
so riskante Entscheidung<br />
treffen. Das sage ich auch als<br />
Vorsitzender der Bayerischen<br />
chemieverbände. Denn gerade<br />
die bayerische Wirtschaft und mit<br />
ihr die besonders energieintensive<br />
chemieindustrie ist zu 60 Prozent vom<br />
Atomstrom abhängig.<br />
Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich<br />
bin kein Verfechter des Atomstroms. Ich<br />
argumentiere als Unternehmenslenker,<br />
der seine Entscheidungen bestimmten<br />
Kriterien unterwirft. Deshalb sage ich:<br />
Die Politik hätte die möglichen Szenarien<br />
vorher intensiv prüfen müssen – von den<br />
Kosten über die Alternativen bis hin zu<br />
den technologischen Möglichkeiten.<br />
•<br />
N7 Nachmann Rechtsanwälte sehen<br />
in Dr. von Au ein Unternehmervorbild<br />
und gratulieren ihm zu den neuen<br />
Herausforderungen in der Clariant AG.
my germany<br />
Seite 80<br />
Von Andreas Lukoschik<br />
„Aus wirtschaftlicher<br />
Sicht ist der Atomausstieg<br />
für die deutsche<br />
Exportlandschaft eine<br />
Riesenchance!“<br />
wir haben uns mit hannes<br />
Schwaderer, Geschäftsführer von intel<br />
und director energy Sector europe,<br />
middle east & africa, über zwei wichtige<br />
zukunftsfragen unterhalten: wie<br />
organisiert man das post-atomstromzeitalter<br />
so, dass es zum Gewinn für<br />
deutschland wird? und wie gehen wir<br />
mit unserem wichtigsten rohstoff um –<br />
Bildung?<br />
in beiden fragen entwickelt intel<br />
als weltweit größter prozessorhersteller<br />
und führender technologiekonzern gerade<br />
mit seinem deutschland-Geschäftsführer<br />
Strategien für die zukunft.<br />
? herr Schwaderer, warum ist<br />
gerade deutschland ein optimaler<br />
Standort für die entwicklung neuer<br />
Strategien im umgang mit alternativen<br />
energien?<br />
! In Deutschland haben wir ja nicht<br />
wie in Frankreich zu 90% Atomstrom und<br />
wären glücklich damit, sondern wir haben<br />
heute schon einen völlig fragmentierten<br />
Strommarkt. Strom wird bei uns extrem<br />
dezentral generiert: durch die vielen<br />
Solarpanels auf den Hausdächern, durch<br />
Windmühlen, durch Wasserkraft, durch<br />
Biogas- und Erdwärmeanlagen. So haben<br />
wir heute schon die Situation – die ja auch<br />
von der Regierung gewollt war –, dass man<br />
gutes Geld dafür bekommt, wenn man<br />
Strom ins Netz einspeist. Eine Solaranlage<br />
amortisiert sich heute – trotz reduzierter<br />
Einspeisepreise – immerhin in acht, neun<br />
Jahren. Wenn ein Sommer sehr verregnet<br />
ist, vielleicht erst in zehn. Insofern ist das<br />
ein großes Incentive für viele Häuslebauer.<br />
Damit ist das also bereits ein Teil der Lösung<br />
– aber auch ein Teil des Problems.<br />
Illustration: Liga Kitchen
dezentrale<br />
StromerzeuGunG<br />
? warum?<br />
! Weil auf der letzten Meile Strom<br />
verbraucht, aber auch produziert wird<br />
und ins Netz zurückgespeist wird.<br />
Das führt zu schwer managebaren<br />
Spannungsschwankungen. Wenn bei<br />
Ihnen zu Hause das Licht brennt und drei<br />
Glühbirnen gleichzeitig abrauchen, dann<br />
liegt es daran, dass Sie eine überspannung<br />
abbekommen haben, die Ihr Stromversorger<br />
nicht richtig managen konnte. Bei den<br />
Glühbirnen ist es nicht so schlimm.<br />
Wenn´s die Waschmaschine ist, wird´s<br />
ärgerlich. Für die Stromversorger wird der<br />
letzte Meter zu etwas wie einem „Schwarzen<br />
Loch”.<br />
Um solche Stromschwankungen<br />
zu vermeiden, arbeiten wir mit<br />
Stromversorgern, die bereits jetzt dezentrale<br />
Messstationen aufgebaut haben. Das sind<br />
kleine Kästchen, in denen ein computer<br />
misst, wann was beim Stromverbraucher<br />
passiert und warum es passiert. Aber<br />
die Erzeuger können noch nicht darauf<br />
steuernd reagieren, weil sie weder Software<br />
noch computer haben, die das auswerten<br />
und dann in Steuerung umsetzen. Daran<br />
arbeiten wir zusammen mit anderen<br />
Technologie-Unternehmen.<br />
daS intelliGente Stromnetz<br />
Will man das aktuelle Netz zu einem<br />
„Intelligenten Stromnetz” umbauen – dem<br />
so genannten „Smart Grid” –, dann ist das<br />
ein weitgefächerter Prozess. Man muss<br />
nämlich damit beginnen, dass man so<br />
genannte „Smart Meter” installiert. Das<br />
sind digitale Stromzähler, die mit einem<br />
Internetanschluss verbunden sind und alle<br />
15 Minuten die Information zurückgeben,<br />
wie viel Strom gerade verbraucht wird. Das<br />
ermöglicht dem Versorger, den Strombedarf<br />
genau zu erfassen. Sie wissen also ganz<br />
genau, zu welchem Tageszeitpunkt Sie<br />
Spitzen haben und wann sie abflachen.<br />
Dementsprechend kaufen Sie den Strom<br />
ein oder produzieren ihn. Das hilft, weil<br />
ja Strom auch Minutenpreisen unterliegt<br />
wie andere Waren an der Börse auch.<br />
Intelligenter wäre es, wenn wir über die<br />
Messung hinaus auch bereits volatile<br />
Strompreise für den Verbraucher hätten<br />
und zwar abhängig von Bedarf und<br />
Angebot.<br />
? also dann wäre Strom abends, wenn<br />
die ganze familie zu hause ist, teurer und<br />
tagsüber billiger?<br />
! Umgekehrt. Auch wenn es<br />
berufstätige Männer und Frauen so kennen,<br />
wie Sie gesagt haben, versammelt sich der<br />
Großteil der Familie doch schon bereits<br />
zum Mittag im Hause. Und deswegen wäre<br />
das Preisgefüge anders herum. Tagsüber<br />
teurer – nachts billiger. Denn die Windräder<br />
drehen sich auch nachts und die Isar fließt<br />
auch nachts und beide produzieren Strom<br />
für niemanden. Es gibt nachts einfach<br />
weniger bis gar keine Abnehmer. Das wird<br />
in gewissem Umfang bereits heute von<br />
Wirtschaftsunternehmen genutzt, weil der<br />
Strom für Unternehmen nachts tatsächlich<br />
billiger ist. So werden Kühlhäuser nur<br />
nachts gekühlt, während sie tagsüber auf<br />
eine höhere Temperatur hinlaufen. Aber<br />
dank guter Isolation reicht das.<br />
Kurzum: Wir haben bei der<br />
Stromerzeugung zur Zeit eine zwölfspurige<br />
Autobahn, die wir brauchen, da mittags<br />
zwischen elf und ein Uhr gekocht wird.<br />
Foto: Ralf Kaspers, New Jersey, 2006
Und dann verbraucht jeder Haushalt schon<br />
mal ein, zwei Kilowatt mehr als sonst. Und<br />
wenn die Dame des Hauses beim Kochen<br />
auch nochmal die Waschmaschine anmacht,<br />
dann sind es vier, fünf Kilowatt mehr, die<br />
gebraucht werden. Wir haben also eine<br />
zwölfspurige Autobahn für zwei Stunden am<br />
Tag, während wir nachts nur einen Feldweg<br />
brauchen. Das ist also teuer und ökologisch<br />
gesehen suboptimal. Wie kann man so etwas<br />
nun anders regeln?<br />
Erstmal, indem man Anreize auch für<br />
Privatkunden schafft, ihren Stromverbrauch<br />
über die 24 Stunden des Tages zu verteilen.<br />
Weil Strom immer teurer wird, ist Geld<br />
für uns Verbraucher ja immer ein starkes<br />
Incentive. Dabei würde ich als Verbraucher<br />
über das gleiche Internet, über die mein<br />
Stromerzeuger erfährt, wie viel Strom<br />
ich verbrauche, selber wissen, wann der<br />
Strom billig ist. Dann würde ich zum<br />
Beispiel zu günstigeren Zeitpunkten<br />
meine Waschmaschine einschalten. Und<br />
genau das würde ein kleiner computer<br />
tun, dem ich gesagt habe: „Immer wenn<br />
der Strom unter 17 cent fällt, mach die<br />
Waschmaschine an!” Da muss sich natürlich<br />
im Verbraucherverhalten einiges ändern.<br />
Denn die Dame des Hauses muss die<br />
Waschmaschine vollpacken, Waschmittel<br />
einfüllen und nur den computer einschalten.<br />
Denn die Waschmaschine schaltet sich ja<br />
selbst ein, wenn der Strom billig ist.<br />
So könnte man die Stromspitzen über<br />
den Tag hin besser verteilen und könnte den<br />
Strom dann nutzen, wenn er im überfluss<br />
vorhanden ist. Dann muss ich auch nicht<br />
mehr so viel Strom produzieren. Was<br />
bedeutet, dass man weniger Kraftwerke<br />
braucht. Alle Kraftwerke müssen nämlich<br />
volle Pulle laufen, wenn gekocht wird.<br />
? diese sieben atomkraftwerke, die<br />
jetzt abgeschaltet worden sind, waren<br />
demnach nötig zum kochen?<br />
! Zum Beispiel.<br />
wettervorherSaGen<br />
fÜr GleichmäSSiGere<br />
StromerzeuGunG<br />
Wenn man dann weiterdenkt, dann<br />
weiß man auch in den Umspannwerken<br />
durch solche Feedback-Informationen,<br />
wann ich wie viel Strom durch konstante,<br />
dezentrale Stromerzeugungsmöglichkeiten<br />
– wie Biogasanlagen und Erdwärmepumpen<br />
– zurückbekomme. Was<br />
ich noch nicht weiß, ist, wie viel Strom<br />
durch wetterabhängige Anlagen entsteht.<br />
Also durch Solarzellen auf den Dächern<br />
und durch Windräder. Dafür werden heute<br />
Höchstleistungsrechner gebaut, die das<br />
Wetter auf 5 Minuten und 100 Meter genau<br />
vorhersagen können. Zur Zeit entsteht der<br />
größte computer der Welt in Garching<br />
am Leibniz-Rechenzentrum mit sage und<br />
schreibe 7,6 Petaflops Leistung. Das sind 7,6<br />
Billiarden Gleitkommaoperationen. Oder<br />
mit anderen Worten: Da arbeiten 33000<br />
Server parallel, um diese Rechenleistung zu<br />
erbringen.<br />
? und da sind prozessoren von intel<br />
drin?<br />
! In diesem Falle: Ja! Mit dieser<br />
Rechenleistung kann man Stromversorgern<br />
brauchbare Informationen liefern wie zum<br />
Beispiel, dass heute in Berchtesgaden die<br />
Sonne mit der und der Intensität zwischen<br />
12 Uhr und 13 Uhr scheint und dass danach<br />
ein paar Wölkchen kommen, die aber durch<br />
erhöhtes Windaufkommen weggeweht<br />
werden. Damit lässt sich einplanen, wie viel<br />
Strom mit den dort installierten Solarzellen<br />
