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Johannes Rau in Gemarke - Interview und Sonntagsrede

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Er<strong>in</strong>nerungen an <strong>Johannes</strong> <strong>Rau</strong><br />

<strong>Interview</strong> <strong>in</strong> der <strong>Gemarke</strong>r Kirche<br />

Beim Jubiläum der Kirchengeme<strong>in</strong>de <strong>Gemarke</strong> im Jahr 2002 war<br />

B<strong>und</strong>espräsident <strong>Johannes</strong> <strong>Rau</strong> der Ehrengast. In e<strong>in</strong>em <strong>Interview</strong> mit<br />

Pfarrer Werner Jacken spricht <strong>Johannes</strong> <strong>Rau</strong> über se<strong>in</strong>e Liebe zu<br />

Wuppertal, se<strong>in</strong>er Geme<strong>in</strong>de <strong>und</strong> se<strong>in</strong>er Frau:<br />

Werner Jacken: Herr B<strong>und</strong>espräsident, tut es gut, mal wieder<br />

zuhause zu se<strong>in</strong>?<br />

<strong>Johannes</strong> <strong>Rau</strong>: Ja, aber man müsste mehr Zeit haben. Bei mir ist es<br />

im Augenblick so: Der B<strong>und</strong>eswehrarzt hat mir verboten zu reisen,<br />

weil ich e<strong>in</strong>e heftige Erkältung habe. Gestern habe ich Term<strong>in</strong>e <strong>in</strong><br />

Nürnberg <strong>und</strong> <strong>in</strong> Dortm<strong>und</strong> ausfallen lassen müssen. Aber dann habe<br />

ich gedacht: Heute kann ich wieder reisen. Ich hoffe nur, dass Sie<br />

gleich nicht sagen "Der spricht so belegt" aber es läßt sich nicht<br />

ändern, denn ich muss heute abend noch <strong>in</strong> Leverkusen reden <strong>und</strong><br />

dann weiter nach München um morgen wieder <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> zu se<strong>in</strong>.<br />

Werner Jacken: Zuhause, das ist Wuppertal, aber doch auch die Geme<strong>in</strong>de <strong>Gemarke</strong>. Viele<br />

kennen die Geschichten r<strong>und</strong> um das Pfarrhaus im Kl<strong>in</strong>gelholl. Aber was verb<strong>in</strong>den Sie hier<br />

unten mit der <strong>Gemarke</strong>r Kirche?<br />

<strong>Johannes</strong> <strong>Rau</strong>: Erst mal natürlich die Bekenntnissynode im Mai 1934, am 29.-31.Mai. Dann natürlich der<br />

Streit darüber, ob dieses Fenster hier vorne <strong>in</strong> der Kirchenwand e<strong>in</strong> Kreuz wäre, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er reformierten<br />

Kirche wohlgemerkt. Das hat e<strong>in</strong> Architekt aus Stuttgart damals gemacht, ich glaube e<strong>in</strong> Schwager von<br />

Pastor Berew<strong>in</strong>kel, <strong>und</strong> weil Pastor Berew<strong>in</strong>kel aus e<strong>in</strong>er lutherischen Geme<strong>in</strong>de kam bestand der<br />

Verdacht, dass es e<strong>in</strong> Kreuz wäre.<br />

Werner Jacken: Wenn ich mit Menschen hier <strong>in</strong> der Geme<strong>in</strong>de spreche über den Mitbruder<br />

<strong>Johannes</strong> <strong>Rau</strong>, dann er<strong>in</strong>nern sich viele an den Mai 1993. Da sollte es e<strong>in</strong>en Gottedienst geben<br />

zum 50. Jahrestags des Angriffs auf Barmen. Es war der Kurzgottesdienst am Samstag <strong>und</strong> Sie<br />

sollten predigen. Aber sie kamen zunächst nicht, sondern erst später. Sie mussten an diesem<br />

Morgen nach Sol<strong>in</strong>gen zum Haus der Familie Genc <strong>in</strong> der Unteren Wernerstr <strong>und</strong> später haben<br />

Zeitungen berichtet, Sie wären nahe am Amtsverzicht gewesen. Der 31.Mai 1993 <strong>und</strong> der<br />

11.September 2001, Sie haben sie erlebt <strong>in</strong> unterschiedlicher politischer Verantwortung:<br />

