20.02.2013 Aufrufe

active

active

active

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Loretta Lux / Nachmann Privatsammlung


6<br />

nachmann news<br />

8<br />

my art<br />

ein titan in weiSS<br />

Günther Uecker<br />

18<br />

my neighbourhood<br />

iSt unSer<br />

politiScheS<br />

SyStem am ende?<br />

Prof. Dr. Dieter Frey<br />

28<br />

my munich<br />

luxuS iSt<br />

die idee deS Schönen<br />

in unS<br />

Petra-Anna Herhoffer<br />

42<br />

nachmann client<br />

SchweStern werk<br />

und GotteS BeitraG<br />

Schwester Theodolinde Mehltretter<br />

50<br />

philosophy<br />

ich finde ÜBerraSchunGen<br />

etwaS wunderBareS!<br />

Dr. Susanne Gaensheimer<br />

Impressum<br />

Herausgeber: Josef Nachmann<br />

Beratung und Supervision:<br />

Andreas Lukoschik<br />

Chefredaktion: Jens Magers<br />

Art Director: Janis Birznieks<br />

Textredaktion: Amadeus AG, Schwyz<br />

70<br />

my bavaria<br />

unSer wohlStand<br />

BaSiert auf wiSSenS-,<br />

innovationS- und<br />

induStriekompetenz<br />

Dr. Günter von Au<br />

80<br />

my germany<br />

auS wirtSchaftlicher<br />

Sicht iSt der atomauS-<br />

StieG fÜr die deutSche<br />

exportlandSchaft eine<br />

rieSenchance!<br />

Hannes Schwaderer<br />

92<br />

my europe<br />

GuteS<br />

unternehmen – Geht!<br />

Konstanze Frischen<br />

102<br />

my world<br />

ein BeSondereS<br />

mÜnchner kindl<br />

Alice Sara Ott<br />

Anschrift<br />

Nachmann Rechtsanwälte<br />

Theatinerstraße 15<br />

80333 München<br />

www.nachmann.com<br />

Telefon +49 89 2420740


Liebe Leser,<br />

im Angesicht weltweiter Krisenszenarien, wachsender<br />

gegenseitiger Kritik von Politik und Wirtschaft, wer die<br />

Verantwortung für welche Fehlentwicklung trägt, wollen wir<br />

wieder Personen und Unternehmen vorstellen, die vorbildhaft<br />

an der Weiterentwicklung unseres Gemeinwesens und der<br />

wirtschaftlichen Entwicklung arbeiten. Sie sind die Nachdenker,<br />

Vorbilder und Mutmacher, die wir jetzt brauchen.<br />

Andreas Lukoschik hat gemeinsam mit uns Gesprächspartner<br />

ausgewählt, die mit Erfolg ihre Projekte umsetzen, ihr Leben leben.<br />

Und dies im Sinne der Gesellschaft und der Schaffung dauernder<br />

Werte. Glaubwürdig.<br />

Unser beruflicher Alltag zeigt uns, dass es viele Gedanken<br />

und Projekte gibt, die uns Mut und Hoffnung geben, weil sie<br />

auf eine qualitativ wachsende Wirtschaft und eine vernünftige<br />

Weiterentwicklung der gesellschaftlichen Lebensgestaltung<br />

gerichtet sind. Es gibt so viele engagierte, innovative und<br />

leistungsbereite Menschen, dass uns im Grunde nicht Bange<br />

sein muss, wenn wir nur notwendige Korrekturen nicht als<br />

Weltuntergang, sondern als normalen Gang der Dinge betrachten –<br />

also mehr Gelassenheit als Gebot der Stunde.<br />

Jede Krise bietet auch die Chance, sich auf Grundsätzliches<br />

zu besinnen. So zum Beispiel, dass Kapital und Produktivität<br />

zusammengehören und Wetten auf Unternehmen und Staaten<br />

verboten werden müssen. Oder dass wir den kleinen Einheiten<br />

wieder mehr Glauben schenken sollten, dem was wir politisch und<br />

wirtschaftlich überblicken können und wo Korrekturen weniger<br />

schmerzhaft, weil begrenzter sind.<br />

Wir hoffen, dass wir wieder einen Sie interessierenden Mix aus<br />

Themen, Menschen und unterhaltsamen Texten zusammenstellen<br />

konnten. Wir danken Andreas Lukoschik, der neugierig und offen<br />

unsere Interviewpartner für spannende und aussagekräftige<br />

Gespräche gewinnen konnte.<br />

Mit besten Grüßen,<br />

Ihr Josef Nachmann<br />

kindler/nachmann<br />

handbuch insolvenzrecht in europa<br />

Herausgegeben von Prof. Dr. Peter Kindler<br />

und Rechtsanwalt Josef Nachmann<br />

daS neue deutSche inSolvenzrecht – deutSchland-teil<br />

deS handBuchS in ÜBerarBeiteter neuauflaGe.<br />

Zum 1.1.2012 wird das Gesetz zur erleichterten Sanierung von<br />

Unternehmen (kurz: ESUG) in Kraft treten und die seit dem 1.1.1999 geltende<br />

Insolvenzordnung erneut reformieren. Neben der Einführung eines sog.<br />

„Schutzschirmverfahrens“, in dem dem potentiellen Insolvenzschuldner die<br />

Möglichkeit gegeben werden soll, unter Aufsicht eines vorläufigen Sachwalters<br />

Sanierungsmaßnahmen einzuleiten, wird insbesondere der Einfluss der<br />

Gläubiger auf die Maßgaben des Insolvenzverfahrens gestärkt. Schon bei<br />

überschaubaren Unternehmensgrößen (mehr als 10 Mitarbeiter, mehr als<br />

2 Mio. € Jahresumsatz) soll künftig vom Insolvenzgericht ein vorläufiger<br />

Gläubigerausschuss bestimmt werden, der bei der Auswahl des (vorläufigen)<br />

Insolvenzverwalters mitwirkt.<br />

Die Konkurrenzfähigkeit des „Insolvenzstandortes“ Deutschland<br />

soll nach den Vorstellungen des Gesetzgebers nicht nur durch das<br />

o.g. Schutzschirmverfahren, sondern auch durch eine Stärkung des<br />

Insolvenzplanverfahrens verbessert werden. Künftig wird die Eigenverwaltung<br />

durch den Schuldner bzw. dessen Geschäftsführung die Regel werden.<br />

Erstmalig wird auch der sog. Debt-Equity-Swap als Mittel zur Stärkung der<br />

Eigenkapitalbasis eines Unternehmens in einen gesetzlichen Rahmen gegossen.<br />

Neue Wege beschreitet der Gesetzgeber zudem bei der sog. Vorbefassung<br />

des Insolvenzverwalters. War es nach der bisherigen Praxis bundesdeutscher<br />

Insolvenzgerichte noch undenkbar, dass ein Insolvenzverwalter bereits vor dem<br />

Insolvenzantrag beratend oder sanierungsbegleitend für das schuldnerische<br />

Unternehmen tätig war, so soll jetzt – wenn auch in engen Grenzen – eine<br />

Vorbefassung kein Ausschlusskriterium mehr darstellen. Es bleibt abzuwarten,<br />

welche Auswirkungen diese Regelungen auf die Auswahl eines geeigneten<br />

Insolvenzverwalters haben.<br />

Diese und vorangegangene gesetzliche Änderungen wurden in dem<br />

umfassend neu bearbeiteten Deutschland-Teil des Handbuchs für Insolvenzrecht<br />

in Europa berücksichtigt. Auch künftig wird damit eine kurze und prägnante<br />

Einführung in die deutsche Insolvenzpraxis zur Verfügung gestellt.<br />

Erscheinungstermin der Ergänzungslieferung: voraussichtlich<br />

1. Quartal 2012.


my art<br />

Seite 8<br />

GüNTHER<br />

UEcKER –<br />

EIN TITAN<br />

IN WEISS<br />

Feld 2008, 90 x 90 cm, Nägel,<br />

Latex, Leinwand, Holz<br />

Seine arbeiten hängen in allen<br />

großen museen der welt und werden<br />

meist an einem element seiner<br />

handschrift erkannt – dem nagel.<br />

unser autor andreas lukoschik traf<br />

ihn in seinem atelier und sprach<br />

mit ihm über Bleistift und nagel,<br />

versenkung und ausdruck, wort und<br />

Bildsprache.<br />

Günther uecker's bauchtiefe<br />

heiterkeit der diesseitigen welt<br />

gegenüber – bei gleichzeitiger tiefer<br />

kenntnis anderer Gesetzmäßigkeiten<br />

und zusammenhänge – hat etwas von<br />

einem zen-meister. diese urkraft wird<br />

immer wieder schalkhaft erschüttert<br />

durch sein, den ganzen mann zum<br />

Beben bringendes lachen. dieser<br />

mann ist trotz seiner 81 Jahre ein Berg<br />

von einem kerl. und gleichzeitig der<br />

empfindsame Übergang einer anderen<br />

welt in die unsere.<br />

? herr uecker, Sie haben in einem<br />

interview gesagt: „da, wo ich immer<br />

mehr sprachfähig werde, vermindert<br />

sich meine Gestaltungsfähigkeit im<br />

Bildnerischen.“ ist das so?<br />

! In meiner Kindheit auf der Insel in<br />

dem mecklenburgischen Traum war ich<br />

recht sprachlos. Dort schaut man zum<br />

Horizont und sagt nicht so viel. Man<br />

überlegt erst lange, was man sagt. Dann<br />

ist es zu spät, es zu sagen. Und man sagt<br />

sich am nächsten Tag: „Hättste das doch<br />

mal gesagt.“ Und so geht die Zeit dahin.<br />

Das Sprechen habe ich hier im Rheinland<br />

gelernt. Hier spricht man ja alles aus.<br />

Aber es stimmt schon. Das Sprachliche<br />

vernichtet das bildphänomenologische<br />

Denken.<br />

Ich hab´ mich schon mit 22 Jahren<br />

bemüht, unalphabetisch zu denken. Was ganz<br />

schwierig ist, Gedanken im Sinne alphabetischer<br />

Zusammenhänge auszulöschen.<br />

Denken ist ja nicht, Buchstaben aneinander<br />

zu reihen, sondern Erkenntnis – und Wahrnehmungspraxis!<br />

Und das Wahrgenommene<br />

dann in Sprache zu überführen, also in Buchstaben<br />

mit kausalen Zusammenhängen und<br />

dem eine semantische Bedeutung zu geben,<br />

das ist erst erlernbar mit der Zeit.<br />

Das phänomenologische Denken aber,<br />

das ja eigentlich den Philosophen zu eigen<br />

ist, ist mir erst mit großer Konzentration<br />

gelungen: für Zehntelsekunden eine<br />

Wahrnehmung zu erlangen, die ohne<br />

Buchstaben und Satzbedeutungen<br />

auskommt. Das war sozusagen die<br />

erste Hoffnung. Denn die Welt denkt<br />

sich selbst. Und wir partizipieren mit<br />

unseren Synapsen in Kurzschlussform<br />

und erfahren so die Ereignisse des<br />

Geschehens.<br />

? wenn Sie sagen „phänomenologisches<br />

denken“, ist das dann bildhaft?<br />

! Es ist farbig und auch ausgelöscht –<br />

und erhellend. Es hat vielleicht etwas zu<br />

tun mit den Versenkungspraktiken der<br />

buddhistischen Lehre. Aber die gibt´s auch<br />

bei den christlichen Mystikern. Auf jeden<br />

Fall habe ich diese Gegenwelt erfahren.<br />

Ich war von der DDR geprägt, dass alles<br />

sagbar sein muss. Demzufolge stand diese<br />

Aussagbarkeit im Vordergrund und eine<br />

andere Existenz trat in den Hintergrund,<br />

wurde verschwiegen und verkümmerte.<br />

Durch diese Prägung im dialektischen<br />

Materialismus habe ich eine Gegenwelt<br />

gesucht und fing erstmal damit an, den<br />

Koran zu lesen. Da ich ja atheistisch<br />

erzogen war, gab es keine herkömmlichen<br />

Vorbehalte gegenüber anderen Religionen.<br />

Ich habe dann auch in der Bhagavad Gita,<br />

dem Taoismus, im großen und kleinen Boot,<br />

in der christlich-jüdischen Glaubenslehre<br />

und im Zen Vertiefungen erlebt, die es mir<br />

ermöglichten, zu erfahren, dass es eine<br />

andere Seinsdimension gibt. Die ist nicht<br />

unbedingt individuell identisch mit der<br />

eigenen figurierenden Seinserfahrung,


sondern ein Sein als Dasein.<br />

Diese Prozesse hatten parallel laufend<br />

zur Folge, das so Erfahrene auch bildnerisch<br />

sichtbar zu machen – und damit ist Ihre<br />

Frage vielleicht beantwortet –, das dann<br />

in Farben und Reihungen und Strukturen<br />

zum Ausdruck kam. In dem Versuch, immer<br />

dasselbe zu tun und zu scheitern, erfuhr ich<br />

im Scheitern meine eigene Individualität.<br />

? Scheitern wird in deutschland<br />

ja immer gerne als „versagen“<br />

interpretiert.<br />

! Na ja, aber die Individualität ist ohne<br />

Scheitern niemals erkennbar. Denn das ist<br />

ja der eigentliche „Unterscheid“, der sich da<br />

kundtut. So ist Scheitern auch eine Kunst.<br />

Wo die Sprache versagt, beginnt das Bild.<br />

„individualität iSt ohne<br />

Scheitern niemalS erkennBar.“<br />

? wie sind Sie bei diesen erkenntnisprozessen<br />

auf den nagel gekommen?<br />

! Nicht wie auf den Hund (lacht<br />

vergnügt), sondern durch die Erfahrung des<br />

Zeichnens. Während man zeichnet, merkt<br />

man, dass ein gezeichneter Akt unerreichbar<br />

ist in der Vergleichbarkeit dessen, was man<br />

sieht. Und der Versuch, mit dem spitzen<br />

Bleistift in der Pupille und den Hautfalten<br />

des Abzubildenden herumzustochern, um<br />

das zu erfassen, was man sieht, ist eine Lüge<br />

an sich selbst.<br />

Wenn ich zeichne, habe ich zwar eine<br />

Linie, die auch eine reale Linie ist, aber<br />

der Bleistift ist auch die Realität dessen,<br />

womit die Linie gezogen ist. Und er ist<br />

noch mehr die Fortsetzung der Linie in<br />

die Realität hinein. Und da komme ich in<br />

die Nähe eines poetischen Gedankens von<br />

Majakowski: „Poesie wird mit dem Hammer<br />

gemacht.“ Der Bleistift, der in das Papier<br />

geschlagen ist, bildet die plastische Linie,<br />

die in den Raum weist, in dem man lebt und<br />

der einen Schatten wirft, der auch wieder<br />

eine Linie ist – und der unsere kosmischen<br />

Zusammenhänge über den Tag offenbart wie<br />

bei einer Sonnenuhr. Denn sein Schatten<br />

wandert durch vergehendes Licht. So wie<br />

man sich nachts in die Dunkelheit bettet<br />

und morgens mit Erschrecken sieht, dass<br />

man einen Schatten aus dieser Nacht<br />

herauswirft. Das ist ja das größte Geschehen<br />

der Seins-Erfahrung, die über den Tag vergeht<br />

und wieder in die Dunkelheit mündet.<br />

Solche Prozesse führten dazu, dass ich<br />

anstatt des Bleistiftes dann einen Nagel<br />

eingeschlagen habe. Aber zuerst waren es<br />

Bleistifte in plastischer Masse. Da gibt es noch<br />

viele frühe Bilder.<br />

? vom Bleistift also zum Stahlstift.<br />

hat das fixierende des nagels auch eine<br />

Bedeutung?<br />

! Natürlich. Man sagt ja auch, man<br />

treffe den Nagel auf den Kopf, oder,<br />

wir machen Nägel mit Köpfen. In der<br />

Sprachwissenschaft gibt es sogar den Begriff<br />

„festmachen“. Das ist aber ein gescheiterter<br />

Versuch, der dazu führt, dass man die<br />

Zeit erst wahrnimmt, wenn man sie zu<br />

befestigen versucht oder misst. Mit der<br />

Sonnenuhr wird durch die Schattenwirkung<br />

eines plastischen Gegenstandes Zeit in der<br />

Realität kinetisch wahrgenommen. Das<br />

ist für mich am Ende der 50er Jahre eine<br />

künstlerische Entdeckung als Material: die<br />

Linie in ihrer Vielfalt, der Stab, der eine<br />

Struktur bildet, eine Struktur, die ich dann<br />

weiterentwickelt habe. Am Ende wurden<br />

es Felder, die, mit meiner Innerlichkeit<br />

vergleichbar, Selbstporträts sind.<br />

(Er macht eine lange Pause.)<br />

Bei meinen Arbeiten sehe ich nicht,<br />

was ich mache, sondern ich handle. Und<br />

am Ende des Handelns habe ich ein Bild<br />

dessen, was aus mir zum Ausdruck kommt.<br />

Ein inneres Bild wird zum Abbild und<br />

für mich betrachtbar als eine Erkenntnis<br />

meiner selbst. Deshalb mache ich auch<br />

alle Jahre – in höchster Konzentration und<br />

in größter Öffnung meines Inneren – ein<br />

großes Feld, worin ich erkenne, in welcher<br />

Verfassung ich mich befinde. Das ist<br />

vergleichbar mit dem Erbrochenen, auf<br />

dem man ausrutschen kann und dabei eine<br />

reale Gravitationswirklichkeit erfährt. Es ist<br />

etwas Engelhaftes geboren, aber auch der<br />

Fall darin enthalten. Dieser Prozess führt<br />

dazu, mich auf diese Art künstlerisch zu<br />

formulieren.<br />

(Wieder eine Pause)<br />

Das ist heute allgemeines<br />

Wahrnehmungsgut in der Rezeption<br />

geworden. Man betrachtet eine Arbeit<br />

und sagt: „Aha, das ist ein Bild von<br />

Uecker.“ Aber am Anfang war das nicht<br />

so. Da sagte Alfred Schmela (der große<br />

Galerist, die Red.) 1958 zu einigen<br />

meiner Arbeiten: „Bring mir die mal<br />

vorbei.“ Und nach einigen Tagen: „Die<br />

kannste wieder mitnehmen“ (lacht aus<br />

vollem Halse). Aber dann hat er 1960<br />

doch eine Einzelausstellung gemacht.<br />

Aber er brauchte diese Zeit, das als<br />

Kunst anzusehen. Denn meine Arbeiten<br />

hatten keine innere Gestalt auf einem<br />

Feld, sondern sie waren eine Gestalt<br />

selbst. Wie „Eikon“ – das Bild. Das ist das<br />

Anbetungswürdigste, was man erfahren<br />

kann: dass etwas bildhaft wird und den<br />

Ort der Sehnsucht erschafft, der ja flüchtig<br />

ist. Dieses Flüchtige ist im „Eikon“ – dem<br />

Bild – gebannt und wird in der Rezeption<br />

angebetet oder geküsst, was ich in<br />

orthodoxen-russischen Verhältnissen oft<br />

erlebt habe.<br />

Und da offenbart sich dem Betrachter,<br />

dass da etwas geweckt ist, das etwas<br />

zutiefst Menschliches enthält, das nicht<br />

grundsätzlich zur Ablehnung führt<br />

und zum Widerspruch. Es erweckt im<br />

Betrachter höchste Erregungsmomente.<br />

Das sind geistige, früher hat man gesagt,<br />

Erweckungen. Also die provozierte<br />

Wachheit für eine andere Wirklichkeit.<br />

? Sie sprachen gerade über licht<br />

und Schatten. arbeiten Sie – ganz<br />

pragmatisch gesprochen – bei tages-<br />

oder bei kunstlicht?<br />

! Immer nur bei Tageslicht. So ein<br />

elektrisches Licht bildet eindeutig einen<br />

Schatten und widerspricht dem, was ich<br />

vorhin sagte. Es schafft nicht die kosmische<br />

Beziehung, dass alles sich im Wandel<br />

befindet, eben weil es immer konstant<br />

bleibt. Dagegen erfährt man bei Tageslicht<br />

die Begegnung mit der Nacht durch die


zunehmende Verminderung des Lichts.<br />

Zunehmendes Licht ist abnehmendes<br />

Dunkel – und umgekehrt.<br />

? Gibt es eine tageszeit, in der Sie<br />

am liebsten arbeiten?<br />

! Ja, bildnerisch nach der Mittagszeit<br />

bis abends um zehn. Und vormittags eher<br />

am Schreibtisch oder im Garten.<br />

? Sie sagten einmal: „ich wollte<br />

immer alt werden.“<br />

! Ich wollte nicht. Ich will! Das Eigentliche<br />

ist noch nicht getan.<br />

? ist das wichtigste werk noch nicht<br />

geschaffen?<br />

! Das eigentliche Werk ist das Gesamte, wo<br />

im Ganzen das Einzelne erkennbar bleibt.<br />

„daS eiGentliche iSt<br />

noch nicht Getan.“<br />

? kommen wir zu ihrer arbeitsweise<br />

ganz konkret. ich finde, wenn man sich<br />

als Betrachter einem werk nähert, sollte<br />

man den arbeitsabstand des künstlers<br />

zur leinwand einhalten, um zu fühlen,<br />

was ihn dabei bewegt und gezwungen hat.<br />

! Jeder Schritt zurück, den der Künstler<br />

vor seinem Werk tut, ist der Abgrund. Man<br />

darf nie vor seinem Werk zurücktreten,<br />

um eine Korrektur anzubringen. Dieses<br />

vor und zurück ist eine alte Praxis, die auf<br />

Korrekturen beruht, in dem Sinne, dass der<br />

Künstler eine bestimmte Vorstellung hat, die<br />

er verwirklichen will und für die er dauernd<br />

seine Arbeit korrigiert. Dabei verfälscht er<br />

sich über viele Schritte hinweg. Was ja auch<br />

ein interessanter Prozess ist. Gerade habe<br />

ich die Willem de Kooning-Ausstellung in<br />

New York gesehen: erschütternd, existenziell<br />

ringend – er und die Malerei. Er ist der Stier<br />

und der Torero zugleich, ringend um diese<br />

„Women Faces“, dieses Zahn-orientierte<br />

Lachen.<br />

? ringen Sie auch mit der leinwand?<br />

! Ich ringe schon mit dem Material. Es<br />

wird ja nicht nur eine Leinwand gespannt<br />

oder auf eine Holzplatte aufgebracht,<br />

sondern verwurschtelt. Es geschieht auf dem<br />

flachen Boden oder hängend oder gespannt.<br />

Das Material wird so behandelt, wie man<br />

früher die Wäsche gewaschen hat, wo die<br />

Frauen noch am Fluss die Wäschestücke<br />

auf den Stein geschlagen haben: die<br />

Verlorenheit des Jüngferlichen in der<br />

Aussage als Hervorbringung von Ausdruck.<br />

Da ist der Ausdruck in seiner Präsenz<br />

erfahrbar.<br />

? hören Sie dabei musik?<br />

! Nein, nein. Wenn Sie mich sehen<br />

könnten, wie ich arbeite, dann würden Sie<br />

denken, wie mein Vater sagte: „Der Junge<br />

ist nicht ganz normal.“ Wenn ich arbeite,<br />

arbeite ich sehr intensiv – auch immer<br />

allein in Obsession und erwecke mich dann<br />

aus diesem Zustand, der manchmal auch<br />

der Endzustand des Bildes ist. Aber das<br />

hat etwas Manisch-Konvulsivisches. Das<br />

geschieht in einer großen Geschwindigkeit<br />

und ist wie eine platzende Kaugummiblase,<br />

die in die Zeit hinausplatzt. Der Atem, der<br />

in die Zeit und den großen Raum platzt. Es<br />

sind ganz große Selbsterfahrungen auf den<br />

Spuren der sichtbar werdenden Erinnerung.<br />

Darin offenbart sich etwas, von dem ich<br />

sage: „Das ist also in mir.“<br />

Damit muss man ja erst mal umgehen –<br />

ohne Korrektur – und sagen: „Ah, da könnte<br />

man im Sinne einer Vorstellung von Kunst<br />

korrigieren, was es werden soll.“<br />

Diesen Prozess sehr konzentriert<br />

durchzuhalten, dauert Stunden, Tage<br />

manchmal auch nur wenige Zeit. Und<br />

Spirale 2008, 90 x 90 cm,<br />

Nägel, Latex, Leinwand, Holz


Kosmisches Feuer, 2010, Pigment, Sand,<br />

Leim auf Leinwand, 300 x 300 cm<br />

Planet - Blau, 2010/11,<br />

Pigment, Tinte, Leim auf<br />

Leinwand, 300 x 300 cm<br />

Alle Abbildungen sind<br />

courtesy walter storms<br />

galerie.<br />

Günther Uecker wird seit 30 Jahren<br />

vertreten von der walter storms<br />

galerie, Schellingstr. 48, 80799<br />

München. www.storms-galerie.de


das Ergebnis dann zu akzeptieren und<br />

nichts mehr daran zu ändern, DAS ist<br />

die Wahrhaftigkeit, die man entwickeln<br />

muss, um mit sich umzugehen und daraus<br />

Erkenntnisse zu gewinnen. Statt immer<br />

korrektiv zu arbeiten und zu sagen:<br />

„Das ist nicht gelungen, das muss ich<br />

wegwerfen und dann mach ich doch<br />

wieder was Neues.” Alles muss erhalten<br />

bleiben, um es im Zusammenhang – also<br />

als Gesamtwerk – erkennbar zu machen.<br />

? wann ist ein Bild oder eine arbeit<br />

fertig?<br />

! Das ist überhaupt nicht benennbar.<br />

Es ist ein Gefühl. Das Bild-Werk ist<br />

hervorgebracht und der bildnerische<br />

Ausdruck ist die Wahrnehmung für den,<br />

der davor steht und es sieht. Damit ist das<br />

Bild erst erfüllt. Wenn Sie es in den Keller<br />

stellen und das Licht ausmachen, existiert<br />

Kunst nicht. Es ist nur Augenschein.<br />

? Gibt es etwas, das Sie sich<br />

wünschen, was im Betrachter passieren<br />

sollte, wenn er mit arbeiten von ihnen<br />

in kommunikation tritt?<br />

! Niemals. Es ist schon schwer genug,<br />

dass ich es aushalte, was ich da gemacht<br />

habe. Und es zu akzeptieren, das ist der<br />

größte Schritt, den man zu sich selber tun<br />

kann.<br />

Wenn man das so konsequent<br />

macht, ist das wahrscheinlich auch<br />

die Faszination für den Betrachter im<br />

Museum oder in einer Galerie. Der dann<br />

sagt: „In dieser Arbeit ist etwas enthalten,<br />

das in mir auch vorkommt, aber bisher<br />

noch nicht entdeckt war.“<br />

? Sie arbeiten ja nicht nur mit dem<br />

allen menschen bekannten nagel,<br />

sondern auch mit vielfältigen weichen<br />

materialien. ändert sich dadurch ihr<br />

zugang zu dem, was ausgedrückt wird?<br />

! Ja, ja. Viele sagen, der Uecker nagelt<br />

nur. Aber eigentlich sind das wehrhafte<br />

Prozesse, die eine Bildsensibilität im<br />

Hintergrund verbergen. Eigentlich<br />

vergleichbar mit einem Liebesbrief in<br />

der Schule: das erste Mädchen, dem man<br />

einen Liebesbrief schreibt und den man<br />

dann in der Tasche zusammenknüllt<br />

und ihn lange mit sich herumträgt.<br />

Diese verborgenen Geheimnisse haben<br />

eine starke Wirkung. Auch über das<br />

ganze Leben hinweg. Das Verheimlichte<br />

führt zu „Heimeligkeiten“, indem<br />

man Elternverhältnisse durch Ehe<br />

wiederherstellt und sich ein Sofa<br />

anschafft.<br />

„Erste Liebesbriefe an einen<br />

Unbekannten, zerrissen, über den Berg<br />

geweht und unerhalten” – das ist dieser<br />

zerrissene Wahnsinn im Kopf und der<br />

ist zu benennen als eine schöpferische<br />

Qualität im bildnerischen Ausdruck.<br />

Diese innere Struktur, die den Aufbau der<br />

Figuration „Mensch“ bedeutet und seine<br />

Funktion erkennbar werden lässt, ist<br />

für mich so etwas wie ein Blick in einen<br />

Sternenhimmel.<br />

Es gibt dabei aber auch Künstlervernichtungsprozesse,<br />

mit denen man gut<br />

umgehen muss, um nicht daran Schaden<br />

zu nehmen. Wenn man nicht dauernd<br />

arbeitet, kondensieren sich die manischen<br />

Verdichtungen so stark, dass sie einen<br />

vernichten und sich gegen den Künstler<br />

selbst wenden. Also ist er darum bemüht,<br />

das zu bannen und bildhaft zu machen,<br />

was ihn so erschüttert und drängt.<br />

? malt eS sich durch Sie, was<br />

Gestalt annehmen soll?<br />

! Das ist eigentlich besser gesagt, als ich<br />

es sagen kann. Ich begreife mich schon wie<br />

ein Medium. Und früher habe ich das auch<br />

geschrieben: „Ich möchte ein Loch sein. Und<br />

alles geht durch mich hindurch, so dass<br />

nichts aufgehalten wird.“<br />

? wenn „eS sich malt“, was<br />

kommt dann als erstes? der impuls<br />

oder das material? wie ist ihr<br />

Schaffensprozess?<br />

! Ich arbeite bewusstlos. Ich denke<br />

nicht Bilder vor. Ich denke nicht über<br />

Bilder nach.<br />

? dennoch berücksichtigen Sie<br />

aber bestimmte ästhetische dinge wie<br />

proportionen dabei.<br />

! Ja, das sind die erarbeiteten handschriftlichen<br />

Notationen, wie ich sie am<br />

Anfang beschrieben habe. Da habe ich<br />

mir sozusagen eine Handschrift geschaffen,<br />

die manchmal sehr plastischen<br />

Ausdruck findet und manchmal einfach<br />

nur ein steuerndes Moment ist, das man<br />

wegwischen möchte, das irritiert und ein<br />

starkes Energiefeld bildet.<br />

Ab 1962 war ich beteiligt, zusammen<br />

mit Mathematikern des MIT, in New York<br />

auszustellen, auch 1965 im Museum of<br />

Modern Art in „The Responsive Eye“-<br />

Exhibition – „Die Irritierung des Auges<br />

mit Hilfe optischer Mittel“. Man kann mit<br />

Hilfe von Interferenzen Welterkenntnis<br />

gewinnen. Und: Man braucht nicht zu<br />

sehen, wo man den Ansatz setzt.<br />

Interferenzen, also die Ringe, die<br />

sich durch ins Wasser geworfene Steine<br />

von zwei Punkten ausgehend bilden und<br />

überlagern, sind eine Wahrnehmung der<br />

Wirklichkeit. Meine Handlung, diese<br />

beiden Punkte anzulegen, ist nur, um die<br />

Wirklichkeit zu provozieren. Und so sind<br />

meine Bilder auch zu verstehen.<br />

? ins wasser geworfene Steine?<br />

! Da wirken Interferenzen ineinander<br />

und geben mir die Freiheit der Verfügbarkeit,<br />

was dann zum bildnerischen<br />

Ausdruck führt.<br />

Da wird nicht der einzelne Punkt<br />

überlegt eingesetzt, sondern einem<br />

innergesetzlichen Kontinuum folgend eins<br />

zum anderen vermehrt. Wie wenn man<br />

die Null und auch die digitalen Systeme<br />

verwendet, die die Grundlage bieten für<br />

unsere heutige Kommunikation.<br />

Das ist das, was meiner Arbeit<br />

zugrunde liegt. Was ja auch in den großen<br />

Bildern zu sehen ist, die jetzt bei Walter<br />

Storms in seiner Münchner Galerie<br />

gezeigt werden.<br />

? die letzte fragen: was bedeutet<br />

Glück für Sie?<br />

! Haben! Glück hat man, oder nicht.<br />

Und man kann damit nie umgehen.<br />

Man kann nur überwältigt sein, wenn<br />

man´s hat (lacht aus vollem Herzen).<br />

Und dann ist es wieder weg. Und dann<br />

kommt die Melancholie. Deswegen habe<br />

ich mir als Kind immer gesagt: „Ganz<br />

tief fallen, irgendwann gibt es dann<br />

eine Gegenenergie, die dich in äußerste<br />

Höhen schleudert.“ Und so habe ich<br />

mich immer fallen lassen. Auch in diese<br />

Unbehaglichkeit der Empfindung vor<br />

der Welt. Und dann schleudert es einen<br />

wieder daraus hervor.<br />

•<br />

N7 Günther Uecker´s Werk steht für die<br />

Kraft deutscher Künstler, am Weltmarkt mit<br />

nachhaltigem Schaffen zu bestehen.