erzeugt wird. Also kann der Stromversorger<br />
als Folge davon zum Beispiel das Wasserkraftwerk<br />
am Kochelsee zu dieser Zeit<br />
runterfahren und den dort im überfluss<br />
produzierten Strom dazu nutzen, zu diesem<br />
Zeitpunkt das Wasser wieder den Berg<br />
raufzupumpen. Dann kann er es morgen,<br />
wenn in Berchtesgaden mehr Wolken am<br />
Himmel sind und weniger Wind bläst, dazu<br />
nutzen, wieder Strom aus Wasserkraft zu<br />
produzieren.<br />
autoS alS fahrBare<br />
Batterien nutzen<br />
Eine andere Art, den Strom, den man<br />
produziert hat, aber nicht gebrauchen<br />
kann, zu speichern, heißt „Batterie“. Und<br />
hier kommt das Automobil ins Spiel. Wir<br />
alle wollen ja ganz schnell zur „E-Mobility-<br />
Gesellschaft” werden. Das hat große<br />
Vorteile für die Umwelt, wenn man davon<br />
ausgeht, dass der Strom fürs Auto cO 2 -frei<br />
produziert wird. Aber das ist wieder eine<br />
andere Frage. Zurück zum Auto als fahrbare<br />
Batterie: Wenn das Auto in der Garage<br />
steht, lade ich natürlich das Auto nur dann<br />
voll, wenn der Strom billig ist. Also nachts.<br />
Wenn ich tagsüber Strom brauche, aber<br />
nicht den teuren Strom aus der Steckdose<br />
nehmen will, kann ich meine Batterie im<br />
Auto anzapfen, weil das billiger Strom aus<br />
der Nachtproduktion ist. Natürlich setzt<br />
das voraus, dass ich das Auto an dem Tag<br />
nicht mehr brauche. So kann man sich also<br />
vorstellen, dass die Elektroautos ein Teil<br />
des „Intelligenten Stromnetzes” werden und<br />
gleichzeitig dem lokalen Fortkommen seiner<br />
Fahrer dienen.<br />
? ist das nicht überhaupt ein großer<br />
attraktionsfaktor für die elektromobilität,<br />
dass autos multifunktionale energiespeicher<br />
sind, anstatt nur fossile energie in<br />
Bewegungsenergie zu verwandeln wie zur<br />
zeit?<br />
! Absolut. Und sie sind herrlich fahrbare<br />
Batterien. Ich bin schon so ein Elektroauto<br />
gefahren und muss sagen: Das macht einen<br />
höllischen Spaß, weil der Elektromotor viel<br />
performanter ist als ein Benzinmotor.<br />
? das heißt?<br />
! Er beschleunigt sehr viel schneller<br />
als ein Benzinmotor. Das Fahren damit<br />
macht also richtig Freude. Und wenn man<br />
Liebhaber von speziellen Motorsounds<br />
ist, dann wird der via Soundprozessor in<br />
den Innenraum über die Lautsprecher<br />
eingespeist. Vom FIAT 500 bis Ferrari kann<br />
man sich den Sound aussuchen, ohne ein<br />
schlechtes Gewissen der Umwelt gegenüber<br />
haben zu müssen.<br />
Zum Thema „Intelligentes Stromnetz“<br />
oder „Smart Grid” gehört aber noch<br />
mehr: Wir müssen nämlich neue Netze<br />
bauen, weil wir den Strom aus Offshore-<br />
Kraftwerken in der Ostsee nach Bayern<br />
bringen müssen. Das ganze Netz muss als<br />
Gesamtheit gemanagt werden, weil diese<br />
Form der Stromversorgung natürlich sehr<br />
stark grenzübergreifend ist: nicht nur<br />
geografische Grenzen betreffend, sondern<br />
auch die Grenzen zwischen verschiedenen<br />
Versorgern.<br />
Strom Sparen – aBer wie?<br />
Und dann kommt natürlich die große<br />
Frage: „Wie spare ich Strom?” Erstens<br />
natürlich in der Erzeugung. Es gibt große<br />
Unternehmen im deutschsprachigen<br />
Raum, die Gasturbinen bauen mit einem<br />
Effizienzgrad von 50%. Ältere Gasturbinen<br />
leisten dagegen nur 20 bis 25%. Man kann<br />
mit einer neuen Turbine also doppelt soviel<br />
Strom erzeugen wie mit einer alten. Da<br />
steckt ein Riesenpotenzial drin.<br />
Dann kommt dazu, dass wir vielleicht<br />
ein zusätzliches Stromnetz brauchen – mit<br />
einer anderen Spannung –, das speziell zum<br />
Auftanken der Autos ist.<br />
Ich habe schon vor zwei Jahren mit<br />
führenden Köpfen im Bundesumweltministerium<br />
gesprochen, die damals schon<br />
gesagt haben, dass wir wohl in drei Jahren –<br />
also jetzt noch ein Jahr – volatile Strompreise<br />
haben werden. Denn man kann auf der<br />
Konsumentenseite – wie oben erwähnt – sehr
viel über die Preise steuern.<br />
Und dann müssen wir einfach auch<br />
weniger verbrauchen. Es gibt in der<br />
Zwischenzeit für zu Hause das so genannte<br />
„HEMS” – „Home Energy Management<br />
System”. Das ist ein kleines Kästchen, das<br />
hängt an der Wand. Genau dieser kleine, ans<br />
Internet angebundene computer schaltet<br />
selbstständig, abhängig vom Strompreis,<br />
Geräte ein und aus. Und wenn ich aus der<br />
Haustüre gehe, schalte ich das „HEMS” aus<br />
und dann sind alle Stromgeräte, die ich<br />
nicht brauche, wenn ich nicht zu Hause bin,<br />
abgeschaltet.<br />
? das kennt man ja aus<br />
hotelzimmern: Sobald ich meine<br />
zimmerkarte aus dieser kleinen Box<br />
an der tür ziehe, sind alle lichter aus,<br />
während die minibar aber trotzdem<br />
weiterläuft.<br />
! Genau so funktioniert das „HEMS”,<br />
nur eben für ein viel größeres System,<br />
nämlich für ein ganzes Haus. Man kann<br />
also mit intelligenten Systemen vieles im<br />
Haushalt managen. Es macht zum Beispiel<br />
gar nichts, wenn sich beim Einschalten des<br />
Elektroherdes derweil die Tiefkühltruhe<br />
ausschaltet und die Temperatur von<br />
minus 34 auf minus 33 Grad ansteigt. Das<br />
ändert an der Qualität der eingefrorenen<br />
Lebensmittel überhaupt nichts.<br />
? Stellt sich die frage: was hat die<br />
firma intel damit zu tun?<br />
! Die hat damit ganz viel zu tun, weil<br />
in all diesen Steuerungseinheiten – ob lokal<br />
oder international – Intelligenz in Gestalt<br />
von Prozessoren hineingehört. Heute haben<br />
wir erst an vielen kleinen Stellen Intelligenz,<br />
die einen Teil der Stromversorgung<br />
managen – aber nie das gesamte Netz. Wir<br />
brauchen deshalb ein intelligentes Netz über<br />
ganz Deutschland oder besser über ganz<br />
Europa, das dezentrale Stromversorgung<br />
managt. Aber dafür braucht man sehr<br />
viele hochleistungsfähige computer<br />
bis hin zu riesigen Rechenzentren, die<br />
Wettervorhersagen auf die Minute genau<br />
treffen können. Das ist also ein Riesenfeld.<br />
Erfreulicherweise sind wir heute schon<br />
in vielen dieser Kleinst- und Großrechner<br />
drin, oftmals ohne dass wir das wissen.<br />
Wir haben zum Beispiel Kunden, die in<br />
Windkrafträdern schon Intel-Prozessoren<br />
verbauen, weil auch die gesteuert und<br />
gemanagt werden sollen. Per Internet<br />
sollen sie den Versorger über ihre Leistung<br />
informieren und darüber, ob sie voll<br />
funktionsfähig sind oder defekt.<br />
der atomauSStieG iSt wirt-<br />
Schaftlich eine GroSSe chance<br />
fÜr den exportweltmeiSter<br />
? ist deutschland da weiter als<br />
andere länder?<br />
! In dieser Kleinstrukturiertheit bei<br />
der Stromerzeugung sind wir vermutlich<br />
einzigartig auf der Welt. Dänemark kommt<br />
schon seit Jahren ohne Atomstrom aus, hat<br />
aber ganz andere Konzepte. Die haben zum<br />
Beispiel zentrale Anlagen, die ganz Kopenhagen<br />
mit Wärme versorgen, so dass nur<br />
noch 3% der Häuser eine eigene Heizung<br />
haben. 97% der Haushalte aber werden mit<br />
Fernwärme versorgt, weil eine Heizung, die<br />
eine ganze Stadt versorgt, immer viel effektiver<br />
ist als viele kleine Einheiten.<br />
Aber Deutschland ist nun mal einer der<br />
großen Exporteure vielfältiger Techniken<br />
und Technologien zur alternativen Energieerzeugung.<br />
Wir haben große Windmühlenhersteller,<br />
wir haben große Solarunternehmen,<br />
wir haben große Konzerne, die in<br />
Energietechnologien forschen und produzieren.<br />
Das ist ein deutsches Pfund und Teil<br />
unserer großen Export-Erfolgsgeschichte.<br />
Und richtig verstanden, ist der Ausstieg<br />
aus der Atomenergie für Deutschland eine
Riesenwirtschaftschance.<br />
Wir sind nämlich gezwungen, uns<br />
alternative Wege zu suchen, um unseren<br />
Stromverbrauch zu managen: Sowohl aus<br />
ökonomischer Sicht, weil wir das als einen<br />
umsatz- und gewinnbringenden Teil unserer<br />
Wirtschaft verstehen. Denn alternative<br />
Energiegewinnung ist ein Entwicklungs- und<br />
Innovationsbereich, aus dem wir die Welt<br />
wieder mit unseren Produkten beglücken<br />
können. Und natürlich auch aus ökologischer<br />
Sicht ist das alles sehr sinnvoll. Nur<br />
müssen wir aus ökologischer Sicht darauf<br />
achten, dass wir zwar die zu Recht umstrittene<br />
Atomenergie abschaffen, dafür aber<br />
trotzdem nicht mehr CO 2 in die Luft blasen,<br />
wenn wir rückwärts gehen und wieder<br />
Energie aus Kohle und Gas gewinnen wollen.<br />
Deshalb MÜSSEN wir Alternativen<br />
dazu finden. Ich sehe – und das sage ich<br />
gerne noch einmal – den Atomausstieg aus<br />
wirtschaftlicher Sicht als eine Riesenchance<br />
für Deutschland!<br />
BILDUNG – DIE „META-ENERGIE“<br />
? Das hört sich alles sehr schlau<br />
an. Nutzen Sie diese Schläue nur für<br />
das wirtschaftliche Fortkommen von<br />
Intel oder dürfen auch andere daran<br />
teilhaben?<br />
! Damit sind wir beim Stichwort<br />
„Bildung“. Und da sind Sie bei mir genau<br />
richtig (lacht). Vor 12 Jahren haben wir<br />
damit begonnen, für uns das Thema<br />
Bildung aufzunehmen. Als wir einen<br />
Vorstandsvorsitzenden hatten, den Sie ja auch<br />
gut kennen – Craig Barrett –, der selbst aus<br />
der Lehre kommt und Professor in Stanford<br />
war, der hatte damals gesagt: „Es gibt nur ein<br />
Gebiet, für das ich mich wohltätig im Sinne<br />
von Corporate Social Responsibility engagieren<br />
möchte, das ist Bildung.” Wir müssen unseren<br />
Kindern die besten Werkzeuge und die besten<br />
Voraussetzungen mit auf den Weg geben. Aus<br />