Werden Ämter wie die Ihren an solchen Tagen drückend schwer?<br />

<strong>Johannes</strong> <strong>Rau</strong>: Ja schon. An den 29. Mai 1993 kann ich mich gut er<strong>in</strong>nern, Ich arbeitete früh morgens<br />

noch an dem Text den ich hier vortragen wollte, da schellte das Telefon <strong>und</strong> es kam die polizeiliche<br />

Nachricht von dem brennenden Haus <strong>in</strong> Sol<strong>in</strong>gen. Ich wusste, ich sollte um 11 hier se<strong>in</strong>, <strong>und</strong> es war dann<br />

ke<strong>in</strong>e Zeit mehr, den Fahrer <strong>und</strong> die Sicherheitsbeamten anzurufen <strong>und</strong> herzubitte. Da b<strong>in</strong> ich also selber<br />

nach Sol<strong>in</strong>gen gefahren, musste natürlich erst noch suchen, denn ich wusste nicht genau, wo diese<br />

Strasse lag, <strong>und</strong> da habe ich gedacht, ich hör doch auf. Da habe ich jahrelang für Toleranz gepredigt <strong>und</strong><br />

mich e<strong>in</strong>gesetzt <strong>und</strong> dann zu erleben, dass nicht nur e<strong>in</strong> Haus brennt, sondern dass Menschen verbrannt<br />

werden weil sie Ausländer s<strong>in</strong>d, das war schwer, schwer unter die Füsse zu kriegen, eigentlich gar nicht.<br />

Am 11.September war ich zum Staatsbesuch <strong>in</strong> Hels<strong>in</strong>ki <strong>und</strong> der sollte am nächsten Morgen zu Ende<br />

gehen. Wir wollten am nächsten Tag nach Schweden reisen, wir waren unterwegs im Auto als die erste<br />

Nachricht kam, dass e<strong>in</strong> Flugzeuz <strong>in</strong> den Tower geflogen ist, <strong>und</strong> da habe ich gedacht: Dieser Nebel <strong>in</strong><br />

New York ist schrecklich. Weil ich natürlich an e<strong>in</strong>en Unfall gedacht habe. Und nach e<strong>in</strong>er Besichtigung<br />

kam die Nachricht: e<strong>in</strong> zweites Flugzeug ist <strong>in</strong> den zweiten Tower gekracht. Da war dann klar, was<br />

passiert war <strong>und</strong> wir s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> die Botschaft zurückgefahren <strong>und</strong> haben ferngesehen. Am Abend hatte ich


nun die f<strong>in</strong>nische bessere Gesellschaft zum Konzert e<strong>in</strong>geladen. Die kamen natürlich auch alle, aber wir<br />

konnten doch an so e<strong>in</strong>em Abend ke<strong>in</strong> Konzert machen. Ich habe dann kurz gesprochen <strong>und</strong> der Chor,<br />

den wir e<strong>in</strong>geladen hatten, hat e<strong>in</strong>ige angemessene Lieder gesungen. Dann habe ich den schwedischen<br />

König angerufen <strong>und</strong> dann die dänische König<strong>in</strong>, denn wir wollten abschließend nach Kopenhagen <strong>und</strong> ich<br />

habe um Verständnis gebeten, dass ich nicht käme. Wir haben erst gezögert, ob das richtig wäre, jetzt<br />

abzubrechen, denn so e<strong>in</strong> Besuch wird ja jahrelang vorbereitet <strong>und</strong> viele viele E<strong>in</strong>ladungen waren<br />

verschickt. Und wenn das alles dann wenige St<strong>und</strong>en vorher abgesagt wird, dann fragt man sich:<br />

Arbeiten wir damit nicht den Terroristen <strong>in</strong> die Hände? Aber ich habe dann gesagt: Stellen sie sich bloß<br />

e<strong>in</strong>mal vor, angesichts dieser Fernsehbilder stehen wir dann mit dem Sektglas <strong>in</strong> der Hand, das geht<br />

doch nicht. Wir haben also beide Besuche verschoben. Den <strong>in</strong> Dänemark haben wir schon nachgeholt,<br />

den <strong>in</strong> Schweden machen wir nun im kommenden Frühjahr. Und es war richtig, abzubrechen. Und dann<br />

war ja wenige Tage später <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> erst der ökumenische Gottesdienst <strong>und</strong> dann die K<strong>und</strong>gebung, zu der<br />