my neighbourhood<br />

Seite 18<br />

Fotos: Ralf Kaspers<br />

IST UNSER<br />

POLITIScHES<br />

SYSTEM AM ENDE?<br />

EINE PROVOKATION<br />

er hat den lehrstuhl für<br />

Sozialpsychologie an der ludwigmaximilians-universität<br />

zu münchen<br />

inne, ist akademischer leiter der<br />

Bayerischen eliteakademie und leiter<br />

des lmu-centers for leadership<br />

and people management. das macht<br />

prof. dr. dieter frey zu einem höchst<br />

kompetenten Gesprächspartner für die<br />

aktuellen fragen der Gegenwart. insbesondere<br />

auch deshalb, weil er sich nicht<br />

hinter beschönigenden formulierungen<br />

versteckt, sondern missstände beim<br />

namen nennt.<br />

? herr professor frey, ist es nicht<br />

eine merkwürdige Situation, wie<br />

sich in geradezu hysterischer weise<br />

finanzinstitutionen, politik, Börse<br />

und Journalismus gegenseitig in eine<br />

abwärtsschraube der vernichtung<br />

wirtschaftlicher werte hineintreiben<br />

und man sich die frage stellen muss:<br />

ruiniert sich gerade der kapitalismus<br />

selbst?<br />

! In der Tat kann man erschrecken,<br />

wenn man die Medienberichte jeden Tag<br />

liest. Man erkennt in der Politik das sehr<br />

häufige Versagen, Führung zu zeigen ebenso<br />

wie wissenschaftlich-ethische Standards<br />

einzuhalten. In der Finanzwelt regiert nach<br />

wie vor die vorhandene Gier, schneller zu<br />

großem individuellen Reichtum zu kommen,<br />

und der Glaube, dass Geld die Welt regiert.<br />

Es hat in der Tat den Anschein, dass die<br />

Verteilung des Geldes die zentrale Frage der<br />

Menschen ist. Materialismus und Egoismus<br />

– ich wünschte man könnte es anders<br />

nennen – scheinen die entscheidenden<br />

Triebfedern zu sein.<br />

Es gibt Gott sei Dank zwar auch<br />

noch andere Personen, die sich jenseits<br />

von reinem Materialismus und reiner<br />

Gier gesellschaftlich wichtigen Aufgaben<br />

zuwenden. Aber leider muss man wohl<br />

sagen: Es herrscht die Devise „Was hab<br />

ich davon?“, „Was bringt es mir?“, „Welche<br />

Vorteile habe ich?“ – also dieses Ich-Denken,<br />

dieses egozentrische, kurzfristige Denken<br />

gepaart mit dem Ignorieren dessen, was<br />

die Schwachen und die Zukunft betrifft.<br />

Und in der Tat kann man sagen: Mit diesem<br />

Verhalten ruiniert sich der Kapitalismus<br />

selbst.<br />

? was glauben Sie, wie es weitergeht?<br />

! Ich bin nicht sehr optimistisch, dass<br />

sich vieles bessern wird. Oft braucht<br />

Illustration: Liga Kitchen


es die Oberkatastrophen, wie zum<br />

Beispiel die Erdbebenkatastrophe in<br />

Japan, die gleichzeitig auch mit einer<br />

Reaktorkatastrophe verbunden war,<br />

damit ein Umdenken einsetzt. Bei der<br />

Finanzkrise 2008 dachte man, es habe sich<br />

im Anschluss vieles verändert. De facto<br />

hat es das aber nicht getan, weder an<br />

den Kontrollmechanismen noch an den<br />

Mechanismen der Finanzinstitutionen.<br />

Schneller Erfolg, die Gier nach mehr, hohe<br />

und höchste Renditen, Rücksichtslosigkeit,<br />

kurzfristiges Denken herrschen vor. Und<br />

dieses wird begründet mit „Systemzwang“.<br />

? müssen wir Bürger uns gefallen<br />

lassen, wie eine kleine Schar<br />

höchstdotierter angehöriger einer<br />

finanzelite kokainrauschgleich die<br />

Grundwerte eines funktionierenden<br />

wirtschaftslebens ruinieren?<br />

Ralf Kaspers, Frankfurter Bõrse, 2008<br />

! Die Bürger, teilweise auch die Medien<br />

und natürlich auch die Politik stehen dem<br />

ohnmächtig gegenüber. Wir lassen uns vom<br />

Primat des Geldes und des Marktes zu sehr<br />

beeinflussen. Es gibt nach wie vor keine<br />

Personen und Institutionen, die hier Titfor-Tat<br />

sagen und handeln. Mehrere Punkte<br />

kommen dabei zusammen:<br />

• Das Phänomen Too-Big-to-Fail: Wir<br />

haben Institutionen, wie zum Beispiel<br />

Banken, bei denen man sich sagt, sie<br />

seien zu groß, als dass sie untergehen<br />

dürften, weil sonst das gesamte System<br />

zusammenbricht.<br />

• Der Lobbyismus der Banken und<br />

Finanzinstitutionen und deren Ignoranz.<br />

• Und das internationale Spiel, bei dem<br />

nationale Politik und nationale Alleingänge<br />

machtlos sind.<br />

Ich wünschte, ich könnte sagen: „Die Bürger<br />

müssen sich gar nichts gefallen lassen.“ Aber<br />

sie sind hilflos. Gefragt ist die Führung<br />

in der Politik und zwar sowohl national<br />

wie international in Form gemeinsamen<br />

Handelns. Gefragt ist aber auch Führung<br />

an den Universitäten, wo hochrangige<br />

Wissenschaftler sich mehr positionieren<br />

müssen. Aber von denen hört man ja, von<br />

Ausnahmen abgesehen, nichts.<br />

? deswegen ist es ja schon mal gut,<br />

wenn Sie jetzt die Stimme erheben.<br />

! Einen Aha-Effekt hatte ich durch den<br />

Beitrag von Frank Schirrmacher in der<br />

FAZ, in dem er sagte, er glaube, dass die<br />

Linken Recht hatten und dass die so genannten<br />

Reichen unser Wirtschaftssystem<br />

kaputtmachen (siehe ders., „Ich beginne<br />

zu glauben, dass die Linke recht hat”, in:<br />

FAZ.NET vom 15. 8. 2011). Ich glaube, da<br />

ist etwas Wahres dran. Wobei ich die Lage<br />

noch wesentlich dramatischer einschätze.<br />

Es bricht ja noch viel mehr über das<br />

bürgerliche Lager herein.<br />

Bedenken Sie doch einmal, wie viele<br />

Kehrtwendungen in der jüngsten Vergan-<br />

genheit stattgefunden haben. Die Mitglieder<br />

der bürgerlichen Schicht gingen doch bisher<br />

eigentlich davon aus, dass sie die Guten<br />

sind, die nicht betrügen. Und plötzlich<br />

wurde einem Freiherrn zu Guttenberg genau<br />

das Gegenteil nachgewiesen. Und mit ihm<br />

einigen weiteren Vertretern des politischen<br />

Lebens. Sie alle hatten sich akademische<br />

Würden erschummelt.<br />

Ein anderes Beispiel ist die Atompolitik.<br />

Da haben die meisten Anhänger konservativer<br />

Parteien über Jahrzehnte hinweg<br />

allen, die es hören wollten – oder auch nicht<br />

– vorgebetet, diese Technologie sei sicher,<br />

ohne Risiko und würde die Energiefrage für<br />

die Zukunft nachhaltig sichern. Und dann<br />

passiert Fukushima und die Konservativen<br />

müssen sich fragen, ob die Anti-Atomkraft-<br />

Aktivisten nicht doch Recht hatten.<br />

Und zum Schluss – zumindest hoffe<br />

ich, dass das der Schluss ist – stellt sich die<br />

Frage, ob der Markt wirklich alles so viel<br />

besser regeln kann oder ob nicht doch nur<br />

einige wenige superreich werden und der<br />

Mittelstand nichts davon hat, sondern in die<br />

Röhre schaut und verarmt.<br />

? was verstehen Sie unter dem<br />

„bürgerlichen lager“ oder den<br />

„konservativen“?<br />

! Konservativ bedeutet für mich, ein<br />

gefestigtes Wertegerüst zu haben, von dem<br />

aus man neue Entwicklungen beurteilt<br />

und im Prinzip begrüßt, sofern diese<br />

Neuerungen in Einklang zu bringen sind<br />

mit diesem Wertegerüst. Aber da liegt<br />

aus meiner Sicht der Hase nur allzu oft<br />

im Pfeffer. Es wird zu wenig klar und zu<br />

wenig überlegt auf richtige Neuerungen<br />

eingegangen, sie durchdacht und integriert.<br />

Im Gegenteil: Erst wird zu lange im Alten<br />

verharrt und dann, wenn es gar nicht<br />

mehr anders geht, aktionistisch „gehudelt“,<br />

wie der Bayer sagt. Manchmal aber wird<br />

auch gar nichts getan, obwohl dringender<br />

Handlungsbedarf besteht. Das gilt vor


allem für Themen, die kompliziert sind.<br />

Dann kann das notwendige Handeln<br />

nämlich leicht im Dickicht der Fachdetails<br />

verschleppt werden. Stichwort: Finanzkrise.<br />

Da hat sich doch nicht wirklich etwas<br />

verändert. Banken können sich auch<br />

weiterhin durch Fusionen zu systemischen<br />

Machtapparaten aufschwingen, Geschäfts-<br />

und Investmentbanken sind auch weiterhin<br />

nicht konsequent separiert und durch<br />

immer neues, billiges Geld wird ein neues<br />

Spekulationskarussell in Gang gesetzt. All<br />

das legt die Vermutung sehr nahe, dass der<br />

Staat von der Finanzelite gekapert worden<br />

ist und die altkommunistische Stamokap-<br />

Theorie in die Tat umgesetzt wird: Unter<br />

Führung einer Finanzoligarchie wird die<br />

Endphase des Kapitalismus eingeleitet,<br />

bei dem die Gewinne privatisiert und die<br />

Verluste sozialisiert werden. Und damit<br />

das ungestört vonstatten gehen kann,<br />

muss der Staat seine Verbindlichkeiten aus<br />

den Steuern seiner Bürger auch weiterhin<br />

bedienen, was Zinslasten und Fälligkeiten<br />

betrifft, die natürlich in die Finanzwelt<br />

zurückfließen. Eigentlich sind wir Zeuge<br />

eines ungeheuerlichen Prozesses.<br />

? wie konnte es dazu kommen?<br />

! Streng genommen, kann man sagen:<br />

Wenn die gesamte Elite von Politik, Wirtschaft<br />

und Wissenschaft nicht versagt hätte,<br />

wäre diese Entwicklung nicht in dieser Form<br />

entstanden. Diese Elite hat zu wenig gezeigt,<br />

dass sie sich ihrer Verantwortung bewusst<br />

ist, sowohl was die Ursachenbekämpfung<br />

als auch die Entwicklung von Lösungsideen<br />

betrifft. Aber es ist nicht allein die Elite,<br />

die versagt hat. Wir brauchen überall<br />

einen Aufbruch – in den Schulen und<br />

Universitäten, in Firmen, Verbänden. Wir<br />

brauchen mehr Diskussionen über die<br />

Ursachen und die Lösungsmöglichkeiten<br />

im Sinne von Think-Tanks. Wir müssen uns<br />

in ganz Europa fragen: Wo hat ein Land<br />

Potenzial? Wie kann es das Potenzial von<br />

Motivation und Kreativität seiner Bürger, seiner<br />

Institutionen, seiner Infrastruktur noch<br />

stärker ausschöpfen? Wo kann und muss<br />

man sich gegenseitig helfen? Wo braucht<br />

man ganz simple Marschallpläne, um Regionen<br />

voranzutreiben? Hier ist Politik alleine<br />

überfordert. Genauso wichtig ist es, dass die<br />

Elite aus Wirtschaft und Wissenschaft nicht<br />

verstummt, sondern ihre intellektuellen<br />

Beiträge leistet. Dazu gehört vor allem auch<br />

der Bezug zu den Werten, die Europas<br />

Kultur prägen. Nämlich eine offene Gesellschaft<br />

im Sinne einer funktionierenden<br />

Demokratie sowie eine sozial-ökologische<br />

Marktwirtschaft. Dieses ist ein hohes<br />

Kulturgut, das durch die jetzige Finanz- und<br />

Schuldenkrise auf Dauer massiv bedroht ist.<br />

Es hat den Anschein, dass dieser Bezug<br />

zu den zentralen Werten Europas den<br />

Eliten noch zu wenig bewusst ist. Kurzum:<br />

Leadership ist gefragt – in allen Bereichen,<br />

insbesondere in Politik, Wirtschaft und<br />

Wissenschaft.<br />

Es bedarf also nicht nur des Vorbildes<br />

der politischen Führung, sondern auch<br />

der Führung aller anderen Institutionen,<br />

die glaubwürdig das Warum und Wozu<br />

vermitteln und kreative Lösungsideen<br />

implementieren müssen.<br />

? Sie vertreten das fach der Sozial-<br />

und wirtschaftspsychologie an der<br />

ludwig-maximilians-universität in<br />

münchen. welche möglichkeiten sehen<br />

Sie als experte für eine veränderung der<br />

verhältnisse in dieser zeit?<br />

! Zuerst muss der Sinn, das Wozu,<br />

politischer Maßnahmen vermittelt<br />

werden. Dazu muss den unterschiedlichen<br />

Bevölkerungsgruppen zum Beispiel in<br />

den Ländern, die jetzt für die Schulden<br />

geradestehen, erklärt werden, warum die<br />

Rettungsmaßnahmen notwendig sind. In<br />

Ländern wie Griechenland muss man den<br />

Menschen erklären, warum sie Opfer bringen<br />

Kaspers,<br />

und warum sie Abstriche vom Status quo Ralf<br />

Einemilliondreihundertsechzigtausend, 2007


machen müssen. Gelingt es nicht, die Wozu-<br />

und Warum-Frage zu vermitteln, besteht die<br />

Gefahr, dass die Bevölkerung jeweils das<br />

eigene Land als unfair behandelt sieht.<br />

Die Europäische Union und der Euro<br />

sind kein Selbstzweck. Deshalb sollte<br />

nicht nur erklärt werden, dass wir Europa<br />

brauchen, sondern auch warum wir Europa<br />

und den Euro brauchen. Bedingt durch die<br />

mangelnde Idee, was man mit Europa eigentlich<br />

anfangen will, mangelt es auch an<br />

der Zielvorstellung, wo man hin will. Doch<br />

gerade wer Änderungen und Opfer fordert,<br />

muss Sinn und eine Vision bieten.<br />

? nun ist das einfordern von opfern<br />

ja nicht gerade populär...<br />

! Ohne Einsparungen verbunden mit<br />

harten Einschnitten werden sich die Probleme<br />

nicht lösen lassen. Wer Akzeptanz bei<br />

Einsparungen in der Bevölkerung erreichen<br />

will, muss transportieren, dass es nach<br />

dem Fairnessprinzip zugeht. Dabei gibt es<br />

mindestens drei Arten von Fairness, nämlich<br />

• Ergebnisfairness,<br />

• prozedurale Fairness und<br />

• informationale Fairness.<br />

Es stellt sich dabei die Frage, ob alle im<br />

Verhältnis gleich viel einsparen sollen, ob<br />

die finanziell Leistungsfähigeren stärker zur<br />

Kasse gebeten werden oder ob man auf sozial<br />

Schwache besondere Rücksicht nehmen<br />

soll? Es liegt in der Natur der Sache, dass<br />

diese Ergebnisfairness am schwierigsten<br />

zu erreichen sein wird, da Einsparungen<br />

immer schmerzliche Einschnitte für den<br />

Einzelnen bedeuten. Jeder Betroffene präferiert<br />

natürlich jenes Verteilungsprinzip, wo<br />

er am wenigsten Opfer zu bringen hat. Wie<br />

auch immer man sich entscheidet, ist es<br />

wichtig, dass der Bevölkerung die Kriterien<br />

transparent gemacht werden, nach denen<br />

Opfer gebracht werden müssen. Dabei muss<br />

die Ursache bzw. die Kausalität und das<br />

Ziel bzw. die Finalität der Einsparungen<br />

veranschaulicht werden.<br />

Prozedurale Fairness bedeutet, dass die<br />

Kriterien offengelegt werden, warum welche<br />

Einsparungen umgesetzt werden müssen.<br />

Der Philosoph Friedrich Nietzsche umschrieb<br />

es so: „Wer ein Warum zu leben hat,<br />

erträgt fast jedes Wie.“<br />

Ebenso ist informationale Fairness<br />

geboten, das heißt, die Menschen müssen das<br />

Gefühl haben, dass es keine Hidden Agenda,<br />

also keine Hintergedanken, gibt, sondern<br />

dass sie ehrlich und umfassend informiert<br />

werden. Die Fairnessforschung liefert also<br />

gute Grundlagen über die Akzeptanz von<br />

Einsparungen.<br />

? was ist, wenn die einschnitte<br />

gemacht sind? wie soll's dann<br />

weitergehen?<br />

! Die Europäische Union sollte sich im<br />

Sinne eines Problemlösers hinsichtlich der<br />

Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der<br />

krisengebeutelten Länder verstehen. Aufbauend<br />

auf traditionellen Stärken sollte der<br />

Fokus vor allem auf Förderung von Innovationen<br />

liegen. Notwendig dazu wären geballte<br />

Think-Tanks, die ausloten, wie die bisher<br />

ungenutzten Potenziale aktiviert werden<br />

können. Innovationszentren in Universitäten<br />

und Firmen wären genauso wichtig wie die<br />

Förderung von Existenzgründern. In Unternehmen,<br />

aber auch in den Behörden könnte<br />

die Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse<br />

über Innovationen forciert werden. Es<br />

gilt, dass jedes Land seine gesamten Ressourcen<br />

mit Hilfe Europas aktiviert. Vor allem<br />

neue, weitgehend unbesetzte Technologien,<br />

etwa im Bereich der erneuerbaren Energien,<br />

könnten durch die EU gefördert werden. In<br />

der effektiven Hilfe zur Selbsthilfe liegt die<br />

eigentliche Solidarität, die die EU seinen<br />

Mitgliedsländern schuldet. Vor allem ist ein<br />

konkreter, nachvollziehbarer Maßnahmenplan<br />

notwendig. Ansonsten drohen viele der<br />

Vorschläge bereits im Keim zu ersticken.<br />

Besonders wichtig ist es auch, den Menschen<br />

eine Perspektive zu geben. Es muss vermittelt<br />

werden, dass die krisengebeutelten Länder<br />

es tatsächlich schaffen können, wenn sie<br />

sich anstrengen. Es gilt, dabei eine Kultur der<br />

Eigeninitiative zu etablieren. Es geht darum,<br />

dass in den Schulen und Universitäten, aber<br />

auch in den Firmen verstärkt unternehmerisches<br />

Denken und Handeln aktiviert wird,<br />

dass mehr reflektiert wird: Wo kann jeder<br />

sein Know-how umsetzen, um sich möglicherweise<br />

selbständig zu machen? Wo gibt<br />

es innerhalb der Firmen, der Universitäten,<br />

des Landes Know-how, das in Produkte oder<br />

Dienstleistungen umgesetzt werden kann?<br />

Alle von der Schuldenfrage betroffenen<br />

Staaten müssen sich mit Hilfe der Führung<br />

von Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und<br />

Verwaltung darauf besinnen, ihre Potenziale<br />

und Stärken zu aktivieren.<br />

? welche rolle spielen die medien<br />

beim notwendigen entstehen eines<br />

solchen aufbruchs. müssen die medien<br />

dazu nicht erst selbst ihr menschenbild<br />

verändern? wird der mensch im<br />

fernsehen nicht von einer breiten front<br />

von Sendeanstalten als pausenclown<br />

vorgeführt – und damit nicht gerade als<br />

vorbild für andere gezeigt? wer schaut<br />

den verantwortlichen, die nur mit der<br />

wurst nach der Speckseite werfen, auf die<br />

finger und hindert sie daran, die verdummungsmaschinerie<br />

immer weiter laufen<br />

zu lassen. wer von den Gebührenzahlern<br />

empört sich endlich, dass auch öffentlich-<br />

rechtliche Sender oft gebührenfinanzierte<br />

Bedürfnisbefriedigung betreiben,<br />

statt ihrem auftrag nach Bildung und<br />

information nachzukommen? finden wir<br />

daraus selbst einen ausweg oder muss<br />

erst wieder einer kommen, der von oben<br />

ein konzept wie das „gesunde volksempfinden“<br />

durchsetzt?<br />

! Gott sei Dank gibt es einige Medien, die<br />

den Anspruch von Information und Aufklä-<br />

rung gut umsetzen – zum Beispiel DIE ZEIT,<br />

Süddeutsche Zeitung, FAZ und auch einige<br />

Rundfunk- und Fernsehsender. Andererseits<br />

muss man aber schon sagen, dass die Mehrzahl<br />

der Medien dazu beiträgt, den Menschen<br />

die Realität zu verschleiern – oder noch<br />

schlimmer – die Bürger zu entmündigen. Mit<br />

einer, wie ich es nenne, „Karnevalisierung der<br />

Gesellschaft”: Fun, Action und Unterhaltung.<br />

Am meisten ist der Rückzug der Intellektuellen<br />

zu beklagen – fast überall. Politik,<br />

Wirtschaft und Wissenschaft sind dabei nur<br />

Zuschauer, aber nicht Akteure. Es fehlt, auch<br />

an den Universitäten, eine kritische Analyse<br />

des Status quo – ganz in dem Sinne, wie Sie<br />

es beschreiben. Es wird viel zu wenig getan,<br />

um sich der unglaublich wertvollen Werte<br />

Europas bewusst zu werden. Weiterhin unternehmen<br />

wir einzeln und als Gemeinschaft<br />

zu wenig dafür, dass wir dieses nur bewahren<br />

können, wenn wir ökonomisch erfolgreich<br />

sind: mit Produkten und Serviceleistungen,<br />

die international Anklang haben, zum Beispiel<br />

Umwelttechnik, Medizintechnik – letztlich<br />

auch Produkte, die die Probleme dieser<br />

Welt minimieren, etwa Umweltprobleme oder<br />

Probleme der Demographie. Das ist aber mit<br />

einer Fun-Gesellschaft nicht möglich. Wer<br />

kennt schon unsere Nobelpreisträger?<br />

Ich möchte unser Land nicht schlecht reden.<br />

Aber es wird in der Tat zu wenig getan,<br />

um die „Verblödung der Massen” durch die<br />

Medien zu verhindern und zu vermindern.<br />

Und dies wird viel zu wenig thematisiert.<br />

Letztlich beginnt es doch schon in den<br />

Familien: chaos, mit hohen Trennungs-<br />

und Scheidungsquoten und einer massiven<br />

Verunsicherung, welche Werte der nächsten<br />

Generation weitergegeben werden sollen.<br />

Diese Wertediskussion ist für mich das<br />

zentrale Moment. Es kann eben nicht nur<br />

darum gehen, „Me, Myself, and I“ im Sinne<br />

von Narzissmus, Ichlingen und Fun zu fördern.<br />

Sondern es geht letztlich um wichtigere<br />

Dinge in unserer Gegenwart und Zukunft:<br />

Verantwortung für sich und andere übernehmen.<br />

Das heißt, sich zuständig fühlen


für lokale, regionale, nationale und globale<br />

Probleme. Solidarität für jene, denen es nicht<br />

so gut geht. Nachhaltigkeit im Denken und<br />

Handeln. Wir brauchen eine bessere Balance<br />

als bisher zwischen Ich-Verwirklichung und<br />

Verantwortung für die Zukunft der Gesellschaft<br />

und Gemeinschaft.<br />

Wir lassen derzeit letztlich die Familien<br />

in ihrer Erziehung alleine. Und seit vielen,<br />

vielen Jahren fordere ich eine Erziehungsausbildung<br />

für Eltern und Erzieher. Das löst<br />

zwar keine Strukturprobleme, aber es ist ein<br />

wichtiger Beitrag zur stärkeren Reflexion<br />

von Fragen wie „Welche Werte leiten mein<br />

Verhalten?”, „Welche Werte sollten in der Erziehung<br />

stärker transportiert werden?”. Diese<br />

Diskussion fehlt in Elternhäusern, Schulen,<br />

Universitäten und Unternehmen weitgehend.<br />

Manchmal denke ich, die Führungselite hat<br />

sich abgemeldet und ist untergetaucht.<br />

? ihr fazit?<br />

! Wir müssen endlich aufwachen und<br />

mit dem Nachdenken, Umdenken und<br />

Umsetzen anfangen. Nicht aktionistisch<br />

und hektisch, sondern klug und nachhaltig.<br />

Kein Land und keine Region ist so frei wie<br />

Deutschland und Europa. Wir sollten das<br />

nicht aus Bequemlichkeit verspielen.<br />

? anstelle der frage nach dem „und wo<br />

geht es hin?“, möchte ich Sie um ihre meinung<br />

zu einem zitat eines kollegen bitten.<br />

der slowenische philosoph und pychoanalytiker<br />

Slavoj Žižek hat in der zeit gesagt<br />

(ders., „der autoritäre kapitalismus ist der<br />

Gewinner der krise”, in: zeit-online<br />

vom 25.8.2011): „der autoritär geführte<br />

kapitalismus ist der Gewinner der jetzigen<br />

krise. er ist heute die größte Gefahr für<br />

demokratie und menschenrechte. es ist<br />

außerordentlich ironisch, dass heute, nach<br />

dem triumph des kapitalismus über den<br />

kommunismus, die kommunisten, die an<br />

der macht blieben, die besten manager des<br />

kapitalismus sind. dreißig Jahre nachdem<br />

deng xiaoping sagte, dass nur der kapitalismus<br />

china retten könne, gebärden sich<br />

die politischen führer des westens, als ob<br />

nur china den kapitalismus retten könnte.<br />

hegel hätte diese umkehrungen geliebt!“<br />

! Na ja. Es ist natürlich schon etwas<br />

ironisch, wenn man zum Beispiel die politischen<br />

Führer chinas beobachtet, wie sie<br />

die kapitalistischen Länder ermahnen, sich<br />

ökonomisch vernünftig zu verhalten, also<br />

sowohl das Fehlverhalten bei der Finanzkrise<br />

im Jahre 2008/2009 als auch die massive<br />

Schuldenkrise der meisten kapitalistischen<br />

Länder zu korrigieren. Ob china nun wirklich<br />

der Gewinner der jetzigen Krise ist und ob<br />

china wirklich den Kapitalismus retten kann,<br />

das wage ich schon zu bezweifeln. Trotz<br />

meiner Kritik am kollektiven Versagen der<br />

Elite bleibe ich in Folgendem optimistisch:<br />

Dass man durch Krisen auch lernen kann und<br />

dass Krisen letztlich auch immer chancen<br />

sind, grundlegend umzudenken. Nach wie vor<br />

hoffe ich, dass die Privilegien, die wir gerade<br />

in Europa haben, überleben werden und die<br />

Vernunft über die Gier siegen wird, oder beides<br />

zumindest eine gute Balance erhält, so dass wenigstens<br />

die schlimmsten Fehlentwicklungen<br />

korrigiert werden können. Je mehr menschliche<br />

Schwächen wie Gier, Grenzverletzungen<br />

usw. vorhanden sind, umso mehr brauchen wir<br />

funktionierende lokale, nationale und globale<br />

Institutionen, die dieses wirksam eingrenzen.<br />

Diese finanzmarktregulierenden Institutionen<br />

haben ihr Potenzial derzeit bei weitem noch<br />

nicht ausgeschöpft. Keine Frage: china hat<br />

hervorragende Manager. Aber die große Frage<br />

wird sein, ob es dem Land wirklich gelingt,<br />

Kapitalismus ohne eine offene Gesellschaft<br />

auf Dauer weiterzuentwickeln. china hat<br />

innerhalb weniger Jahrzehnte erreicht, wofür<br />

der Westen gut doppelt so lange gebraucht hat.<br />

Insofern können wir in der Tat von chinas<br />

Management einiges lernen. Andererseits sind<br />

viele Exzesse des chinesischen Kapitalismus,<br />

zum Beispiel das Fehlen von sozialer Absicherung<br />

der Bevölkerung, für den Westen nicht<br />

Ralf Kaspers, Cent, New York, 2003<br />

unbedingt ein Vorbild. Was wir brauchen<br />

ist ein Wirtschaftssystem mit menschlichem<br />

Antlitz. Also Systeme, die individuelle<br />

Freiheiten geben, aber gleichzeitig auch für<br />

die Schwachen da sind. Weltweit hat man das<br />