unserer Sicht am besten mit digitalen Medien.<br />
Wir haben also ohne besondere<br />
Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit<br />
aus Deutschland heraus ein Programm<br />
entwickelt, bei dem wir jetzt schon seit<br />
11 Jahren unter dem Titel „Intel Teach“<br />
mit allen 16 Bundesländern einen Vertrag<br />
geschlossen haben, um deutsche Lehrer<br />
über die jeweils in den Bundesländern<br />
ansässigen Anstalten für Lehrerfortbildung<br />
ausbilden zu dürfen. Das machen wir gratis!<br />
Der Grundansatz war und ist, Lehrern<br />
beizubringen, wie man methodisch und<br />
didaktisch sinnvoll digitale Medien für ein<br />
besseres Lernen im Unterricht einsetzt.<br />
Inzwischen ist das ein sehr<br />
erfolgreiches Programm. Wir haben in<br />
Deutschland – Stand heute – 450000 Lehrer<br />
ausgebildet. Das sind drei Viertel der aktiven<br />
Lehrer. Auf unsere Kosten! Meistens in<br />
40-stündigen Präsenzschulungen. Wir<br />
haben dazu aber auch parallel Schulungen<br />
– Ausbaustufe 1 bis 3 – per Internet<br />
zur Verfügung gestellt, die sich Lehrer<br />
unterrichts- und curriculabegleitend –<br />
also passend zum Unterrichtsfach, zur<br />
Schulstufe usw. – runterladen können. Für<br />
Lehrer ist es nämlich besonders wichtig,<br />
dass sie auf urheberrechtsgeschützte<br />
Inhalte zugreifen können, von denen sie<br />
wissen, dass sie sie im Unterricht benutzen<br />
dürfen – und das Ganze am besten auch<br />
noch fächerübergreifend. Wenn ich zum<br />
Beispiel im Erdkundeunterricht über die<br />
Bevölkerungsexplosion spreche, dann ist es<br />
doch ganz sinnvoll, den Mathematiklehrer<br />
dazuzuholen und eine kleine Stochastik mit<br />
einzubauen.<br />
ES ÄNDERT SICH DIE ALTHERGE-<br />
BRACHTE LEHR- UND LERNKULTUR<br />
Was wir damit getan haben und tun, ist<br />
eine althergebrachte Lern- und Lehrkultur<br />
komplett aufzubrechen. Wenn der Lehrer<br />
weg von der Tafel zum „Kollaborativen
Lernen” in die Klasse geht, ist er nicht<br />
mehr der Alleinunterhalter VOR der<br />
Klasse, sondern der coach und Trainer,<br />
der MIT den Kindern arbeitet, die sich in<br />
kleinen Gruppen Dinge mit dem Pc selbst<br />
erarbeiten, sie grafisch umsetzen und so<br />
weiter. So wird in vielen Schulen schon<br />
gearbeitet. Leider aber immer noch in viel<br />
zu wenigen. Und da ist Deutschland absolut<br />
im Hintertreffen. Länder wie Portugal,<br />
Spanien, Mazedonien, ja selbst Venezuela<br />
und Argentinien – also nicht die, die wir zu<br />
den üblichen verdächtigen, reichen Ländern<br />
zählen – haben aber genau das gemacht und<br />
ihre Kinder mit neuesten Pcs ausgestattet,<br />
die für den Gebrauch in der Schule<br />
optimiert sind. Das sind einerseits Gehäuse,<br />
die man vom Tisch fallen lassen kann,<br />
ohne dass sie kaputtgehen, oder über die<br />
man auch schon mal eine cola ausleeren<br />
kann und die dann trotzdem weiter<br />
funktionieren. Andererseits unterscheiden<br />
sie sich aber am ehesten von anderen Pcs<br />
durch ihren Inhalt, weil man mit ihnen in<br />
geschützten Räumen im Internet arbeiten<br />
kann.<br />
All das hat Vorteile, die wir immer<br />
vermutet haben – aber nie belegen<br />
konnten. Wir haben deshalb eine Studie<br />
an der Universität Hamburg in Auftrag<br />
gegeben und zwar über eine Laufzeit von<br />
18 Monaten, um einen anhaltenden Effekt<br />
nachweisen zu können.<br />
Beim lernen am pc Sind<br />
kinder viel motivierter<br />
Der Haupteffekt ist: Die Kinder sind<br />
viel motivierter, etwas zu lernen. Natürlich<br />
finden die klassischen Arbeitswerkzeuge<br />
immer noch statt – also Papier und Bleistift,<br />
Geodreieck und Radiergummi. Aber man<br />
kann eben auch mit einem Pc lernen und<br />
zwar sehr viel besser, weil das Lernen<br />
individualisiert vonstattengeht. Jeder<br />
Mensch nimmt Inhalte auf unterschiedliche<br />
Weise auf. Die einzige Art, die wir aber<br />
Kindern bislang anbieten, ist Kreide auf<br />
Tafel, um im Sinne des Abschreibens mit<br />
Füller auf Papier eine Verinnerlichung zu<br />
erreichen.<br />
Jetzt stellen Sie sich vor, die Kinder<br />
schreiben nicht ab – käuen also wieder –,<br />
sondern recherchieren das Thema selbst<br />
im Internet. Erstens macht das Spaß.<br />
Zweitens finden sie mit dem richtigen<br />
Ehrgeiz die richtige Lösung. Und drittens<br />
sind das Inhalte, die sie nicht mehr<br />
vergessen werden. Wir erinnern uns alle<br />
daran, als wir mal Referate in der Schule<br />
geschrieben haben: Ich kann meine<br />
Referate heute noch relativ gut inhaltlich<br />
wiedergeben – aber nur sie. Den ganzen<br />
Rest, den ich via Frontalunterricht in der<br />
Schule eingetrichtert bekommen habe,<br />
habe ich mir weniger gut gemerkt. Das<br />
Selbsterarbeiten ist also ein ganz wichtiger<br />
Punkt. Das gräbt sich sozusagen ins<br />
Gedächtnis ein. Und bleibt dort erhalten.<br />
Der zweite Vorteil beim Lernen mit<br />
digitalen Medien, der in der Untersuchung<br />
an der Uni Hamburg bestätigt wurde, heißt<br />
„Individualisierung“. Der eine ist mehr<br />
visuell orientiert und braucht Bildchen<br />
und Animationen. Der andere braucht<br />
geschriebenen Text. Und der Dritte muss<br />
es hören, um es sich merken zu können.<br />
All das bietet ein computer. Zumal es alles,<br />
was es an Schulbüchern gibt, inzwischen<br />
oftmals auch digitalisiert gibt. Allerdings<br />
in anderen Ländern mehr als bei uns. Bei<br />
uns ist man oft noch damit zufrieden, wenn<br />
man von jeder Seite eines Buches eine<br />
PDF-Datei macht und dann so tut, als ob es<br />
sich dabei um einen digitalen Inhalt handle.<br />
Aber wenn ich auf einer Zeichnung – wie<br />
in meinem alten Physikbuch – eine schiefe<br />
Ebene sehe und ein Holzwägelchen darauf<br />
symbolisch dargestellt ist, bei dem die<br />
Pfeile zeigen, welche Kräfte wirken, dann<br />
ist das eindrücklich. Aber eindrücklicher<br />
ist es, wenn es mit einem echten Menschen<br />
auf einem Fahrrad auf einer echten Straße<br />
gezeigt wird und zwar in bewegten Bildern.<br />
Dann kann ich einem Kind lebensnah an<br />
echten Beispielen verständlich machen, wie<br />
eine schiefe Ebene wirkt.<br />
Das dritte Ergebnis der Hamburger<br />
Studie ist: Die Steigerung der Motivation ist<br />
nicht ein Strohfeuer, sondern ist anhaltend.<br />
Schüler lernen damit also auch dauerhaft<br />
mehr und besser.<br />
Dieses digitale Lernen treiben wir<br />
intensiv auf vielen Ebenen voran. Wir<br />
stecken 100 Millionen Dollar pro Jahr in<br />
solche Bildungsprojekte weltweit und in<br />
die Entwicklung solcher Lernwerkzeuge,<br />
in Lehrerfortbildung, in Ausstattung von<br />
Schulen. Das ist – nebenbei gesagt – die<br />
größte private Investition auf der Welt in<br />
solche Projekte.<br />
auSBlick in die zukunft<br />
? wie sieht ihr ausblick für die<br />
zukunft aus?<br />
! Unsere Gesellschaft wird digitalisiert.<br />
Und das wird alle Bereiche unseres<br />
Lebens durchziehen. Wir werden unsere<br />
Steuererklärungen über das Internet<br />
abgeben, wir werden immer mehr Handel<br />
über das Internet betreiben und ab 2012<br />
werden die ersten Autos serienmäßig mit<br />
Internetzugang ausgestattet sein. Und<br />
das ist erst der Anfang. Zur Zeit sind wir<br />
2 Milliarden Menschen auf dem Globus,<br />
die mit 4 Milliarden Geräten im und<br />
mit dem Internet kommunizieren – vom<br />
Hochleistungscomputer über Telefonie<br />
bis zur Kaffeemaschine. Im Jahre 2015<br />
werden es 3 Milliarden Menschen sein<br />
und 15 Milliarden Geräte. Und wir?<br />
Wir werden immer mehr über das<br />
Internet kommunizieren. Und welche<br />
Zielgruppe profitiert davon am meisten?<br />
Die Senioren! Die haben jetzt schon die<br />
größte Zuwachsrate unter den neuen<br />
Internetnutzern. Und bleiben so mitten<br />
in der Gesellschaft – in der digitalen<br />
Gesellschaft.<br />
Kurz und gut: Die Digitalisierung ist<br />
ein gesellschaftliches Phänomen. Mit ganz,<br />
ganz vielen neuen Aspekten. Aber eines ist<br />
uns klar: Wir werden in sehr vielen Geräten<br />
Intelligenz haben. Und die analoge Welt<br />
wird sich langsam verabschieden.<br />
? das glaube ich nicht. ich denke,<br />
sie wird sehr viel exklusiver werden.<br />
! Oder so. Ich habe mir zum Beispiel<br />
gerade einen Plattenspieler gekauft.<br />
? Genau! das war ein gutes<br />
Schlusswort.<br />
N7 Nachmann Rechtsanwälte sehen in der<br />
Tatsache, dass ein Technologiekonzern wie Intel<br />
weltweit erstmals – und zwar in Deutschland<br />
– eine Instanz wie den „Director Energy<br />
Sector“ schafft, eine hohe Wertschätzung des<br />
herausragenden Technologie-Know-hows in der<br />
ökologischen Energieerzeugung. Grund genug<br />
mit dem Mann über Deutschland zu sprechen,<br />
der diese Aufgabe übernimmt.<br />
•
my europe<br />
Seite 92<br />
Gutes<br />
unternehmen –<br />
geht!<br />
wir sitzen im 20. Stock des<br />
Japan towers in frankfurt – in einem<br />
Besprechungsraum mit Blick auf die<br />
Bankentürme. in unserem Gespräch geht<br />
es aber nicht um die finanzbranche.<br />
das thema unseres Gesprächs<br />
dreht sich um frauen und männer, die<br />
die welt ein bisschen besser machen<br />
wollen. nicht als generöse wohltäter,<br />
auch nicht als wohlwollende retter,<br />
sondern als unternehmer. die rede ist<br />
von den mitgliedern einer organisation,<br />
die sich den namen ashoka gegeben hat<br />
und die erste und größte non-profitorganisation<br />
zur förderung von Social<br />
entrepreneurship auf unserer erde ist.<br />
in diesen wirtschaftlich<br />
schwierigen zeiten hört man denn<br />