über 200.000 Menschen kamen; sowas vergisst man nicht!<br />

Werner Jacken: Ich habe diese K<strong>und</strong>gebung auch nicht vergessen, weil der treffendste Satz<br />

aller Reden über den 11.September stammt aus ihrer Rede auf dieser K<strong>und</strong>gebung: E<strong>in</strong><br />

Mensch der <strong>in</strong> Würde lebt, wird nicht zum Selbstmordattentäter. Hat sich Ihrer Me<strong>in</strong>ung nach<br />

etwas verändert um die Würde des Menschen nach diesem 11. September oder hat sich nur,<br />

nur <strong>in</strong> Anführungszeichen wohlgemerkt, die Sky-L<strong>in</strong>e von New York verändert?<br />

<strong>Johannes</strong> <strong>Rau</strong>: Ich hoffe, dass sich mehr verändert hat, aber es gibt nicht genug E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> der Welt.<br />

Nicht genug E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> den Sachverhalt, dass e<strong>in</strong>e Welt <strong>in</strong> der gehungert wird, <strong>in</strong> der es Armut gibt, <strong>in</strong><br />

der Millionen Menschen sterben an Hunger, daß solch e<strong>in</strong>e Welt nicht <strong>in</strong> Ordnung ist <strong>und</strong> das Politik<br />

auch immer der Versuch ist, die Welt <strong>in</strong> Ordnung zu br<strong>in</strong>gen. Und da muss noch viel mehr geschehen.<br />

Jetzt muss man nur aufpassen, dass man das nicht falsch <strong>in</strong>terpretiert: Die, die da <strong>in</strong> den Tower geflogen<br />

s<strong>in</strong>d waren weder arm noch hilflos, sondern das waren Verbrecher. Nur, dass sie Resonanz f<strong>in</strong>den <strong>in</strong><br />

bestimmten Teilen der Welt, das hat was damit zu tun, dass wir Teile dieser Welt offenbar verkommen<br />

lassen. Und wer das mal gesehen hat, zum Beispiel <strong>in</strong> Afrika, <strong>in</strong> Südafrika oder <strong>in</strong> Mali, das zu den<br />

ärmsten Ländern <strong>in</strong> der Welt gehört, da denkt man, wir haben hier Blicke zu sehr auf uns selber gerichtet<br />

<strong>und</strong> zu wenig auf die Welt, die uns umgibt.<br />

Werner Jacken: Ich komme noch e<strong>in</strong>mal zurück auf uns <strong>und</strong> auf Ihr Amt. Über Ihren Vater<br />

haben Sie e<strong>in</strong>mal geschrieben: Er liebte Kabarettvorstellungen. Das war ja als Blaukreuz-<br />

Prediger eher unkonventionell ...<br />

<strong>Johannes</strong> <strong>Rau</strong>: ... deshalb g<strong>in</strong>g er auch lieber <strong>in</strong> Düsseldorf <strong>in</strong>s Theater ...<br />

Werner Jacken: Ist <strong>in</strong> Ihrem Amt jenseits der Konvention noch Spontanietät möglich? Können<br />

Sie beispielsweise sagen: Christ<strong>in</strong>a, heute gehn wir mal e<strong>in</strong> lecker Eis essen! Ist das möglich?<br />

<strong>Johannes</strong> <strong>Rau</strong>: Das ist zunächst mal e<strong>in</strong> f<strong>in</strong>anzielles Problem! Aber, ernsthaft gesprochen, e<strong>in</strong>e solche<br />

Situation ist schwer denkbar, <strong>und</strong> <strong>in</strong> diesem Amt ist man term<strong>in</strong>lich so e<strong>in</strong>gespannt, dass es Freiräume<br />

zwar gibt, aber dann will man eben auch nichts tun. Ich habe jetzt versprochen, dass das alles anders<br />

wird, denn man wird <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Weise verplant, die ist schon lebensunfre<strong>und</strong>lich. Aber wo sie von me<strong>in</strong>em<br />

Vater <strong>und</strong> dem Kabarett sprachen: In diesem Sommer wurde Dieter Hildebrandt 75 Jahre alt, <strong>und</strong> der<br />