Gefühl, es geht fast nur noch ums Geld – egal<br />

ob im Sport, in der Politik oder in der Kultur.<br />

Und Geld korrumpiert eben in vielen Fällen.<br />

Wir brauchen eine bessere Balance mit Werten<br />

wie Solidarität, Gemeinschaftsgefühl und<br />

Verantwortungsübernahme auch für andere.<br />

Hier sind wir alle gefordert, jede/r sollte bei<br />

sich selbst beginnen.<br />

N7 Nachmann Rechtsanwälte sehen in<br />

den teilweise provokativen Thesen des<br />

Sozialpsychologen Prof. Dr. Frey bedenkenswerte<br />

Impulse, um die aktuelle Diskussion<br />

über die Zukunft unseres Finanzsystems voranzubringen<br />

und dabei die essentielle Bedeutung<br />

des Mittelstandes zu erkennen.<br />


my munich<br />

Seite 28<br />

Luxus ist<br />

die Idee des<br />

Schönen<br />

in uns<br />

Foto: © Hubertus Hamm / BMW Gran Coupé


wussten Sie eigentlich, dass die<br />

herstellung von luxusprodukten<br />

eine vielzahl an arbeitsplätzen in<br />

deutschland sichert und damit nicht<br />

nur ein wichtiger wirtschaftsfaktor,<br />

sondern vor allen dingen ein wichtiger<br />

kulturfaktor ist?<br />

die öffentliche wahrnehmung<br />

in unserem land ist bekanntermaßen<br />

anders, oft ideologisch. wer das<br />

wort luxus in den mund nimmt,<br />

muss damit rechnen, als jemand<br />

eingestuft zu werden, der abgehobener<br />

Superverdiener ist, dessen herz nicht<br />

am richtigen platz sitzt und der für die<br />

wirtschaftlich schwierige Situation<br />

vieler menschen in unserem lande<br />

eigentlich persönlich haftbar gemacht<br />

werden müsste.<br />

andere verkürzen luxus auf<br />

die magazin-vips, die es geschafft<br />

haben und mit den oligarchen<br />

auf den yachten dieser welt die<br />

champagnergläser kreuzen. mit<br />

anderen worten: luxus wird mit<br />

hochemotionalen assoziationen<br />

versehen, die mit der realität nur wenig<br />

zu tun haben. doch das ist sowohl<br />

falsch als auch kontraproduktiv. denn<br />

luxus „made in Germany” ist meist das<br />

resultat deutscher ingenieursleistung<br />

und ebensolcher handwerkskunst. und<br />

beides ist eine kulturleistung.<br />

um das thema also einmal<br />

emotionslos und in seiner wirtschaft-<br />

lichen Bedeutung beleuchten zu<br />

lassen, habe ich mich mit petraanna<br />

herhoffer vom „institut für<br />

luxus“ – kurz „inlux” – getroffen.<br />

nicht zum champagnertrinken,<br />

sondern auf eine latte macchiato aus<br />

der institutseigenen neSpreSSomaschine.<br />

ich wollte von der<br />

luxusexpertin mit lehrauftrag an der<br />

munich Business School wissen, was<br />

man eigentlich unter luxus subsumiert.<br />

! Luxus ist etwas, das erst stattfindet,<br />

wenn ich meine notwendigsten<br />

Lebensbedürfnisse erfüllt habe. Da gibt<br />

es die Definition von den Soziologen, die<br />

sagen, dass das Kleidung, Nahrung, Bildung<br />

und ein Dach über dem Kopf ist. Für mich<br />

gilt eine Erweiterung dieser Definition.<br />

Ich finde, jeder hat auch ein Anrecht auf<br />

eine bestimmte Form des Vergnügens. Also<br />

etwas, das mit Freizeit (= freier Zeit) zu tun<br />

hat, die ich mit etwas Schönem für mich<br />

erfülle. Aber sobald ich einen Tick über<br />

diese Grundbedürfnisse hinausgehe, wenn<br />

ich zum Beispiel den Bedarf nach Kleidung<br />

dadurch erfülle, dass ich mir hochwertige<br />

Mode kaufe, die mir gefällt – oder noch<br />

weiter gehend – die meine Persönlichkeit<br />

ausdrückt, dann ist das schon kein Erfüllen<br />

eines Grundbedürfnisses mehr, sondern<br />

die Realisierung eines Wunsches nach<br />

Luxus. Nach diesem Verständnis erfüllen<br />

sich die meisten Menschen in entwickelten<br />

Industrienationen meistens Luxuswünsche.<br />

Nur die wenigsten fahren aus überzeugung<br />

einen DAcIA, sondern ein Auto, das<br />

eine gewisse Facette ihrer Persönlichkeit<br />

herausstellt – von Sportlichkeit über<br />

Familientauglichkeit bis zu ökologischen<br />

Einstellungen. Insofern treffen wir alle<br />

permanent Kaufentscheidungen, die<br />

durchaus schon mit Luxus zu tun haben.<br />

Woran man sieht – und darauf werden wir<br />

in diesem Gespräch sicher noch einmal<br />

zurückkommen –, wie wichtig eine genaue<br />

Definition von Luxus ist und wie abhängig<br />

diese vom persönlichen Blickwinkel oder<br />

einer Branche ist.<br />

Ich würde mich über mehr<br />

wissenschaftliches Engagement und<br />

Unterstützung von Seiten der Industrie<br />

im Bereich der Luxusforschung freuen.<br />

Zum Beispiel über das Einrichten eines<br />

Lehrstuhls, in den Sozial- und – wichtiger<br />

noch – in den Wirtschaftswissenschaften.<br />

Zum Beispiel könnte ich mir<br />

vorstellen, dass die eher ablehnende<br />

Haltung in Deutschland gegenüber Luxus<br />

Illustration: Liga Kitchen


auch durch einen „Overload” an Vulgärem<br />

in Zusammenhang mit Luxus zustande<br />

kommt. Zu Recht finden es die Menschen<br />

unanständig, wie die Oligarchen in<br />

Russland oder die Neureichen in china<br />

ihren Reichtum zur Schau stellen. Das<br />

wird noch dadurch unterstützt, dass sich<br />

Luxusartikel auch in gewissen Milieus<br />

– genauer gesagt in der Prostitution und<br />

Zuhälterei – durchgesetzt haben. Oder in<br />

der Rapper-Kultur, wo dicke Goldketten und<br />

hochkarätige Diamanten gerne zur Schau<br />

gestellt werden.<br />

? haben diese milieus den Begriff<br />

„luxus“ eigentlich beschädigt?<br />

! Nein. In Amerika, wo diese Milieus<br />

ja sehr stark auf sich aufmerksam machen,<br />

gibt es eine neue Begrifflichkeit dafür.<br />

Da gilt so etwas als „Bling-Bling“. Dieses<br />

Wort zeigt sehr schön die Inhaltslosigkeit<br />

derartiger Protzerei. Solch spielerische<br />

Begrifflichkeit gibt es bei uns im Deutschen<br />

noch nicht. Der deutsche Ausdruck<br />

„protzen“ hat ja schon von der Lautmalerei<br />

her etwas Aggressives an sich.<br />

? welche vorteile für die<br />

wirtschaft hat die Beschäftigung mit<br />

dem luxus?<br />

? Wolfgang Reitzle, früher Vorstand<br />

bei BMW und dann bei Jaguar, hat sich als<br />

einziger Industriekapitän die Frage nach<br />

dem Luxus gestellt und darüber sogar<br />

ein Buch mit dem Titel „Luxus schafft<br />

Wohlstand“ geschrieben. Seine Aussage<br />

darin lautet: Luxus ist Innovationsmotor<br />

und braucht Forschung und Entwicklung.<br />

Denn nur so findet man das bessere<br />

Produkt. Eines seiner Beispiele dafür ist<br />

das Navigationssystem, das ursprünglich<br />

mit großem Aufwand für sehr luxuriöse<br />

Limousinen entwickelt wurde und heute bei<br />

ALDI im Angebot ist. Das ist der „Trickle-<br />

Down-Effekt“ von solchen Innovationen,<br />

die letztendlich für viele Konsumenten<br />

verfügbar werden.<br />

? haben Sie eine ahnung, wie viele<br />

arbeitsplätze in deutschland mit der<br />

herstellung von luxusprodukten zu tun<br />

haben?<br />

! Wir arbeiten gerade daran, das<br />

herauszufinden. Dabei hängt diese Zahl<br />

von der Definition ab, wen wir zu den<br />

Luxusproduzenten rechnen: Teile der<br />

Uhren- und Schmuckindustrie gehören mit<br />

Sicherheit dazu. Aber welche Segmente<br />

in der Textil- und Modeindustrie mit<br />

ihren 4ooooo Arbeitsplätzen? Wo ziehen<br />

wir die Grenze zwischen Premium und<br />

Luxus? Produzieren Unternehmen, die<br />

Design, Funktionalität und Materialität im<br />

Sinne der „Best of category“ verdichten,<br />

ebenfalls Luxusprodukte? Und wie sieht<br />

es mit denjenigen Unternehmen aus, die<br />

es schaffen, ein Produkt emotional so<br />

aufzuladen, dass der Verbraucher einen<br />

psychologischen Nutzen hat und schon<br />

beim Kauf weiß, dass er dafür einen<br />

Mehrpreis bezahlt?<br />

Daran können Sie sehen, dass da eine<br />

ganze Menge deutscher Arbeitsplätze im<br />

Gespräch sind. Und das finde ich auch<br />

richtig. Denn ich bin sehr dafür, nicht so<br />

zu tun, als ob es sich bei Luxusprodukten<br />

um ein kleines, nettes Nischchen handeln<br />

würde, bei dem nur ein paar hundert<br />

Männlein als fleißige Maßschuster,<br />

Sattelmacher oder Edeltäschner in ihren<br />

Werkstätten Maßgeschneidertes für eine<br />

völlig abgehobene Klientel mit dem Munde<br />

dengeln.<br />

Man muss auch unterscheiden,<br />

ob man den Begriff „Luxus” für die<br />

Gesellschaft definieren möchte – oder ob<br />

ein Unternehmen eines seiner Produkte zu<br />

einem Luxusprodukt stilisieren möchte.<br />

Ein Beispiel für Letzteres: Ich habe hier<br />

auf dem Tisch dieses Wasser aus Osttirol:<br />

„Urleiten“. Das sprudelt seit vielen hundert


Jahren aus der Erde. Damit ist es also weder<br />

ein neues Produkt, noch per se Luxus. Um<br />

dieses Wasser nun zu einem Luxusprodukt<br />

zu machen, brauche ich ein Gutachten,<br />

das die Qualität dieses Wassers ermittelt.<br />

Das fiel in diesem konkreten Fall sehr<br />

gut aus. Im nächsten Schritt hat man eine<br />

neue Flaschenform entwickelt, welche<br />

die Eleganz und Qualität dieses Wassers<br />

verkörpert. Dann mussten Textetiketten<br />

entwickelt werden, die klar machten, dass<br />

es sich um ein artesisches Wasser handelt,<br />

das nur aus dieser einen Quelle sprudelt.<br />

Darüber hinaus kommuniziert man<br />

heute dem Handel und Verbraucher, dass<br />

„Urleiten” von seinem Geschmack her ein<br />

idealer Begleiter zum Wein ist. Kurzum:<br />

Um eine Marke zu einer Luxusmarke zu<br />

machen, muss sie viele Inhalte in sich<br />

tragen. Und wenn wir nochmal zu den<br />

Arbeitsplätzen kommen, dann muss<br />

man all diese Arbeitsplätze, an denen<br />

solch eine „Raffinierung“ eines Produkts<br />

stattfindet, eigentlich auch dazurechnen.<br />

Womit wir bei bestimmten Zweigen des<br />

Dienstleistungsgewerbes sind.<br />

Es kommt also bei der gesamten<br />

Luxusdiskussion sehr darauf an, dass man<br />

ganz genaue Kriterien schafft, um den<br />

Begriff „Luxus“ in den Griff zu bekommen.<br />

? wenn ich bei ihrem Beispiel<br />

bleibe und mal den advocatus diaboli<br />

gebe, dann taucht ja schnell bei einer<br />

solchen Beschreibung die vermutung<br />

auf, dass es sich bei luxusprodukten<br />

um marketing-Geraschel handelt.<br />

! Nein, weil die Qualität dieses<br />

Wassers stimmt – wenn wir bei diesem<br />

konkreten Beispiel bleiben. Man kann<br />

natürlich auch ein Wasser über einen<br />

Goldfilter fließen lassen, wie „Gize” aus<br />

Kanada das macht. Das funktioniert<br />

sicherlich auch eine Zeit lang ganz gut.<br />

Aber ich denke, das ist nicht nachhaltig.<br />

? luxusprodukte müssen also auch<br />

eine gewisse nachhaltigkeit haben?<br />

! Ja, in jedem Fall! Verlassen wir<br />

mal den Lebensmittelbereich, dann<br />

wird das deutlicher. Luxusgüter sind<br />

immer an eine gewisse Langlebigkeit<br />

gekoppelt. Das Unternehmen HERMÈS hat<br />

Luxusgegenstände als Objekte definiert, die<br />

es lohnt, zu reparieren. Und für die es auch<br />

die Ersatzteile gibt, sowie die Bereitschaft,<br />

die Objekte zu erhalten.<br />

Luxusprodukte werden ja auch gerne<br />

in die nächste Generation weitergegeben.<br />

Dabei leidet auch nicht ihre Schönheit,<br />

weil Luxusgegenstände eine gewisse<br />

Zeitlosigkeit in ihrem Design haben. Das<br />

Gegenteil ist... „Bling-Bling”!<br />

Luxushersteller müssen sich<br />

darüber hinaus heute noch einer weiteren<br />

Herausforderung stellen: Sind die einzelnen<br />

Komponenten auch recycelbar? Gehen<br />

sie also in den Kreislauf zurück oder<br />

wandern sie auf eine Müllhalde. Allein die<br />

Assoziation Müllhalde ist ausgesprochen<br />

kontraproduktiv für jedes Luxusprodukt.<br />

? Gehört das wirklich zur<br />

definition von luxusgegenständen<br />

dazu?<br />

! Ich finde schon. Stichwort<br />

„NESPRESSO“. Sehr guter Kaffee in genialer<br />

Verpackung mit stylischen Apparaten<br />

produzierbar, dargeboten von einer<br />

Hollywood-Ikone. Die gesamte Erscheinung,<br />

Geschichte und Qualität ist also absolut<br />

stimmig. Aber es gibt keine vernünftigen<br />

Behälter, in denen man die gebrauchten<br />

Kapseln sammeln kann – ohne dass sie<br />

schimmeln – und retournieren kann. Da<br />

fehlt der letzte Schritt.<br />

? damit sind wir bei der frage, ob<br />

luxusgegenstände zwangsläufig nur<br />

in kleinen und kleinsten Stückzahlen<br />

gefertigt werden müssen. ein 7er Bmw<br />

Foto: © Hubertus Hamm


ist ja zweifelsfrei ein luxusgegenstand,<br />

der nachhaltig und langlebig ist, der<br />

aber keineswegs in zehn-exemplarauflagen<br />

von hand gefertigt wird,<br />

sondern als ein massenprodukt<br />

aufgelegt ist.<br />

! Deswegen sage ich, dass man die<br />

einzelnen Branchen – ob Schmuck, Food<br />

oder Autos – voneinander trennen muss.<br />

Die Autoindustrie hat andere Volumina, weil<br />

man damit ja auch Eliten weltweit bedient.<br />

In jedem Kontinent weiß man, was ein BMW<br />

ist. Aber man weiß nicht unbedingt überall,<br />

was eine Uhr von A. LANGE & SÖHNE<br />

ist, obwohl sie genauso viel kosten kann<br />

wie ein 7er BMW. Und dann gibt es ja auch<br />

noch kleinere Serien und ganz besonders<br />

seltene Stücke wie den jüngst vorgestellten<br />

BMW-Steinway-7er, der mit einem<br />

besonderen Klavierlack versehen ist und<br />

dadurch noch feiner und satter glänzt als<br />

der herkömmliche Autolack. Das sind aber<br />

„Frills“, bei denen man über das Marketing<br />

einer speziellen, abgrenzungsbedürftigen<br />

Klientel noch eine kleine Besonderheit an<br />

die Hand geben will.<br />

? wenn ich all das höre, scheint<br />

mir der Begriff „luxus“ in Bezug<br />

auf seine vielfältigkeit ein plural-<br />

Begriff zu sein – wie der englische<br />

ausdruck für oberschicht, den es ja<br />

auch nur im plural gibt, nämlich „the<br />

upper classes“. Gehört zur vielfalt<br />

dessen, was luxus ist, auch dazu, dass<br />

luxus etwas – wie soll ich sagen –<br />

Spielerisches hat?<br />

! Unbedingt. Nehmen Sie das iPhone:<br />

Im Vergleich mit einem BlackBerry kann<br />

man ein iPhone ja in viel höherem Maße<br />

selbst gestalten und individualisieren.<br />

Welche Apps lädt man sich runter,<br />

welche Fotos lässt man drauf? Womit wir<br />

bei der spielerischen Komponente des<br />

Luxus sind. Denn die gehört eindeutig<br />

dazu. Man kann es auch die sinnlich<br />

erfahrbare, hedonistische Komponente<br />

nennen. Ein iPhone gehört fast schon<br />

zur eigenen „Body Decoration“ dazu. Und<br />

diese höchst individuelle Verbindung<br />

mit einem Produkt ist das, was ich als<br />

Liebesbeziehung zwischen Verbraucher<br />

und Produkt bezeichne. Ich kann das<br />

natürlich auch zu meinem BIc-Feuerzeug<br />

haben, zum Beispiel weil es mich gerettet<br />

hat, als ich eine Nacht auf dem Haleakalā<br />

auf Maui verbringen musste und damit ein<br />

Feuer entfachen konnte. Aber das ist eher<br />

selten. Ein Luxusprodukt mit persönlichen<br />

Erinnerungen aufzuladen, heißt, ihm eine<br />

individuelle Wertigkeit zu geben. Zum<br />

Beispiel wenn Sie Ihrem Sohn zum Abitur<br />

einen MONTBLANc-Füller schenken. Dann<br />

wird das ein Stift sein, der eine gewisse<br />

Wertschätzung der Leistung zum Ausdruck<br />

bringt und diesen jungen Menschen mit<br />

einer solchen Geste in die Erwachsenenwelt<br />

hereinholt. Das wird man mit einem<br />

Billigprodukt nicht erreichen können.<br />

? luxus hat ja wohl auch immer<br />

Belohnungscharakter?<br />

! So ist es. Natürlich kann man sich<br />

als alleinstehende Rechtsanwältin ein Paar<br />

schicke Weißgold-creolen oder etwas<br />

Schönes von JIL SANDER als Belohnung für<br />

eine besonders anstrengende Arbeitszeit<br />

leisten. Gerade wenn man keinen Kerl<br />

an der Seite hat, der einem so etwas<br />

schenkt. Luxusgegenstände müssen etwas<br />

Besonderes sein, sonst sind sie vielleicht<br />

teuer – aber kein wirklicher Luxus.<br />

ABER! Wenn sich Abramowitsch die<br />

größte Yacht der Welt bauen lässt, dann<br />

hat das nichts mit Belohnung zu tun,<br />

sondern mit der Demonstration von Macht.<br />

Und vielleicht ist es auch genau das, was<br />

viele Menschen bei uns spüren, wenn sie<br />

Luxusgüter skeptisch sehen.<br />

Alte Luxusobjekte lassen sich leichter<br />

lieben, wie zum Beispiel eine Vintage-<br />

Kelly-Bag von HERMÈS. Sie hat Patina und<br />

zeigt Substanz, schön zu altern – sowohl<br />

von der Qualität und der Nachhaltigkeit<br />

als auch von der zeitlosen Ästhetik her.<br />

Sie zeigt auch, dass man sich schon lange<br />

so etwas leisten kann. Außerdem wirkt<br />

sie erst auf den zweiten Blick (diskret<br />

und trotzdem abgrenzend), ist immer<br />

gepflegt worden (reparaturfähig), und ist<br />

porentief ökologisch, weil man ein solches<br />

Objekt niemals wegwerfen wird. Ein<br />

Luxusgegenstand in der zweiten Generation<br />

hat noch eine weitere Ausstrahlung, die man<br />

mit Geld nicht kaufen kann: Tradition.


Foto: Ralf Kaspers, Kaviar, 2008<br />

? wenn man berücksichtigt,<br />

dass deutschland bereits jetzt<br />

weltweit den dritten platz als luxusproduktionsstandort<br />

einnimmt, würde<br />

ich gerne ihren vergleich kennen lernen<br />

zwischen der wahrnehmung von luxus<br />

„made in Germany“ und luxus „made<br />

in france“ oder luxus „made in italy“?<br />

! An erster Stelle unterscheiden<br />

sich diese drei Ursprungsorte durch die<br />

Wahrnehmung. Wir Deutsche bezeichnen<br />

ja freiwillig Frankreich als die Wiege des<br />

Luxus. Das hat gewisse geschichtliche<br />

Wurzeln. Am französischen Hof in<br />

Versaille lebten immerhin 20000 Menschen,<br />

die sich alle mit immer größeren und<br />

schöneren Luxusgegenständen gegenseitig<br />

zu übertrumpfen trachteten. Das hat eine<br />

großartige Qualität an Handwerkskünsten<br />

hervorgebracht, die bis heute ihre<br />

Ausstrahlung auf unser kollektives<br />

Unbewusstes haben. Daraus leitet sich auch<br />

die Wirkung von Kofferherstellern wie<br />

LOUIS VUITTON oder Sattelmachern wie<br />

HERMÈS her. Dennoch steht Frankreich im<br />

Luxusbereich schwerpunktmäßig für Mode<br />

– allerdings mit diesem Handwerksaspekt,<br />

denn Haute couture ist ja auch<br />

Maßanfertigung per Hand. Dazu kommt<br />

Kosmetik und Parfüm, also weitgehend<br />

alles, was mit weiblicher Selbstoptimierung<br />

zu tun hat.<br />

Auch Italien steht für Mode, aber<br />

mehr in Richtung „Bella Figura“, wozu eine<br />

Zeit lang auch eine gewisse Schnittigkeit<br />

von Autokarosserien dazugehörte. Nicht<br />

zuletzt gestattet das Matriarchat in Italien<br />

dem Mann in dieser Hinsicht eine Art<br />

Pfauenrolle zu übernehmen, weshalb wir<br />

einen gewissen männlichen Schwerpunkt<br />

bei der Selbstdarstellung haben. Generell<br />

liegt die Hauptkompetenz der Luxusartikel<br />

Italiens aber im Bereich des Leders. Also<br />

Schuhe und Taschen. Damit ist es auch ein<br />

sehr handwerkslastiger Luxus.<br />

Im Luxus „Made in Germany“ findet<br />

sich ebenfalls eine starke Fraktion im<br />

Manufaktur- respektive Handwerksbereich<br />

(von Meißen über Arzberg bis Dibbern),<br />

die sowohl in einem traditionellen als auch<br />

sehr frischen Design daherkommen. Die<br />

andere starke, sehr viel modernere Seite<br />

liegt im Ingenieursbereich. Stichwort:<br />

Luxusautos (PORScHE, MAYBAcH,<br />

ROLLS ROYcE, BENTLEY usw.), Uhren (A.<br />

LANGE & SÖHNE, die Glashütte-Region),<br />

Musikakustik (Burmester), aber auch im<br />

Einrichtungs- und Ausstattungsbereich von<br />

Häusern (DEDON, ROLF BENZ, WALTER<br />

KNOLL). Manche Branchen werden von<br />

deutschen Herstellern sogar dominiert –<br />

beispielsweise Küchen, Badeinrichtung,<br />

Musikinstrumente und Megayachten.<br />

Und damit nicht genug: Wir haben,<br />

wie die Uni Berlin erforscht hat, einen<br />

Gründerboom im Luxusbereich in der Zeit<br />

zwischen 2000 und 2005 erlebt. Und zwar<br />

– große überraschung – in Berlin (!), wo<br />

sich viele junge Firmen gegründet haben.<br />

Wie zum Beispiel die Brillenmanufaktur<br />

„MYKITA“ oder „ic! Berlin“, die ja von der<br />

Materialität her innovativ sind mit ihren<br />

Scharnieren und Gelenken. Die außerdem<br />

einen tollen Werbeauftritt haben und<br />

sehr schnell global Erfolg hatten. Und<br />

wenn wir in Berlin bleiben, weil es ja<br />

immer heißt, Berlin habe kein Geld, sei<br />

aber sexy, dann muss man auch einmal<br />

die vielen jungen Firmengründungen im<br />

Modebereich dort sehen wie „lala Berlin“,<br />

„kaviar gauche“ aber auch „Irene Luft“<br />

hier aus München. Da sieht man bei allen<br />

dreien ein Superdesign aus hochwertigsten<br />

Materialien, die alle fantastisch in unsere<br />

Zeit passen. Diese Labels werden es –<br />

wenn sie nicht von Investoren aufgekauft<br />

werden – sicher noch eine ganze Zeit<br />

sehr schwer haben, ehe sie ihre Marken<br />

etabliert haben. Aber das ist nur eine<br />

wirtschaftliche Frage. Keine, welche die<br />

Qualität in Frage stellt. Und all das basiert<br />

nicht so sehr auf Ingenieurskunst, sondern<br />

auf Kreativität! Mein Kollege Klaus Heine


von der TU Berlin spricht sogar von einem<br />

Luxusbranchenwunder, dessen Ausmaße<br />

man besser beurteilen könnte, wenn die<br />

Luxuslandschaft bereits katalogisiert,<br />

vermessen und kommuniziert wäre.<br />

All das sollte passieren, damit<br />

sich so etwas einstellt wie Stolz auf die<br />

eigene Luxusgüterindustrie, statt gebannt<br />

jenseits des Rheins zu schauen und das<br />

französische „Savoir Vivre“ zu bestaunen<br />

respektive das „Dolce Vita“ jenseits der<br />

Alpen. Denn auch wir Deutsche haben<br />

eine stark hedonistische Komponente in<br />

unserem Lebensgefühl – auch wenn wir<br />

noch keine Begrifflichkeit dafür gefunden<br />

haben. Wobei wir natürlich wissen, dass das<br />

„Wording” – siehe „Savoir Vivre“ und „Dolce<br />

Vita“ – sehr wichtig für die Bewusstwerdung<br />

dessen ist. Da mangelt es uns noch an<br />

Identität und Selbstdarstellung. Allerdings<br />

glaube ich, dass wir kurz davor sind,<br />

diese Hürde zu nehmen und uns dazu zu<br />

bekennen.<br />

? fehlt es uns vielleicht an den<br />

medialen plattformen für diese welt des<br />

luxus?<br />

! Absolut. Wie kaum ein anderes<br />

Land verfügt Deutschland mit über 1400<br />

Weltmarktführern – „Hidden champions”<br />

genannt – über ein enormes Potenzial,<br />

dass aber eben gerade auch das deutsche<br />

Defizit zum Ausdruck bringt. Nämlich<br />

führend zu sein in Ingenieurs- und<br />

Handwerkskunst, aber zu bescheiden<br />

und unsicher in der Verwertung dieser<br />

Qualität und dem Aufbau strahlender<br />

Marken und ihrer Emotionalisierung.<br />

Bisher verdient nur der Boulevard sein<br />

Geld damit. Und das ist maßlos schade.<br />

Dieses „Red carpet-Phänomen“ lässt uns zu<br />

Schlüssellochguckern verkommen, obwohl<br />

wir Regisseure und Ausstatter großer<br />

Luxusmarken sein könnten. Und von dieser<br />

chance sollten wir unbedingt Gebrauch<br />

machen.<br />

Denn Luxus ist ein genialer<br />

Gegenentwurf zum marodierenden<br />

Discount, der mit seiner „H&M-isierung”<br />

die Innenstädte verstopft und die Leute<br />

mit seinen Billigversprechen in die<br />

Discountmärkte der Vorstädte lockt.<br />

Und dann haben wir plötzlich wieder<br />

irgendeinen Lebensmittelskandal und<br />

merken, dass man eben doch ein bisschen<br />

mehr Geld für saubere und reine Nahrung<br />

ausgeben muss. Das ist nämlich ebenfalls<br />

eine Seite des Luxus – die gute, saubere,<br />

nachhaltige Qualität, die Kennerschaft und<br />

Einsicht erfordert, statt „Instant Pleasure“<br />

für kleines Geld zu versprechen. Ein<br />

connaisseur weiß, WAS er genießt, und<br />

warum es gut ist. Und zwar im Detail. Und<br />

er kennt und schätzt auch den Mangel. Ja,<br />

er sucht ihn sogar gezielt auf, um aus dem<br />

Kontrast die Fähigkeit zum Genuss zur<br />

Kunst zu verfeinern. Eine Haltung, die dem<br />

Fastfood-Anhänger völlig abgeht. All das<br />

verdichtet sich in dem Satz: „Nicht das Teure<br />

ist das Bedenkliche, sondern das Billige<br />

ist das, worüber wir nachdenken müssen!“<br />

Es hört sich zwar ungewohnt an, aber das<br />

Thema „Luxus“ könnte uns einige wichtige<br />

Ideen genau dafür geben.<br />

•<br />

N7 Nachmann Rechtsanwälte begrüßen<br />

die Einstellung, dass die Herstellung von<br />

Luxusgütern eine wichtige Rolle in der<br />

deutschen Wirtschaft spielt und ihr ermöglicht,<br />

in einer immer globaleren Wettbewerbssituation<br />

Spitzentechnologien zu entwickeln.