auch viel über ashoka, weshalb ich von<br />
einer expertin wissen wollte, was es<br />
mit ashoka auf sich hat. und so kam es<br />
zu diesem Gespräch mit einer jungen<br />
frau, die auf den namen konstanze<br />
frischen hört und trotz ihrer wenigen<br />
lebensjahre unerhört viel bewegt<br />
hat in ihrem leben – zum Beispiel als<br />
Gründerin von ashoka deutschland.<br />
? frau frischen, was ist ashoka?<br />
! Das größte Netzwerk der besten<br />
Sozialunternehmer. Bill Drayton, der<br />
Ashoka 1980 in Indien gegründet hat,<br />
beschäftigte unter anderem die Fragen:<br />
Wie lassen sich gesellschaftliche Probleme<br />
intelligent und nachhaltig lösen? Wie<br />
lässt sich mit einem Dollar möglichst viel<br />
bewirken? Seine Antwort: Wir suchen – wie<br />
man es in der Wirtschaft auch tut – die besten<br />
unternehmerischen Köpfe mit den besten<br />
Ideen für eine stärkere Zivilgesellschaft.<br />
Und das ist Ashokas Ansatz. Wir fördern<br />
Männer und Frauen, die gezeigt haben, dass<br />
sie ein bahnbrechendes Konzept haben,<br />
um ein gesellschaftliches Problem zu lösen<br />
– sei es im Bereich Gesundheit, Bildung,<br />
Menschenrechte oder Entwicklung. Und<br />
wir helfen diesen Social Entrepreneurs, ihre<br />
Ideen zu verbreiten.<br />
? ist das neu? und warum ist das<br />
wichtig?<br />
! Social Entrepreneurs sind der beste<br />
Hebel, um gesellschaftliche Probleme zu<br />
lösen und Wandel zu unterstützen. Natürlich<br />
gab es sie schon immer. Denken Sie<br />
an Maria Montessori zum Beispiel. Aber<br />
niemand hat über sie als Typus geredet und<br />
niemand hat sie gezielt gefördert.<br />
Warum es Ashoka braucht? Unternehmer<br />
können sich am Markt finanzieren.<br />
Aber wer steht Sozialunternehmern bei,<br />
die nicht unbedingt Aussicht auf raschen Kitchen<br />
Gewinn versprechen, deren Idee aber gesellLiga<br />
schaftlich unglaublich wichtig ist? Ashoka<br />
wählt jedes Jahr sorgfältig die besten Sozialunternehmer<br />
mit den vielversprechendsten Illustration:
Ansätzen aus und gibt ihnen Stipendien, die<br />
es ihnen ermöglichen, sich Vollzeit, ohne<br />
Existenzangst, auf ihre Arbeit zu konzentrieren.<br />
Außerdem bekommen sie die Netzwerke,<br />
die sie brauchen, um sich weitere<br />
Unterstützung heranzuholen: Wir verbinden<br />
sie mit anderen Social Entrepreneurs, sie<br />
erhalten Rat und Tat von Unternehmern<br />
und Verbindungen zur Wissenschaft und<br />
Wirtschaft. Soziale Innovationen zu finden<br />
und die Menschen zu fördern – das war und<br />
ist der Kern unserer Arbeit.<br />
? nennen Sie mir ein Beispiel.<br />
! Einer der ersten Sozialunternehmer,<br />
die ich traf, war Rodrigo Baggio aus<br />
Brasilien. Sein Ziel ist es, Zugang zum<br />
Internet und zu Informationstechnologien<br />
auch für Arme verfügbar zu machen. Anfang<br />
der 90er Jahre arbeitete er mit Kindern<br />
in zwei Slums in Rio de Janeiro – neben<br />
seinem Beruf, in dem er Geld für sich und<br />
seine Familie verdiente. Ashoka hat Rodrigo<br />
ermöglicht, sich Vollzeit auf sein Projekt zu<br />
konzentrieren, es zu systematisieren und<br />
auszubauen und nachhaltig zu machen.<br />
Heute ist seine Organisation cDI (center<br />
for Digital Inclusion) auf drei Kontinenten<br />
vertreten und hat mehr als 800000 Kindern<br />
und Benachteiligten geholfen. Sie meistern<br />
computer und Internet, können Lesen<br />
und Schreiben, sind in der Ausbildung<br />
oder haben ihr eigenes Unternehmen<br />
gegründet. Und Rodrigo kümmert sich nun<br />
ganz um die weitere Expansion von cDI.<br />
Er hat viele Preise gewonnen, spricht an<br />
renommierten Universitäten, auf dem World<br />
Economic Forum… So könnte ich Ihnen<br />
jetzt jede Menge Geschichten erzählen.<br />
Diesen Sprung, den Rodrigo gemacht hat,<br />
den will Ashoka erzeugen. Damit neue<br />
Lösungsmuster möglichst viele Menschen<br />
erreichen.<br />
? Sie erwähnten maria montessori,<br />
die zeitlich mit henry ford gelebt hat. da<br />
wäre es sicherlich auch sehr spannend<br />
gewesen, wenn man die beiden<br />
zusammengebracht hätte, um zu sehen,<br />
was sich daraus für ihre arbeit ergeben<br />
hätte. Bauen Sie bei ashoka solche<br />
interdisziplinären Brücken?<br />
der „GloBalizer“<br />
! Sehr schön, dass Sie das ansprechen.<br />
Wir haben eine Initiative, die sich<br />
„Globalizer“ nennt und die darauf abzielt,<br />
die besten Skalierungsstrategien für soziale<br />
Innovationen zu finden. Leider wird im<br />
sozialen Sektor das Rad sehr oft neu<br />
erfunden, weil es keinen funktionierenden<br />
Markt gibt – ein starker Unterschied<br />
zum normalen Geschäftsleben. Aus<br />
Ashokas Vogelperspektive sehen wir tolle<br />
Innovationen, etwa im Bereich Housing in<br />
Brasilien oder in der HIV/AIDS-Vorsorge in<br />
Afrika. Aber in anderen Ländern werden<br />
sie nicht aufgegriffen. Der „Globalizer”<br />
sucht jedes Jahr nach den Ideen, die<br />
reif sind für internationales Wachstum,<br />
und bringt die Sozialunternehmer<br />
danach dann mit Unternehmern aus<br />
der Wirtschaft – also den Henry Fords –<br />
zwecks gegenseitigen Gedankenaustauschs<br />
und Strategieentwicklung zusammen.<br />
Das ist eine sehr, sehr spannende<br />
Sache. Außerdem suchen wir nach<br />
Verbreitungsmethoden, die für den<br />
sozialen Sektor geeignet sind, und<br />
entdecken hier Interessantes im Bereich<br />
Netzwerke und Open Source. Denn viele<br />
Sozialunternehmer entschließen sich dafür,<br />
ihre Quellcodes offenzulegen, damit andere<br />
sie kopieren und damit mehr Menschen in<br />
den Genuss ihrer Innovation kommen. Was<br />
der „Globalizer” im Großen macht, tun wir<br />
übrigens auch vor Ort: In unserem Ashoka-<br />
Support-Netzwerk sind Unternehmer<br />
zusammengeschlossen, die Ashokas<br />
Sozialunternehmern in ihrem Land mit Rat<br />
und Tat beiseitestehen.<br />
? nochmal zum Social entrepreneur.<br />
ein unternehmer will ja Geld verdienen.<br />
ist das bei dem Begriff Social<br />
entrepreneur auch vorgesehen?<br />
! Wir verstehen Unternehmer in erster<br />
Linie im Schumpeterschen Sinne – also<br />
als jemanden, der schöpferisch zerstört,<br />
der neue Muster und Abläufe einführt<br />
gegen Widerstände und gesellschaftliche<br />
Konventionen. Maria Montessori war<br />
Bildungspionier, eine Spielzeugerfinderin,<br />
eine Organisationsgründerin, eine<br />
Markenspezialistin und eine internationale<br />
Aktivistin. Social Entrepreneurs arbeiten<br />
gemeinwohlorientiert. Sie werden<br />
nicht dadurch charakterisiert, ob ihre<br />
Organisationen „for profit” oder „not for<br />
profit” sind, sondern dadurch, dass sie ein<br />
gesellschaftliches Problem lösen. Das ist ihr<br />
Ziel, das ist ihre Aufgabe. Danach richtet<br />
sich auch ihre Rechtsform. In manchen<br />
Feldern – im Mikrokreditbereich, im<br />
Umwelt- oder Gesundheitswesen – können<br />
Player Gewinn erwirtschaften, weil sich<br />
dort ein Markt entwickelt hat und weil<br />
Wirtschaftlichkeit Teil der Problemlösung<br />
ist. Aber wer mit traumatisierten<br />
Kriegsflüchtlingen arbeitet, versucht<br />
zunächst einmal, die Menschen zu heilen<br />
und Ursache von Hass und Ausgrenzung<br />
zu beseitigen – natürlich so effizient wie<br />
möglich, aber doch in der Regel wohl eher<br />
nicht in Form einer Aktiengesellschaft<br />
oder GmbH. Wer daran arbeitet, dass mehr<br />
Kinder erfolgreich zur Schule gehen oder<br />
chronisch Kranke in Armenvierteln besser<br />
betreut werden oder dort bessere sanitäre<br />
Verhältnisse herrschen, geht davon aus, dass<br />
sich das volkswirtschaftlich auszahlen wird.<br />
Aber zunächst müssen sie viel Zeit und Geld<br />
investieren.<br />
? das bedeutet aber auch, dass diese<br />
Social entrepreneurs von ihrer idee<br />
nicht unbedingt leben können?<br />
! Nachhaltigkeit heißt nicht „for<br />
profit”. Nachhaltigkeit in diesem Kontext<br />
heißt, dass die Idee so gut ist, dass sie<br />
auf Dauer hängenbleibt und sich trägt.<br />
Aber Ashoka zahlt seinen Fellows, wie<br />
wir die Sozialunternehmer nennen, die<br />
wir fördern, Stipendien, damit sie sich<br />
ohne Existenzangst drei Jahre darauf<br />
konzentrieren können, bis ihre Idee läuft.<br />
Hinterher müssen sie dann natürlich<br />
schon selbst das von ihnen benötigte Geld<br />
fundraisen oder erwirtschaften. Deshalb ist<br />
das Stipendium auf drei Jahre begrenzt.<br />
? woher bezieht ashoka sein Geld<br />
dafür?<br />
! Wir sind größtenteils von<br />
Mitgliedsbeiträgen und Zuwendungen<br />
finanziert. Wir nehmen keine staatlichen<br />
Gelder an, sondern werden von Stiftungen<br />
und Privatpersonen gefördert. Als<br />
wichtiges Standbein haben wir unser<br />
Netzwerk von Mitgliedern, das so genannte<br />
Ashoka-Support-Netzwerk, in dem sich<br />
Unternehmerpersönlichkeiten – viele<br />
Familienunternehmer oder Executives –<br />
finanziell sowie mit ihrem gesammelten<br />
Know-how einbringen. Sie helfen unseren<br />
Sozialunternehmern bei der Entwicklung<br />
ihrer Organisation, sie öffnen Türen,<br />
planen mit… Der finanzielle Betrag, der<br />
im 5-stelligen Bereich pro Jahr anfängt,<br />
wird so oft um ein Vielfaches überstiegen.<br />
Wir werden aber auch durch Stiftungen<br />
unterstützt, zum Beispiel die Siemens-<br />
Stiftung oder die Hilti-Foundation.<br />
? wie viele fellows gibt es<br />
inzwischen in deutschland?<br />
! Wir haben 40 Fellows in Deutschland<br />
und weltweit knapp 3000.<br />
? worin unterscheidet sich ein ashoka-projekt<br />
von den vielen anderen initiativen<br />
bürgerschaftlichen engagements?