Mann ist ja nun e<strong>in</strong>e Institution. Der B<strong>und</strong>espräsident hat e<strong>in</strong> Privileg vor allen anderen: er kann ab <strong>und</strong><br />

zu Leute zum Abendessen e<strong>in</strong>laden, beispielsweise bei wichtigen Geburtstagen. Und das habe ich schon<br />

gemacht mit vielen, zum Beispiel Genscher <strong>und</strong> Egon Bahr. Und da habe ich Dieter Hildebrandt<br />

angerufen <strong>und</strong> zum Abendessen e<strong>in</strong>geladen, <strong>und</strong> das f<strong>in</strong>det statt e<strong>in</strong>en Tag nach der B<strong>und</strong>estagswahl,<br />

also morgen <strong>in</strong> acht Tagen. Und da hat er mir e<strong>in</strong>e Liste geschickt von Leuten, die er alle e<strong>in</strong>laden wollte<br />

<strong>und</strong> die habe ich alle e<strong>in</strong>geladen, aber das waren noch nicht die richtigen. Denn es fehlte Hüsch, es fehlte<br />

Richl<strong>in</strong>g <strong>und</strong> dann habe ich alle Kabarettisten dazugeladen die ich noch kenne, die kommen jetzt auch<br />

dah<strong>in</strong> <strong>und</strong> dann b<strong>in</strong> ich mal gespannt, wie das wird.


Werner Jacken: Stichwort Kirche. Die evangelische Kirche <strong>in</strong><br />

Barmen hat <strong>in</strong> den letzten 20 Jahren mehr als die Hälfte ihrer<br />

Mitglieder verloren. Sie haben <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em <strong>Interview</strong> gesagt: Man<br />

darf die jüngere Generation nicht abschreiben, sondern<br />

Kreativität ist nötig, um sie zu gew<strong>in</strong>nen (<strong>und</strong> haben dabei das<br />

Beispiel ‘Pfarrer mit Klampfe’ genannt). Aber, haben sie weiter<br />

gesagt, das ist ke<strong>in</strong>e stilistische, sondern e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>haltliche<br />

Frage, denn man muss das Ziel kennen. Wir Pfarrer tun uns ja<br />

schon mal schwer mit zielsicheren Formulierungen. Was ist für<br />

Sie das Ziel kirchlicher Mitarbeit, kirchlicher Arbeit überhaupt?<br />

<strong>Johannes</strong> <strong>Rau</strong>: Jetzt kommen wir natürlich zu dem, was ich gleich von<br />

der Kanzel sagen will, deshalb nur kurz: Das Ziel kirchlicher Arbeit ist,<br />

dass die Kirche für die Welt da ist, das ist das Allerwichtigste. Wenn<br />

sie nur für sich selber da ist, ist sie unnütz. Und wenn sie für andere<br />

da se<strong>in</strong> soll, dann muss sie aufgeschlossen se<strong>in</strong> gegenüber dem, was<br />

diese Welt beschäftigt, darf aber nicht dieser Welt gleich werden, denn dann wird sie nicht mehr<br />

gebraucht. Werner Jacken: Ich komme zum Schluss noch e<strong>in</strong>mal auf die B<strong>und</strong>estagswahl zu sprechen.<br />

Das Spannende am nächsten Sonntag ist ja neben der Fraktionsstärke der e<strong>in</strong>zelnen Parteien die Stärke<br />

der Nichtwähler. Mit welchen Argumenten begegnen Sie ‘Durchnittswuppertalern’, die <strong>in</strong> den letzten<br />

Jahren nicht gerade von politischer Kultur <strong>in</strong> dieser Stadt umspült waren, damit sie zur Wahl gehen?<br />

<strong>Johannes</strong> <strong>Rau</strong>: Mit dem e<strong>in</strong>en Satz, der nicht von mir ist, aber auch gut: "Wer nicht handelt, wird<br />

behandelt." Und wer sich nicht e<strong>in</strong>mischt <strong>in</strong> die eigenen Angelegenheiten, der hat auch ke<strong>in</strong> Recht zur<br />

Klage <strong>und</strong> ke<strong>in</strong> Recht zur Aufforderung, die D<strong>in</strong>ge zu bessern.<br />