nachmann client<br />

Seite 42<br />

Fotos: Hans-Günther Kaufmann<br />

ScHWESTERN WERK<br />

UND GOTTES BEITRAG<br />

ODER WIE EIN<br />

ScHWESTERNORDEN<br />

WASSER IN GüTE<br />

VERWANDELT.<br />

die „kongregation der<br />

Barmherzigen Schwestern vom<br />

hl. vinzenz von paul“ mit ihrem<br />

mutterhaus in münchen ist die<br />

100-prozentige Gesellschafterin der<br />

adelholzener alpenquellen Gmbh. die<br />

Quelle sprudelt und die Schwestern<br />

verwandeln wasser nicht in wein,<br />

sondern in wohltaten. die erlöse<br />

stellen einen hohen Standard in ihren<br />

drei krankenhäusern, sechs alten-<br />

und pflegeheimen sowie in ihrer<br />

Berufsfachschule für krankenpflege<br />

sicher. außerdem finanziert die<br />

ordensgemeinschaft aus den Gewinnen<br />

ihre werke der Barmherzigkeit.<br />

dazu zählen unter anderem auch<br />

Spenden an soziale projekte im<br />

landkreis traunstein, in dem die<br />

adelholzener alpenquellen ihren Sitz<br />

haben. ebenfalls unterstützt werden<br />

kindergärten, Schulen, die feuerwehr,<br />

das rote kreuz und Sportvereine –<br />

unternehmerisch wie auch sozial eine<br />

Glanzleistung.<br />

ich sprach mit der Generaloberin<br />

Schwester theodolinde mehltretter,<br />

die in der Geschäftsführung von<br />

adelholzener lange Jahre das personal<br />

geführt hatte und seit 2004 die<br />

Geschicke des ordens leitet, über ihre<br />

frühere und jetzige arbeit.<br />

als ich ihr zum ersten mal<br />

begegnete, fielen mir als erstes die<br />

hände der Generaloberin auf. Große,<br />

liebevolle hände, die gepflegt sind und<br />

dennoch ein leben lang gewohnt waren,<br />

zu arbeiten. und dann ihre wachen,<br />

gütigen augen. Besser kann man „ora<br />

et labora“ nicht verkörpern, dachte<br />

ich bei mir. und wollte als erstes<br />

wissen, wie es dazu gekommen ist, dass<br />

ein orden christlicher nonnen ein<br />

lifestyle-wasser wie „<strong>active</strong> o2“ auf<br />

den markt bringen konnte.<br />

! Wir hatten damals Herrn Friedrich<br />

Schneider als Geschäftsführer. Er wusste<br />

von diesem mit Sauerstoff angereichertem<br />

Wasser. Ich habe ihm damals gesagt: „Herr<br />

Schneider, wenn wir zwei a Stund z´samm<br />

spazieren gehen, ist es genauso, als wenn<br />

ich dieses Sauerstoffwasser trinken tät.”<br />

Das war meine erste Einschätzung. Und ich<br />

blieb auch ziemlich lange skeptisch. Aber<br />

durch viele Gespräche und die Entwicklung<br />

des Produkts habe ich gesehen, dass es<br />

wirklich etwas Gutes ist und dem Körper<br />

einen Impuls, ja richtig Leben gibt. Das<br />

ist wirklich so. Ich kann es zum Beispiel<br />

auf d'Nacht nicht trinken. Da kann ich<br />

gar nicht mehr richtig einschlafen. Das<br />

ist der Sauerstoff. Der geht sofort in die<br />

sauerstoffunterversorgten Organe über. Ich<br />

trink´s deshalb mittags, wenn ich müd´ bin.<br />

? vielleicht sollten Sie’s zum<br />

frühstück trinken...<br />

! Ja, aber da mag ich lieber Kaffee. Also,<br />

es ist wahr, dass es wirkt. Und wir sind froh<br />

und glücklich, dass wir damals gesagt haben:<br />

„Das wollen wir jetzt versuchen.“ Wir haben<br />

in der Kongregation sogar dem Wunsch<br />

stattgegeben, in andere Länder damit zu<br />

gehen.<br />

? kein schlechter entschluss!<br />

adelholzener „<strong>active</strong> o2“ ist<br />

marktführer in deutschland und wird<br />

auch in einigen anderen ländern<br />

vertrieben. reicht es ihnen, wenn eine<br />

solche entscheidung gut für’s Geschäft<br />

ist, oder gibt es da noch andere motive,<br />

die wichtig sind.<br />

! Schauen S', „Adelholzener“ ist ein<br />

Name, durch den eine Botschaft rüberkommt.<br />

Wir haben das Glück, dass wir unser<br />

Wasser aus der Tiefe der bayerischen Alpen<br />

beziehen. Und das rüberzubringen, ist uns<br />

ganz, ganz wichtig.<br />

Deshalb symbolisieren die Berge auf


den Etiketten die Klarheit und Reinheit<br />

und Ursprünglichkeit. Der Kunde will ja<br />

ein Produkt, das ehrlich ist. Und das ist bei<br />

Adelholzener gegeben.<br />

Wir versuchen, mit unserem<br />

Unternehmen darüber hinaus das zu tun,<br />

was allerorts „Nachhaltigkeit“ genannt<br />

wird, was für uns aber einfach unser<br />

Schöpfungsauftrag ist: Dass man Wasser<br />

und Energie nicht unnötig vergeudet, dass<br />

man die Natur nicht belastet. Wissen Sie,<br />

alle Welt hat das Wort „Umwelt“ im Mund.<br />

Das hört sich so an, als ob das die Welt sei,<br />

die um den Menschen herum stattfindet. Ich<br />

finde das ein bisschen wenig. Denn es ist<br />

doch unser aller Welt. Deshalb haben wir<br />

den Auftrag bekommen, unsere Schöpfung<br />

zu bewahren und zu verwalten, um sie der<br />

Nachwelt so gut wie möglich in die Hände<br />

zu geben. Und da gehört es einfach dazu,<br />

sie zu schonen. Das ist ja noch nicht mal<br />

was Neues. 1807 hat Joachim Heinrich<br />

campe – das war der Lehrer von Wilhelm<br />

von Humboldt – zum Thema Nachhaltigkeit<br />

gesagt: „Nachhalt ist, woran man sich hält,<br />

wenn alles andere nicht mehr hält!“ Das ist<br />

ein toller Satz. „Nachhalt ist, woran man sich<br />

hält, wenn alles andere nicht mehr hält!“<br />

Dieses verbreitete Immer-mehr-undnoch-mehr,<br />

das hält ja nicht lange. Das<br />

bricht zusammen. Und drum ist das Wort<br />

von campe ganz wichtig. Dieser Ausspruch<br />

ist mir übrigens zugefallen.<br />

? wobei wir ja wissen, dass dieses<br />

„zufallen“ einem nicht zufällig passiert.<br />

! Das ist richtig. Das ist wirklich immer<br />

ein Zeichen.<br />

? wenn Sie sagen, dass „wir“ diesen<br />

auftrag haben, meinen Sie das dann für<br />

ihren orden oder...?<br />

! Nein, nein, für alle Menschen. Das gilt<br />

meines Erachtens für jeden Unternehmer –<br />

einfach für jedermann: Dass man sich nach<br />

Kräften einsetzt, die Zukunft so zu gestalten,<br />

dass sie lebenswert ist. Das ist nicht an<br />

einzelne Menschen gebunden. Das gilt für<br />

alle Menschen!<br />

? ist das ihre philosophische<br />

weltsicht oder leitet sich das aus dem<br />

katholischen Glauben heraus ab?<br />

! Jeder muss so handeln, der vernünftig<br />

denkt. Wir haben doch auch etwas von<br />

unseren Vorfahren als Erben in die Hände<br />

bekommen. Sie, ich, jeder. Und wir müssen<br />

mit dem Erbe so umgehen, dass wir es<br />

wieder in andere Hände geben können. So<br />

wie wir auf den Schultern unserer Eltern<br />

stehen, so steht die kommende Generation<br />

auf unseren Schultern. Und das soll ja auch<br />

wieder eine lebbare Welt sein, in der die<br />

nächste Generation leben wird. Das ist doch<br />

einfach logisch. Da muss ich nicht einen<br />

katholischen Glauben dazu haben. Das ist an<br />

kein Alter und keine Religion gebunden. So<br />

wie „Gutes tun” auch an kein Alter und keine<br />

Religion gebunden ist.<br />

? wir erleben in unserer heutigen<br />

zeit eher das Gegenteil. die leute wollen<br />

immer mehr Geld und werden trotzdem<br />

nicht besonders glücklich.<br />

! Geld braucht man. Das ist nun mal<br />

so. Aber es ist eine Frage, welche Priorität<br />

räume ich dem Geld ein.<br />

Es ist ein Ziel unseres Unternehmens,<br />

Adelholzener so zu wirtschaften, dass<br />

auch was übrig bleibt, wenn die Löhne<br />

bezahlt, die Investitionen getätigt sind, um<br />

auf dem Markt bestehen zu bleiben. Es ist<br />

ein wichtiger Auftrag an und von uns, die<br />

Arbeitsplätze zu sichern.<br />

Dennoch soll so gewirtschaftet werden,<br />

dass etwas übrig bleibt. Denn das bleibt<br />

nicht bei der Geschäftsführung, sondern<br />

fließt in die Kongregation zurück, und diese<br />

finanziert soziale Projekte. Außerdem sind<br />

wir als Kongregation für die Versorgung<br />

unserer alten Schwestern zuständig. Wir<br />

haben im Augenblick 345 Schwestern.<br />

Davon sind sehr viele im Altenheim und<br />

dafür müssen wir Sorge tragen. Dafür<br />

brauchen wir auch dieses Geld.<br />

? Geld verdienen ist ja auch nicht<br />

unanständig.<br />

! Nein. Es steht ja in der Bibel: „Macht<br />

Euch die Erde untertan“ – und schaugts,<br />

dass was Gutes damit getan wird.<br />

? Bekommt die kongregation für<br />

ihre aufgaben noch von anderswoher<br />

Geld?<br />

! Nein. Also früher bekamen unsere<br />

Schwestern Gestellungsgelder, weil sie in<br />

den Kliniken angestellt waren. Das ist jetzt<br />

nicht mehr der Fall, weil wir keine jungen<br />

Schwestern mehr haben und die meisten<br />

nicht mehr im Arbeitsleben stehen. Deshalb<br />

müssen wir sehen, dass wir uns selbständig<br />

erhalten. Wir bekommen auch keinen<br />

Pfennig Kirchensteuer, weil wir als Orden ja<br />

unabhängig von der Institution Kirche sind.<br />

Die Kongregation muss also schauen, dass<br />

wir mit dem Erwirtschafteten die Häuser in<br />

die Zukunft führen können.<br />

? adelholzener mineralwasser<br />

zu trinken, ist also nicht nur gesund,<br />

sondern hilft ihnen auch ihre<br />

karitativen arbeiten leisten zu können.<br />

! Wir tun viel Gutes mit dem Erlös, den<br />

wir aus dem Verkauf des Wassers erzielen.<br />

Man darf darüber auch sprechen. Aber man<br />

soll es auch nicht übertreiben. Dennoch<br />

kann ich mit Fug und Recht sagen, dass viel<br />

Gutes getan wird.<br />

? wie haben Sie die marke<br />

„adelholzener“ strukturiert, damit sie<br />

auf dem markt bestehen kann?<br />

O2<br />

ACTIVE


! Die Philosophie von Adelholzener<br />

besteht aus vier Säulen. Die eine ist<br />

die „Tradition“. Die „Kongregation der<br />

Barmherzigen Schwestern vom hl. Vinzenz<br />

von Paul“ gibt es seit 1832 in Bayern. Das<br />

sind nächstes Jahr 180 Jahre. Und wir<br />

haben die Adelholzener Primusquelle 1907<br />

erworben. Das sind auch immerhin mehr<br />

als 100 Jahre. Da kann man schon von einer<br />

Tradition reden.<br />

Die zweite Säule ist die „Innovation“.<br />

Unsere Geschäftsführer schätzen sehr, dass<br />

die Kongregation der Innovation immer<br />

wieder neuen Raum gibt.<br />

Dann die menschliche<br />

„Kommunikation“ – einer der wichtigsten<br />

Grundpfeiler trotz der elektronischen<br />

Vermittlung wie E-Mail, Fax und wer weiß,<br />

was da noch alles kommen wird.<br />

Und dann die „Vision“: Wir müssen<br />

ja auch bedenken, was in fünf Jahren<br />

sein wird. Auf diese Gedanken muss man<br />

sich aber nicht allein verlassen, weil ja<br />

auch noch einer von oben, Gott, mitlenkt.<br />

Aber wir müssen alle unsere Fähigkeiten<br />

einsetzen, um zu schauen, wie man unsere<br />

Unternehmen – ob Industrie, Altenheim<br />

oder Krankenhaus – in die Zukunft führen<br />

kann.<br />

Dieses „Vier-Säulen-Modell“ haben wir<br />

in Bad Adelholzen immer praktiziert. Und<br />

das hat sich gut bewährt. Wir haben das<br />

immer mit einem einfachen Bild dargestellt:<br />

Man darf nicht nur den Wald zu verstehen<br />

suchen, sondern auch jeden einzelnen Baum.<br />

So ist die Kongregation der Wald und jede<br />

Einrichtung unserer Kongregation sind<br />

die Bäume – und die muss ich pflegen und<br />

hüten, damit es einen gesunden Wald gibt.<br />

? wenn Sie „kommunikation“<br />

sagen, dann ist damit ja nicht nur<br />

gemeint, eine Botschaft von a nach B<br />

zu transportieren, sondern da gehört<br />

viel mehr dazu. was ich über Sie gelesen<br />

habe, würde ich das mit „viel herz“<br />

beschreiben. oder?<br />

! Ja, das ist wichtig. Als ich noch in<br />

Bad Adelholzen operativ tätig war, war<br />

mir wichtig, dass die Mitarbeiter aus<br />

ihrer Erfahrung heraus Vorschläge in das<br />

Unternehmen einbringen sollten. Und<br />

diese Erfahrung der älteren Mitarbeiter mit<br />

der Flexibilität der jüngeren Mitarbeiter<br />

zusammenzubringen, das habe ich immer<br />

versucht. Und wenn´s gar zu rau wurde,<br />

dann habe ich mit denjenigen einen langen<br />

Spaziergang gemacht. Da kann man anders<br />

miteinander reden als in einem Büro. Und<br />

dann ging´s meistens wieder gut.<br />

? was bedeutet es, wenn Sie sagen,<br />

man müsse auch eine „vision“ haben?<br />

! Wir haben – zunächst in der<br />

Kongregation – damit begonnen, eine<br />

zeitgemäße Wertearbeit zu installieren.<br />

In der Kongregation wurden Werte<br />

immer schon gelebt. Nur muss man sie<br />

heute in unserer Zeit neu definieren und<br />

aussprechen. Das haben wir versucht.<br />

Die christlichen Grundwerte unserer<br />

Kongregation sind:<br />

• „Barmherzigkeit leben.” Das heißt,<br />

miteinander und füreinander da sein.<br />

• „Leben würdigen“ nicht nur im<br />

Krankenhaus, sondern auch im Altenheim.<br />

• „Miteinander und füreinander dienen.“<br />

Das ist einer der wichtigsten Grundsätze,<br />

den wir einfordern.<br />

• „Wertschätzung pflegen und fördern.“<br />

• „Wirtschaftlich und verantwortlich<br />

handeln als Schöpfungsauftrag.“<br />

Diese Werte gelten für die Kongregation.<br />

Die Werte für die Führungskräfte in<br />

Bad Adelholzen werden wir demnächst<br />

definieren, weil ein wirtschaftliches<br />

Unternehmen ja doch noch anders<br />

funktioniert wie eine Kongregation. Dazu<br />

gehört: „Verlässlichkeit“, „Toleranz“,<br />

„Beständigkeit“, „Offenheit“, „Ehrlichkeit“,<br />

„Maßhalten“ und auch „Mut zeigen“. Wenn<br />

das zusammenwirkt, stellt sich aus meiner<br />

Sicht auch ein unternehmerischer Erfolg<br />

ein. Denn nur mit Ellenbogen kommt man<br />

nicht weit. Das größte Kapital in einem<br />

Betrieb ist immer noch der Mensch – nicht<br />

die Maschinen und nicht die Abfüllanlagen.<br />

Der Mensch bringt das Leben in ein<br />

Unternehmen.<br />

? das heißt aber doch – wenn wir mal<br />

bei adelholzener bleiben, weil das ein sehr<br />

weltliches unternehmen ist und unseren<br />

lesern am nächsten –, dass die mitarbeiter<br />

nicht nur ausführende handlanger sind?<br />

! Wir wollen unseren Mitarbeitern<br />

mehr geben als Lohn. Denn jeder ist<br />

einmalig und hat viele Fähigkeiten<br />

und Talente. Das macht eben dieses<br />

Zusammenspiel aus, das das gemeinsame<br />

Arbeiten schön und erfolgreich macht. Aber<br />

natürlich sind wir auch dabei, Prozesse<br />

zu optimieren, Arbeitsabläufe enger<br />

in den Blick zu nehmen. Aber immer


im Zusammenhang mit denen, die das<br />

ausführen – das „Warum“ und „Weshalb“.<br />

Man muss die Menschen dort abholen, wo<br />

sie stehen. Das versuchen wir täglich. Das<br />

kann man nur, wenn einer die Richtung<br />

angibt und die anderen mitnehmen will und<br />

zwar jeden mit seinen Fähigkeiten. Einer<br />

kann mehr, der andere bewegt weniger. Das<br />

ist nun mal so. Man muss der Ehrlichkeit<br />

halber auch sagen, dass das nicht immer<br />

gelingt. Aber ich denke, der Wille zu diesem<br />

Mitnehmen der Mitarbeiter ist da.<br />

Als ich damals in Bad Adelholzen als<br />

Personalleiterin für unsere Mitarbeiter im<br />

Betrieb zuständig war und dort tagtäglich<br />

mitgearbeitet habe, habe ich das wie eine<br />

Familie erlebt. Natürlich war ich damals<br />

mehr anwesend im Betrieb, als es jetzt<br />

mein Nachfolger sein kann, weil ich als<br />

Ordensschwester ja keine Familie habe.<br />

Mein Nachfolger hat aber eine Familie.<br />

Die darf unter der Arbeit nicht leiden.<br />

Denn eine Familie ist das Rückgrat eines<br />

Arbeitnehmers und die darf er nicht<br />

vernachlässigen. Deswegen kann und soll<br />

man meine Arbeit und seine Arbeit nicht<br />

vergleichen.<br />

? kommen wir nochmal zur<br />

„innovation“. da haben Sie also<br />

marketingexperten, eine werbeagentur<br />

und andere Spezialisten. aber Sie<br />

müssen ja letztendlich entscheiden,<br />

welche Strategie eingeschlagen und was<br />

gemacht werden soll. wie finden Sie den<br />

richtigen weg für das unternehmen? ist<br />

es der heilige Geist oder gründliches<br />

nachdenken, was Sie weiterbringt bei<br />

solchen entscheidungen.<br />

! (Lacht aus vollem Herzen) Wichtig<br />

ist für uns, Produkte zu entwickeln, die<br />

ein langsames aber stetes Wachstum<br />

haben. Wenn wir jetzt zum Beispiel ein<br />

Energiegetränk machen, das momentan<br />

einen Boom auslöst, aber längere Zeit nicht<br />

durchsetzbar ist, dann ist das nichts für uns.<br />

Jede Innovation soll ein kontinuierliches<br />

Wachstum in einer Firma anstoßen. Es muss<br />

etwas Handfestes ergeben.<br />

Und wie kommt es dazu? Tja, da ist es<br />

dann eben der Einfall oder die Inspiration<br />

eines Einzelnen, den man diskutiert, prüft<br />

und entwickelt, indem man Probefüllungen<br />

macht, kostet und verfeinert. Ich denke, da<br />

müssen alle Abteilungen zusammenhelfen,<br />

damit dann EIN Produkt auf den Markt<br />

kommt. Als ich noch im aktiven Geschäft<br />

in Bad Adelholzen war, da ging das immer<br />

eine gewisse Zeit, bis das neue Produkt so<br />

gestanden hat, dass wir gesagt haben, das<br />

geben wir jetzt dem Beirat zur Entscheidung.<br />

? Gibt es das, dass die kongregation<br />

oder der Beirat auch mal sagen: „nein,<br />

das machen wir nicht!“?<br />

! Wenn´s nicht stimmig ist, dann<br />

schon. Das ist zum Beispiel bei der Werbung<br />

wichtig. Wenn die Werbung nicht stimmig<br />

ist für die Kongregation, dann geht es gar<br />

nicht. Da muss alles von uns genehmigt<br />

werden, was die Werbestrategie betrifft.<br />

Auch jede Aussage.<br />

? also mit nackerten ist da nix zu<br />

machen?<br />

! überhaupt nix! Das würde ja auch<br />

gar nicht zu uns passen. Bei uns sehen<br />

sie die tolle Gebirgswelt, den Schnee, die<br />

Schöpfung. Und dann das Produkt: Das<br />

muss sonnenklar, rein und eindeutig sein.<br />

Adelholzener muss sich nach dem<br />

Geschmack der Kunden richten – nicht<br />

nach unseren Ideen. Wenn es dem Kunden<br />

nicht schmeckt, hilft alles nichts.<br />

Diese Kundenorientierung versuchen<br />

wir auch mit unserem Außendienst zu<br />

erreichen. Der Kundenkontakt mit den<br />

Getränkemärkten ist uns nämlich ganz<br />

wichtig. Wenn ein Kunde reklamiert, dann<br />

wird dem sofort nachgegangen. Das gehört<br />

zur Kommunikation und dem „Miteinander“<br />

dazu! Da investieren wir stark ins Personal.<br />

Ja, das ist sogar ein Schwerpunkt in Bad<br />

Adelholzen. Deswegen bauen wir auch<br />

den Außendienst nicht ab, weil der alles,<br />

was dem Unternehmen schaden könnte,<br />

auffangen und von ihm abwenden kann<br />

– und soll. Die Außendienstmitarbeiter<br />

kümmern sich um unsere Kunden. Damit<br />

bin ich sehr zufrieden. Wir haben nämlich<br />

wirklich gute, verlässliche Mitarbeiter.<br />

Sehr viele von ihnen kenne ich noch<br />

und rede auch mit ihnen. Ich sage ihnen<br />

immer wieder gerne, dass die Kongregation<br />

hinter ihnen steht, und mache ihnen Mut,<br />

sich mit notwendigen Veränderungen<br />

zu identifizieren. Veränderungen muss<br />

es geben, um am Markt bestehen zu<br />

bleiben. Der Wettbewerb wird ja immer<br />

härter und jede Veränderung tut erst mal<br />

weh. Das ist im privaten Leben so, das<br />

ist in der Gemeinschaft so. überall! Jede<br />

Veränderung bringt Angst. Aber Wachstum<br />

ist nun mal Bewegung. Wenn Pflanzen<br />

wachsen, dann bewegen sie sich. Aber<br />

unsere Mitarbeiter sollen wissen, dass sie<br />

für die Veränderungen etwas tun können,<br />

damit vieles so bleiben kann, wie es ist.<br />

Und dazu will ich ihnen Mut machen.<br />

? Schwester theodolinde, was<br />

meinen Sie: kann ein weltlicher<br />

unternehmer aus ihren erfahrungen<br />

mit adelholzener lernen?<br />

! Hm! Jeder muss sein Unternehmen<br />

selber auf die Füsse stellen. Da kann man<br />

nichts übertragen. Das geht nicht. Die<br />

Botschaft muss klar sein – und stimmen.<br />

Und wenn die Botschaft den Kunden<br />

anspricht, dann entscheidet er sich, das<br />

Produkt zu kaufen. Und wenn´s ihm<br />

auch noch schmeckt, dann ist es ganz toll.<br />

Mögen Sie noch ein Glaserl?<br />

? Sehr gerne!<br />

? Sie kennen doch das produkt „red<br />

Bull“...<br />

! Also kennen ist vielleicht zu viel<br />

gesagt. Ich weiß, dass es das gibt.<br />

? würde es das bei ihnen geben<br />

können? weil es ja auf seine weise auch<br />

sehr authentisch ist.<br />

! Ja mei! Es langt doch, wenn es schon<br />

einer macht. Da müssen wir das doch nicht<br />

auch noch herstellen.<br />

? nochmal zur „vision“. wie viele<br />

Jahre muss man aus ihrer erfahrung<br />

nach vorne schauen?<br />

! In die Zukunft schauen kann<br />

niemand. Man muss sich zwar Gedanken<br />

machen, was in der Zukunft sein kann. Aber<br />

leben kann man nur die Gegenwart. Denn<br />

letztlich entscheidet der heutige Tag, was der<br />

Kunde kauft.<br />

Außerdem habe ich ein sehr großes<br />

Gottvertrauen und versuche, das Werkzeug<br />

in Gottes Hand zu sein. Und mit meinen<br />

Mitarbeitern zusammen, das Unternehmen<br />

gut in die Zukunft zu führen. In der Bibel<br />

steht 365-mal „Fürchte Dich nicht! Ich, Gott<br />

der Herr, bin bei Dir.“ Und das glaube ich<br />

felsenfest. Und ich spüre das auch. Dazu<br />

muss ich auch gar nicht fromm sein. Das<br />

Leben, das ich führe, ist einer der Wege.<br />

Aber wenn man ein guter Mensch ist,<br />

dann kann jeder das spüren. Ich habe den<br />

Eindruck, dass sich dieser Gedanke immer<br />

stärker durchsetzt.<br />

N7 Nachmann Rechtsanwälte sind<br />

beeindruckt von der „Kongregation der<br />

Barmherzigen Schwestern vom hl. Vinzenz von<br />

Paul“, die soziale Dienste in der Alten- und<br />

Krankenpflege aus der eigenen wirtschaftlichen<br />

Tätigkeit finanzieren.<br />


philosophy<br />

Seite 50<br />

MMK Museum für Moderne Kunst<br />

„IcH FINDE<br />

üBERRAScHUNGEN<br />

ETWAS WUNDERBARES!“<br />

Susanne Gaensheimer leitet seit<br />

2009 das museum für moderne kunst<br />

– kurz mmk – in frankfurt am main,<br />

eines der bedeutendsten museen für<br />

Gegenwartskunst. Sie hat den deutschen<br />

pavillon der diesjährigen Biennale kuratiert<br />

und für die reinszenierung von christoph<br />

Schlingensiefs Bühneninstallation „eine<br />

kirche der angst vor dem fremden in<br />

mir“ den Goldenen löwen der Biennale<br />

erhalten. wir unterhielten uns mit frau<br />

dr. Gaensheimer in frankfurt bei einer<br />

tasse tee über christoph Schlingensief, das<br />

leben als künstler und die aufgabe eines<br />

museums im Jahr 2011.<br />

Foto: Mauricio Guillén


? frau dr. Gaensheimer, in der<br />

Bühneninstallation „eine kirche der angst<br />

vor dem fremden in mir“ wird unter<br />

anderem ein Gespräch zwischen christoph<br />

Schlingensief und alexander kluge gezeigt,<br />

in dem kluge fragt, wie Schlingensief<br />

einem außerirdischen richard wagner<br />

erklären würde. diese fragetechnik nehme<br />

ich auf und stelle sie ihnen: „wie würden<br />

Sie einem außerirdischen christoph<br />

Schlingensief erklären?“<br />

! Ich gehe mal davon aus, dass Sie keinen<br />

wirklichen Außerirdischen meinen, sondern<br />

jemanden, der mit der Kunst nicht so viel<br />

zu tun hat. Der Grund, warum ich mich für<br />

Schlingensief entschieden habe, war der –<br />

und das kann man jetzt nach seinem Tod<br />

noch viel deutlicher feststellen –, dass er einer<br />

der wichtigsten Künstler in diesem Land<br />

war. Seine Werke haben einen ungeheuren<br />

Einfluss in verschiedenen Bereichen gehabt.<br />

Er war auch deswegen wichtig, weil er<br />

über Jahre hinweg in den verschiedensten<br />

Medien gearbeitet hat und nie eindeutig<br />

einzuordnen war. Und er war ein absolut<br />

außergewöhnlicher Mensch, der immer das<br />

totale Extrem gegangen ist und auch den<br />

Mut hatte, das in aller Konsequenz zu tun.<br />

? in einem seiner letzten auftritte, in<br />

seinem Stück „remdoogo – via intolleranza<br />

ii“ in münchen, fand ich ihn eher schon<br />

till-eulenspiegel-mäßig unterwegs.<br />

! Ja klar, er war auch unglaublich witzig.<br />

? einer seiner vielen filme heißt<br />

„egomania – insel ohne hoffnung“. wie<br />

egoman war er?<br />

! Er war natürlich sehr auf sich bezogen.<br />

Aber er hatte auch genau das Gegenteilige<br />

in sich. Er ist fast zeitgleich genau so<br />

stark auf seine Mitmenschen eingegangen.<br />

Er hat immer das Innerste in ihnen<br />

angesprochen. Viele Menschen haben sich<br />

bei ihm stärker erkannt und wiedergefunden<br />

als bei irgendjemandem sonst. Es gab<br />

Theaterschauspieler, die nach der Arbeit mit<br />

ihm gesagt haben, sie spielen nicht mehr mit<br />

einem anderen Regisseur.<br />

? wie egoman muss ein künstler<br />

überhaupt sein, um in einer<br />

mediengesellschaft anzukommen?<br />

! Künstler waren immer auch egoman.<br />

Ich glaube eine Künstlerpersönlichkeit<br />

funktioniert nicht ohne diese Ichbezogenheit,<br />

also diese Selbstüberzeugung. Denn sie<br />

müssen ja davon überzeugt sein, dass das,<br />

was sie machen, wirklich wichtig ist. Sie<br />

müssen über Jahre hinweg ihre Arbeiten<br />

machen, ohne dass sie davon leben können<br />

und ohne dass sich da eine Eigendynamik<br />

entwickelt, die sie trägt. Gerade in den<br />

ersten Jahren ist es oft so hart, dass sie es<br />

nur mit einem starken und rückhaltlosen<br />

Ichgefühl schaffen können. Das hat nichts<br />

mit Egoismus zu tun – auch nichts mit<br />

Egozentrik.<br />

Gleichzeitig haben Künstler oft einen<br />

sehr starken Selbstzweifel. Es gibt natürlich<br />

schon irgendwann den Moment, in dem<br />

sie sagen: „Jetzt ist das Kunstwerk gut.“<br />

Aber es gibt auch einen langen Weg dahin.<br />

Es ist ein permanentes Hinterfragen, ob<br />

das Kunstwerk schon DAS Kunstwerk ist<br />

oder noch nicht. Viele Verwerfungen und<br />

Selbstzweifel treten da in Erscheinung.<br />

Das war auch bei Schlingensief so:<br />

permanente Selbsthinterfragung und<br />

Selbstwandlung. Diese Fähigkeit, sich selbst<br />

zu kritisieren und sich auch neu zu sehen<br />

und zu definieren, ist natürlich auch eine<br />

ungeheure Qualität, eine besondere Gabe,<br />

die nur bei wenigen Menschen ausgeprägt<br />

ist.<br />

? für mich ist eine zentrale frage, wann<br />

ein künstler weiß, dass das Bild fertig ist.<br />

! Das finde ich auch eine interessante<br />

Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir.<br />

Bühneninstallation des Fluxus-Oratoriums von Christoph<br />

Schlingensief im Deutschen Pavillon, 2011, Model ©<br />

Thomas Goerge, Christin Berg; Foto: © Roman Mensing,<br />

artdoc.de in Zusammenarbeit mit Thorsten Arendt


Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir. Bühneninstallation des Fluxus-Oratoriums von<br />

Christoph Schlingensief im Deutschen Pavillon. Lunge vertikal. Foto: © Roman Mensing, artdoc.de<br />

Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir.<br />

Bühneninstallation des Fluxus-Oratoriums von Christoph<br />

Schlingensief im Deutschen Pavillon. Altaransicht mit<br />

Filmprojektion. Foto: © Roman Mensing, artdoc.de


Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir. Aufführung<br />

Ruhrtriennale, September 2008 © David Baltzer - Bildbühne.de


Frage. Die Künstler sprechen selbst auch<br />

sehr oft darüber. Da gibt es keine Formel<br />

und kein Rezept. Aber in DEM Moment ist<br />

es dann einfach klar.<br />

? und diesem moment wohnt<br />

vermutlich ein großes Glücksgefühl inne.<br />

! Ja bestimmt. Vor allem, wenn das<br />

Werk dann auch noch wahrgenommen und<br />

rezipiert wird. Denn ein Kunstwerk existiert<br />

nur durch seine Rezeption. Wenn es keine<br />

Wahrnehmung durch ein Publikum gibt, gibt<br />

es auch kein Kunstwerk. Ein Kunstwerk ist<br />

ohne den Betrachter unvollständig. Wenn<br />

Sie ein Kunstwerk schaffen, dass Sie in<br />

Ihrem Atelier verborgen halten, dann ist das<br />

doch sehr unbefriedigend.<br />

Douglas Gordon, Play Dead; Real Time, 2003<br />

© MMK Museum für Moderne Kunst Frankfurt<br />

am Main, Foto: Axel Schneider<br />

? heißt das, dass der museumsdirektor,<br />

der Galerist, der kunstkritiker, der<br />

kunstjournalist teil des kunstwerks sind?<br />

! Jeder! Jeder Betrachter ist Teil des<br />

Kunstwerks. Die Betrachtung ist immer<br />

ein elementarer Teil des Kunstwerks. Viele<br />

Künstler haben ja genau damit gearbeitet.<br />

Die Konzeptkunst in den 60er Jahren hat<br />

sich stark mit der Rolle des Betrachters<br />

beschäftigt. Es gibt ganze Richtungen, wo es<br />

um Partizipation geht – übrigens auch etwas,<br />

womit sich christoph Schlingensief stark<br />

beschäftigt hat. Er hat den Betrachter immer<br />

eingebunden. Beim Theater können Sie es<br />

noch deutlicher sehen. Das Theaterstück<br />

existiert erst durch die emotionale Erregung<br />

des Betrachters. Schlingensief würde<br />

nicht auf der Bühne rumhopsen, wenn da<br />

niemand im Zuschauerraum säße. Und bei<br />

der Kunst ist es genauso.<br />

? war das schon immer so?<br />

! Auch früher war der Hauptzweck der<br />

Kunst die Kommunikation. Was nicht über<br />

Schrift vermittelt werden konnte, wurde<br />

über Bilder vermittelt. Daraus entstand<br />

die religiöse Kunst. Irgendwann kam die<br />

weltliche Kunst dazu und das war am<br />

Anfang immer Auftragskunst. Da wurden<br />

Botschaften über politische Verhältnisse<br />

oder über Mäzenatentum in den Bildern<br />

abgebildet und Machtpositionen aufgezeigt.<br />

Die Botschaft war schon immer der Zweck<br />

des Kunstwerks. Selbst eine Ikone dient der<br />

Kommunikation – der Anschauung. Ohne<br />

Kommunikation existiert die Kunst nicht.<br />

? wenn man die Betrachter zum Beispiel<br />

schon früh in der Schule lehrt, wie sie<br />

kunstwerke betrachten können, dann ist<br />

das eine sehr freiwillige und individuelle<br />

form der kommunikation mit und über<br />

kunstwerke. nun leben wir aber nicht<br />

nur in einer mediengesellschaft, sondern<br />

auch in einer wirtschaftswelt, in der das<br />

marketing eine wichtige rolle spielt. Bei<br />

der interpretation dessen, was man sieht,<br />

kommt also auch schnell der marketingaspekt<br />

fördernd oder ablenkend dazu<br />

und man fragt sich beim Betrachten der<br />

arbeiten des einen oder anderen künstlers,<br />

ob der nicht „gemacht“ sei.<br />

! Das halte ich für ein Klischee. Es gibt<br />

natürlich verschiedenste Kräfte, die darauf<br />

einwirken, dass ein Künstler eine bestimmte<br />

Position hat. Und die hat er auch nicht<br />

dauerhaft. Das ist oft eine Wellenbewegung.<br />

Manchmal ist es so, dass Künstler in einer<br />

bestimmten Zeit fast eine Art „Heldenstatus“<br />

oder „Starstatus“ haben und hundert Jahre<br />

später spricht keiner mehr von ihnen. Nein,<br />

man kann keinen Künstler „machen“, dessen<br />

Werk keine wirkliche Qualität hat. Das ist<br />

meine überzeugung.<br />

Natürlich spielt auch der persönliche<br />

Geschmack eine Rolle. Es gibt Künstler,<br />

die sehr erfolgreich sind und die man<br />

selber nicht gut findet – und umgekehrt.<br />

Es wird auch manchmal die Vorstellung<br />

geäußert, ein Künstler werde verkannt oder<br />

übersehen. Daran glaube ich auch nicht.<br />

Wenn ein Künstler wirklich etwas zu sagen<br />

hat, was auch von breiterem Interesse ist,<br />

setzt sich das durch. Es gibt aber natürlich<br />

immer auch Außenseiterpositionen. Das hat<br />

häufig etwas damit zu tun, dass sich solche<br />

Positionen nicht im aktuellen Diskurs oder<br />

Trend bewegen. Aus diesem Grund gibt es<br />

sicherlich sehr viele interessante Künstler,<br />

die nicht die Wahrnehmung haben, die<br />

ihnen gebührt. Hier muss man aber auch<br />

berücksichtigen, dass es heute für einen<br />

Künstler dazugehört, über sich selbst „zu<br />

kommunizieren“. Oft sind die Künstler<br />

gekränkt und sagen: „Die Leute kennen<br />

mich ja nicht!“ Aber wie soll man sie kennen,<br />

wenn nicht der Künstler selbst seine<br />

Arbeiten und Vorstellungen nach außen<br />

trägt? Es gibt bei jedem Künstler diese Zeit<br />

vor dem Erfolg. Die ist sicher oft sehr hart.<br />

? wie bedeutsam sind auktionshäuser<br />

für den ruf eines künstlers und<br />

Journalisten, die darüber berichten, dass<br />

dieser oder jener künstler für eine neue<br />

rekordsumme verkauft wurde?<br />

! Auktionshäuser sind ein besonderes<br />

Phänomen, weil die völlig unabhängig<br />

von dem Künstler ihr eigenes Geschäft<br />

mit der Kunst machen. Wenn jetzt ein<br />

Thomas Demand für 100 000 Euro oder<br />

ein Gursky oder Richter – wo es in die<br />

Millionen geht – versteigert wird, dann<br />

sieht der Künstler ja nichts davon. Anders<br />

ist es natürlich, wenn eine Galerie das<br />

Werk verkauft. Dann wird die Summe<br />

aufgeteilt. Da arbeiten beide zusammen.<br />

Ein weiteres Problem der Auktionshäuser<br />

ist, dass durch die Eigendynamik des


Katharina Frisch, Tischgesellschaft, 1988 Raumansicht MMK, 2011 Foto: Axel Schneider © VG Bild-Kunst, Bonn 2011