„ein Social entrepreneur will<br />
SyStemiSche fehler tilGen.“<br />
! Ein Sozialunternehmer will ein<br />
gesellschaftliches Problem nachhaltig<br />
lösen. Er will keine Not lindern, sondern<br />
ein System verändern, so dass es allen<br />
Menschen besser nützt. Und er sieht seine<br />
Zielgruppe selten als Opfer an, sondern<br />
hilft ihr, stark und selbstbestimmt zu leben.<br />
Einige Beispiele: Murat Vural<br />
aus Bochum begeistert Kinder aus<br />
bildungsfernen Schichten – viele davon<br />
mit Migrationshintergrund – für Lernen,<br />
Schule, Ausbildung oder Studium. Er<br />
empowert junge Leute, Netzwerke zu<br />
schließen und sich selbst zu helfen, und<br />
verändert Schulen und Nachbarschaften.<br />
Frank Hoffmann bildet blinde Frauen<br />
als medizinische Tastuntersucherinnen<br />
bei Frauenärzten aus – mit mehr Zeit<br />
und einem besseren Tastsinn können sie<br />
Knoten in der Brust besser und früher<br />
erkennen als andere. Thorkil Sonne aus<br />
Dänemark integriert autistische Menschen<br />
in den ersten Arbeitsmarkt. Mit ihrem<br />
Sinn für Details, ihrer Präzision und<br />
Vorliebe für Routinen arbeiten sie in<br />
der Softwarebranche, zum Beispiel bei<br />
Dateneingaben oder Testings, besser als<br />
jeder andere. Roshaneh Zafar aus Pakistan<br />
verhilft armen Frauen in ländlichen<br />
Gebieten mit Mikrokrediten zu einem<br />
kleinen Geschäft und zu einer besseren<br />
Zukunft.<br />
Jedes Jahr suchen wir gezielt nach<br />
sozialen Innovationen und wählen weltweit<br />
etwa 200 neue Sozialunternehmer als<br />
Stipendiaten oder Fellows aus. Sie sind<br />
Innovationstreiber, die neue Ideen für<br />
bestimmte Fragestellungen entwickeln und<br />
die Haken aus einem System entfernen.<br />
? wenn man die haken aus einem<br />
System entfernt, schafft man ja etwas<br />
neues. wie soll dieses neue aussehen?<br />
„eS Geht darum, Strukturen<br />
zu Schaffen, um Sich SelBSt<br />
helfen zu können.“<br />
! Social Entrepreneurs haben Ideen,<br />
die Neues schaffen oder den Rahmen<br />
ändern – Haltungen, Annahmen, Abläufe,<br />
Routinen, Prozesse oder Institutionen.<br />
Social Entrepreneurs warten nicht, bis<br />
jemand anderes für sie ein Problem löst,<br />
sondern fangen damit an.<br />
? darin unterscheiden sich<br />
die ashoka-projekte sehr klar von<br />
anderen sozialen projekten oder dem<br />
wohlfahrtsstaat?<br />
! Sozialunternehmer arbeiten<br />
nicht gegen den Wohlfahrtsstaat. Sie<br />
verbessern ein gesellschaftliches System<br />
dort, wo es Fehler hat. Man würde<br />
in der Wirtschaft nie erwarten, dass<br />
Innovation aus einem Ministerium<br />
kommt, sondern man denkt: Das passiert<br />
am Markt. Unsere Social Entrepreneurs<br />
haben ihr Ohr am Markt und an der<br />
Zielgruppe. Die Innovationen, die sie<br />
daraus entwickeln, helfen etablierten<br />
Institutionen weiter. Ich denke zum<br />
Beispiel an unseren Fellow Rose Volz-<br />
Schmidt. Ihre Organisation „wellcome“<br />
unterstützt Familien, die nach der<br />
Geburt eines Kindes Hilfe brauchen<br />
und/oder überfordert sind. Frau Volz-<br />
Schmidt verbreitet ihre Idee, indem sie<br />
sie als Angebot anderen Playern – auch<br />
großen Wohlfahrtsverbänden – zur<br />
Verfügung stellt. Sie gibt also ihre Inhalte<br />
und Expertise weiter, damit relevante<br />
Institutionen ihrer Zielgruppe besser<br />
helfen können.<br />
? Bleibt die wichtige frage, wie<br />
Sie zu diesen außergewöhnlichen<br />
menschen kommen?<br />
wie findet man Solche Social<br />
entrepreneurS?<br />
! Die Stuttgarter Unternehmerin Helga<br />
Breuninger hat einmal über uns gesagt,<br />
wir seien Trüffelschweine. Und ich<br />
finde, sie hat Recht. Die Suche nach<br />
unseren Trüffeln ist dabei extrem<br />
gründlich.<br />
Ich will sie kurz skizzieren:<br />
Wir haben ein Netzwerk<br />
von Nominatoren, die uns<br />
mögliche Kandidaten<br />
vorschlagen. Das<br />
sind Experten, die<br />
sich in ihrem<br />
Bereich sehr gut<br />
auskennen – zum<br />
Beispiel Fachleute<br />
aus Ministerien,<br />
Stiftungen,<br />
Professoren. Diese<br />
Experten schlagen uns<br />
Kandidaten vor, von<br />
denen sie glauben, ihre<br />
Idee werde in 20, 30<br />
Jahren ein Feld verändert<br />
haben. Diesen Namen folgen<br />
wir nach und recherchieren.<br />
Es gibt Interviews, Referenzchecks, vor<br />
Ort Besuche, Marktanalysen. Dann trifft<br />
das deutsche Team eine Vorauswahl. Der<br />
nächste Schritt ist der internationale<br />
Prozess: Dazu kommt ein Senior-Ashoka-<br />
Mitarbeiter aus einem anderen Land nach<br />
Deutschland und setzt sich zu einem<br />
langen Auswahlinterview mit jedem der<br />
Kandidaten hin – für mehrere Stunden –<br />
und geht genau das Projekt durch, und<br />
die Biografie des Kandidaten. Wer in<br />
die nächste Stufe kommt, kommt ins<br />
so genannte Panel. Da prüfen Experten<br />
aus Deutschland, die Unternehmer<br />
oder selbst Sozialunternehmer sind, die<br />
Kandidaten. Danach setzen die sich mit<br />
dem internationalen Auswahlvertreter an<br />
einen Tisch und entscheiden im Konsens,<br />
ob die Aufnahme<br />
als Fellow in unser<br />
Board vorgeschlagen<br />
werden soll. Wenn ja, muss<br />
das internationale Board auch noch seine<br />
Zustimmung erteilen.<br />
Das heißt, wir haben einen<br />
sehr langen, qualitativ hochwertigen<br />
Auswahlprozess. Unsere Faustregel ist, dass<br />
wir pro Jahr auf 10 Millionen Einwohner<br />
etwa einen Fellow pro Land finden.<br />
? und nach welchen kriterien wird<br />
ausgesucht?<br />
! Es sind derer 5:<br />
1. Die Innovation. Hat der oder diejenige<br />
einen neuen Ansatz, der tatsächlich ein<br />
gesellschaftliches Problem systematisch<br />
lösen kann?<br />
2. Der soziale Impact oder die gesellschaftliche<br />
Wirkung der Idee. Die muss<br />
möglichst groß sein.<br />
3. Die unternehmerische Qualität der<br />
Person.<br />
4. Die Kreativität der Person.<br />
5. Die „ethical fibre“ oder auch Integrität. Es<br />
gibt ja immer Fanatiker oder Ideologen.<br />
Die wollen wir aber nicht haben.