Werner Jacken: Vielen Dank für das Gespräch!<br />

Beim Abgang zum Sitzplatz leise: <strong>Johannes</strong> <strong>Rau</strong>: Wird hier eigentlich nicht gesungen?<br />

Werner Jacken: Ne<strong>in</strong> bei den Sonntagreden nicht. <strong>Johannes</strong> <strong>Rau</strong>: Das ist ja unmöglich!<br />

<strong>Sonntagsrede</strong><br />

von B<strong>und</strong>espräsident <strong>Johannes</strong> <strong>Rau</strong> am 15. September 2002 <strong>in</strong> der <strong>Gemarke</strong>r Kirche:<br />

Briefe, die der B<strong>und</strong>espräsident schreibt s<strong>in</strong>d alle <strong>in</strong>dividuell!<br />

Jedenfalls soll dieser E<strong>in</strong>druck weiter bestehen. Es gibt e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>dividuellen Brief, das ist e<strong>in</strong>en Serienbrief,<br />

der geht etwa zehnmal <strong>in</strong> der Woche raus <strong>und</strong> wird entweder von mir oder von me<strong>in</strong>en Mitarbeitern<br />

unterschrieben, <strong>und</strong> dar<strong>in</strong> steht: "Der B<strong>und</strong>espräsident hat sich für die fünf Jahre se<strong>in</strong>er Amtszeit e<strong>in</strong>e<br />

Predigtdiät verordnet <strong>und</strong> kann deshalb nicht auf ihre Kanzel kommen." Denn m<strong>in</strong>destens zehnmal <strong>in</strong><br />

der Woche f<strong>in</strong>det e<strong>in</strong>e Geme<strong>in</strong>de e<strong>in</strong>en Anlass, den B<strong>und</strong>espräsidenten e<strong>in</strong>zuladen, zu e<strong>in</strong>er Predigt zu<br />

bitten. Wenn ich das e<strong>in</strong>mal anf<strong>in</strong>ge, würde ich ja nur noch <strong>in</strong> Kirchen reden. Also fünf Jahre absolute<br />

Diät - ausser heute!<br />

Denn weder kann man Sigrid Runkel was abschlagen, noch ist e<strong>in</strong>e so geballte E<strong>in</strong>ladung ‘<strong>Gemarke</strong>’ plus<br />

Super<strong>in</strong>tendent, an Wichl<strong>in</strong>ghausen gar nicht zu denken: 300 Jahre <strong>Gemarke</strong>, 225 Jahre Wupperfeld.<br />

Und dann e<strong>in</strong> Buch, das diese Woche gekommen ist: 600 Seiten, sie werden es alle noch nicht gesehen<br />

haben, am Ausgang ist es käuflich zu erwerben, ich habs durchgeblättert. Und wenn man e<strong>in</strong> solches<br />

Buch durchblättert, als alter <strong>Gemarke</strong>r fallen e<strong>in</strong>em dabei so viele Menschen wieder e<strong>in</strong>, so viele<br />

Geschichten, so viele Gesichter, das man <strong>in</strong> Gefahr kommt, nur davon zu erzählen. Das f<strong>in</strong>ge dann bei


mir an mit Tante Anna <strong>in</strong> der Riescheider Straße <strong>und</strong> das hörte erst auf bei den Begegnungen <strong>und</strong><br />

Kontakten, die ich heute noch mit <strong>Gemarke</strong> habe, <strong>und</strong> die s<strong>in</strong>d vielfältig.<br />

Was Wupperfeld angeht: E<strong>in</strong> Kollege <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Zeit als Lehrl<strong>in</strong>g wurde später Kirchenmusikdirektor <strong>in</strong><br />

Wupperfeld, <strong>und</strong> ich nur B<strong>und</strong>espräsident - es gibt ke<strong>in</strong>e Gerechtigkeit. Das war Wilfried Pesch, er war<br />

bei Schleu <strong>und</strong> ich war bei Müller, ich war im Verlag, <strong>und</strong> er <strong>in</strong> der Buchhandlung, <strong>und</strong> natürlich habe ich<br />