Marktes völlig absurde Preise entstehen,<br />

die dann wiederum das Gesamtgefüge<br />

durcheinanderbringen. Oft wollen die<br />

Künstler nämlich gar nicht so schnell in<br />

solche Kategorien hochkatapultiert werden,<br />

weil es auch sehr schwierig wird, ein solches<br />

Niveau dauerhaft zu halten – und zwar<br />

nicht nur für fünf Jahre, sondern für vierzig,<br />

fünfzig, sechzig Jahre. Das ist nicht leicht.<br />

? aber so ganz unangenehm ist es<br />

den künstlern dann auch nicht, wenn<br />

sie dadurch beim verkauf der nächsten<br />

arbeiten durch ihren Galeristen mehr Geld<br />

bekommen?<br />

! Manchen ist das extrem unangenehm.<br />

Die beschweren sich regelrecht. Die kaufen<br />

teilweise sogar ihre eigenen Bilder in<br />

den Auktionen zurück – auch weil ihnen<br />

bestimmte Arbeiten sehr wichtig sind<br />

und sie nicht wollen, dass sie bei einem<br />

Privatsammler im Depot liegen und nicht<br />

mehr in der Öffentlichkeit gezeigt werden.<br />

auSStellunGen machen<br />

? wenn Sie eine ausstellung kuratieren.<br />

wie gehen Sie da vor. nehmen Sie als erstes<br />

kontakt mit dem künstler auf?<br />

! Ja immer. Also eigentlich ist es so, dass<br />

sich Ausstellungsideen über viele Jahre hin<br />

entwickeln durch eine Beschäftigung und<br />

einen Austausch mit dem Künstler. Es ist<br />

nicht so oft der Fall, dass man erst die Idee<br />

hat und dann den Kontakt. Das gibt´s zwar<br />

auch, aber das ist eher die Ausnahme.<br />

Für ein Museum der Gegenwartskunst,<br />

wie das MMK, ist es völlig undenkbar,<br />

eine Ausstellung NIcHT gemeinsam<br />

mit dem Künstler zu machen. Die enge<br />

Zusammenarbeit mit dem Künstler ist<br />

wesentlich und dadurch sind in den<br />

Ausstellungen im MMK immer ganz<br />

besondere Werke entstanden, die zum<br />

Beispiel stark mit der Architektur dieses<br />

Hauses arbeiteten und dann in unsere<br />

Sammlung eingegangen sind. Deswegen<br />

gibt es bei uns auch eine starke Vernetzung<br />

zwischen Ausstellungsprogramm und<br />

Sammlung.<br />

? dann sind Sie als kunsthistorikerin<br />

nicht so sehr mit der historie von kunst<br />

beschäftigt, sondern eher mit dem<br />

Schaffensprozess?<br />

! Ja genau. Wir sind eigentlich ein<br />

Ort der Produktion. Dazu haben wir im<br />

letzten Jahr eine ganze Gesprächsreihe,<br />

die MMK-Talks, veranstaltet, bei der es um<br />

die Frage ging, inwiefern das Museum für<br />

Gegenwartskunst nicht nur ein Ort der<br />

Präsentation, sondern auch der Produktion<br />

ist – der Produktion von Kunstwerken, von<br />

Wissensinhalten usw.<br />

? wen haben Sie gerade in arbeit?<br />

! Im Moment arbeiten wir an einer<br />

Ausstellung mit Douglas Gordon, die Ende<br />

November eröffnet wird. Auch bei Douglas<br />

ist es so, dass wir uns schon sehr lange<br />

kennen und ich schon vorher mit ihm<br />

zusammengearbeitet habe. Und jetzt war<br />

einfach der richtige Zeitpunkt, zusammen<br />

eine größere Ausstellung zu machen.<br />

Für nächstes Jahr plane ich eine große<br />

Ausstellung mit Thomas Scheibitz, mit dem<br />

ich auch schon seit zwei Jahren darüber im<br />

Gespräch bin.<br />

? wie gehen Sie dabei vor?<br />

! Ich versuche vor allem die Rahmenbedingungen<br />

für den Künstler so zu schaffen,<br />

dass er seine Vorstellungen realisieren kann.<br />

Denn daraus entstehen meiner Erfahrung<br />

nach immer die stärksten Ausstellungen. In<br />

meiner Ausstellungsgeschichte waren das<br />

immer die besten Projekte mit den überzeugendsten,<br />

spannendsten und oft auch<br />

einschneidendsten Ergebnissen, wenn man<br />

die Künstler nur machen lässt. Da muss man<br />

zwar als Kurator wie ein Sparringspartner<br />

zur Seite stehen – bei Fragen muss man das<br />

Ganze vielleicht in die eine oder andere<br />

Richtung steuern. Aber ich versuche immer<br />

möglichst wenig Vorgaben zu machen.<br />

? wie war das bei Schlingensief?<br />

! Während der Vorbereitungen waren<br />

wir auch in einem solchen Gesprächsfluss,<br />

hatten uns regelmäßig getroffen und dabei<br />

waren auch schon einige Ideen entstanden,<br />

so wie ich es in dem Vorwort des Buches<br />

zum Deutschen Pavillon beschrieben<br />

habe (auf Deutsch erschienen im Verlag<br />

Kiepenheuer & Witsch und auf Englisch bei<br />

Sternberg Press). Nach Schlingensiefs Tod<br />

habe ich zusammen mit Aino Laberenz, der<br />

Frau des Künstlers, dann aber sehr schnell<br />

entschieden, diese Ideen nicht zu realisieren,<br />

weil sie in vielerlei Hinsicht noch offen<br />

waren. Ich habe dann ein Team aus engen<br />

Mitarbeitern von Schlingensief gebildet, die<br />

über Jahre hinweg mit ihm gearbeitet haben,<br />

und viele Gespräche mit Leuten geführt, die<br />

ihn und sein Werk sehr gut kannten, wie<br />

zum Beispiel Alexander Kluge und chris<br />

Dercon. So haben wir sehr lange versucht,<br />

einen offenen Prozess in Gang zu halten.<br />

Meine Rolle dabei war die einer Moderatorin,<br />

die an bestimmten Punkten, die mir richtig<br />

erschienen, Entscheidungen getroffen hat.<br />

Aber immer auf der Basis einer Diskussion<br />

mit dem gesamten Team. Ich hätte das<br />

niemals ganz allein machen können.<br />

? das kommt mir so vor wie die arbeit<br />

eines vorstandsvorsitzenden, der sich<br />

zuerst die argumente seiner vorstände<br />

anhört und dann entscheidet, was gemacht<br />

wird.<br />

Ai Weiwei Serge Spitzer, Ghost Gu Coming Down the Mountain, 200506 Raumansicht<br />

MMK, MainTor, 2011 Foto: Axel Schneider


Roy Lichtenstein, We Rose Up Slowly, 1964 © VG Bild-Kunst, Bonn 2011<br />

! So ungefähr (lacht).<br />

? was ist an der gezeigten arbeit „eine<br />

kirche der angst vor dem fremden in mir“<br />

im deutschen pavillon auf der Biennale di<br />

venezia deutsch und was universell?<br />

! Ich habe mich damals bewusst für<br />

einen Künstler entschieden, der sich in<br />

seinem Werk mit Fragen beschäftigt, die<br />

dieses Land betreffen: gesellschaftliche<br />

Fragen, politische Fragen, soziale Fragen,<br />

menschliche Fragen – und das über fast drei<br />

Jahrzehnte hinweg in aller Konsequenz und<br />

Radikalität und kritischer als jeder andere<br />

Künstler. Man könnte vielleicht sagen, dass<br />

christoph Schlingensief sich nicht nur<br />

inhaltlich mit Deutschland beschäftigt hat,<br />

sondern dass auch die Tiefgründigkeit und<br />

Existenzialität mit der er das gemacht hat,<br />

in einer bestimmten deutschen Tradition<br />

steht. Aber gleichzeitig stellt christoph<br />

Schlingensief alle diese Fragen durch<br />

sein Afrikaprojekt in einen globalen,<br />

transnationalen Kontext.<br />

? würden Sie christoph Schlingensief<br />

eher als bildenden künstler, als regisseur<br />

oder als...<br />

! ...Er war einfach Künstler. Und<br />

alle weiteren Bezeichnungen oder<br />

Kategorisierungen finde ich unergiebig.<br />

Er war nie nur Regisseur oder nur<br />

Theatermann. Er hat sich immer gegen<br />

den jeweiligen Betrieb aufgelehnt – auch<br />

gegen den Kunstbetrieb. Vielleicht ist er am<br />

ehesten Filmemacher. Er hat ja mit acht<br />

Jahren angefangen, Filme zu machen. Und<br />

das war er, glaub ich, mit Leib und Seele.<br />

? was meinen Sie, woher kommt bei<br />

ihm dieses alles-in-frage-stellen?<br />

! Das war einfach ein Wesenszug von<br />

ihm. christoph Schlingensief war ja ein<br />

sehr gläubiger Mensch. Er wurde katholisch<br />

erzogen und im Rahmen dessen natürlich<br />

auch zu Ehrlichkeit. Für ihn war es völlig<br />

unmöglich, zu lügen. Das ging so weit, dass<br />

wenn seine Mutter ihn fragte, ob ihm das<br />

Essen schmecke, er nicht die Unwahrheit<br />

sagen konnte. Er hat in jedem Kunstwerk,<br />

in jedem Interview, in jedem Theaterstück<br />

immer sehr ehrlich und sehr direkt seine<br />

Meinung gesagt. Das war natürlich schwierig<br />

für das Publikum und für die Leute, die mit<br />

ihm gearbeitet hatten. Und das wäre für<br />

mich sicherlich auch schwierig geworden.<br />

Ich will mich da gar nicht ausnehmen.<br />

Nein, christoph Schlingensief war von<br />

gnadenloser Ehrlichkeit und Direktheit und<br />

das merkt man seinen Arbeiten auch an.<br />

? wenn man die arbeiten nur<br />

oberflächlich betrachtet, hat man leicht<br />

den eindruck, er sei ein krawallmacher.<br />

! Nein. Das war er überhaupt nicht.<br />

Und auch das Thema der Provokation<br />

stand für ihn nie im Vordergrund. Es ging<br />

ihm wirklich darum, Dinge zu sagen, die<br />

ihn zutiefst beschäftigt haben. Und das<br />

waren eben oft politische, aber auch ganz<br />

persönliche Themen. Er hat sich auch<br />

immer wieder selbst und seine Arbeiten<br />

in Frage gestellt. Und dass das für einige<br />

Leute provokativ war, kann ich mir schon<br />

vorstellen, weil sie sich vielleicht selbst<br />

nicht hinterfragen wollten oder konnten.<br />

Jeder, der sich offen zum Beispiel auf sein<br />

letztes Theaterstück „Remdoogo – Via<br />

Intolleranza II“ eingelassen hat, kam da<br />

nicht ungeschoren heraus. Ich weiß nicht,<br />

wie es Ihnen dabei ging. Mich hat es auf<br />

jeden Fall unglaublich bewegt.<br />

? wenn man ihnen so zuhört, wird<br />

deutlich – und damit kommen wir wieder<br />

auf den anfang unseres Gesprächs<br />

zurück –, wie wichtig es ist, dass es<br />

menschen gibt, die einem die Sprache<br />

eines künstlers übersetzen. fühlt man<br />

sich in ihrer rolle manchmal wie ein


psychotherapeut, der – jetzt mal ganz<br />

hart und böse ausgedrückt – Botschaften<br />

von autisten für die normale welt<br />

übersetzt?<br />

! Ein bisschen ist es vielleicht so. Ja,<br />

das ist schon richtig. Man vermittelt eine<br />

Botschaft. Aber wie gesagt, Künstler sind<br />

alles andere als Autisten. Da gibt es einige<br />

die sind regelrechte Kommunikationsgenies.<br />

daS mmk<br />

? wenn Sie „nur“ kuratorin<br />

wären, würden Sie von museum<br />

zu museum eilen, ihre aufträge<br />

bekommen und wunderschöne und<br />

bewegende ausstellungen machen.<br />

aber als museumsdirektorin müssen<br />

Sie dafür sorgen, dass die menschen<br />

ins museum kommen und all das auch<br />

noch finanziert ist. wie bekommt<br />

man die Spannung zustande, dass<br />

im museum ausstellungen zu sehen<br />

sind, die den kunsthistoriker und<br />

fachmann reizen aber eben auch den<br />

mainstream ansprechen – und ihn<br />

auch ansprechen Sollen –, was ja ein<br />

großer unterschied ist? nur einfach<br />

mit der wurst nach der Speckseite<br />

zu werfen, das haben sich die meisten<br />

fernsehanstalten auf die fahne<br />

geschrieben. für ein museum existiert<br />

da ja noch ein ganz anderer anspruch.<br />

! Ich fand es hier in Frankfurt vom<br />

ersten Tag an wichtig, das Museum stärker<br />

zu öffnen. Das MMK hatte einen elitären<br />

Status. Aber ich sehe ein Museum nicht<br />

als elitären Ort, der sich nur an eine<br />

Bildungselite richtet. Also war es mein Ziel,<br />

die Türen demonstrativ allen möglichen<br />

gesellschaftlichen Gruppen gegenüber zu<br />

öffnen. Das haben wir durch verschiedene<br />

Programme gezielt getan: Programme<br />

für Kinder, Programme für Jugendliche.<br />

Wir haben intellektuell anspruchsvolle<br />

Veranstaltungen geplant ebenso wie solche,<br />

die einfach nur Spaß machen sollten, wie<br />

die MMK-After-Work.<br />

Dabei bin ich allerdings nicht bereit,<br />

die Inhalte zu kompromittieren. Man muss<br />

das Profil eines Hauses sehr stark, klar<br />

und konsequent herausarbeiten. Und im<br />

nächsten Schritt muss man dieses Profil<br />

vermitteln. Das schließt sich nicht aus.<br />

Selbst die kompliziertesten Inhalte lassen<br />

sich vermitteln. Deshalb spielt Vermittlung<br />

bei uns eine zentrale Rolle und dadurch<br />

haben wir das Publikum unseres Hauses<br />

in den letzten zweieinhalb Jahren stark<br />

verändert. Es kommen jetzt viel mehr<br />

jüngere Leute ins Haus. Es kommen<br />

Familien, es kommen Businessleute,<br />

Studenten und endlich auch wieder die<br />

Städelschüler, also die jungen Künstler, was<br />

lange nicht mehr der Fall war. Und es macht<br />

großen Spaß hier in Frankfurt zu arbeiten,<br />

weil die Leute auch schwierige Dinge<br />

annehmen. Das ist einfach toll.<br />

? muss diese vermittlung<br />

„unterhaltsam“ sein?<br />

! „Unterhaltsam“ würde ich nicht sagen,<br />

aber man muss sich schon etwas einfallen<br />

lassen. Wir machen viel partizipatorische<br />

Projekte, gerade mit Kindern. Da haben<br />

wir tolle Workshops, bei denen die Kinder<br />

zum Beispiel eine eigene Museumszeitung<br />

machen, mit Künstlern zusammen etwas<br />

bauen, eigene Ausstellungen kuratieren.<br />

Dabei lernen und begreifen sie wahnsinnig<br />

viel. Auf diese Weise können wir auch ein<br />

bisschen davon kompensieren, was in den<br />

öffentlichen Schulen im inzwischen stark<br />

eingeschränkten Kunstunterricht nicht mehr<br />

möglich ist.<br />

Dann gibt es Workshops für Erwachsene,<br />

die oft in Gesprächsform stattfinden. Das ist<br />

umso wichtiger, weil die Gegenwartskunst<br />

ja keine Kunst ist, die der reinen Erbauung<br />

dient, sondern der Fragestellung und des<br />

Diskurses. Wir verstehen deshalb unser<br />

Haus als einen Ort, in dem Gespräche<br />

geführt werden sollen und diskutiert werden<br />

soll. Es geht nicht darum, dass man am<br />

Mario Merz, At still point of the walking world, 1991 Installationsansicht MMK, 2011 © VG Bild-Kunst, Bonn 2011


Ende alles verstanden hat. Es geht vielmehr<br />

darum, dass man sich durch die Kunstwerke<br />

inspirieren lässt, bestimmte Fragen zu<br />

stellen. Und deshalb ist für mich eine gute<br />

Ausstellung eine, die im Betrachter Fragen<br />

auslöst und Dinge anspricht, die ihm so<br />

noch nicht bekannt waren.<br />

? wie ändert sich unsere fähigkeit,<br />

zu sehen, in einer zeit, in der wir immer<br />

mehr in unseren eigenen vier wänden<br />

mit den unglaublichsten Bildern aus aller<br />

welt zugemüllt werden?<br />

! Die Wahrnehmung, das Sehen der<br />

Menschen hat sich insbesondere durch<br />

die digitalen Medien verändert. Der<br />

Wahrnehmungsmodus ist heute auf die<br />

Oberfläche ausgerichtet, auf Schnelligkeit<br />

und Produktivität – also auf Sehen<br />

und Konsumieren. Das ist EINE Form der<br />

Wahrnehmung. Deshalb ist es wichtig,<br />

eine andere Form dagegen zu setzen.<br />

? was setzen Sie dagegen?<br />

! Das kann alles Mögliche sein.<br />

Wenn Sie eine Ausstellung von Olafur<br />

Eliasson sehen, setzen Sie die sinnliche<br />

Wahrnehmung und deren Komplexität<br />

dagegen. Dann gibt es die Reflexion und<br />

das Hinterfragen, wie zum Beispiel die<br />

Medienreflexion bei Thomas Demand.<br />

Bei christoph Schlingensief ist es der<br />

Stephan Balkenhol, 57 Pinguine, 1991<br />

Installationsansicht MMK, MainTor, 2011, © VG Bild-<br />

Kunst, Bonn, 2011, Foto: Axel Schneider.<br />

direkte Angriff auf die Emotionen. Da<br />

geht es immer um die totale Involvierung<br />

des Betrachters. Oder die Konzeptkunst:<br />

Wenn Sie Hanne Darbovens so genannte<br />

„Schreibzeit“ nehmen, dann sprengt das<br />

alles, was man bisher im herkömmlichen<br />

Umgang mit Zeit gelernt hat.<br />

? in der deutschen Sprache gibt es<br />

den wunderbaren Begriff einfall, was<br />

ja wörtlich aussagt, dass etwas von<br />

oben, der Schwerkraft folgend, in einen<br />

hineinfällt. damit der einfall auch einen<br />

trifft, muss der kopf offen sein, sagen<br />

die einen. andere meinen, er müsse dazu<br />

leer sein. an solche Überlegungen kann<br />

man metaphysische oder meditative<br />

ost-west-Überlegungen anschließen –<br />

oder wie auch immer. in jedem fall ist<br />

ein einfall ein magic moment, weil man<br />

zum ersten mal etwas versteht oder<br />

neu sieht – oder einen zusammenhang<br />

erkennt. kennen Sie solche magic<br />

moments, wenn Sie sich mit einem<br />

künstler beschäftigen? und wenn ja,<br />

wie erleben Sie sie?<br />

! Die gibt´s schon. Zum Beispiel<br />

bei Schlingensiefs „Remdoogo – Via<br />

Intolleranza II“. Da kam ich verändert<br />

wieder heraus... Ein Film, in dem ich<br />

fassungslos drei Stunden lang gesessen<br />

bin, war Lars von Triers „Dogville“. Aber es<br />

gibt auch Kunstwerke, vor denen Sie stehen<br />

und gar nicht in Worte fassen können,<br />

WAS Sie da sehen. Ich finde Kunstwerke<br />

dann am besten, wenn sie erst einmal eine<br />

überraschung in mir auslösen. Und etwas,<br />

was ich noch gar nicht formulieren kann.<br />

? es muss also etwas Überraschendes<br />

haben?<br />

! Ich finde überraschungen etwas<br />

Wunderbares.<br />

? darf ich das als Überschrift<br />

verwenden?<br />

! Gerne.<br />

N7 Nachmann Rechtsanwälte gratulieren<br />

Frau Dr. Gaensheimer zur höchsten Auszeichnung<br />

der „Biennale di Venezia 2011“ – dem<br />

„Goldenen Löwen“ für den von ihr kuratierten<br />

deutschen Pavillon.


my bavaria<br />

Seite 70<br />

„Unser Wohlstand<br />

basiert auf Wissens-,<br />

Innovations- und<br />

Industriekompetenz“<br />

ein Gespräch mit dr. Günter von<br />

au, dem ceo der Süd-chemie, der sein<br />

unternehmen so zukunftsfit aufgestellt<br />

hat, dass er nicht nur Begehrlichkeiten<br />

bei der konkurrenz für eine Übernahme<br />

geweckt hat, sondern mit der clariant<br />

aG einen partner fand, mit dem alle<br />

interessen optimal vereint wurden.<br />

die Süd-chemie stellt mit rund 6500<br />

mitarbeitern an weltweit etwa 120<br />

Standorten innovative katalysatoren<br />

und so genannte adsorbentien her.<br />

diese technologien erhöhen die<br />

effizienz zahlreicher industrieprozesse<br />

und sorgen für einen schonenden<br />

umgang mit natürlichen ressourcen.<br />

wir sprachen mit dr. Günter<br />

von au über zukunftstechnologien,<br />

Biokraftstoffe, china und den<br />

atomausstieg.<br />

? herr dr. von au, ihr unternehmen<br />

ist bemerkenswert gut aufgestellt.<br />

wie finden Sie und ihre forscher die<br />

innovationsfelder, in die Sie investieren?<br />

! Wir stellen uns immer wieder zwei<br />

Fragen. Erstens: Was sind die großen<br />

Herausforderungen für die Menschheit? Und<br />

zweitens: Was können wir zu ihrer Lösung<br />

beitragen? So erkennen wir Megatrends<br />

frühzeitig und finden Bereiche, in denen wir<br />

mit unseren Technologien für Fortschritt<br />

sorgen können. Beispiele dafür sind etwa<br />

die Energiefrage, Maßnahmen gegen den<br />

Klimawandel oder die bessere Versorgung<br />

der wachsenden Weltbevölkerung mit<br />

Nahrungsmitteln.<br />

Nehmen wir einmal die Energiefrage:<br />

Bis heute ist der fossile Rohstoff Erdöl der<br />

zentrale Energieträger der Weltwirtschaft.<br />

Wenn wir so wie bisher weiter produzieren,<br />

wird es Erdöl jedoch schon in wenigen<br />

Jahrzehnten nicht mehr oder nur noch zu<br />

einem unangemessen hohen Preis geben.<br />

Der Rohstoff ist genau wie Gas und Kohle<br />

endlich, deshalb müssen Alternativen her!<br />

Wir haben uns also gefragt, wie und in<br />

Lidaka<br />

welchen Bereichen wir Erdöl als Rohstoff<br />

ersetzen können. Besonders aussichtsreich<br />

Peteris<br />

erschien die Substitution von Erdöl durch<br />

Biomasse in der Kraftstoffherstellung.<br />

Stichwort: Biosprit. Illustration:<br />

Illustration: Liga Kitchen


tank oder teller?<br />

BeideS!<br />

? aber Biotreibstoffe haben ja auch<br />

schon negativschlagzeilen geschrieben.<br />

Stichwort: tank oder teller.<br />

! Da haben Sie völlig Recht. Die bereits<br />

existierenden, so genannten Biokraftstoffe<br />

der ersten Generation werden aus<br />

Pflanzenteilen gewonnen, die eine wichtige<br />

Rolle in der Nahrungsmittelversorgung<br />

spielen. Bei Biokraftstoffen aus Zuckerrohr,<br />

Mais oder Raps kommt es daher<br />

unweigerlich zu einer Konkurrenzsituation<br />

zwischen Tank oder Teller. Das ist<br />

gesellschaftlich nicht akzeptabel. Wir gehen<br />

deshalb einen anderen Weg und haben ein<br />

Verfahren entwickelt, das nicht essbare<br />

Pflanzenteile, beispielsweise Agrarreststoffe<br />

wie Stroh, mit Hilfe spezieller Enzyme in<br />

Kraftstoffe wie Bioethanol umwandelt.<br />

Um das zu erreichen, haben wir vor<br />

fünf Jahren eine zentrale Forschungseinheit<br />

aufgebaut und viele hervorragende<br />

Wissenschaftler akquiriert. Heute stehen<br />

wir kurz vor der Kommerzialisierung des<br />

neuen Verfahrens und haben im Juli den<br />

Grundstein für eine Demonstrationsanlage<br />

gelegt. Sie wird in Straubing, im Herzen<br />

der Kornkammer Niederbayerns, errichtet<br />

und soll schon ab Ende 2011 Biokraftstoff<br />

aus Weizenstroh herstellen. Wir lösen<br />

den Konflikt „Tank oder Teller“, indem wir<br />

ausschließlich Pflanzenreste verwerten<br />

– und den Menschen und Tieren die<br />

Feldfrüchte zur Ernährung lassen.<br />

? der weizen kann weiterhin zu Brot<br />

verarbeitet werden, während das Stroh,<br />

das sowieso untergepflügt würde, in die<br />

herstellung von Biosprit geht?<br />

! Exakt. Ein Teil des Strohs muss<br />

aus düngetechnischen Gründen zwar<br />

weiterhin untergepflügt werden – aber<br />

das haben wir bei der Kalkulation des<br />

Biosprits schon mit eingerechnet.<br />

? und wie sieht es mit der co 2 -<br />

Bilanz aus?<br />

! Auch bei der Verbrennung von<br />

Biosprit entsteht natürlich cO 2 . Aber<br />

diesen Anteil hat sich die Pflanze zuvor<br />

durch Photosynthese aus der Luft geholt.<br />

Das ist ein Kreislauf. Allerdings hat auch<br />

unser neues Verfahren einen gewissen<br />

Energiebedarf, so dass die Bilanz nicht zu<br />

100 Prozent aufgeht – aber immerhin doch<br />

zu 80 bis 90 Prozent, in Zukunft vielleicht<br />

sogar noch besser.<br />

? Sie stellen sich also gesamtwirtschaftliche<br />

fragen und<br />

versuchen herauszufinden, wie man<br />

sie wirtschaftlich attraktiv und in<br />

ökologisch verträglicher form lösen<br />

kann. Stehen Sie damit allein auf weiter<br />

flur?<br />

! Nein. Man sieht ja an vielen Stellen, dass<br />

Innovation gerade bei deutschen Firmen einen<br />

sehr hohen Stellenwert genießt. Die chemische<br />

Industrie hierzulande investiert 3 bis 3,5<br />

Prozent ihres Umsatzes in die Forschung.<br />

Bei der Süd-chemie sind es durchschnittlich<br />

sogar mehr als 5 Prozent. Das mindert zwar<br />

kurzfristig unser Geschäftsergebnis, ist<br />

aber notwendig, um langfristig eine hohe<br />

Innovationskraft zu erhalten. Und die ist für<br />

ein Technologieunternehmen wie die Südchemie<br />

essentiell. Damit sichern wir auch<br />

zukünftig die Gewinne und den Fortbestand<br />

des Unternehmens.<br />

nicht nur SauBer,<br />

Sondern rein<br />

? deutschland lebt nun mal vom<br />

rohstoff „Gehirn“ seiner menschen.<br />

Gab es dieses innovationsdenken schon<br />

immer bei der Süd-chemie?