? Gibt es auch eine erfolgsmessung<br />
bei diesem System?<br />
! Natürlich. Gemeinsam mit<br />
anderen Playern sowie der TU<br />
München, der Universität Hamburg und<br />
Pricewaterhousecoopers haben wir in<br />
Deutschland den Social-Reporting-Standard<br />
zur Wirkungsmessung eingeführt, der<br />
sich immer stärker etabliert. Hier sehen<br />
Sie genau, welchen gesellschaftlichen und<br />
wirtschaftlichen Impact Sozialunternehmen<br />
haben. Ein Erfolgskriterium von Ashoka ist<br />
übrigens auch, wie viel Prozent der Fellows<br />
feststellen, dass ihre Ideen unabhängig<br />
von ihnen selbst repliziert werden, dass<br />
also andere die Ideen aufgreifen und<br />
weiterverbreiten und somit mehr Menschen<br />
erreicht werden.<br />
„wachStum Bedeutet Bei unS<br />
die fraGe: wie Schaffe ich eS,<br />
daSS ich von anderen kopiert<br />
werde?“<br />
Denn es geht darum, dass die Idee<br />
möglichst schnell an möglichst vielen<br />
Orten anschlägt. Jeroo Billimoria, ein<br />
Fellow aus Indien, hat zum Beispiel ein<br />
Kinderhilfstelefon für Straßenkinder<br />
gegründet – „childline” mit Namen.<br />
Das gibt es inzwischen in über 120<br />
Ländern – nicht, weil Jeroo in 120<br />
Ländern eigene Filialen aufgemacht hätte.<br />
Sie arbeitet vernetzt mit bestehenden<br />
Organisationen, denen sie ihr Knowhow<br />
und ihre Methodologie gibt und<br />
die sie international verbindet, also<br />
Best Practices teilt, Lernfortschritte,<br />
Standardisierungserfahrungen und so<br />
weiter.<br />
Das Thema Wachstum bedeutet für<br />
Social Entrepreneurs, ihre Wirkung zu<br />
steigern, und nicht, ihre eigene Organisation<br />
zu vergrößern. Wachstumsmodelle im<br />
sozialen Sektor beinhalten daher oft<br />
Strategien wie Netzwerke, Open Source oder<br />
campaigning. Sie müssen kooperativ und<br />
vernetzend denken.<br />
? deshalb braucht´es auch die<br />
soziale kompetenz, die Sie ja in ihren<br />
auswahlkriterien prüfen. das ist klar.<br />
! Eindeutig.<br />
? ich stelle mir jetzt vor, Sie<br />
haben ein netzwerk von 3000 höchst<br />
motivierten unternehmern, die die<br />
unterschiedlichsten projekte realisieren.<br />
all das fügt sich ja irgendwann einmal<br />
zu einer Gesamtvision von einer neuen<br />
welt zusammen, zu einem ziel. wie sieht<br />
die aus? wo soll es hingehen?<br />
! Wir möchten eine starke, freie,<br />
demokratische Zivilgesellschaft, in der nicht<br />
einige wenige Mächtige über viele Arme<br />
bestimmen, sondern in der die Menschen<br />
gleichberechtigt und aktiv an der Gestaltung<br />
ihres sozialen Umfeldes mitwirken. Das ist<br />
letztendlich das Ziel. Wir drücken das auf<br />
Englisch aus mit „Everyone a changemaker!“<br />
? Sicher erkennen Sie da aus der<br />
vogelperspektive weltweite trends bei<br />
allen diesen projekten ihrer fellows.<br />
welche sind das?<br />
! Einer ist das Thema Empathie.<br />
Wir sehen – egal auf welchem Kontinent<br />
und in welcher ökonomischen Klasse –,<br />
dass Sozialunternehmer immer wieder<br />
feststellen: Es ist ganz entscheidend,<br />
dass Kinder die Fähigkeit zur Empathie<br />
beherrschen. Nur wenn Kinder sich in<br />
andere hineinversetzen können und<br />
Mitgefühl haben, begreifen sie, was um<br />
sie herum passiert. Nur so können sie<br />
Beziehungen aufbauen, sich behaupten,<br />
aufsteigen, kooperieren, Netzwerke knüpfen.<br />
Empathie möglichst früh in Kindern zu<br />
entwickeln, daran arbeiten viele Fellows.<br />
Eines der, wie ich finde, faszinierendsten<br />
Projekte ist das von Mary Gordon aus<br />
Kanada, deren Organisation „Roots of<br />
Empathy“ Kleinkinder als Lehrer für<br />
Empathie in Schulen einsetzt.<br />
Ein zweites großes Thema ist das des<br />
Zugangs zu Märkten – zu Dienstleistungen<br />
und Produkten – für alle. Denn viele<br />
Arme sind von der Partizipation noch<br />
ausgeschlossen. Das ändern wir durch<br />
Kooperationen zwischen sozialen<br />
Organisationen und Unternehmen entlang<br />
einer Wertschöpfungskette, durch Hybrid<br />
Value chains. Nehmen Sie das Beispiel<br />
Slums. Mehr als 25 Millionen Menschen<br />
allein in Indien sind ohne adäquate<br />
Behausung – ein riesiger 400 Milliarden<br />
Dollar-Markt. Aber die Wirtschaft<br />
bedient ihn nicht, weil sie über das<br />
Konsumverhalten der Armen zu wenig<br />
weiß, von falschen Annahmen bezüglich<br />
ihrer Kaufkraft ausgeht und außerdem<br />
nicht weiß, wie sich die fragmentierte<br />
Nachfrage wirtschaftlich machbar bedienen<br />
lässt. Soziale Organisationen hingegen<br />
kennen die Wünsche und Bedürfnisse dieser<br />
Zielgruppe der Armen genau. Sie können<br />
die Nachfrage aggregieren und haben<br />
Instrumente entwickelt, wie Microfinance.<br />
Wenn nun soziale Organisationen und<br />
Unternehmen ihr Wissen bündeln und<br />
neue Wertschöpfungsketten bilden, lassen<br />
sich wirtschaftlich neue Produkte und<br />
Dienstleistungen kreieren, die günstig<br />
sind, aber das Bedürfnis der Leute erfüllen,<br />
sich selbst ein Dach über dem Kopf und<br />
somit ein würdigeres, sichereres und<br />
produktiveres Leben zu leisten.<br />
Ein drittes großes Thema ist Social<br />
Finance: Wie lassen sich Finanzinstrumente<br />
entwickeln, die auf die besonderen<br />
Bedürfnisse von Sozialunternehmern<br />
zugeschnitten sind und Wirkung und<br />
Profitmaximierung nicht gegeneinander<br />
ausspielen? Oder, wie lässt sich mehr Geld<br />
in der Entwicklungsarbeit dorthin lenken,<br />
wo es gebraucht wird und nützt?<br />
? das Stichwort finanzen passt in<br />
diese zeiten sehr gut hinein, wo vieles<br />
drüber und drunter geht. Sehen Sie<br />
und ashoka sich als Gegenspieler dieser<br />
megalomanen finanzapparate oder wie<br />
fügen Sie sich gesellschaftlich in dieses<br />
System ein?<br />
! Wir haben überhaupt nichts dagegen,<br />
Geld zu verdienen. Viele unserer Fellows<br />
arbeiten schließlich daran, dass mehr<br />
Menschen mehr Geld verdienen. Geld ist ein<br />
Mittel der Freiheit und zur Gestaltung der<br />
Welt. Aber es kann nicht sein, dass einige<br />
wenige Prozent der Menschen den Großteil<br />
des Vermögens halten. Das System ist ja<br />
ganz offensichtlich aus der Balance geraten<br />
und der soziale Sprengstoff ist gewaltig. Vor<br />
allem dank Internet und Fernsehen lassen<br />
sich Ungleichheiten nicht mehr verbergen.<br />
Und die Menschen sind nicht mehr bereit,<br />
in Kauf zu nehmen, dass ein paar den<br />
großen Reibach machen und die anderen in<br />
die Röhre schauen.<br />
? wie sind Sie eigentlich zu ashoka<br />
gekommen? haben Sie ordentlich<br />
Betriebswirtschaft studiert und...?<br />
! Nein, nein. Ich habe Ethnologie<br />
studiert, wenn auch an der London School<br />
of Economics. Ein großartiges Studium!<br />
Man versucht zu verstehen, wie Menschen<br />
die Welt sehen, wie sie sie begreifen und<br />
warum sie so handeln, wie sie es tun. Ein<br />
entscheidender Impuls war meine Zeit in<br />
Lateinamerika als Teenager. Ich habe dann<br />
während meines Studiums unter anderem in<br />
Indien geforscht und in einer Mikrokredit-<br />
Slum-Entwicklungsorganisation gearbeitet.<br />
Ich bin in den Journalismus gewechselt,<br />
in die Finanz- und Wirtschaftsredaktion<br />
von cNN. Von da aus bin ich als<br />
Wirtschaftsredakteurin zur FAZ gegangen,<br />
dann zur ZEIT und schließlich bei einer<br />
Recherche auf Ashoka gestoßen. Habe dann<br />
einige Fellows interviewt und auch Bill
Ralf Kaspers,<br />
Massai, Kenia, 2007<br />
Drayton, den Gründer, kennengelernt und<br />
war so fasziniert, dass ich den Journalismus<br />
an den Nagel gehängt und Ashoka<br />
Deutschland gegründet habe: 2003, ohne<br />
Startkapital, zunächst vom Küchentisch<br />
aus. Ich musste für die Idee werben, Kapital<br />
einsammeln, pro-bono-Unterstützer<br />
gewinnen, Netzwerke zu Wirtschaft und<br />
Universitäten aufbauen, Proof of concept<br />
erbringen, Mitarbeiter finden…<br />
? das ist ja eine lebensaufgabe.<br />
! Die ersten Jahre waren anstrengend,<br />
denn wir waren Vorreiter einer völlig neuen<br />
Idee. Jetzt – 8 Jahre danach – haben wir<br />
viel geschafft: Social Entrepreneurship<br />
ist ein Thema, an dem Universitäten,<br />
Politik und Wirtschaft nicht mehr<br />
vorbeikommen. Wir haben in Deutschland<br />
40 Fellows, wir haben ein wachsendes<br />
Unterstützernetzwerk, Forschungsprojekte.<br />
Wir kooperieren mit internationalen<br />
Sozialunternehmern, kreieren neue<br />
Finanzinstrumente mit Partnern,<br />
konzentrieren uns auf cluster-Themen,<br />
treiben immer mehr voran...<br />
? Sie sind also quasi die mutter<br />
von ashoka in deutschland?<br />
! So ist es.<br />
? dann war das ihr erstes kind?<br />
! Ja genau. Die Nummer zwei ist in<br />
der Krippe und die Nummer drei ist gerade<br />
ein bisschen krank, weshalb ich jetzt auch<br />
wieder nach Hause muss.<br />
? da kann ich nur mit dem<br />
SpieGel sagen: wir danken ihnen für<br />
dieses Gespräch.<br />
•<br />
wer sich für die arbeit von ashoka<br />
und den fast 3000 Social entrepreneurs<br />
in 70 ländern – davon bislang 40 in<br />
deutschland – interessiert, findet mehr<br />
informationen auf www.germany.<br />
ashoka.org oder auf der internationalen<br />
website www.ashoka.org. ashoka<br />
wird getragen von unternehmerisch<br />
denkenden menschen, die einen<br />
großen hebel für ihr finanzielles und<br />
persönliches engagement suchen.<br />
das ashoka-Support-network ist<br />
ein internationales netzwerk aus<br />
erfolgreichen unternehmern und<br />
führungspersönlichkeiten. Sie fördern<br />
ashoka nicht nur finanziell, sondern<br />
stehen Social entrepreneurs mit rat<br />
und tat zur Seite. Sie unterstützen<br />
die fellows darin, ihre konzepte zu<br />
optimieren und zu verbreiten, damit<br />
aus neuen ideen zur Bewältigung<br />
gesellschaftlicher probleme<br />
bahnbrechende lösungsmuster werden<br />
und möglichst viele menschen davon<br />
profitieren und ihr leben selbst<br />
gestalten können.<br />
N7 Nachmann Rechtsanwälte beeindrucken<br />
die innovativen Impulse, die Konstanze<br />
Frischen und Ashoka Deutschland für die<br />
Etablierung einer neuen Zivilgesellschaft<br />
unternehmen und hoffen, dass auch weiterhin<br />
viele Unternehmen der deutschen Wirtschaft<br />
sie dabei unterstützen.