! Ich denke schon. Innovation und<br />

Wissensvorsprung haben bei uns eine lange<br />

Tradition und waren gewissermaßen der<br />

Ursprung des Unternehmens. Gegründet<br />

wurde die Süd-chemie 1857, um künstliche<br />

Düngemittel zu produzieren – nach<br />

einem neuen Verfahren, das einer unserer<br />

Gründungsväter, der berühmte chemiker<br />

Justus von Liebig, entwickelt hatte. Später<br />

kamen dann die heute unverzichtbaren<br />

Adsorbentien – auf gut Deutsch<br />

„Bindemittel“ – hinzu.<br />

Wir stellen sie vor allem aus dem<br />

natürlichen Tonmineral Bentonit her –<br />

ein Rohstoff, den wir in der Hallertau<br />

nordöstlich von Freising vor über 100<br />

Jahren entdeckt hatten und heute auf der<br />

ganzen Welt abbauen. Dank seiner Struktur<br />

verfügt der Bentonit über eine extrem große<br />

innere Oberfläche und damit über die<br />

Fähigkeit, unerwünschte Stoffe zu binden –<br />

beispielsweise aus Speiseölen.<br />

Nahezu jedes zweite, heute im Handel<br />

erhältliche Speiseöl wird in der Herstellung<br />

mit einem unserer Produkte behandelt. Es<br />

wäre sonst trüb und nicht so lange haltbar.<br />

? das gute olivenöl, das wir so gerne<br />

verwenden, auch?<br />

! Das Olivenöl der ersten Pressung nicht.<br />

Wenn es in spätere Verarbeitungsstufen<br />

kommt, dann schon.<br />

Wir reinigen mit unseren Adsorbentien<br />

aber nicht nur Lebensmittel, sondern auch<br />

Wasser. Angesichts des weltweit steigenden<br />

Wasserbedarfs ist das eine der größten<br />

Zukunftsherausforderungen. Bereits heute<br />

haben zwei Milliarden Menschen keinen<br />

Zugang zu sauberem Trinkwasser. Wir sind<br />

mit unseren Produkten und Technologien<br />

in ausgewählten Nischenmärkten für<br />

die Wasserreinigung deshalb nicht nur<br />

hierzulande, sondern gerade in den Ländern<br />

Afrikas sowie in den Emerging countries<br />

Südamerikas und Asiens gut vertreten.<br />

? was reinigen Sie sonst noch?<br />

! Luft. Wir sind einer der führenden<br />

Anbieter von Katalysatoren für die<br />

industrielle Luftreinigung. Zudem<br />

entwickeln wir neue Technologien für<br />

die Dieselabgasreinigung bei schwerem<br />

Gerät – also bei Baggern, Trucks und<br />

Omnibussen. Hier gibt es durch immer<br />

strengere Abgasnormen eine weltweit große<br />

Nachfrage.<br />

? Sie stellen also produkte und<br />

technologien her, deren leistungen für<br />

den endverbraucher unsichtbar bleiben?<br />

! Ja. Als Spezialchemieunternehmen<br />

bewegen wir uns in hoch entwickelten<br />

Nischenmärkten, die kaum einer<br />

wahrnimmt. Beispielsweise wenn es um<br />

Lösungen zum Schutz von Medikamenten<br />

oder Elektronikgütern vor Feuchtigkeit geht.<br />

? Sie meinen diese kleinen Beutelchen<br />

in der verpackung, wenn man etwa eine<br />

kamera kauft?<br />

! Im Prinzip ja. Allerdings haben<br />

wir uns auf Hochleistungslösungen<br />

spezialisiert. Unsere Trockenmittel stecken<br />

beispielsweise in den Stopfen vieler<br />

Arzneimittelverpackungen oder sie werden<br />

direkt in die Kunststoffverpackung integriert.<br />

? dementsprechend ist der name Südchemie<br />

auch nur wenigen bekannt.<br />

! Unsere Kunden sind andere<br />

Industriepartner und die kennen uns.<br />

? ist das für die einführung neuer<br />

produkte nicht sehr mühsam? denn<br />

wenn Sie ein neues produkt entwickelt<br />

haben, müssen Sie davon ja erst einmal<br />

ihre kunden überzeugen, damit diese<br />

es im zweiten Schritt in ihre produkte<br />

integrieren.<br />

! Nein. Denn zum einen entwickeln<br />

wir ja die allermeisten unserer Produkte<br />

in enger Anlehnung an unsere Kunden.<br />

Wenn wir aber mit Innovationen ganz<br />

neue Wege beschreiten, dann liegt<br />

darin für ein forschungsgetriebenes<br />

Unternehmen wie die Süd-chemie<br />

unsere besondere Stärke. Denn so<br />

können wir uns auf die Entwicklung<br />

innovativer Verfahren konzentrieren.<br />

Beispiel „Batterietechnik”: Wir haben vor<br />

acht Jahren, anfangs durch reinen Zufall,<br />

eine Möglichkeit zur Herstellung von<br />

Lithium-Eisen-Phosphat entwickelt. Als<br />

so genanntes Kathodenmaterial eignet<br />

es sich hervorragend als Energiespeicher<br />

für Lithium-Ionen-Batterien. Diese<br />

arbeiten bisher mit Batteriematerialien,<br />

die zum überladen neigen, dabei große<br />

Hitze freisetzen und explodieren können.<br />

Bei kleinen Batterien für Laptops oder<br />

Mobiltelefone ist das Risiko relativ gering.<br />

Aber zum Betrieb von Autos oder als<br />

Speichermedium für Solaranlagen in<br />

privaten Haushalten sind weitaus größere<br />

Einheiten erforderlich. Um die Gefahren zu<br />

mindern, werden herkömmliche Lithium-<br />

Ionen-Akkus mit einem Stahlmantel<br />

umgeben. Das macht sie schwer, teuer und<br />

ungeeignet für die Anforderungen der<br />

Elektromobilität.<br />

Elektromobilität ist aber eines der<br />

wichtigsten Zukunftsthemen. Deshalb<br />

haben wir Lithium-Eisen-Phosphat<br />

als Batteriematerial konsequent<br />

weiterentwickelt und verfügen heute


über ein marktreifes Produkt. In Kanada<br />

bauen wir gerade für 60 Millionen Euro die<br />

weltweit größte Anlage für dieses zugleich<br />

leistungsfähige und sichere Batteriematerial.<br />

Sie wird ab Ende 2011 die Produktion<br />

starten. Zudem streben wir direkte<br />

Partnerschaften mit unseren Kunden<br />

– große Batteriehersteller in aller Welt –<br />

an, um die stark wachsende Nachfrage,<br />

insbesondere in china, noch schneller<br />

bedienen zu können. Dies ist der für uns<br />

typische Weg, einen Markt aufzurollen – als<br />

Technologiepartner großer Industrieplayer.<br />

? welche rolle spielt beim thema<br />

„elektromobilität“ das autoland<br />

deutschland?<br />

! Ich bin Mitglied der „Nationalen<br />

Plattform Elektromobilität“. Dieses<br />

Gremium berät die Bundesregierung in<br />

Fragen der Elektromobilität. Erklärtes Ziel<br />

der Regierung ist es, dass auf Deutschlands<br />

Straßen im Jahr 2020 mindestens eine<br />

Million Elektroautos fahren. Das sind zwei<br />

Prozent der bis dahin wohl 50 Millionen<br />

Fahrzeuge. Zwei Prozent klingt nicht<br />

viel. Aber daraus abzuleiten, dass keine<br />

besonderen Anstrengungen nötig sind,<br />

wäre fatal. Denn damit würden wir eine<br />

ganz wichtige Entwicklung verschlafen.<br />

Hier sollte die Automobilindustrie sehr<br />

aufpassen...<br />

? ...weil sie ja schon einige<br />

entwicklungen verschlafen hat?<br />

! Das finde ich zwar nicht. Aber sie muss<br />

jetzt die Entwicklung der notwendigen<br />

Technologien anschieben. Denn die<br />

Elektromobilität wird kommen. Ein Problem<br />

für die deutsche Automobilindustrie ist:<br />

Heute muss sie sich auf Komponenten aus<br />

Asien verlassen, weil es in Deutschland<br />

keine Batteriehersteller mehr gibt. Die<br />

Batterie ist aber die Kernkomponente des<br />

Elektroautos. Deshalb sollte Deutschland<br />

eine solche Industrie wieder aufbauen, erste<br />

Ansätze dazu gibt es bereits.<br />

? wann wurde in deutschland die<br />

wichtige Batterieproduktion aufgegeben?<br />

! Das war in den siebziger Jahren.<br />

Elektrochemie schien damals nicht<br />

besonders attraktiv, weshalb die Forschung<br />

an den Unis erlahmte. Die Produkte aus<br />

Asien waren außerdem deutlich günstiger.<br />

Und so schlief diese Technologie bei uns ein<br />

– und erblühte in Asien. Dadurch haben wir<br />

den Anschluss verpasst.<br />

Das Beispiel zeigt, wie wichtig<br />

Forschung und Innovation für Deutschland<br />

sind! Ohne Innovationen verlieren wir<br />

die Produktion und unsere Bedeutung als<br />

Industriestandort. Wissens-, Innovations-<br />

und Industriekompetenz sind aber die Basis<br />

unseres Wohlstands. Diese Ressourcen sind<br />

unser Kapital im globalen Wettbewerb.<br />

Man sieht übrigens an England, wohin<br />

das führen kann: Die haben sich auf<br />

Dienstleitungen und den Finanzsektor<br />

ausgerichtet und haben den Ausbau ihrer<br />

Industrien deutlich zurückgeschraubt.<br />

Damit verlieren sie aber eine wichtige Basis<br />

für ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit<br />

und die Möglichkeit, dringend benötigte<br />

Arbeitsplätze auch für geringer qualifizierte<br />

junge Menschen nachhaltig anbieten zu<br />

können.<br />

? man kann eben nicht nur das Geld<br />

anderer verwalten?<br />

! So ist es. Man muss „Wert schöpfen“!<br />

Und ich bezweifle, ob Wertschöpfung heißt,<br />

eine Aktie von A nach B zu verkaufen. Was<br />

ist da der Wert?<br />

? und damit sind wir bei den originär<br />

deutschen tugenden.<br />

! Absolut. Das zeigt sich auch im<br />

Geschäftsalltag: Gerade wegen dieser<br />

Kompetenzen sind wir anerkannte und<br />

im Ausland auf allen Industrieebenen<br />

geschätzte Partner, besonders in Asien.<br />

Daraus entstehen unsere Geschäfte.<br />

chineSiSche<br />

ehrerweiSunGen<br />

? nun hat man ja den verdacht, wenn<br />

ich das mal holzschnittartig formulieren<br />

darf, dass sich der chinese alles genau<br />

anschaut, was der deutsche erfindet,<br />

um es danach zu kopieren. ist das eine<br />

ernsthafte Gefahr oder tut sich in<br />

diesem punkt etwas im reich der mitte?<br />

! Beides trifft zu. Dennoch sollten wir<br />

uns vor bequemen Vorverurteilungen<br />

hüten. So hat die gefürchtete Kopierfreude<br />

asiatischer Unternehmen durchaus<br />

kulturelle Wurzeln, und zwar im<br />

konfuzianischen Weltbild. Es besagt, dass<br />

der Unerfahrene dem Weisen nacheifern<br />

und ihn gewissermaßen kopieren solle.<br />

Im Denken der Menschen ist das vielfach<br />

noch tief verankert und wird keineswegs<br />

als verwerflich betrachtet. Im Gegenteil:<br />

Dieses Nacheifern gilt sogar als eine Form<br />

der Ehrerweisung. Zeigt es doch, dass<br />

man den Erfahrenen schätzt und seinem<br />

Vorbild folgt. Das ändert natürlich nichts an<br />

der Tatsache, dass man als Unternehmen<br />

aufpassen muss, am Ende nicht das<br />

Nachsehen zu haben.<br />

Diese Erkenntnis setzt sich auch<br />

in china immer stärker durch. Denn<br />

china ist inzwischen ein Land mit<br />

vielen, sehr innovativen Unternehmen.<br />

Während es bei uns immer schwieriger<br />

wird, hochqualifizierte Arbeitskräfte zu<br />

finden, drängen dort Millionen junge<br />

Wissenschaftler auf den Markt, die an<br />

neuen Technologien forschen wollen – und<br />

es auch können. chinesische Unternehmen<br />

müssen ihr Know-how deshalb inzwischen<br />

selbst vor unberechtigten Zugriffen<br />

schützen. Daher zeichnet sich der klare<br />

Trend ab, das Patentrecht in china zu<br />

stärken und legale Möglichkeiten zu<br />

schaffen, um Patente und Lizenzen<br />

wirksam durchzusetzen.<br />

? Sind Sie oft im reich der mitte?<br />

! Die Süd-chemie betreibt in china<br />

acht eigene Standorte mit fast 1000<br />

Beschäftigten. Unter dem Dach des<br />

clariant-Konzerns sind es nun noch<br />

deutlich mehr geworden. Als Südchemie-Vorstandsvorsitzender<br />

und<br />

sicher auch künftig als Mitglied im<br />

clariant-Verwaltungsrat gehört es zu<br />

meinen Aufgaben, Präsenz zu zeigen und<br />

den regelmäßigen Dialog mit unseren<br />

chinesischen Partnern zu führen.<br />

wie kommt daS neue<br />

in die welt?<br />

? ich möchte noch einmal auf<br />

den anfang unseres Gesprächs<br />

zurückkommen. Sie haben gesagt, dass<br />

ihr unternehmen systematisch nach<br />

neuen Geschäftsmöglichkeiten sucht,<br />

indem es Bedarfssituationen analysiert.<br />

aber wie finden Sie dann die lösungen<br />

für einen erkannten Bedarf?<br />

! Sie müssen die Kreativität ihrer<br />

Mitarbeiter zulassen und fördern. Beides<br />

hört sich simpel an, ist aber nicht einfach<br />

zu realisieren. Kreativität lässt sich nicht<br />

verordnen. Aber wir haben einen Prozess<br />

etabliert, mit dem wir Innovation steuern.<br />

In diesem so genannten „Gate-Review-<br />

Prozess” befinden sich bei uns derzeit<br />

rund 300 Projekte in unterschiedlichen<br />

Entwicklungsphasen. Mit Hilfe eines<br />

speziellen IT-Systems analysieren wir die<br />

jeweiligen Fortschritte und entscheiden,<br />

welches Projekt mit welchem Aufwand<br />

vorangetrieben oder eingestellt wird.


? Geht das bis in den vorstand<br />

hinauf?<br />

! Ja natürlich. Ich bin dabei, wenn die<br />

Entwicklungsteams in letzter Instanz<br />

ihre Projekte vorstellen und diskutieren.<br />

Das gehört zu meinen Aufgaben in der<br />

Süd-chemie und sicher künftig auch bei<br />

clariant.<br />

? man spürt, dass Sie als chemiker<br />

an neuen ideen sehr interessiert sind<br />

und nicht nur die zahlen im kopf<br />

haben.<br />

! Das ist richtig. Denn ich bin davon<br />

überzeugt, dass man technologische<br />

Neuerungen zunächst mal verstehen muss,<br />

um ihre Entwicklung managen zu können.<br />

Zahlen und Marktanalysen allein reichen<br />

nicht aus.<br />

? die erfolge der Süd-chemie<br />

geben ihnen recht. wie man der<br />

fachpresse entnehmen konnte, ist das<br />

unternehmen hervorragend aufgestellt,<br />

weshalb es ja erst die Begehrlichkeiten<br />

aus dem neutralen ausland gab. oder?<br />

! Im Grunde wurde die Süd-chemie<br />

nicht jetzt, sondern bereits vor fünf<br />

Jahren verkauft. Damals sind die<br />

Großaktionäre Allianz, Bayerische<br />

Landesbank, Possehl- und später<br />

auch noch die Messerschmitt-Stiftung<br />

ausgestiegen. Mit One Equity Partners<br />

(OEP) übernahm ein Private-Equity-<br />

Unternehmen ihre Anteile und hielt<br />

schließlich 50,4 Prozent der Aktien. Dass<br />

die OEP als Private-Equity-Gesellschaft<br />

ein Exit-orientiertes Geschäftsmodell<br />

verfolgt hat und sich nach einigen Jahren<br />

mit Gewinn von ihrem Investment Südchemie<br />

getrennt hat, ist ihr gutes Recht<br />

und keine überraschung. Ich bin jedoch<br />

überzeugt, dass eine Lösung gefunden<br />

wurde, die allen Stakeholdern gerecht<br />

wird. Die übernahme durch clariant<br />

ist aus unserer Sicht wirtschaftlich<br />

sinnvoll und bestätigt die hohe<br />

Wertschätzung für die Süd-chemie<br />

aufgrund ihrer guten Marktstellung<br />

und Wachstumsperspektiven. Neben<br />

dem erfolgten Ausstieg von OEP bleiben<br />

dank des Aktientauschs zudem die<br />

Traditionsaktionäre der Süd-chemie<br />

– mit einem nicht unerheblichen<br />

Anteil an clariant und Sitzen im<br />

clariant-Verwaltungsrat – weiterhin<br />

unternehmerisch tätig. Und das operative<br />

Geschäft der Süd-chemie wurde nicht<br />

zerschlagen. Im Gegenteil: Als weitgehend<br />

eigenständige Business-Units „Functional<br />

Materials” und „catalysis & Energy”<br />

unter dem Dach des clariant-Konzerns<br />

profitieren unsere Geschäftsaktivitäten<br />

von den nun noch globaleren Strukturen,<br />

was sowohl im Sinne unserer Kunden<br />

als auch der Mitarbeiter in den<br />

Geschäftsbereichen ist. Süd-chemie<br />

und clariant ergänzen sich und werden<br />

gemeinsam weiter wachsen. Und auch ich<br />

werde nach Aufgabe meines Postens als<br />

Vorstandsvorsitzender bei der Süd-chemie<br />

in den clariant-Verwaltungsrat eintreten.<br />

Momentan als Vorstandschef der Südchemie<br />

gilt mein Hauptaugenmerk jedoch<br />

der Integration der Süd-chemie in die<br />

clariant und der Wahrung der Interessen<br />

unserer Mitarbeiter und Aktionäre.<br />

? eine letzte frage: in dieser<br />

ausgabe sagt der deutschland-chef<br />

von intel, dass der atomausstieg<br />

eine riesenchance für den<br />

technologiestandort deutschland sei.<br />

wie bewerten Sie den atomausstieg?<br />

! Aus Sicht der Süd-chemie müsste ich<br />

sagen: Das kommt uns gerade recht. Wir<br />

bieten ja mit der Treibstoffherstellung<br />

aus nachwachsenden Rohstoffen und<br />

den Materialien zur Energiespeicherung<br />

zwei entscheidende Technologien an,<br />

die jetzt verstärkt gebraucht werden.<br />

Aus volkswirtschaftlicher Sicht ist die<br />

Entscheidung dagegen ein Husarenritt<br />

der Politik. Denn sie wurde getroffen,<br />

ohne zu wissen – oder zumindest<br />

fundiert vorhersagen zu können –, was<br />

2022 die Alternativen zum Atomstrom<br />

sein werden, wie teuer der Ausstieg<br />

sein wird und wie eine sichere<br />

Stromversorgung künftig<br />

organisiert sein soll. Als<br />

Unternehmer und Manager<br />

würde ich niemals eine<br />

so riskante Entscheidung<br />

treffen. Das sage ich auch als<br />

Vorsitzender der Bayerischen<br />

chemieverbände. Denn gerade<br />

die bayerische Wirtschaft und mit<br />

ihr die besonders energieintensive<br />

chemieindustrie ist zu 60 Prozent vom<br />

Atomstrom abhängig.<br />

Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich<br />

bin kein Verfechter des Atomstroms. Ich<br />

argumentiere als Unternehmenslenker,<br />

der seine Entscheidungen bestimmten<br />

Kriterien unterwirft. Deshalb sage ich:<br />

Die Politik hätte die möglichen Szenarien<br />

vorher intensiv prüfen müssen – von den<br />

Kosten über die Alternativen bis hin zu<br />

den technologischen Möglichkeiten.<br />

•<br />

N7 Nachmann Rechtsanwälte sehen<br />

in Dr. von Au ein Unternehmervorbild<br />

und gratulieren ihm zu den neuen<br />

Herausforderungen in der Clariant AG.


my germany<br />

Seite 80<br />

Von Andreas Lukoschik<br />

„Aus wirtschaftlicher<br />

Sicht ist der Atomausstieg<br />

für die deutsche<br />

Exportlandschaft eine<br />

Riesenchance!“<br />

wir haben uns mit hannes<br />

Schwaderer, Geschäftsführer von intel<br />

und director energy Sector europe,<br />

middle east & africa, über zwei wichtige<br />

zukunftsfragen unterhalten: wie<br />

organisiert man das post-atomstromzeitalter<br />

so, dass es zum Gewinn für<br />

deutschland wird? und wie gehen wir<br />

mit unserem wichtigsten rohstoff um –<br />

Bildung?<br />

in beiden fragen entwickelt intel<br />

als weltweit größter prozessorhersteller<br />

und führender technologiekonzern gerade<br />

mit seinem deutschland-Geschäftsführer<br />

Strategien für die zukunft.<br />

? herr Schwaderer, warum ist<br />

gerade deutschland ein optimaler<br />

Standort für die entwicklung neuer<br />

Strategien im umgang mit alternativen<br />

energien?<br />

! In Deutschland haben wir ja nicht<br />

wie in Frankreich zu 90% Atomstrom und<br />

wären glücklich damit, sondern wir haben<br />

heute schon einen völlig fragmentierten<br />

Strommarkt. Strom wird bei uns extrem<br />

dezentral generiert: durch die vielen<br />

Solarpanels auf den Hausdächern, durch<br />

Windmühlen, durch Wasserkraft, durch<br />

Biogas- und Erdwärmeanlagen. So haben<br />

wir heute schon die Situation – die ja auch<br />

von der Regierung gewollt war –, dass man<br />

gutes Geld dafür bekommt, wenn man<br />

Strom ins Netz einspeist. Eine Solaranlage<br />

amortisiert sich heute – trotz reduzierter<br />

Einspeisepreise – immerhin in acht, neun<br />

Jahren. Wenn ein Sommer sehr verregnet<br />

ist, vielleicht erst in zehn. Insofern ist das<br />

ein großes Incentive für viele Häuslebauer.<br />

Damit ist das also bereits ein Teil der Lösung<br />

– aber auch ein Teil des Problems.<br />

Illustration: Liga Kitchen


dezentrale<br />

StromerzeuGunG<br />

? warum?<br />

! Weil auf der letzten Meile Strom<br />

verbraucht, aber auch produziert wird<br />

und ins Netz zurückgespeist wird.<br />

Das führt zu schwer managebaren<br />

Spannungsschwankungen. Wenn bei<br />

Ihnen zu Hause das Licht brennt und drei<br />

Glühbirnen gleichzeitig abrauchen, dann<br />

liegt es daran, dass Sie eine überspannung<br />

abbekommen haben, die Ihr Stromversorger<br />

nicht richtig managen konnte. Bei den<br />

Glühbirnen ist es nicht so schlimm.<br />

Wenn´s die Waschmaschine ist, wird´s<br />

ärgerlich. Für die Stromversorger wird der<br />

letzte Meter zu etwas wie einem „Schwarzen<br />

Loch”.<br />

Um solche Stromschwankungen<br />

zu vermeiden, arbeiten wir mit<br />

Stromversorgern, die bereits jetzt dezentrale<br />

Messstationen aufgebaut haben. Das sind<br />

kleine Kästchen, in denen ein computer<br />

misst, wann was beim Stromverbraucher<br />

passiert und warum es passiert. Aber<br />

die Erzeuger können noch nicht darauf<br />

steuernd reagieren, weil sie weder Software<br />

noch computer haben, die das auswerten<br />

und dann in Steuerung umsetzen. Daran<br />

arbeiten wir zusammen mit anderen<br />

Technologie-Unternehmen.<br />

daS intelliGente Stromnetz<br />

Will man das aktuelle Netz zu einem<br />

„Intelligenten Stromnetz” umbauen – dem<br />

so genannten „Smart Grid” –, dann ist das<br />

ein weitgefächerter Prozess. Man muss<br />

nämlich damit beginnen, dass man so<br />

genannte „Smart Meter” installiert. Das<br />

sind digitale Stromzähler, die mit einem<br />

Internetanschluss verbunden sind und alle<br />

15 Minuten die Information zurückgeben,<br />

wie viel Strom gerade verbraucht wird. Das<br />

ermöglicht dem Versorger, den Strombedarf<br />

genau zu erfassen. Sie wissen also ganz<br />

genau, zu welchem Tageszeitpunkt Sie<br />

Spitzen haben und wann sie abflachen.<br />

Dementsprechend kaufen Sie den Strom<br />

ein oder produzieren ihn. Das hilft, weil<br />

ja Strom auch Minutenpreisen unterliegt<br />

wie andere Waren an der Börse auch.<br />

Intelligenter wäre es, wenn wir über die<br />

Messung hinaus auch bereits volatile<br />

Strompreise für den Verbraucher hätten<br />

und zwar abhängig von Bedarf und<br />

Angebot.<br />

? also dann wäre Strom abends, wenn<br />

die ganze familie zu hause ist, teurer und<br />

tagsüber billiger?<br />

! Umgekehrt. Auch wenn es<br />

berufstätige Männer und Frauen so kennen,<br />

wie Sie gesagt haben, versammelt sich der<br />

Großteil der Familie doch schon bereits<br />

zum Mittag im Hause. Und deswegen wäre<br />

das Preisgefüge anders herum. Tagsüber<br />

teurer – nachts billiger. Denn die Windräder<br />

drehen sich auch nachts und die Isar fließt<br />

auch nachts und beide produzieren Strom<br />

für niemanden. Es gibt nachts einfach<br />

weniger bis gar keine Abnehmer. Das wird<br />

in gewissem Umfang bereits heute von<br />

Wirtschaftsunternehmen genutzt, weil der<br />

Strom für Unternehmen nachts tatsächlich<br />

billiger ist. So werden Kühlhäuser nur<br />

nachts gekühlt, während sie tagsüber auf<br />

eine höhere Temperatur hinlaufen. Aber<br />

dank guter Isolation reicht das.<br />

Kurzum: Wir haben bei der<br />

Stromerzeugung zur Zeit eine zwölfspurige<br />

Autobahn, die wir brauchen, da mittags<br />

zwischen elf und ein Uhr gekocht wird.<br />

Foto: Ralf Kaspers, New Jersey, 2006


Und dann verbraucht jeder Haushalt schon<br />

mal ein, zwei Kilowatt mehr als sonst. Und<br />

wenn die Dame des Hauses beim Kochen<br />

auch nochmal die Waschmaschine anmacht,<br />

dann sind es vier, fünf Kilowatt mehr, die<br />

gebraucht werden. Wir haben also eine<br />

zwölfspurige Autobahn für zwei Stunden am<br />

Tag, während wir nachts nur einen Feldweg<br />

brauchen. Das ist also teuer und ökologisch<br />

gesehen suboptimal. Wie kann man so etwas<br />

nun anders regeln?<br />

Erstmal, indem man Anreize auch für<br />

Privatkunden schafft, ihren Stromverbrauch<br />

über die 24 Stunden des Tages zu verteilen.<br />

Weil Strom immer teurer wird, ist Geld<br />

für uns Verbraucher ja immer ein starkes<br />

Incentive. Dabei würde ich als Verbraucher<br />

über das gleiche Internet, über die mein<br />

Stromerzeuger erfährt, wie viel Strom<br />

ich verbrauche, selber wissen, wann der<br />

Strom billig ist. Dann würde ich zum<br />

Beispiel zu günstigeren Zeitpunkten<br />

meine Waschmaschine einschalten. Und<br />

genau das würde ein kleiner computer<br />

tun, dem ich gesagt habe: „Immer wenn<br />

der Strom unter 17 cent fällt, mach die<br />

Waschmaschine an!” Da muss sich natürlich<br />

im Verbraucherverhalten einiges ändern.<br />

Denn die Dame des Hauses muss die<br />

Waschmaschine vollpacken, Waschmittel<br />

einfüllen und nur den computer einschalten.<br />

Denn die Waschmaschine schaltet sich ja<br />

selbst ein, wenn der Strom billig ist.<br />

So könnte man die Stromspitzen über<br />

den Tag hin besser verteilen und könnte den<br />

Strom dann nutzen, wenn er im überfluss<br />

vorhanden ist. Dann muss ich auch nicht<br />

mehr so viel Strom produzieren. Was<br />

bedeutet, dass man weniger Kraftwerke<br />

braucht. Alle Kraftwerke müssen nämlich<br />

volle Pulle laufen, wenn gekocht wird.<br />

? diese sieben atomkraftwerke, die<br />

jetzt abgeschaltet worden sind, waren<br />

demnach nötig zum kochen?<br />

! Zum Beispiel.<br />

wettervorherSaGen<br />

fÜr GleichmäSSiGere<br />

StromerzeuGunG<br />

Wenn man dann weiterdenkt, dann<br />

weiß man auch in den Umspannwerken<br />

durch solche Feedback-Informationen,<br />

wann ich wie viel Strom durch konstante,<br />

dezentrale Stromerzeugungsmöglichkeiten<br />

– wie Biogasanlagen und Erdwärmepumpen<br />

– zurückbekomme. Was<br />

ich noch nicht weiß, ist, wie viel Strom<br />

durch wetterabhängige Anlagen entsteht.<br />

Also durch Solarzellen auf den Dächern<br />

und durch Windräder. Dafür werden heute<br />

Höchstleistungsrechner gebaut, die das<br />

Wetter auf 5 Minuten und 100 Meter genau<br />

vorhersagen können. Zur Zeit entsteht der<br />

größte computer der Welt in Garching<br />

am Leibniz-Rechenzentrum mit sage und<br />

schreibe 7,6 Petaflops Leistung. Das sind 7,6<br />

Billiarden Gleitkommaoperationen. Oder<br />

mit anderen Worten: Da arbeiten 33000<br />

Server parallel, um diese Rechenleistung zu<br />

erbringen.<br />

? und da sind prozessoren von intel<br />

drin?<br />

! In diesem Falle: Ja! Mit dieser<br />

Rechenleistung kann man Stromversorgern<br />

brauchbare Informationen liefern wie zum<br />

Beispiel, dass heute in Berchtesgaden die<br />

Sonne mit der und der Intensität zwischen<br />

12 Uhr und 13 Uhr scheint und dass danach<br />

ein paar Wölkchen kommen, die aber durch<br />

erhöhtes Windaufkommen weggeweht<br />

werden. Damit lässt sich einplanen, wie viel<br />

Strom mit den dort installierten Solarzellen<br />

erzeugt wird. Also kann der Stromversorger<br />

als Folge davon zum Beispiel das Wasserkraftwerk<br />

am Kochelsee zu dieser Zeit<br />

runterfahren und den dort im überfluss<br />

produzierten Strom dazu nutzen, zu diesem<br />

Zeitpunkt das Wasser wieder den Berg<br />

raufzupumpen. Dann kann er es morgen,<br />

wenn in Berchtesgaden mehr Wolken am<br />

Himmel sind und weniger Wind bläst, dazu<br />

nutzen, wieder Strom aus Wasserkraft zu<br />

produzieren.<br />

autoS alS fahrBare<br />

Batterien nutzen<br />

Eine andere Art, den Strom, den man<br />

produziert hat, aber nicht gebrauchen<br />

kann, zu speichern, heißt „Batterie“. Und<br />

hier kommt das Automobil ins Spiel. Wir<br />

alle wollen ja ganz schnell zur „E-Mobility-<br />

Gesellschaft” werden. Das hat große<br />

Vorteile für die Umwelt, wenn man davon<br />

ausgeht, dass der Strom fürs Auto cO 2 -frei<br />

produziert wird. Aber das ist wieder eine<br />

andere Frage. Zurück zum Auto als fahrbare<br />

Batterie: Wenn das Auto in der Garage<br />

steht, lade ich natürlich das Auto nur dann<br />

voll, wenn der Strom billig ist. Also nachts.<br />

Wenn ich tagsüber Strom brauche, aber<br />

nicht den teuren Strom aus der Steckdose<br />

nehmen will, kann ich meine Batterie im<br />

Auto anzapfen, weil das billiger Strom aus<br />

der Nachtproduktion ist. Natürlich setzt<br />

das voraus, dass ich das Auto an dem Tag<br />

nicht mehr brauche. So kann man sich also<br />

vorstellen, dass die Elektroautos ein Teil<br />

des „Intelligenten Stromnetzes” werden und<br />

gleichzeitig dem lokalen Fortkommen seiner<br />

Fahrer dienen.<br />

? ist das nicht überhaupt ein großer<br />

attraktionsfaktor für die elektromobilität,<br />

dass autos multifunktionale energiespeicher<br />

sind, anstatt nur fossile energie in<br />

Bewegungsenergie zu verwandeln wie zur<br />

zeit?<br />

! Absolut. Und sie sind herrlich fahrbare<br />

Batterien. Ich bin schon so ein Elektroauto<br />

gefahren und muss sagen: Das macht einen<br />

höllischen Spaß, weil der Elektromotor viel<br />

performanter ist als ein Benzinmotor.<br />

? das heißt?<br />

! Er beschleunigt sehr viel schneller<br />

als ein Benzinmotor. Das Fahren damit<br />

macht also richtig Freude. Und wenn man<br />

Liebhaber von speziellen Motorsounds<br />

ist, dann wird der via Soundprozessor in<br />

den Innenraum über die Lautsprecher<br />

eingespeist. Vom FIAT 500 bis Ferrari kann<br />

man sich den Sound aussuchen, ohne ein<br />

schlechtes Gewissen der Umwelt gegenüber<br />

haben zu müssen.<br />

Zum Thema „Intelligentes Stromnetz“<br />

oder „Smart Grid” gehört aber noch<br />

mehr: Wir müssen nämlich neue Netze<br />

bauen, weil wir den Strom aus Offshore-<br />

Kraftwerken in der Ostsee nach Bayern<br />

bringen müssen. Das ganze Netz muss als<br />

Gesamtheit gemanagt werden, weil diese<br />

Form der Stromversorgung natürlich sehr<br />

stark grenzübergreifend ist: nicht nur<br />

geografische Grenzen betreffend, sondern<br />

auch die Grenzen zwischen verschiedenen<br />

Versorgern.<br />

Strom Sparen – aBer wie?<br />

Und dann kommt natürlich die große<br />

Frage: „Wie spare ich Strom?” Erstens<br />

natürlich in der Erzeugung. Es gibt große<br />

Unternehmen im deutschsprachigen<br />

Raum, die Gasturbinen bauen mit einem<br />

Effizienzgrad von 50%. Ältere Gasturbinen<br />

leisten dagegen nur 20 bis 25%. Man kann<br />

mit einer neuen Turbine also doppelt soviel<br />

Strom erzeugen wie mit einer alten. Da<br />

steckt ein Riesenpotenzial drin.<br />

Dann kommt dazu, dass wir vielleicht<br />

ein zusätzliches Stromnetz brauchen – mit<br />

einer anderen Spannung –, das speziell zum<br />

Auftanken der Autos ist.<br />

Ich habe schon vor zwei Jahren mit<br />

führenden Köpfen im Bundesumweltministerium<br />

gesprochen, die damals schon<br />

gesagt haben, dass wir wohl in drei Jahren –<br />

also jetzt noch ein Jahr – volatile Strompreise<br />

haben werden. Denn man kann auf der<br />

Konsumentenseite – wie oben erwähnt – sehr


viel über die Preise steuern.<br />

Und dann müssen wir einfach auch<br />

weniger verbrauchen. Es gibt in der<br />

Zwischenzeit für zu Hause das so genannte<br />

„HEMS” – „Home Energy Management<br />

System”. Das ist ein kleines Kästchen, das<br />

hängt an der Wand. Genau dieser kleine, ans<br />

Internet angebundene computer schaltet<br />

selbstständig, abhängig vom Strompreis,<br />

Geräte ein und aus. Und wenn ich aus der<br />

Haustüre gehe, schalte ich das „HEMS” aus<br />

und dann sind alle Stromgeräte, die ich<br />

nicht brauche, wenn ich nicht zu Hause bin,<br />

abgeschaltet.<br />

? das kennt man ja aus<br />

hotelzimmern: Sobald ich meine<br />

zimmerkarte aus dieser kleinen Box<br />

an der tür ziehe, sind alle lichter aus,<br />

während die minibar aber trotzdem<br />

weiterläuft.<br />

! Genau so funktioniert das „HEMS”,<br />

nur eben für ein viel größeres System,<br />

nämlich für ein ganzes Haus. Man kann<br />

also mit intelligenten Systemen vieles im<br />

Haushalt managen. Es macht zum Beispiel<br />

gar nichts, wenn sich beim Einschalten des<br />

Elektroherdes derweil die Tiefkühltruhe<br />

ausschaltet und die Temperatur von<br />

minus 34 auf minus 33 Grad ansteigt. Das<br />

ändert an der Qualität der eingefrorenen<br />

Lebensmittel überhaupt nichts.<br />

? Stellt sich die frage: was hat die<br />

firma intel damit zu tun?<br />

! Die hat damit ganz viel zu tun, weil<br />

in all diesen Steuerungseinheiten – ob lokal<br />

oder international – Intelligenz in Gestalt<br />

von Prozessoren hineingehört. Heute haben<br />

wir erst an vielen kleinen Stellen Intelligenz,<br />

die einen Teil der Stromversorgung<br />

managen – aber nie das gesamte Netz. Wir<br />

brauchen deshalb ein intelligentes Netz über<br />

ganz Deutschland oder besser über ganz<br />

Europa, das dezentrale Stromversorgung<br />

managt. Aber dafür braucht man sehr<br />

viele hochleistungsfähige computer<br />

bis hin zu riesigen Rechenzentren, die<br />

Wettervorhersagen auf die Minute genau<br />

treffen können. Das ist also ein Riesenfeld.<br />

Erfreulicherweise sind wir heute schon<br />

in vielen dieser Kleinst- und Großrechner<br />

drin, oftmals ohne dass wir das wissen.<br />

Wir haben zum Beispiel Kunden, die in<br />

Windkrafträdern schon Intel-Prozessoren<br />

verbauen, weil auch die gesteuert und<br />

gemanagt werden sollen. Per Internet<br />

sollen sie den Versorger über ihre Leistung<br />

informieren und darüber, ob sie voll<br />

funktionsfähig sind oder defekt.<br />

der atomauSStieG iSt wirt-<br />

Schaftlich eine GroSSe chance<br />

fÜr den exportweltmeiSter<br />

? ist deutschland da weiter als<br />

andere länder?<br />

! In dieser Kleinstrukturiertheit bei<br />

der Stromerzeugung sind wir vermutlich<br />

einzigartig auf der Welt. Dänemark kommt<br />

schon seit Jahren ohne Atomstrom aus, hat<br />

aber ganz andere Konzepte. Die haben zum<br />

Beispiel zentrale Anlagen, die ganz Kopenhagen<br />

mit Wärme versorgen, so dass nur<br />

noch 3% der Häuser eine eigene Heizung<br />

haben. 97% der Haushalte aber werden mit<br />

Fernwärme versorgt, weil eine Heizung, die<br />

eine ganze Stadt versorgt, immer viel effektiver<br />

ist als viele kleine Einheiten.<br />

Aber Deutschland ist nun mal einer der<br />

großen Exporteure vielfältiger Techniken<br />

und Technologien zur alternativen Energieerzeugung.<br />

Wir haben große Windmühlenhersteller,<br />

wir haben große Solarunternehmen,<br />

wir haben große Konzerne, die in<br />

Energietechnologien forschen und produzieren.<br />

Das ist ein deutsches Pfund und Teil<br />

unserer großen Export-Erfolgsgeschichte.<br />

Und richtig verstanden, ist der Ausstieg<br />

aus der Atomenergie für Deutschland eine


Riesenwirtschaftschance.<br />

Wir sind nämlich gezwungen, uns<br />

alternative Wege zu suchen, um unseren<br />

Stromverbrauch zu managen: Sowohl aus<br />

ökonomischer Sicht, weil wir das als einen<br />

umsatz- und gewinnbringenden Teil unserer<br />

Wirtschaft verstehen. Denn alternative<br />

Energiegewinnung ist ein Entwicklungs- und<br />

Innovationsbereich, aus dem wir die Welt<br />

wieder mit unseren Produkten beglücken<br />

können. Und natürlich auch aus ökologischer<br />

Sicht ist das alles sehr sinnvoll. Nur<br />

müssen wir aus ökologischer Sicht darauf<br />

achten, dass wir zwar die zu Recht umstrittene<br />

Atomenergie abschaffen, dafür aber<br />

trotzdem nicht mehr CO 2 in die Luft blasen,<br />

wenn wir rückwärts gehen und wieder<br />

Energie aus Kohle und Gas gewinnen wollen.<br />

Deshalb MÜSSEN wir Alternativen<br />

dazu finden. Ich sehe – und das sage ich<br />

gerne noch einmal – den Atomausstieg aus<br />

wirtschaftlicher Sicht als eine Riesenchance<br />

für Deutschland!<br />

BILDUNG – DIE „META-ENERGIE“<br />

? Das hört sich alles sehr schlau<br />

an. Nutzen Sie diese Schläue nur für<br />

das wirtschaftliche Fortkommen von<br />

Intel oder dürfen auch andere daran<br />

teilhaben?<br />

! Damit sind wir beim Stichwort<br />

„Bildung“. Und da sind Sie bei mir genau<br />

richtig (lacht). Vor 12 Jahren haben wir<br />

damit begonnen, für uns das Thema<br />

Bildung aufzunehmen. Als wir einen<br />

Vorstandsvorsitzenden hatten, den Sie ja auch<br />

gut kennen – Craig Barrett –, der selbst aus<br />

der Lehre kommt und Professor in Stanford<br />

war, der hatte damals gesagt: „Es gibt nur ein<br />

Gebiet, für das ich mich wohltätig im Sinne<br />

von Corporate Social Responsibility engagieren<br />

möchte, das ist Bildung.” Wir müssen unseren<br />

Kindern die besten Werkzeuge und die besten<br />

Voraussetzungen mit auf den Weg geben. Aus<br />

unserer Sicht am besten mit digitalen Medien.<br />

Wir haben also ohne besondere<br />

Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit<br />

aus Deutschland heraus ein Programm<br />

entwickelt, bei dem wir jetzt schon seit<br />

11 Jahren unter dem Titel „Intel Teach“<br />

mit allen 16 Bundesländern einen Vertrag<br />

geschlossen haben, um deutsche Lehrer<br />

über die jeweils in den Bundesländern<br />

ansässigen Anstalten für Lehrerfortbildung<br />

ausbilden zu dürfen. Das machen wir gratis!<br />

Der Grundansatz war und ist, Lehrern<br />

beizubringen, wie man methodisch und<br />

didaktisch sinnvoll digitale Medien für ein<br />

besseres Lernen im Unterricht einsetzt.<br />

Inzwischen ist das ein sehr<br />

erfolgreiches Programm. Wir haben in<br />

Deutschland – Stand heute – 450000 Lehrer<br />

ausgebildet. Das sind drei Viertel der aktiven<br />

Lehrer. Auf unsere Kosten! Meistens in<br />

40-stündigen Präsenzschulungen. Wir<br />

haben dazu aber auch parallel Schulungen<br />

– Ausbaustufe 1 bis 3 – per Internet<br />

zur Verfügung gestellt, die sich Lehrer<br />

unterrichts- und curriculabegleitend –<br />

also passend zum Unterrichtsfach, zur<br />

Schulstufe usw. – runterladen können. Für<br />

Lehrer ist es nämlich besonders wichtig,<br />

dass sie auf urheberrechtsgeschützte<br />

Inhalte zugreifen können, von denen sie<br />

wissen, dass sie sie im Unterricht benutzen<br />

dürfen – und das Ganze am besten auch<br />

noch fächerübergreifend. Wenn ich zum<br />

Beispiel im Erdkundeunterricht über die<br />

Bevölkerungsexplosion spreche, dann ist es<br />

doch ganz sinnvoll, den Mathematiklehrer<br />

dazuzuholen und eine kleine Stochastik mit<br />

einzubauen.<br />

ES ÄNDERT SICH DIE ALTHERGE-<br />

BRACHTE LEHR- UND LERNKULTUR<br />

Was wir damit getan haben und tun, ist<br />

eine althergebrachte Lern- und Lehrkultur<br />

komplett aufzubrechen. Wenn der Lehrer<br />

weg von der Tafel zum „Kollaborativen


Lernen” in die Klasse geht, ist er nicht<br />

mehr der Alleinunterhalter VOR der<br />

Klasse, sondern der coach und Trainer,<br />

der MIT den Kindern arbeitet, die sich in<br />

kleinen Gruppen Dinge mit dem Pc selbst<br />

erarbeiten, sie grafisch umsetzen und so<br />

weiter. So wird in vielen Schulen schon<br />

gearbeitet. Leider aber immer noch in viel<br />

zu wenigen. Und da ist Deutschland absolut<br />

im Hintertreffen. Länder wie Portugal,<br />

Spanien, Mazedonien, ja selbst Venezuela<br />

und Argentinien – also nicht die, die wir zu<br />

den üblichen verdächtigen, reichen Ländern<br />

zählen – haben aber genau das gemacht und<br />

ihre Kinder mit neuesten Pcs ausgestattet,<br />

die für den Gebrauch in der Schule<br />

optimiert sind. Das sind einerseits Gehäuse,<br />

die man vom Tisch fallen lassen kann,<br />

ohne dass sie kaputtgehen, oder über die<br />

man auch schon mal eine cola ausleeren<br />

kann und die dann trotzdem weiter<br />

funktionieren. Andererseits unterscheiden<br />

sie sich aber am ehesten von anderen Pcs<br />

durch ihren Inhalt, weil man mit ihnen in<br />

geschützten Räumen im Internet arbeiten<br />

kann.<br />

All das hat Vorteile, die wir immer<br />

vermutet haben – aber nie belegen<br />

konnten. Wir haben deshalb eine Studie<br />

an der Universität Hamburg in Auftrag<br />

gegeben und zwar über eine Laufzeit von<br />

18 Monaten, um einen anhaltenden Effekt<br />

nachweisen zu können.<br />

Beim lernen am pc Sind<br />

kinder viel motivierter<br />

Der Haupteffekt ist: Die Kinder sind<br />

viel motivierter, etwas zu lernen. Natürlich<br />

finden die klassischen Arbeitswerkzeuge<br />

immer noch statt – also Papier und Bleistift,<br />

Geodreieck und Radiergummi. Aber man<br />

kann eben auch mit einem Pc lernen und<br />

zwar sehr viel besser, weil das Lernen<br />

individualisiert vonstattengeht. Jeder<br />

Mensch nimmt Inhalte auf unterschiedliche<br />

Weise auf. Die einzige Art, die wir aber<br />

Kindern bislang anbieten, ist Kreide auf<br />

Tafel, um im Sinne des Abschreibens mit<br />

Füller auf Papier eine Verinnerlichung zu<br />

erreichen.<br />

Jetzt stellen Sie sich vor, die Kinder<br />

schreiben nicht ab – käuen also wieder –,<br />

sondern recherchieren das Thema selbst<br />

im Internet. Erstens macht das Spaß.<br />

Zweitens finden sie mit dem richtigen<br />

Ehrgeiz die richtige Lösung. Und drittens<br />

sind das Inhalte, die sie nicht mehr<br />

vergessen werden. Wir erinnern uns alle<br />

daran, als wir mal Referate in der Schule<br />

geschrieben haben: Ich kann meine<br />

Referate heute noch relativ gut inhaltlich<br />

wiedergeben – aber nur sie. Den ganzen<br />

Rest, den ich via Frontalunterricht in der<br />

Schule eingetrichtert bekommen habe,<br />

habe ich mir weniger gut gemerkt. Das<br />

Selbsterarbeiten ist also ein ganz wichtiger<br />

Punkt. Das gräbt sich sozusagen ins<br />

Gedächtnis ein. Und bleibt dort erhalten.<br />

Der zweite Vorteil beim Lernen mit<br />

digitalen Medien, der in der Untersuchung<br />

an der Uni Hamburg bestätigt wurde, heißt<br />

„Individualisierung“. Der eine ist mehr<br />

visuell orientiert und braucht Bildchen<br />

und Animationen. Der andere braucht<br />

geschriebenen Text. Und der Dritte muss<br />

es hören, um es sich merken zu können.<br />

All das bietet ein computer. Zumal es alles,<br />

was es an Schulbüchern gibt, inzwischen<br />

oftmals auch digitalisiert gibt. Allerdings<br />

in anderen Ländern mehr als bei uns. Bei<br />

uns ist man oft noch damit zufrieden, wenn<br />

man von jeder Seite eines Buches eine<br />

PDF-Datei macht und dann so tut, als ob es<br />

sich dabei um einen digitalen Inhalt handle.<br />

Aber wenn ich auf einer Zeichnung – wie<br />

in meinem alten Physikbuch – eine schiefe<br />

Ebene sehe und ein Holzwägelchen darauf<br />

symbolisch dargestellt ist, bei dem die<br />

Pfeile zeigen, welche Kräfte wirken, dann<br />

ist das eindrücklich. Aber eindrücklicher<br />

ist es, wenn es mit einem echten Menschen<br />

auf einem Fahrrad auf einer echten Straße<br />

gezeigt wird und zwar in bewegten Bildern.<br />

Dann kann ich einem Kind lebensnah an<br />

echten Beispielen verständlich machen, wie<br />

eine schiefe Ebene wirkt.<br />

Das dritte Ergebnis der Hamburger<br />

Studie ist: Die Steigerung der Motivation ist<br />

nicht ein Strohfeuer, sondern ist anhaltend.<br />

Schüler lernen damit also auch dauerhaft<br />

mehr und besser.<br />

Dieses digitale Lernen treiben wir<br />

intensiv auf vielen Ebenen voran. Wir<br />

stecken 100 Millionen Dollar pro Jahr in<br />

solche Bildungsprojekte weltweit und in<br />

die Entwicklung solcher Lernwerkzeuge,<br />

in Lehrerfortbildung, in Ausstattung von<br />

Schulen. Das ist – nebenbei gesagt – die<br />

größte private Investition auf der Welt in<br />

solche Projekte.<br />

auSBlick in die zukunft<br />

? wie sieht ihr ausblick für die<br />

zukunft aus?<br />

! Unsere Gesellschaft wird digitalisiert.<br />

Und das wird alle Bereiche unseres<br />

Lebens durchziehen. Wir werden unsere<br />

Steuererklärungen über das Internet<br />

abgeben, wir werden immer mehr Handel<br />

über das Internet betreiben und ab 2012<br />

werden die ersten Autos serienmäßig mit<br />

Internetzugang ausgestattet sein. Und<br />

das ist erst der Anfang. Zur Zeit sind wir<br />

2 Milliarden Menschen auf dem Globus,<br />

die mit 4 Milliarden Geräten im und<br />

mit dem Internet kommunizieren – vom<br />

Hochleistungscomputer über Telefonie<br />

bis zur Kaffeemaschine. Im Jahre 2015<br />

werden es 3 Milliarden Menschen sein<br />

und 15 Milliarden Geräte. Und wir?<br />

Wir werden immer mehr über das<br />

Internet kommunizieren. Und welche<br />

Zielgruppe profitiert davon am meisten?<br />

Die Senioren! Die haben jetzt schon die<br />

größte Zuwachsrate unter den neuen<br />

Internetnutzern. Und bleiben so mitten<br />

in der Gesellschaft – in der digitalen<br />

Gesellschaft.<br />

Kurz und gut: Die Digitalisierung ist<br />

ein gesellschaftliches Phänomen. Mit ganz,<br />

ganz vielen neuen Aspekten. Aber eines ist<br />

uns klar: Wir werden in sehr vielen Geräten<br />

Intelligenz haben. Und die analoge Welt<br />

wird sich langsam verabschieden.<br />

? das glaube ich nicht. ich denke,<br />

sie wird sehr viel exklusiver werden.<br />

! Oder so. Ich habe mir zum Beispiel<br />

gerade einen Plattenspieler gekauft.<br />

? Genau! das war ein gutes<br />

Schlusswort.<br />

N7 Nachmann Rechtsanwälte sehen in der<br />

Tatsache, dass ein Technologiekonzern wie Intel<br />

weltweit erstmals – und zwar in Deutschland<br />

– eine Instanz wie den „Director Energy<br />

Sector“ schafft, eine hohe Wertschätzung des<br />

herausragenden Technologie-Know-hows in der<br />

ökologischen Energieerzeugung. Grund genug<br />

mit dem Mann über Deutschland zu sprechen,<br />

der diese Aufgabe übernimmt.<br />


my europe<br />

Seite 92<br />

Gutes<br />

unternehmen –<br />

geht!<br />

wir sitzen im 20. Stock des<br />

Japan towers in frankfurt – in einem<br />

Besprechungsraum mit Blick auf die<br />

Bankentürme. in unserem Gespräch geht<br />

es aber nicht um die finanzbranche.<br />

das thema unseres Gesprächs<br />

dreht sich um frauen und männer, die<br />

die welt ein bisschen besser machen<br />

wollen. nicht als generöse wohltäter,<br />

auch nicht als wohlwollende retter,<br />

sondern als unternehmer. die rede ist<br />

von den mitgliedern einer organisation,<br />

die sich den namen ashoka gegeben hat<br />

und die erste und größte non-profitorganisation<br />

zur förderung von Social<br />

entrepreneurship auf unserer erde ist.<br />

in diesen wirtschaftlich<br />

schwierigen zeiten hört man denn<br />

auch viel über ashoka, weshalb ich von<br />

einer expertin wissen wollte, was es<br />

mit ashoka auf sich hat. und so kam es<br />

zu diesem Gespräch mit einer jungen<br />

frau, die auf den namen konstanze<br />

frischen hört und trotz ihrer wenigen<br />

lebensjahre unerhört viel bewegt<br />

hat in ihrem leben – zum Beispiel als<br />

Gründerin von ashoka deutschland.<br />

? frau frischen, was ist ashoka?<br />

! Das größte Netzwerk der besten<br />

Sozialunternehmer. Bill Drayton, der<br />

Ashoka 1980 in Indien gegründet hat,<br />

beschäftigte unter anderem die Fragen:<br />

Wie lassen sich gesellschaftliche Probleme<br />

intelligent und nachhaltig lösen? Wie<br />

lässt sich mit einem Dollar möglichst viel<br />

bewirken? Seine Antwort: Wir suchen – wie<br />

man es in der Wirtschaft auch tut – die besten<br />

unternehmerischen Köpfe mit den besten<br />

Ideen für eine stärkere Zivilgesellschaft.<br />

Und das ist Ashokas Ansatz. Wir fördern<br />

Männer und Frauen, die gezeigt haben, dass<br />

sie ein bahnbrechendes Konzept haben,<br />

um ein gesellschaftliches Problem zu lösen<br />

– sei es im Bereich Gesundheit, Bildung,<br />

Menschenrechte oder Entwicklung. Und<br />

wir helfen diesen Social Entrepreneurs, ihre<br />

Ideen zu verbreiten.<br />

? ist das neu? und warum ist das<br />

wichtig?<br />

! Social Entrepreneurs sind der beste<br />

Hebel, um gesellschaftliche Probleme zu<br />

lösen und Wandel zu unterstützen. Natürlich<br />

gab es sie schon immer. Denken Sie<br />

an Maria Montessori zum Beispiel. Aber<br />

niemand hat über sie als Typus geredet und<br />

niemand hat sie gezielt gefördert.<br />

Warum es Ashoka braucht? Unternehmer<br />

können sich am Markt finanzieren.<br />

Aber wer steht Sozialunternehmern bei,<br />

die nicht unbedingt Aussicht auf raschen Kitchen<br />

Gewinn versprechen, deren Idee aber gesellLiga<br />

schaftlich unglaublich wichtig ist? Ashoka<br />

wählt jedes Jahr sorgfältig die besten Sozialunternehmer<br />

mit den vielversprechendsten Illustration:


Ansätzen aus und gibt ihnen Stipendien, die<br />

es ihnen ermöglichen, sich Vollzeit, ohne<br />

Existenzangst, auf ihre Arbeit zu konzentrieren.<br />

Außerdem bekommen sie die Netzwerke,<br />

die sie brauchen, um sich weitere<br />

Unterstützung heranzuholen: Wir verbinden<br />

sie mit anderen Social Entrepreneurs, sie<br />

erhalten Rat und Tat von Unternehmern<br />

und Verbindungen zur Wissenschaft und<br />

Wirtschaft. Soziale Innovationen zu finden<br />

und die Menschen zu fördern – das war und<br />

ist der Kern unserer Arbeit.<br />

? nennen Sie mir ein Beispiel.<br />

! Einer der ersten Sozialunternehmer,<br />

die ich traf, war Rodrigo Baggio aus<br />

Brasilien. Sein Ziel ist es, Zugang zum<br />

Internet und zu Informationstechnologien<br />

auch für Arme verfügbar zu machen. Anfang<br />

der 90er Jahre arbeitete er mit Kindern<br />

in zwei Slums in Rio de Janeiro – neben<br />

seinem Beruf, in dem er Geld für sich und<br />

seine Familie verdiente. Ashoka hat Rodrigo<br />

ermöglicht, sich Vollzeit auf sein Projekt zu<br />

konzentrieren, es zu systematisieren und<br />

auszubauen und nachhaltig zu machen.<br />

Heute ist seine Organisation cDI (center<br />

for Digital Inclusion) auf drei Kontinenten<br />

vertreten und hat mehr als 800000 Kindern<br />

und Benachteiligten geholfen. Sie meistern<br />

computer und Internet, können Lesen<br />

und Schreiben, sind in der Ausbildung<br />

oder haben ihr eigenes Unternehmen<br />

gegründet. Und Rodrigo kümmert sich nun<br />

ganz um die weitere Expansion von cDI.<br />

Er hat viele Preise gewonnen, spricht an<br />

renommierten Universitäten, auf dem World<br />

Economic Forum… So könnte ich Ihnen<br />

jetzt jede Menge Geschichten erzählen.<br />

Diesen Sprung, den Rodrigo gemacht hat,<br />

den will Ashoka erzeugen. Damit neue<br />

Lösungsmuster möglichst viele Menschen<br />

erreichen.<br />

? Sie erwähnten maria montessori,<br />

die zeitlich mit henry ford gelebt hat. da<br />

wäre es sicherlich auch sehr spannend<br />

gewesen, wenn man die beiden<br />

zusammengebracht hätte, um zu sehen,<br />

was sich daraus für ihre arbeit ergeben<br />

hätte. Bauen Sie bei ashoka solche<br />

interdisziplinären Brücken?<br />

der „GloBalizer“<br />

! Sehr schön, dass Sie das ansprechen.<br />

Wir haben eine Initiative, die sich<br />

„Globalizer“ nennt und die darauf abzielt,<br />

die besten Skalierungsstrategien für soziale<br />

Innovationen zu finden. Leider wird im<br />

sozialen Sektor das Rad sehr oft neu<br />

erfunden, weil es keinen funktionierenden<br />

Markt gibt – ein starker Unterschied<br />

zum normalen Geschäftsleben. Aus<br />

Ashokas Vogelperspektive sehen wir tolle<br />

Innovationen, etwa im Bereich Housing in<br />

Brasilien oder in der HIV/AIDS-Vorsorge in<br />

Afrika. Aber in anderen Ländern werden<br />

sie nicht aufgegriffen. Der „Globalizer”<br />

sucht jedes Jahr nach den Ideen, die<br />

reif sind für internationales Wachstum,<br />

und bringt die Sozialunternehmer<br />

danach dann mit Unternehmern aus<br />

der Wirtschaft – also den Henry Fords –<br />

zwecks gegenseitigen Gedankenaustauschs<br />

und Strategieentwicklung zusammen.<br />

Das ist eine sehr, sehr spannende<br />

Sache. Außerdem suchen wir nach<br />

Verbreitungsmethoden, die für den<br />

sozialen Sektor geeignet sind, und<br />

entdecken hier Interessantes im Bereich<br />

Netzwerke und Open Source. Denn viele<br />

Sozialunternehmer entschließen sich dafür,<br />

ihre Quellcodes offenzulegen, damit andere<br />

sie kopieren und damit mehr Menschen in<br />

den Genuss ihrer Innovation kommen. Was<br />

der „Globalizer” im Großen macht, tun wir<br />

übrigens auch vor Ort: In unserem Ashoka-<br />

Support-Netzwerk sind Unternehmer<br />

zusammengeschlossen, die Ashokas<br />

Sozialunternehmern in ihrem Land mit Rat<br />

und Tat beiseitestehen.<br />

? nochmal zum Social entrepreneur.<br />

ein unternehmer will ja Geld verdienen.<br />

ist das bei dem Begriff Social<br />

entrepreneur auch vorgesehen?<br />

! Wir verstehen Unternehmer in erster<br />

Linie im Schumpeterschen Sinne – also<br />

als jemanden, der schöpferisch zerstört,<br />

der neue Muster und Abläufe einführt<br />

gegen Widerstände und gesellschaftliche<br />

Konventionen. Maria Montessori war<br />

Bildungspionier, eine Spielzeugerfinderin,<br />

eine Organisationsgründerin, eine<br />

Markenspezialistin und eine internationale<br />

Aktivistin. Social Entrepreneurs arbeiten<br />

gemeinwohlorientiert. Sie werden<br />

nicht dadurch charakterisiert, ob ihre<br />

Organisationen „for profit” oder „not for<br />

profit” sind, sondern dadurch, dass sie ein<br />

gesellschaftliches Problem lösen. Das ist ihr<br />

Ziel, das ist ihre Aufgabe. Danach richtet<br />

sich auch ihre Rechtsform. In manchen<br />

Feldern – im Mikrokreditbereich, im<br />

Umwelt- oder Gesundheitswesen – können<br />

Player Gewinn erwirtschaften, weil sich<br />

dort ein Markt entwickelt hat und weil<br />

Wirtschaftlichkeit Teil der Problemlösung<br />

ist. Aber wer mit traumatisierten<br />

Kriegsflüchtlingen arbeitet, versucht<br />

zunächst einmal, die Menschen zu heilen<br />

und Ursache von Hass und Ausgrenzung<br />

zu beseitigen – natürlich so effizient wie<br />

möglich, aber doch in der Regel wohl eher<br />

nicht in Form einer Aktiengesellschaft<br />

oder GmbH. Wer daran arbeitet, dass mehr<br />

Kinder erfolgreich zur Schule gehen oder<br />

chronisch Kranke in Armenvierteln besser<br />

betreut werden oder dort bessere sanitäre<br />

Verhältnisse herrschen, geht davon aus, dass<br />

sich das volkswirtschaftlich auszahlen wird.<br />

Aber zunächst müssen sie viel Zeit und Geld<br />

investieren.<br />

? das bedeutet aber auch, dass diese<br />

Social entrepreneurs von ihrer idee<br />

nicht unbedingt leben können?<br />

! Nachhaltigkeit heißt nicht „for<br />

profit”. Nachhaltigkeit in diesem Kontext<br />

heißt, dass die Idee so gut ist, dass sie<br />

auf Dauer hängenbleibt und sich trägt.<br />

Aber Ashoka zahlt seinen Fellows, wie<br />

wir die Sozialunternehmer nennen, die<br />

wir fördern, Stipendien, damit sie sich<br />

ohne Existenzangst drei Jahre darauf<br />

konzentrieren können, bis ihre Idee läuft.<br />

Hinterher müssen sie dann natürlich<br />

schon selbst das von ihnen benötigte Geld<br />

fundraisen oder erwirtschaften. Deshalb ist<br />

das Stipendium auf drei Jahre begrenzt.<br />

? woher bezieht ashoka sein Geld<br />

dafür?<br />

! Wir sind größtenteils von<br />

Mitgliedsbeiträgen und Zuwendungen<br />

finanziert. Wir nehmen keine staatlichen<br />

Gelder an, sondern werden von Stiftungen<br />

und Privatpersonen gefördert. Als<br />

wichtiges Standbein haben wir unser<br />

Netzwerk von Mitgliedern, das so genannte<br />

Ashoka-Support-Netzwerk, in dem sich<br />

Unternehmerpersönlichkeiten – viele<br />

Familienunternehmer oder Executives –<br />

finanziell sowie mit ihrem gesammelten<br />

Know-how einbringen. Sie helfen unseren<br />

Sozialunternehmern bei der Entwicklung<br />

ihrer Organisation, sie öffnen Türen,<br />

planen mit… Der finanzielle Betrag, der<br />

im 5-stelligen Bereich pro Jahr anfängt,<br />

wird so oft um ein Vielfaches überstiegen.<br />

Wir werden aber auch durch Stiftungen<br />

unterstützt, zum Beispiel die Siemens-<br />

Stiftung oder die Hilti-Foundation.<br />

? wie viele fellows gibt es<br />

inzwischen in deutschland?<br />

! Wir haben 40 Fellows in Deutschland<br />

und weltweit knapp 3000.<br />

? worin unterscheidet sich ein ashoka-projekt<br />

von den vielen anderen initiativen<br />

bürgerschaftlichen engagements?


„ein Social entrepreneur will<br />

SyStemiSche fehler tilGen.“<br />

! Ein Sozialunternehmer will ein<br />

gesellschaftliches Problem nachhaltig<br />

lösen. Er will keine Not lindern, sondern<br />

ein System verändern, so dass es allen<br />

Menschen besser nützt. Und er sieht seine<br />

Zielgruppe selten als Opfer an, sondern<br />

hilft ihr, stark und selbstbestimmt zu leben.<br />

Einige Beispiele: Murat Vural<br />

aus Bochum begeistert Kinder aus<br />

bildungsfernen Schichten – viele davon<br />

mit Migrationshintergrund – für Lernen,<br />

Schule, Ausbildung oder Studium. Er<br />

empowert junge Leute, Netzwerke zu<br />

schließen und sich selbst zu helfen, und<br />

verändert Schulen und Nachbarschaften.<br />

Frank Hoffmann bildet blinde Frauen<br />

als medizinische Tastuntersucherinnen<br />

bei Frauenärzten aus – mit mehr Zeit<br />

und einem besseren Tastsinn können sie<br />

Knoten in der Brust besser und früher<br />

erkennen als andere. Thorkil Sonne aus<br />

Dänemark integriert autistische Menschen<br />

in den ersten Arbeitsmarkt. Mit ihrem<br />

Sinn für Details, ihrer Präzision und<br />

Vorliebe für Routinen arbeiten sie in<br />

der Softwarebranche, zum Beispiel bei<br />

Dateneingaben oder Testings, besser als<br />

jeder andere. Roshaneh Zafar aus Pakistan<br />

verhilft armen Frauen in ländlichen<br />

Gebieten mit Mikrokrediten zu einem<br />

kleinen Geschäft und zu einer besseren<br />

Zukunft.<br />

Jedes Jahr suchen wir gezielt nach<br />

sozialen Innovationen und wählen weltweit<br />

etwa 200 neue Sozialunternehmer als<br />

Stipendiaten oder Fellows aus. Sie sind<br />

Innovationstreiber, die neue Ideen für<br />

bestimmte Fragestellungen entwickeln und<br />

die Haken aus einem System entfernen.<br />

? wenn man die haken aus einem<br />

System entfernt, schafft man ja etwas<br />

neues. wie soll dieses neue aussehen?<br />

„eS Geht darum, Strukturen<br />

zu Schaffen, um Sich SelBSt<br />

helfen zu können.“<br />

! Social Entrepreneurs haben Ideen,<br />

die Neues schaffen oder den Rahmen<br />

ändern – Haltungen, Annahmen, Abläufe,<br />

Routinen, Prozesse oder Institutionen.<br />

Social Entrepreneurs warten nicht, bis<br />

jemand anderes für sie ein Problem löst,<br />

sondern fangen damit an.<br />

? darin unterscheiden sich<br />

die ashoka-projekte sehr klar von<br />

anderen sozialen projekten oder dem<br />

wohlfahrtsstaat?<br />

! Sozialunternehmer arbeiten<br />

nicht gegen den Wohlfahrtsstaat. Sie<br />

verbessern ein gesellschaftliches System<br />

dort, wo es Fehler hat. Man würde<br />

in der Wirtschaft nie erwarten, dass<br />

Innovation aus einem Ministerium<br />

kommt, sondern man denkt: Das passiert<br />

am Markt. Unsere Social Entrepreneurs<br />

haben ihr Ohr am Markt und an der<br />

Zielgruppe. Die Innovationen, die sie<br />

daraus entwickeln, helfen etablierten<br />

Institutionen weiter. Ich denke zum<br />

Beispiel an unseren Fellow Rose Volz-<br />

Schmidt. Ihre Organisation „wellcome“<br />

unterstützt Familien, die nach der<br />

Geburt eines Kindes Hilfe brauchen<br />

und/oder überfordert sind. Frau Volz-<br />

Schmidt verbreitet ihre Idee, indem sie<br />

sie als Angebot anderen Playern – auch<br />

großen Wohlfahrtsverbänden – zur<br />

Verfügung stellt. Sie gibt also ihre Inhalte<br />

und Expertise weiter, damit relevante<br />

Institutionen ihrer Zielgruppe besser<br />

helfen können.<br />

? Bleibt die wichtige frage, wie<br />

Sie zu diesen außergewöhnlichen<br />

menschen kommen?<br />

wie findet man Solche Social<br />

entrepreneurS?<br />

! Die Stuttgarter Unternehmerin Helga<br />

Breuninger hat einmal über uns gesagt,<br />

wir seien Trüffelschweine. Und ich<br />

finde, sie hat Recht. Die Suche nach<br />

unseren Trüffeln ist dabei extrem<br />

gründlich.<br />

Ich will sie kurz skizzieren:<br />

Wir haben ein Netzwerk<br />

von Nominatoren, die uns<br />

mögliche Kandidaten<br />

vorschlagen. Das<br />

sind Experten, die<br />

sich in ihrem<br />

Bereich sehr gut<br />

auskennen – zum<br />

Beispiel Fachleute<br />

aus Ministerien,<br />

Stiftungen,<br />

Professoren. Diese<br />

Experten schlagen uns<br />

Kandidaten vor, von<br />

denen sie glauben, ihre<br />

Idee werde in 20, 30<br />

Jahren ein Feld verändert<br />

haben. Diesen Namen folgen<br />

wir nach und recherchieren.<br />

Es gibt Interviews, Referenzchecks, vor<br />

Ort Besuche, Marktanalysen. Dann trifft<br />

das deutsche Team eine Vorauswahl. Der<br />

nächste Schritt ist der internationale<br />

Prozess: Dazu kommt ein Senior-Ashoka-<br />

Mitarbeiter aus einem anderen Land nach<br />

Deutschland und setzt sich zu einem<br />

langen Auswahlinterview mit jedem der<br />

Kandidaten hin – für mehrere Stunden –<br />

und geht genau das Projekt durch, und<br />

die Biografie des Kandidaten. Wer in<br />

die nächste Stufe kommt, kommt ins<br />

so genannte Panel. Da prüfen Experten<br />

aus Deutschland, die Unternehmer<br />

oder selbst Sozialunternehmer sind, die<br />

Kandidaten. Danach setzen die sich mit<br />

dem internationalen Auswahlvertreter an<br />

einen Tisch und entscheiden im Konsens,<br />

ob die Aufnahme<br />

als Fellow in unser<br />

Board vorgeschlagen<br />

werden soll. Wenn ja, muss<br />

das internationale Board auch noch seine<br />

Zustimmung erteilen.<br />

Das heißt, wir haben einen<br />

sehr langen, qualitativ hochwertigen<br />

Auswahlprozess. Unsere Faustregel ist, dass<br />

wir pro Jahr auf 10 Millionen Einwohner<br />

etwa einen Fellow pro Land finden.<br />

? und nach welchen kriterien wird<br />

ausgesucht?<br />

! Es sind derer 5:<br />

1. Die Innovation. Hat der oder diejenige<br />

einen neuen Ansatz, der tatsächlich ein<br />

gesellschaftliches Problem systematisch<br />

lösen kann?<br />

2. Der soziale Impact oder die gesellschaftliche<br />

Wirkung der Idee. Die muss<br />

möglichst groß sein.<br />

3. Die unternehmerische Qualität der<br />

Person.<br />

4. Die Kreativität der Person.<br />

5. Die „ethical fibre“ oder auch Integrität. Es<br />

gibt ja immer Fanatiker oder Ideologen.<br />

Die wollen wir aber nicht haben.