my world<br />
Seite 102<br />
Ein besonderes<br />
Münchner<br />
Kindl<br />
die 23 Jahre junge pianistin hat<br />
im letzten Jahr den „echo klassik”<br />
als „nachwuchskünstlerin des Jahres“<br />
bekommen, in den uSa war ihre<br />
chopin-cd lange zeit auf platz 1 der<br />
itunes-charts, die münchner az hat<br />
ihr den „Stern des Jahres 2010“ in<br />
der kategorie klassik verliehen und<br />
die faz schwärmte: „fast körperlos<br />
beherrscht diese pianistin ihr werkzeug,<br />
hochkonzentriert und souverän.“<br />
Jetzt hat sie die zwei c-dur-Sonaten<br />
von ludwig van Beethoven eingespielt,<br />
die die zeit als „verheißung am klavier“<br />
feiert. wir unterhielten uns mit der<br />
jungen münchnerin alice Sara ott über<br />
ihre heimatstadt, ihre arbeit und das<br />
klavierspiel.<br />
Foto: © Esther Haase / DG<br />
? wie bereiten Sie sich auf ein<br />
neues Stück eines komponisten vor?<br />
zum Beispiel als Sie die walzer von<br />
chopin eingespielt hatten?<br />
! Wenn man von Walzer spricht, dann<br />
ist das ja eher etwas Fröhliches. Wenn man<br />
sich aber die chopin-Walzer anhört – ich<br />
habe mir damals viele Aufnahmen von Dinu<br />
Lipatti und Alfred cortot angehört –, dann<br />
spürt man diese Traurigkeit und Sehnsucht<br />
und Verletzlichkeit. Wenn man dann seine<br />
Biografie liest und weiß, was er für ein<br />
Leben geführt hat, dann versteht man seine<br />
Walzer plötzlich. Die Walzer hat er sein<br />
ganzes Leben lang komponiert. Seinen<br />
ersten Walzer hat er geschrieben, als er<br />
noch sehr jung war und den letzten kurz<br />
vor seinem Tod. In ihnen spiegelt sich sein<br />
ganzes Leben wider.<br />
Natürlich habe ich nicht all das erlebt,<br />
was er erlebt hat. Wir leben ja auch in einer<br />
ganz anderen Zeit. Aber ich glaube, ich<br />
kann mich trotzdem mit diesen Emotionen<br />
identifizieren und verstehen, durch was er<br />
gegangen ist.<br />
? angenommen, Sie müssten einem<br />
regisseur erklären, wie Beethoven<br />
die „waldstein-Sonate“, die Sie gerade<br />
aufgenommen haben, komponiert hat.<br />
wie würden Sie ihm Beethovens Situation<br />
erklären, damit er sie für seinen film<br />
versteht.<br />
! Die „Waldstein-Sonate“ ist in c-Dur<br />
geschrieben. c-Dur steht normalerweise<br />
für Lebensfreude, Fröhlichkeit, also für<br />
Positives. Als ich sie zum ersten Mal gehört<br />
habe, ist es mir aber kalt den Rücken<br />
runter gelaufen, weil sie sehr düster ist.<br />
Ich habe dann seine Biografie gelesen,<br />
um herauszufinden, was in dieser Zeit<br />
passiert ist, und da habe ich gelesen, dass<br />
er die „Waldstein-Sonate“ kurz nach dem<br />
„Heiligenstädter Testament“ geschrieben<br />
hat, in dem er seine Verzweiflung ausdrückt<br />
über seine immer stärker werdende<br />
Gehörlosigkeit. Er war in dieser Zeit kurz<br />
davor, Selbstmord zu begehen. Wenn man<br />
das weiß und nachfühlt, dann beginnt man<br />
zu verstehen, warum eine solche Sonate<br />
trotz c-Dur so düster und dunkel klingen<br />
kann. So würde ich das dem Regisseur<br />
erklären.<br />
? was glauben Sie, warum er in dieser<br />
Situation nicht eine moll-tonart genommen<br />
hat, sondern c-dur?<br />
! Beethoven wurde ja von vielen<br />
Menschen enttäuscht – angefangen von<br />
Napoleon bis zu den Frauen. Und am<br />
Ende konnte er mit den Menschen nicht<br />
mehr richtig kommunizieren durch seinen<br />
Gehörverlust. Aber ich glaube letztendlich hat<br />
er nie seinen Idealismus und seine Hoffnung<br />
aufgegeben. Das spürt man in allen Stücken<br />
von ihm. Die 3. Sinfonie, die er Napoleon<br />
mit dem Titel „Sinfonia grande, intitolata<br />
Bonaparte“ widmen wollte, ist in Es-Dur<br />
geschrieben, einer Tonart, die aus seiner<br />
Sicht jemanden verherrlicht und verehrt. Und<br />
obwohl er dann den Namen in „Heroische<br />
Sinfonie“ und später „Eroica” geändert hat<br />
und sie nicht mehr Napoleon gewidmet hatte,<br />
hat er die Tonart nicht geändert. Also trotz<br />
aller Verletztheit und Hoffnungslosigkeit<br />
hat er diesen letzten kleinen Schimmer von<br />
Hoffnung nicht aufgegeben.<br />
Das hört man auch in der „Waldstein-<br />
Sonate“ ganz schön. Erst ist im ersten Satz<br />
dieses düstere Gewitter und dann die Stille<br />
danach – die tiefe Nacht. Und mit dem letzten<br />
Ton des 2. Satzes, einem G, bricht im 3. Satz<br />
ein Sonnenstrahl durch. Für mich ist das wie<br />
ein Sonnenaufgang.<br />
Ich glaube, Beethoven hat nie die<br />
Hoffnung aufgegeben. All seine idealistischen<br />
Ideen wurden in seinem Jahrhundert zwar<br />
nicht gehört. Aber da Musik zeitlos ist, hat<br />
er, so glaube ich, diese Botschaft und diese<br />
Wünsche in Musik verpackt und in die<br />
Zukunft geschickt – mit der Hoffnung,
dass die Menschen in der Zukunft seine<br />
Gedanken verstehen und sich mit ihnen<br />
identifizieren können.<br />
? ein schöner Gedanke, warum er der<br />
richtige komponist für die europahymne<br />
ist.<br />
! Ich habe die „Waldstein-Sonate“<br />
aufgenommen, weil ich jetzt eine<br />
Beethoven-cD aufnehmen wollte. Ich<br />
bin immer meinem Instinkt gefolgt<br />
und wollte diese beiden c-Dur-Sonaten<br />
gegenüberstellen und zeigen, dass zwei<br />
Sonaten in c-Dur, die im Abstand von nicht<br />
mal zehn Jahren geschrieben wurden, so<br />
verschieden klingen können. Ich weiß, dass<br />
das in Deutschland sehr kritisch gesehen<br />
wird und man der Meinung ist, dass erst<br />
ein älterer Maestro Beethovens Musik<br />
aufnehmen kann. Aber ich finde, jeder<br />
Mensch kommt zu dem Punkt, wo er sich<br />
mit Beethovens Musik auseinandersetzen<br />
muss – und das beginnt nicht erst mit dem<br />
50. Lebensjahr.<br />
Ich wusste einfach, dass, wenn<br />
ich diese Aufnahme jetzt nicht machen<br />
würde, ich es später bereuen würde. Und<br />
wenn es ein Fehltritt sein sollte, dann<br />
lerne ich daraus. Aber ich glaube, man<br />
sollte gewisse Risiken eingehen. Und für<br />
mich war es JETZT wichtig, diese beiden<br />
Sonaten aufzunehmen. Ich wusste von<br />
Anfang an, dass es mehr contra als Pro<br />
dafür geben würde. Aber da muss man<br />
durch. Und darüber hinaus finde ich, ist<br />
es eine Beleidigung gegenüber den großen<br />
Interpreten Beethovens, wenn man anfängt,<br />
diese junge Aufnahme mit deren großen<br />
Aufnahmen zu vergleichen. So etwas<br />
kann man nicht machen. Eigentlich kann<br />
DG<br />
/<br />
man sowieso nicht verschiedene Künstler<br />
miteinander vergleichen. Deswegen<br />
Haase<br />
sind wir ja in der Musik, wo es so viele<br />
unterschiedliche Meinungen gibt. Und das<br />
Esther ©<br />
ist ja auch das Tolle, dass es nicht nur EIN<br />
Ergebnis geben kann. Foto:
? daniel Barenboim hat einmal zu<br />
mir gesagt: Sie müssen als pianist den<br />
ton erst hören, damit Sie ihn anschlagen<br />
können.<br />
! Ja, absolut. Man muss erst wissen, wie<br />
er klingen soll, ehe man ihn spielen kann.<br />
Musik ist gut, sich selber kennen zu lernen.<br />
Sowohl körperlich, weil man ja mit seinem<br />
Körper die Musik zum Klingen bringt,<br />
als auch geistig, weil man nur mit einem<br />
wachen Geist den Klang findet.<br />
? was ist für Sie angenehmer – im<br />
Studio aufzunehmen, in dem Sie mit dem<br />
instrument allein sind, oder vor publikum?<br />
! Heutzutage ist es ja so, dass eine<br />
wirkliche technische Perfektion verlangt wird,<br />
wenn man ins Studio geht. Wenn da nur ein<br />
kleiner Tonfehler ist, reagiert jeder allergisch.<br />
Das war vor fünfzig Jahren noch nicht so.<br />
Als cortot oder Rubinstein ihre Aufnahmen<br />
gemacht haben, waren durchaus auch Fehler<br />
drin. Aber das hatte damals einfach keinen<br />
Menschen interessiert. Es ging um was ganz<br />
anderes – um den natürlichen Fluss und die<br />
Besonderheiten des Momentes, in dem sie<br />
spielten. Das ist es, was mir manchmal in<br />
diesen Studioaufnahmen heute fehlt.<br />
Auf der Bühne haben wir dagegen nur<br />
eine einzige chance. Da gibt es nur diese 40<br />
oder 45 Minuten, in denen wir spielen und<br />
man kann sie nicht wiederholen. Aber dafür<br />
gibt es Momente, die so besonders sind und<br />
die man ein zweites Mal nicht wiedererlebt.<br />
Es gibt natürlich immer zwei Möglichkeiten:<br />
Man bleibt auf der sicheren Seite und spielt<br />
technisch perfekt. Es gibt aber auch Personen,<br />
die wollen die Ideen, die ihnen in diesem<br />
einzigen Moment kommen, sofort umsetzen<br />
und dann gehen sie das Risiko ein, dass da<br />
mal etwas nicht ganz so glatt läuft. Zu denen<br />
gehöre ich. Deshalb ist jedes Konzert für<br />
mich, als ob ich mich jedes Mal in ein neues<br />
Abenteuer stürzte, von dem ich nicht weiß,<br />
wie das Ende sein wird.<br />
? da schimmert ein interessanter<br />
aspekt durch, nämlich die einsicht, dass<br />
man neben dem klavierspielen zuerst<br />
leben muss.<br />
! Absolut! Ich bin der Meinung, dass<br />
die Musik nicht wachsen kann, wenn man<br />
als Mensch nicht wächst. Musik lebt nicht<br />
allein vom achtstündigen üben jeden Tag.<br />
Wer das glaubt, bleibt stehen.<br />
Wenn man von Beruf Künstler ist<br />
und gewisse Erfolge hat, möchte man<br />
natürlich immer ein bisschen mehr machen<br />
und nichts absagen oder Veranstalter<br />
enttäuschen. Aber das muss man lernen.<br />
Das wichtigste ist nämlich, zu wissen,<br />
womit man glücklich ist und wo die eigenen<br />
Grenzen sind. Und diese Grenzen kennen<br />
zu lernen ist sehr, sehr wichtig. Vor allen<br />
Dingen, wenn man jung ist. Wenn man seine<br />