? Gibt es auch eine erfolgsmessung<br />

bei diesem System?<br />

! Natürlich. Gemeinsam mit<br />

anderen Playern sowie der TU<br />

München, der Universität Hamburg und<br />

Pricewaterhousecoopers haben wir in<br />

Deutschland den Social-Reporting-Standard<br />

zur Wirkungsmessung eingeführt, der<br />

sich immer stärker etabliert. Hier sehen<br />

Sie genau, welchen gesellschaftlichen und<br />

wirtschaftlichen Impact Sozialunternehmen<br />

haben. Ein Erfolgskriterium von Ashoka ist<br />

übrigens auch, wie viel Prozent der Fellows<br />

feststellen, dass ihre Ideen unabhängig<br />

von ihnen selbst repliziert werden, dass<br />

also andere die Ideen aufgreifen und<br />

weiterverbreiten und somit mehr Menschen<br />

erreicht werden.<br />

„wachStum Bedeutet Bei unS<br />

die fraGe: wie Schaffe ich eS,<br />

daSS ich von anderen kopiert<br />

werde?“<br />

Denn es geht darum, dass die Idee<br />

möglichst schnell an möglichst vielen<br />

Orten anschlägt. Jeroo Billimoria, ein<br />

Fellow aus Indien, hat zum Beispiel ein<br />

Kinderhilfstelefon für Straßenkinder<br />

gegründet – „childline” mit Namen.<br />

Das gibt es inzwischen in über 120<br />

Ländern – nicht, weil Jeroo in 120<br />

Ländern eigene Filialen aufgemacht hätte.<br />

Sie arbeitet vernetzt mit bestehenden<br />

Organisationen, denen sie ihr Knowhow<br />

und ihre Methodologie gibt und<br />

die sie international verbindet, also<br />

Best Practices teilt, Lernfortschritte,<br />

Standardisierungserfahrungen und so<br />

weiter.<br />

Das Thema Wachstum bedeutet für<br />

Social Entrepreneurs, ihre Wirkung zu<br />

steigern, und nicht, ihre eigene Organisation<br />

zu vergrößern. Wachstumsmodelle im<br />

sozialen Sektor beinhalten daher oft<br />

Strategien wie Netzwerke, Open Source oder<br />

campaigning. Sie müssen kooperativ und<br />

vernetzend denken.<br />

? deshalb braucht´es auch die<br />

soziale kompetenz, die Sie ja in ihren<br />

auswahlkriterien prüfen. das ist klar.<br />

! Eindeutig.<br />

? ich stelle mir jetzt vor, Sie<br />

haben ein netzwerk von 3000 höchst<br />

motivierten unternehmern, die die<br />

unterschiedlichsten projekte realisieren.<br />

all das fügt sich ja irgendwann einmal<br />

zu einer Gesamtvision von einer neuen<br />

welt zusammen, zu einem ziel. wie sieht<br />

die aus? wo soll es hingehen?<br />

! Wir möchten eine starke, freie,<br />

demokratische Zivilgesellschaft, in der nicht<br />

einige wenige Mächtige über viele Arme<br />

bestimmen, sondern in der die Menschen<br />

gleichberechtigt und aktiv an der Gestaltung<br />

ihres sozialen Umfeldes mitwirken. Das ist<br />

letztendlich das Ziel. Wir drücken das auf<br />

Englisch aus mit „Everyone a changemaker!“<br />

? Sicher erkennen Sie da aus der<br />

vogelperspektive weltweite trends bei<br />

allen diesen projekten ihrer fellows.<br />

welche sind das?<br />

! Einer ist das Thema Empathie.<br />

Wir sehen – egal auf welchem Kontinent<br />

und in welcher ökonomischen Klasse –,<br />

dass Sozialunternehmer immer wieder<br />

feststellen: Es ist ganz entscheidend,<br />

dass Kinder die Fähigkeit zur Empathie<br />

beherrschen. Nur wenn Kinder sich in<br />

andere hineinversetzen können und<br />

Mitgefühl haben, begreifen sie, was um<br />

sie herum passiert. Nur so können sie<br />

Beziehungen aufbauen, sich behaupten,<br />

aufsteigen, kooperieren, Netzwerke knüpfen.<br />

Empathie möglichst früh in Kindern zu<br />

entwickeln, daran arbeiten viele Fellows.<br />

Eines der, wie ich finde, faszinierendsten<br />

Projekte ist das von Mary Gordon aus<br />

Kanada, deren Organisation „Roots of<br />

Empathy“ Kleinkinder als Lehrer für<br />

Empathie in Schulen einsetzt.<br />

Ein zweites großes Thema ist das des<br />

Zugangs zu Märkten – zu Dienstleistungen<br />

und Produkten – für alle. Denn viele<br />

Arme sind von der Partizipation noch<br />

ausgeschlossen. Das ändern wir durch<br />

Kooperationen zwischen sozialen<br />

Organisationen und Unternehmen entlang<br />

einer Wertschöpfungskette, durch Hybrid<br />

Value chains. Nehmen Sie das Beispiel<br />

Slums. Mehr als 25 Millionen Menschen<br />

allein in Indien sind ohne adäquate<br />

Behausung – ein riesiger 400 Milliarden<br />

Dollar-Markt. Aber die Wirtschaft<br />

bedient ihn nicht, weil sie über das<br />

Konsumverhalten der Armen zu wenig<br />

weiß, von falschen Annahmen bezüglich<br />

ihrer Kaufkraft ausgeht und außerdem<br />

nicht weiß, wie sich die fragmentierte<br />

Nachfrage wirtschaftlich machbar bedienen<br />

lässt. Soziale Organisationen hingegen<br />

kennen die Wünsche und Bedürfnisse dieser<br />

Zielgruppe der Armen genau. Sie können<br />

die Nachfrage aggregieren und haben<br />

Instrumente entwickelt, wie Microfinance.<br />

Wenn nun soziale Organisationen und<br />

Unternehmen ihr Wissen bündeln und<br />

neue Wertschöpfungsketten bilden, lassen<br />

sich wirtschaftlich neue Produkte und<br />

Dienstleistungen kreieren, die günstig<br />

sind, aber das Bedürfnis der Leute erfüllen,<br />

sich selbst ein Dach über dem Kopf und<br />

somit ein würdigeres, sichereres und<br />

produktiveres Leben zu leisten.<br />

Ein drittes großes Thema ist Social<br />

Finance: Wie lassen sich Finanzinstrumente<br />

entwickeln, die auf die besonderen<br />

Bedürfnisse von Sozialunternehmern<br />

zugeschnitten sind und Wirkung und<br />

Profitmaximierung nicht gegeneinander<br />

ausspielen? Oder, wie lässt sich mehr Geld<br />

in der Entwicklungsarbeit dorthin lenken,<br />

wo es gebraucht wird und nützt?<br />

? das Stichwort finanzen passt in<br />

diese zeiten sehr gut hinein, wo vieles<br />

drüber und drunter geht. Sehen Sie<br />

und ashoka sich als Gegenspieler dieser<br />

megalomanen finanzapparate oder wie<br />

fügen Sie sich gesellschaftlich in dieses<br />

System ein?<br />

! Wir haben überhaupt nichts dagegen,<br />

Geld zu verdienen. Viele unserer Fellows<br />

arbeiten schließlich daran, dass mehr<br />

Menschen mehr Geld verdienen. Geld ist ein<br />

Mittel der Freiheit und zur Gestaltung der<br />

Welt. Aber es kann nicht sein, dass einige<br />

wenige Prozent der Menschen den Großteil<br />

des Vermögens halten. Das System ist ja<br />

ganz offensichtlich aus der Balance geraten<br />

und der soziale Sprengstoff ist gewaltig. Vor<br />

allem dank Internet und Fernsehen lassen<br />

sich Ungleichheiten nicht mehr verbergen.<br />

Und die Menschen sind nicht mehr bereit,<br />

in Kauf zu nehmen, dass ein paar den<br />

großen Reibach machen und die anderen in<br />

die Röhre schauen.<br />

? wie sind Sie eigentlich zu ashoka<br />

gekommen? haben Sie ordentlich<br />

Betriebswirtschaft studiert und...?<br />

! Nein, nein. Ich habe Ethnologie<br />

studiert, wenn auch an der London School<br />

of Economics. Ein großartiges Studium!<br />

Man versucht zu verstehen, wie Menschen<br />

die Welt sehen, wie sie sie begreifen und<br />

warum sie so handeln, wie sie es tun. Ein<br />

entscheidender Impuls war meine Zeit in<br />

Lateinamerika als Teenager. Ich habe dann<br />

während meines Studiums unter anderem in<br />

Indien geforscht und in einer Mikrokredit-<br />

Slum-Entwicklungsorganisation gearbeitet.<br />

Ich bin in den Journalismus gewechselt,<br />

in die Finanz- und Wirtschaftsredaktion<br />

von cNN. Von da aus bin ich als<br />

Wirtschaftsredakteurin zur FAZ gegangen,<br />

dann zur ZEIT und schließlich bei einer<br />

Recherche auf Ashoka gestoßen. Habe dann<br />

einige Fellows interviewt und auch Bill


Ralf Kaspers,<br />

Massai, Kenia, 2007<br />

Drayton, den Gründer, kennengelernt und<br />

war so fasziniert, dass ich den Journalismus<br />

an den Nagel gehängt und Ashoka<br />

Deutschland gegründet habe: 2003, ohne<br />

Startkapital, zunächst vom Küchentisch<br />

aus. Ich musste für die Idee werben, Kapital<br />

einsammeln, pro-bono-Unterstützer<br />

gewinnen, Netzwerke zu Wirtschaft und<br />

Universitäten aufbauen, Proof of concept<br />

erbringen, Mitarbeiter finden…<br />

? das ist ja eine lebensaufgabe.<br />

! Die ersten Jahre waren anstrengend,<br />

denn wir waren Vorreiter einer völlig neuen<br />

Idee. Jetzt – 8 Jahre danach – haben wir<br />

viel geschafft: Social Entrepreneurship<br />

ist ein Thema, an dem Universitäten,<br />

Politik und Wirtschaft nicht mehr<br />

vorbeikommen. Wir haben in Deutschland<br />

40 Fellows, wir haben ein wachsendes<br />

Unterstützernetzwerk, Forschungsprojekte.<br />

Wir kooperieren mit internationalen<br />

Sozialunternehmern, kreieren neue<br />

Finanzinstrumente mit Partnern,<br />

konzentrieren uns auf cluster-Themen,<br />

treiben immer mehr voran...<br />

? Sie sind also quasi die mutter<br />

von ashoka in deutschland?<br />

! So ist es.<br />

? dann war das ihr erstes kind?<br />

! Ja genau. Die Nummer zwei ist in<br />

der Krippe und die Nummer drei ist gerade<br />

ein bisschen krank, weshalb ich jetzt auch<br />

wieder nach Hause muss.<br />

? da kann ich nur mit dem<br />

SpieGel sagen: wir danken ihnen für<br />

dieses Gespräch.<br />

•<br />

wer sich für die arbeit von ashoka<br />

und den fast 3000 Social entrepreneurs<br />

in 70 ländern – davon bislang 40 in<br />

deutschland – interessiert, findet mehr<br />

informationen auf www.germany.<br />

ashoka.org oder auf der internationalen<br />

website www.ashoka.org. ashoka<br />

wird getragen von unternehmerisch<br />

denkenden menschen, die einen<br />

großen hebel für ihr finanzielles und<br />

persönliches engagement suchen.<br />

das ashoka-Support-network ist<br />

ein internationales netzwerk aus<br />

erfolgreichen unternehmern und<br />

führungspersönlichkeiten. Sie fördern<br />

ashoka nicht nur finanziell, sondern<br />

stehen Social entrepreneurs mit rat<br />

und tat zur Seite. Sie unterstützen<br />

die fellows darin, ihre konzepte zu<br />

optimieren und zu verbreiten, damit<br />

aus neuen ideen zur Bewältigung<br />

gesellschaftlicher probleme<br />

bahnbrechende lösungsmuster werden<br />

und möglichst viele menschen davon<br />

profitieren und ihr leben selbst<br />

gestalten können.<br />

N7 Nachmann Rechtsanwälte beeindrucken<br />

die innovativen Impulse, die Konstanze<br />

Frischen und Ashoka Deutschland für die<br />

Etablierung einer neuen Zivilgesellschaft<br />

unternehmen und hoffen, dass auch weiterhin<br />

viele Unternehmen der deutschen Wirtschaft<br />

sie dabei unterstützen.


my world<br />

Seite 102<br />

Ein besonderes<br />

Münchner<br />

Kindl<br />

die 23 Jahre junge pianistin hat<br />

im letzten Jahr den „echo klassik”<br />

als „nachwuchskünstlerin des Jahres“<br />

bekommen, in den uSa war ihre<br />

chopin-cd lange zeit auf platz 1 der<br />

itunes-charts, die münchner az hat<br />

ihr den „Stern des Jahres 2010“ in<br />

der kategorie klassik verliehen und<br />

die faz schwärmte: „fast körperlos<br />

beherrscht diese pianistin ihr werkzeug,<br />

hochkonzentriert und souverän.“<br />

Jetzt hat sie die zwei c-dur-Sonaten<br />

von ludwig van Beethoven eingespielt,<br />

die die zeit als „verheißung am klavier“<br />

feiert. wir unterhielten uns mit der<br />

jungen münchnerin alice Sara ott über<br />

ihre heimatstadt, ihre arbeit und das<br />

klavierspiel.<br />

Foto: © Esther Haase / DG<br />

? wie bereiten Sie sich auf ein<br />

neues Stück eines komponisten vor?<br />

zum Beispiel als Sie die walzer von<br />

chopin eingespielt hatten?<br />

! Wenn man von Walzer spricht, dann<br />

ist das ja eher etwas Fröhliches. Wenn man<br />

sich aber die chopin-Walzer anhört – ich<br />

habe mir damals viele Aufnahmen von Dinu<br />

Lipatti und Alfred cortot angehört –, dann<br />

spürt man diese Traurigkeit und Sehnsucht<br />

und Verletzlichkeit. Wenn man dann seine<br />

Biografie liest und weiß, was er für ein<br />

Leben geführt hat, dann versteht man seine<br />

Walzer plötzlich. Die Walzer hat er sein<br />

ganzes Leben lang komponiert. Seinen<br />

ersten Walzer hat er geschrieben, als er<br />

noch sehr jung war und den letzten kurz<br />

vor seinem Tod. In ihnen spiegelt sich sein<br />

ganzes Leben wider.<br />

Natürlich habe ich nicht all das erlebt,<br />

was er erlebt hat. Wir leben ja auch in einer<br />

ganz anderen Zeit. Aber ich glaube, ich<br />

kann mich trotzdem mit diesen Emotionen<br />

identifizieren und verstehen, durch was er<br />

gegangen ist.<br />

? angenommen, Sie müssten einem<br />

regisseur erklären, wie Beethoven<br />

die „waldstein-Sonate“, die Sie gerade<br />

aufgenommen haben, komponiert hat.<br />

wie würden Sie ihm Beethovens Situation<br />

erklären, damit er sie für seinen film<br />

versteht.<br />

! Die „Waldstein-Sonate“ ist in c-Dur<br />

geschrieben. c-Dur steht normalerweise<br />

für Lebensfreude, Fröhlichkeit, also für<br />

Positives. Als ich sie zum ersten Mal gehört<br />

habe, ist es mir aber kalt den Rücken<br />

runter gelaufen, weil sie sehr düster ist.<br />

Ich habe dann seine Biografie gelesen,<br />

um herauszufinden, was in dieser Zeit<br />

passiert ist, und da habe ich gelesen, dass<br />

er die „Waldstein-Sonate“ kurz nach dem<br />

„Heiligenstädter Testament“ geschrieben<br />

hat, in dem er seine Verzweiflung ausdrückt<br />

über seine immer stärker werdende<br />

Gehörlosigkeit. Er war in dieser Zeit kurz<br />

davor, Selbstmord zu begehen. Wenn man<br />

das weiß und nachfühlt, dann beginnt man<br />

zu verstehen, warum eine solche Sonate<br />

trotz c-Dur so düster und dunkel klingen<br />

kann. So würde ich das dem Regisseur<br />

erklären.<br />

? was glauben Sie, warum er in dieser<br />

Situation nicht eine moll-tonart genommen<br />

hat, sondern c-dur?<br />

! Beethoven wurde ja von vielen<br />

Menschen enttäuscht – angefangen von<br />

Napoleon bis zu den Frauen. Und am<br />

Ende konnte er mit den Menschen nicht<br />

mehr richtig kommunizieren durch seinen<br />

Gehörverlust. Aber ich glaube letztendlich hat<br />

er nie seinen Idealismus und seine Hoffnung<br />

aufgegeben. Das spürt man in allen Stücken<br />

von ihm. Die 3. Sinfonie, die er Napoleon<br />

mit dem Titel „Sinfonia grande, intitolata<br />

Bonaparte“ widmen wollte, ist in Es-Dur<br />

geschrieben, einer Tonart, die aus seiner<br />

Sicht jemanden verherrlicht und verehrt. Und<br />

obwohl er dann den Namen in „Heroische<br />

Sinfonie“ und später „Eroica” geändert hat<br />

und sie nicht mehr Napoleon gewidmet hatte,<br />

hat er die Tonart nicht geändert. Also trotz<br />

aller Verletztheit und Hoffnungslosigkeit<br />

hat er diesen letzten kleinen Schimmer von<br />

Hoffnung nicht aufgegeben.<br />

Das hört man auch in der „Waldstein-<br />

Sonate“ ganz schön. Erst ist im ersten Satz<br />

dieses düstere Gewitter und dann die Stille<br />

danach – die tiefe Nacht. Und mit dem letzten<br />

Ton des 2. Satzes, einem G, bricht im 3. Satz<br />

ein Sonnenstrahl durch. Für mich ist das wie<br />

ein Sonnenaufgang.<br />

Ich glaube, Beethoven hat nie die<br />

Hoffnung aufgegeben. All seine idealistischen<br />

Ideen wurden in seinem Jahrhundert zwar<br />

nicht gehört. Aber da Musik zeitlos ist, hat<br />

er, so glaube ich, diese Botschaft und diese<br />

Wünsche in Musik verpackt und in die<br />

Zukunft geschickt – mit der Hoffnung,


dass die Menschen in der Zukunft seine<br />

Gedanken verstehen und sich mit ihnen<br />

identifizieren können.<br />

? ein schöner Gedanke, warum er der<br />

richtige komponist für die europahymne<br />

ist.<br />

! Ich habe die „Waldstein-Sonate“<br />

aufgenommen, weil ich jetzt eine<br />

Beethoven-cD aufnehmen wollte. Ich<br />

bin immer meinem Instinkt gefolgt<br />

und wollte diese beiden c-Dur-Sonaten<br />

gegenüberstellen und zeigen, dass zwei<br />

Sonaten in c-Dur, die im Abstand von nicht<br />

mal zehn Jahren geschrieben wurden, so<br />

verschieden klingen können. Ich weiß, dass<br />

das in Deutschland sehr kritisch gesehen<br />

wird und man der Meinung ist, dass erst<br />

ein älterer Maestro Beethovens Musik<br />

aufnehmen kann. Aber ich finde, jeder<br />

Mensch kommt zu dem Punkt, wo er sich<br />

mit Beethovens Musik auseinandersetzen<br />

muss – und das beginnt nicht erst mit dem<br />

50. Lebensjahr.<br />

Ich wusste einfach, dass, wenn<br />

ich diese Aufnahme jetzt nicht machen<br />

würde, ich es später bereuen würde. Und<br />

wenn es ein Fehltritt sein sollte, dann<br />

lerne ich daraus. Aber ich glaube, man<br />

sollte gewisse Risiken eingehen. Und für<br />

mich war es JETZT wichtig, diese beiden<br />

Sonaten aufzunehmen. Ich wusste von<br />

Anfang an, dass es mehr contra als Pro<br />

dafür geben würde. Aber da muss man<br />

durch. Und darüber hinaus finde ich, ist<br />

es eine Beleidigung gegenüber den großen<br />

Interpreten Beethovens, wenn man anfängt,<br />

diese junge Aufnahme mit deren großen<br />

Aufnahmen zu vergleichen. So etwas<br />

kann man nicht machen. Eigentlich kann<br />

DG<br />

/<br />

man sowieso nicht verschiedene Künstler<br />

miteinander vergleichen. Deswegen<br />

Haase<br />

sind wir ja in der Musik, wo es so viele<br />

unterschiedliche Meinungen gibt. Und das<br />

Esther ©<br />

ist ja auch das Tolle, dass es nicht nur EIN<br />

Ergebnis geben kann. Foto:


? daniel Barenboim hat einmal zu<br />

mir gesagt: Sie müssen als pianist den<br />

ton erst hören, damit Sie ihn anschlagen<br />

können.<br />

! Ja, absolut. Man muss erst wissen, wie<br />

er klingen soll, ehe man ihn spielen kann.<br />

Musik ist gut, sich selber kennen zu lernen.<br />

Sowohl körperlich, weil man ja mit seinem<br />

Körper die Musik zum Klingen bringt,<br />

als auch geistig, weil man nur mit einem<br />

wachen Geist den Klang findet.<br />

? was ist für Sie angenehmer – im<br />

Studio aufzunehmen, in dem Sie mit dem<br />

instrument allein sind, oder vor publikum?<br />

! Heutzutage ist es ja so, dass eine<br />

wirkliche technische Perfektion verlangt wird,<br />

wenn man ins Studio geht. Wenn da nur ein<br />

kleiner Tonfehler ist, reagiert jeder allergisch.<br />

Das war vor fünfzig Jahren noch nicht so.<br />

Als cortot oder Rubinstein ihre Aufnahmen<br />

gemacht haben, waren durchaus auch Fehler<br />

drin. Aber das hatte damals einfach keinen<br />

Menschen interessiert. Es ging um was ganz<br />

anderes – um den natürlichen Fluss und die<br />

Besonderheiten des Momentes, in dem sie<br />

spielten. Das ist es, was mir manchmal in<br />

diesen Studioaufnahmen heute fehlt.<br />

Auf der Bühne haben wir dagegen nur<br />

eine einzige chance. Da gibt es nur diese 40<br />

oder 45 Minuten, in denen wir spielen und<br />

man kann sie nicht wiederholen. Aber dafür<br />

gibt es Momente, die so besonders sind und<br />

die man ein zweites Mal nicht wiedererlebt.<br />

Es gibt natürlich immer zwei Möglichkeiten:<br />

Man bleibt auf der sicheren Seite und spielt<br />

technisch perfekt. Es gibt aber auch Personen,<br />

die wollen die Ideen, die ihnen in diesem<br />

einzigen Moment kommen, sofort umsetzen<br />

und dann gehen sie das Risiko ein, dass da<br />

mal etwas nicht ganz so glatt läuft. Zu denen<br />

gehöre ich. Deshalb ist jedes Konzert für<br />

mich, als ob ich mich jedes Mal in ein neues<br />

Abenteuer stürzte, von dem ich nicht weiß,<br />

wie das Ende sein wird.<br />

? da schimmert ein interessanter<br />

aspekt durch, nämlich die einsicht, dass<br />

man neben dem klavierspielen zuerst<br />

leben muss.<br />

! Absolut! Ich bin der Meinung, dass<br />

die Musik nicht wachsen kann, wenn man<br />

als Mensch nicht wächst. Musik lebt nicht<br />

allein vom achtstündigen üben jeden Tag.<br />

Wer das glaubt, bleibt stehen.<br />

Wenn man von Beruf Künstler ist<br />

und gewisse Erfolge hat, möchte man<br />

natürlich immer ein bisschen mehr machen<br />

und nichts absagen oder Veranstalter<br />

enttäuschen. Aber das muss man lernen.<br />

Das wichtigste ist nämlich, zu wissen,<br />

womit man glücklich ist und wo die eigenen<br />

Grenzen sind. Und diese Grenzen kennen<br />

zu lernen ist sehr, sehr wichtig. Vor allen<br />

Dingen, wenn man jung ist. Wenn man seine<br />

Grenzen erst mit 35 kennen lernt und dann<br />

ausgepowert ist, kann man für zwei oder<br />

drei Jahre nicht mehr spielen.<br />

Ich habe meine Grenzen letztes Jahr<br />

kennen gelernt und habe daraus gelernt,<br />

Nein zu sagen, was nicht einfach, aber sehr<br />

wichtig ist. Aber man muss es einfach tun.<br />

Denn wenn man nicht bei besten Kräften<br />

ist, dann tut man niemandem etwas Gutes –<br />

weder dem Manager noch dem Veranstalter<br />

noch dem Publikum. Und dem Publikum<br />

kann man nicht erzählen, dass man heute<br />

nicht so gut drauf ist oder Liebeskummer<br />

hat oder der Flügel nicht so richtig<br />

mitmacht. Das geht nicht. Natürlich ist das<br />

Klavier ein Instrument, das sehr viel übung<br />

verlangt, aber ich war nie der Mensch, der<br />

täglich zehn Stunden übt. Und – um zu Ihrer<br />

Frage zurückzukommen – man kann seinen<br />

Tag intelligent aufteilen und hat dabei Zeit<br />

für viele Sachen. Vielleicht nicht so viel wie<br />

andere, bei denen Tag für Tag der Rhythmus<br />

gleich ist...<br />

? dann hätten Sie sich auch um eine<br />

anstellung im katasteramt bemüht...<br />

! Aber wenn man dann seine Zeit hat,<br />

dann nutzt man die auch sehr intensiv. Ich<br />

habe nie das Gefühl gehabt, dass ich was<br />

verpasst habe. Ich habe meine Pubertät<br />

genauso ausgelebt wie andere, was auch<br />

sehr wichtig ist. Die Zeit zwischen 16 und<br />

20 sind für eine Frau einfach ungeheuer<br />

wichtig, die man später nicht wiederholen<br />

kann. Ich habe Gott sei Dank Eltern, die<br />

in dieser Hinsicht sehr, sehr normal sind.<br />

Ich habe keine „Stage-Mama“ und keinen<br />

„Stage-Papa“.<br />

? ihre mutter wollte sogar nicht,<br />

dass Sie professionell klavier spielen.<br />

! Nein, das wollte sie überhaupt nicht.<br />

Und nun spielen ich und auch noch meine<br />

jüngere Schwester, weil der Wunsch von<br />

uns aus gekommen ist. Das ist sehr wichtig.<br />

Denn wenn man zu etwas gezwungen wird,<br />

dann ist ja keine richtige Motivation da und<br />

man kann nicht kreativ sein.<br />

? war die weigerung eine<br />

pädagogische list ihrer mutter?<br />

! Nein, nein. Das wollte sie wirklich<br />

nicht. Und zwar nicht, weil sie es uns nicht<br />

gönnen würde, sondern weil sie meinte,<br />

dass Kinder unbegrenzte Möglichkeiten<br />

haben sollten und wir uns nicht schon so<br />

früh festlegen sollten, nur weil sie auch<br />

Pianistin ist. Aber nachdem ich ein Jahr<br />

lang gebettelt hatte, hat sie gemerkt, dass<br />

ich es wirklich möchte.<br />

? leben Sie in münchen?<br />

! Ja. Ich lebe sogar noch bei meiner<br />

Familie.<br />

? was machen Sie, wenn Sie zeit<br />

haben in münchen?<br />

! Also wenn ich Zeit habe, dann<br />

bin ich (lacht) bei meinem Freund in<br />

Berlin. Ich habe aber immer gesagt, dass<br />

ich nirgends anders leben möchte als<br />

in München. Ich möchte mein Leben in<br />

München verbringen, weil ich so viel<br />

von dem aufregenden Leben in der Welt<br />

mitbekomme, dass ich einen Platz brauche,<br />

wo ich mich zuhause fühle, wo nicht alles<br />

so groß ist und wo ich auch wieder runter<br />

kommen kann. München hat ein sehr, sehr<br />

gutes Kulturleben. Ich mag München.<br />

Heute Abend gehe ich zum Beispiel<br />

in den Herkulessaal, wo meine Schwester<br />

spielt und höre ihr zu. Wir sind uns sehr,<br />

sehr nahe. Und wir üben sogar zusammen.<br />

? ihre mutter ist Japanerin,<br />

ihr vater deutscher und Sie sind in<br />

münchen aufgewachsen. als was fühlen<br />

Sie sich?<br />

! Na ja, ich gehöre eigentlich keiner<br />

Kultur richtig an. Es gab früher Zeiten,<br />

wo das für mich nicht einfach war. Man<br />

sucht ja gerade in der Pubertät eine<br />

Identität und möchte irgendwann einmal<br />

100%ig zu einer Kultur gehören. Aber in<br />

Deutschland wundern sich die Leute, dass<br />

ich „ganz akzentfrei“ Deutsch spreche, was<br />

als Deutscher ja nicht ganz so schwer ist.<br />

Und in Japan erschrecken die Leute, wenn<br />

ich Japanisch spreche, weil ich für sie<br />

nicht aussehe wie eine Japanerin. In dieser<br />

Hinsicht hat mir die Musik sehr geholfen.<br />

Denn in der Musik spielt es keine Rolle,<br />

welche Nationalität man hat. Musik ist,<br />

glaube ich, die einzige Sprache, die über<br />

Hass und Rassismus steht.<br />

? das ist eine gute heimat.<br />

! Für mich war sie immer DIE Heimat.<br />

Jetzt denke ich, dass dieses Feststecken<br />

zwischen zwei Kulturen in der Heimat<br />

„Musik“, meinen Horizont sehr erweitert<br />

hat. Auch wenn das manchmal nicht<br />

einfach war.


Foto: © Esther Haase / DG<br />

? wenn man die vier cover der<br />

cds sieht, die Sie aufgenommen haben,<br />

dann sieht man eine äußerlich beachtliche<br />

wandlung.<br />

! Ja? Ich bin der Meinung, dass ich<br />

jeden Tag anders aussehe.<br />

? heißt das, Sie fühlen sich auf allen<br />

vier covern identisch?<br />

! Ich identifiziere mich am meisten<br />

mit dem jetzigen cover. Auf dem ersten<br />

cover war ich ja auch erst 19. Jetzt bin ich<br />

23. Während dieser Zeit verändert man<br />

sich doch sehr. Aber zu den Fotos kann<br />

ich sagen, dass alle offiziellen Fotos von<br />

mir „approved“ sind (lacht). Und weil ich<br />

mich für Mode interessiere, habe ich auch<br />

nichts dagegen, mich feiner rauszuputzen.<br />

Ich glaube auch, dass das vom Publikum


Foto: © Esther Haase / DG<br />

erwartet wird. Wenn Sie zum Beispiel<br />

in ein Konzert von meinen männlichen<br />

Pianisten-Kollegen gehen, dann erwartet<br />

keiner, dass ihm da visuell was geboten wird.<br />

Aber bei uns ist das leider nicht so. Aber<br />

die äußere Gestalt ist sowieso zweitrangig.<br />

Wenn musikalisch nichts dahinter steckt,<br />

ist man ersetzbar. Denn es gibt Hunderte<br />

von jungen Menschen, die gut aussehen<br />

und ein Instrument spielen können.<br />

Und Gott sei Dank ist in dieser Hinsicht<br />

die Welt noch fair geblieben, trotz aller<br />

Medienbeeinflussung und all dem Tralala.<br />

? wenn Sie klavier spielen und es<br />

so richtig gut läuft, erleben Sie dann so<br />

etwas wie magic moments?<br />

! Ja, wenn die ganze chemie passt, die<br />

Kommunikation mit dem Publikum, die<br />

Akustik und der Flügel stimmen, dann gibt<br />

es Momente, die man nicht wiederholen<br />

kann, ja noch nicht mal erklären oder<br />

beschreiben kann. Aber genau das sind die<br />

Momente, für die wir Musiker eigentlich<br />

leben. Und wenn ich das in einem von<br />

zehn Konzerten erlebe, dann bin ich richtig<br />

glücklich.<br />

? erleben Sie das ganz in sich oder<br />

eher außer sich?<br />

! Ich habe schon Momente erlebt, dass<br />

ich mich selber beobachte. Nicht, dass ich<br />

mich wirklich sehen würde und sähe, welche<br />

Mimiken ich mache. Aber es ist schon so<br />

gewesen, dass ich mich aus der Perspektive<br />

einer dritten Person mitbekomme.<br />

Ab dem Moment, wo ich die Bühne<br />

betrete, bin ich in einer anderen Welt. Auch<br />

von der Wahrnehmung her ist alles viel<br />

intensiver. Wenn ich am Klavier sitze, höre<br />

ich alles. Ich bekomme ganz intensiv die<br />

Stimmung vom Publikum mit, während ich<br />

in der Straßenbahn davon zum Beispiel gar<br />

nichts mitbekomme, obwohl die Menschen<br />

um mich herum viel näher sind. Aber wenn<br />

ich in der Musik bin, habe ich das Gefühl,<br />

dass ich Gedanken von anderen Menschen<br />

empfange. Wie auch immer, es ist in jedem<br />

Fall etwas sehr Intensives. Diese intensive<br />

Begegnung kenne ich aber auch aus Museen.<br />

Wenn ich vor bestimmten Bildern stehe,<br />

dann habe ich manchmal das Gefühl, dass<br />

sich das Bild bewegt.<br />

? Günther uecker hat mir in<br />

unserem Gespräch gesagt, dass das, was<br />

er beim arbeiten in seiner kunst erlebt,<br />

nicht sprachlich ist. Geht ihnen das bei<br />

der musik auch so?<br />

! Ja, ja. Deswegen ist es auch so<br />

schwierig, darüber zu reden. Musik ist<br />

etwas, das mit mir geschieht, was ich<br />

nicht beeinflussen kann und was – das<br />

habe ich schon immer so empfunden<br />

– die Seele eines Menschen komplett<br />

nackt macht. Man kann nicht lügen: Man<br />

kann nicht manipulieren. Man kann sich<br />

überhaupt nicht verstellen. Es kommen alle<br />

Emotionen hervor. Vor allem auch in der<br />

Kommunikation mit dem Publikum. Das<br />

ist für mich die reinste Kraft, die es heute<br />

noch gibt, weil die Welt ja so unfassbar<br />

manipuliert ist. Aber diese Kraft ist absolut<br />

und rein geblieben. Und das ist seither nicht<br />

zerstört worden, sondern hat den Menschen<br />

Liebe und Hoffnung und Mut gegeben – in<br />

all den schweren Zeiten.<br />

N7 Nachmann Rechtsanwälte wünschen<br />

der jungen Pianistin Alice Sara Ott aus<br />

München für ihre viel versprechende Karriere<br />

das Beste und dass sie die Natürlichkeit,<br />

die in dem Interview deutlich wird, noch<br />

lange behält – trotz der Herausforderungen,<br />

die der internationale Kulturbetrieb an<br />

außergewöhnliche Begabungen wie sie stellt.<br />


Foto: Hans-Günther Kaufmann<br />

Schmetterling<br />

Welch schönes Jenseits<br />

ist in deinen Staub gemalt.<br />

Durch den Flammenkern der Erde,<br />

durch ihre steinerne Schale<br />

wurdest du gereicht,<br />

Abschiedswebe in der Vergänglichkeiten Maß.<br />

Schmetterling<br />

aller Wesen gute Nacht!<br />

Die Gewichte von Leben und Tod<br />

senken sich mit deinen Flügeln<br />

auf die Rose nieder<br />

die mit dem heimwärts reifenden Licht welkt.<br />

Welch schönes Jenseits<br />

ist in deinen Staub gemalt.<br />

Welch Königszeichen<br />

im Geheimnis der Luft.<br />

Nelly Sachs

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!