Grenzen erst mit 35 kennen lernt und dann<br />
ausgepowert ist, kann man für zwei oder<br />
drei Jahre nicht mehr spielen.<br />
Ich habe meine Grenzen letztes Jahr<br />
kennen gelernt und habe daraus gelernt,<br />
Nein zu sagen, was nicht einfach, aber sehr<br />
wichtig ist. Aber man muss es einfach tun.<br />
Denn wenn man nicht bei besten Kräften<br />
ist, dann tut man niemandem etwas Gutes –<br />
weder dem Manager noch dem Veranstalter<br />
noch dem Publikum. Und dem Publikum<br />
kann man nicht erzählen, dass man heute<br />
nicht so gut drauf ist oder Liebeskummer<br />
hat oder der Flügel nicht so richtig<br />
mitmacht. Das geht nicht. Natürlich ist das<br />
Klavier ein Instrument, das sehr viel übung<br />
verlangt, aber ich war nie der Mensch, der<br />
täglich zehn Stunden übt. Und – um zu Ihrer<br />
Frage zurückzukommen – man kann seinen<br />
Tag intelligent aufteilen und hat dabei Zeit<br />
für viele Sachen. Vielleicht nicht so viel wie<br />
andere, bei denen Tag für Tag der Rhythmus<br />
gleich ist...<br />
? dann hätten Sie sich auch um eine<br />
anstellung im katasteramt bemüht...<br />
! Aber wenn man dann seine Zeit hat,<br />
dann nutzt man die auch sehr intensiv. Ich<br />
habe nie das Gefühl gehabt, dass ich was<br />
verpasst habe. Ich habe meine Pubertät<br />
genauso ausgelebt wie andere, was auch<br />
sehr wichtig ist. Die Zeit zwischen 16 und<br />
20 sind für eine Frau einfach ungeheuer<br />
wichtig, die man später nicht wiederholen<br />
kann. Ich habe Gott sei Dank Eltern, die<br />
in dieser Hinsicht sehr, sehr normal sind.<br />
Ich habe keine „Stage-Mama“ und keinen<br />
„Stage-Papa“.<br />
? ihre mutter wollte sogar nicht,<br />
dass Sie professionell klavier spielen.<br />
! Nein, das wollte sie überhaupt nicht.<br />
Und nun spielen ich und auch noch meine<br />
jüngere Schwester, weil der Wunsch von<br />
uns aus gekommen ist. Das ist sehr wichtig.<br />
Denn wenn man zu etwas gezwungen wird,<br />
dann ist ja keine richtige Motivation da und<br />
man kann nicht kreativ sein.<br />
? war die weigerung eine<br />
pädagogische list ihrer mutter?<br />
! Nein, nein. Das wollte sie wirklich<br />
nicht. Und zwar nicht, weil sie es uns nicht<br />
gönnen würde, sondern weil sie meinte,<br />
dass Kinder unbegrenzte Möglichkeiten<br />
haben sollten und wir uns nicht schon so<br />
früh festlegen sollten, nur weil sie auch<br />
Pianistin ist. Aber nachdem ich ein Jahr<br />
lang gebettelt hatte, hat sie gemerkt, dass<br />
ich es wirklich möchte.<br />
? leben Sie in münchen?<br />
! Ja. Ich lebe sogar noch bei meiner<br />
Familie.<br />
? was machen Sie, wenn Sie zeit<br />
haben in münchen?<br />
! Also wenn ich Zeit habe, dann<br />
bin ich (lacht) bei meinem Freund in<br />
Berlin. Ich habe aber immer gesagt, dass<br />
ich nirgends anders leben möchte als<br />
in München. Ich möchte mein Leben in<br />
München verbringen, weil ich so viel<br />
von dem aufregenden Leben in der Welt<br />
mitbekomme, dass ich einen Platz brauche,<br />
wo ich mich zuhause fühle, wo nicht alles<br />
so groß ist und wo ich auch wieder runter<br />
kommen kann. München hat ein sehr, sehr<br />
gutes Kulturleben. Ich mag München.<br />
Heute Abend gehe ich zum Beispiel<br />
in den Herkulessaal, wo meine Schwester<br />
spielt und höre ihr zu. Wir sind uns sehr,<br />
sehr nahe. Und wir üben sogar zusammen.<br />
? ihre mutter ist Japanerin,<br />
ihr vater deutscher und Sie sind in<br />
münchen aufgewachsen. als was fühlen<br />
Sie sich?<br />
! Na ja, ich gehöre eigentlich keiner<br />
Kultur richtig an. Es gab früher Zeiten,<br />
wo das für mich nicht einfach war. Man<br />
sucht ja gerade in der Pubertät eine<br />
Identität und möchte irgendwann einmal<br />
100%ig zu einer Kultur gehören. Aber in<br />
Deutschland wundern sich die Leute, dass<br />
ich „ganz akzentfrei“ Deutsch spreche, was<br />
als Deutscher ja nicht ganz so schwer ist.<br />
Und in Japan erschrecken die Leute, wenn<br />
ich Japanisch spreche, weil ich für sie<br />
nicht aussehe wie eine Japanerin. In dieser<br />
Hinsicht hat mir die Musik sehr geholfen.<br />
Denn in der Musik spielt es keine Rolle,<br />
welche Nationalität man hat. Musik ist,<br />
glaube ich, die einzige Sprache, die über<br />
Hass und Rassismus steht.<br />
? das ist eine gute heimat.<br />
! Für mich war sie immer DIE Heimat.<br />
Jetzt denke ich, dass dieses Feststecken<br />
zwischen zwei Kulturen in der Heimat<br />
„Musik“, meinen Horizont sehr erweitert<br />
hat. Auch wenn das manchmal nicht<br />
einfach war.
Foto: © Esther Haase / DG<br />
? wenn man die vier cover der<br />
cds sieht, die Sie aufgenommen haben,<br />
dann sieht man eine äußerlich beachtliche<br />
wandlung.<br />
! Ja? Ich bin der Meinung, dass ich<br />
jeden Tag anders aussehe.<br />
? heißt das, Sie fühlen sich auf allen<br />
vier covern identisch?<br />
! Ich identifiziere mich am meisten<br />
mit dem jetzigen cover. Auf dem ersten<br />
cover war ich ja auch erst 19. Jetzt bin ich<br />
23. Während dieser Zeit verändert man<br />
sich doch sehr. Aber zu den Fotos kann<br />
ich sagen, dass alle offiziellen Fotos von<br />
mir „approved“ sind (lacht). Und weil ich<br />
mich für Mode interessiere, habe ich auch<br />
nichts dagegen, mich feiner rauszuputzen.<br />
Ich glaube auch, dass das vom Publikum
Foto: © Esther Haase / DG<br />
erwartet wird. Wenn Sie zum Beispiel<br />
in ein Konzert von meinen männlichen<br />
Pianisten-Kollegen gehen, dann erwartet<br />
keiner, dass ihm da visuell was geboten wird.<br />
Aber bei uns ist das leider nicht so. Aber<br />
die äußere Gestalt ist sowieso zweitrangig.<br />
Wenn musikalisch nichts dahinter steckt,<br />
ist man ersetzbar. Denn es gibt Hunderte<br />
von jungen Menschen, die gut aussehen<br />
und ein Instrument spielen können.<br />
Und Gott sei Dank ist in dieser Hinsicht<br />
die Welt noch fair geblieben, trotz aller<br />
Medienbeeinflussung und all dem Tralala.<br />
? wenn Sie klavier spielen und es<br />
so richtig gut läuft, erleben Sie dann so<br />
etwas wie magic moments?<br />
! Ja, wenn die ganze chemie passt, die<br />
Kommunikation mit dem Publikum, die<br />
Akustik und der Flügel stimmen, dann gibt<br />
es Momente, die man nicht wiederholen<br />
kann, ja noch nicht mal erklären oder<br />
beschreiben kann. Aber genau das sind die<br />
Momente, für die wir Musiker eigentlich<br />
leben. Und wenn ich das in einem von<br />
zehn Konzerten erlebe, dann bin ich richtig<br />
glücklich.<br />
? erleben Sie das ganz in sich oder<br />
eher außer sich?<br />
! Ich habe schon Momente erlebt, dass<br />
ich mich selber beobachte. Nicht, dass ich<br />
mich wirklich sehen würde und sähe, welche<br />
Mimiken ich mache. Aber es ist schon so<br />
gewesen, dass ich mich aus der Perspektive<br />
einer dritten Person mitbekomme.<br />
Ab dem Moment, wo ich die Bühne<br />
betrete, bin ich in einer anderen Welt. Auch<br />
von der Wahrnehmung her ist alles viel<br />
intensiver. Wenn ich am Klavier sitze, höre<br />
ich alles. Ich bekomme ganz intensiv die<br />
Stimmung vom Publikum mit, während ich<br />
in der Straßenbahn davon zum Beispiel gar<br />
nichts mitbekomme, obwohl die Menschen<br />
um mich herum viel näher sind. Aber wenn<br />
ich in der Musik bin, habe ich das Gefühl,<br />
dass ich Gedanken von anderen Menschen<br />
empfange. Wie auch immer, es ist in jedem<br />
Fall etwas sehr Intensives. Diese intensive<br />
Begegnung kenne ich aber auch aus Museen.<br />
Wenn ich vor bestimmten Bildern stehe,<br />
dann habe ich manchmal das Gefühl, dass<br />
sich das Bild bewegt.<br />
? Günther uecker hat mir in<br />
unserem Gespräch gesagt, dass das, was<br />
er beim arbeiten in seiner kunst erlebt,<br />
nicht sprachlich ist. Geht ihnen das bei<br />
der musik auch so?<br />
! Ja, ja. Deswegen ist es auch so<br />
schwierig, darüber zu reden. Musik ist<br />
etwas, das mit mir geschieht, was ich<br />
nicht beeinflussen kann und was – das<br />
habe ich schon immer so empfunden<br />
– die Seele eines Menschen komplett<br />
nackt macht. Man kann nicht lügen: Man<br />
kann nicht manipulieren. Man kann sich<br />
überhaupt nicht verstellen. Es kommen alle<br />
Emotionen hervor. Vor allem auch in der<br />
Kommunikation mit dem Publikum. Das<br />
ist für mich die reinste Kraft, die es heute<br />
noch gibt, weil die Welt ja so unfassbar<br />
manipuliert ist. Aber diese Kraft ist absolut<br />
und rein geblieben. Und das ist seither nicht<br />
zerstört worden, sondern hat den Menschen<br />
Liebe und Hoffnung und Mut gegeben – in<br />
all den schweren Zeiten.<br />
N7 Nachmann Rechtsanwälte wünschen<br />
der jungen Pianistin Alice Sara Ott aus<br />
München für ihre viel versprechende Karriere<br />
das Beste und dass sie die Natürlichkeit,<br />
die in dem Interview deutlich wird, noch<br />
lange behält – trotz der Herausforderungen,<br />
die der internationale Kulturbetrieb an<br />
außergewöhnliche Begabungen wie sie stellt.<br />
•
Foto: Hans-Günther Kaufmann<br />
Schmetterling<br />
Welch schönes Jenseits<br />
ist in deinen Staub gemalt.<br />
Durch den Flammenkern der Erde,<br />
durch ihre steinerne Schale<br />
wurdest du gereicht,<br />
Abschiedswebe in der Vergänglichkeiten Maß.<br />
Schmetterling<br />
aller Wesen gute Nacht!<br />
Die Gewichte von Leben und Tod<br />
senken sich mit deinen Flügeln<br />
auf die Rose nieder<br />
die mit dem heimwärts reifenden Licht welkt.<br />
Welch schönes Jenseits<br />
ist in deinen Staub gemalt.<br />
Welch Königszeichen<br />
im Geheimnis der Luft.<br />
Nelly Sachs