Wupperfelder Pastore gekannt, Boeker <strong>und</strong> Hübner, <strong>und</strong> Lücke <strong>und</strong> wie sie alle hiessen. Aber wir waren<br />

natürlich erst mal <strong>Gemarke</strong>r <strong>und</strong> das mit bestimmten Adelsprädikaten: sechster Bezirk, das hieß Hans<br />

Specht. Und erster Bezirk, das hieß Robert Ste<strong>in</strong>er. Robert Ste<strong>in</strong>ers Pfarrhaus steht nicht mehr, da wird<br />

e<strong>in</strong>e Synagoge gebaut. Da war früher, nach Ste<strong>in</strong>ers Zeit, Ehe- <strong>und</strong> Familienberatung - <strong>in</strong> der Zeit b<strong>in</strong> ich<br />

da gar nicht gewesen.<br />

Doch wenn ich jetzt erzählen würde, von den verschiedneen Pastoren, ich tät es gerne...<br />

Me<strong>in</strong>e älteren Geschwister <strong>und</strong> ich waren im Konfirmandenunterricht bei Pastor Immer, doch der konnte<br />

den Unterricht nicht halten, denn er war krank war im Gefängnis <strong>und</strong> er starb im Juni 1944. Und se<strong>in</strong>e<br />

Tochter Leni Immer machte den Katechumenen- <strong>und</strong> Konfirmandenunterricht weiter, der unter Pastor<br />

Immer ganz farbig war: Wir kannten nicht die Propheten die "großen" <strong>und</strong> die "kle<strong>in</strong>en", bei ihm hießen<br />

die "die Sturmvögel Gottes". Und dann starb er vor unserer Konfirmation <strong>und</strong> der aus dem Krieg zurückgekommene<br />

<strong>und</strong> beim Angriff verschüttete Pastor Mehrhoff, der spätere Super<strong>in</strong>tendent, konfirmierte<br />

uns, zweimal, denn wir hatten e<strong>in</strong>e Art Not-Konfirmation, dann kamen die Amerikaner <strong>und</strong> am Sonntag<br />

drauf’ war dann die richtige Konfirmation bei der wir den Konfirmationsspruch bekamen.<br />

Und die Jahre danach: Wir haben gefeiert "So entstand <strong>Gemarke</strong>", das ist fünfzig Jahre her, e<strong>in</strong><br />

w<strong>und</strong>erschönes Stück, <strong>und</strong> wir haben Ausflüge gemacht <strong>und</strong> Freizeiten, wir haben die "Junge Geme<strong>in</strong>de"<br />

gegründet, ausgehalten, durchgehalten, gelegentlich auch aufgelöst. Aber wir s<strong>in</strong>d immer wieder<br />

zusammengekommen <strong>und</strong> so könnte ich erzählen bis dah<strong>in</strong>, dass die Leute mir gesagt haben: "Was<br />

De<strong>in</strong>en Predigtstil angeht: Du sollst nicht immer den Fifi Specht nachmachen." Denn das muss ich mal<br />

sagen: Ich habe selten e<strong>in</strong>en Menschen getroffen mit der Sprachkraft von Pastor Specht: Ich weiß noch<br />

von e<strong>in</strong>er Jugendwoche, die wir mit Wichl<strong>in</strong>ghausen zusammen gemacht haben, Walter Post <strong>und</strong> Pastor<br />

Specht. Die ersten Worte der Predigt von Hans Specht waren: "Pilatus, dieser Marmorrömer mir dem<br />

knieweichen Charakter!" Das werde ich niemals vergessen. Aber es waren ja nicht die Sprachbilder,<br />

sondern es waren die Botschaften.<br />

Vor mehr als 50 Jahren ist me<strong>in</strong> Vater im Dezember gestorben. Am 15.Dezember 1953 ist er <strong>in</strong> der<br />

Tütersburg vor dem Gottesbrünnle<strong>in</strong> wegen e<strong>in</strong>es schadhaften Türschlosses aus dem Autobus gefallen,<br />

auf den H<strong>in</strong>terkopf, <strong>und</strong> war sofort tot. Ich war damals bei der Westdeutschen R<strong>und</strong>schau freier<br />

Mitarbeiter, schrieb den Polizeibericht, dass e<strong>in</strong> 55-jährigrer leider verunglückt sei <strong>und</strong> wurde dann nach<br />

Wichl<strong>in</strong>ghausen gebeten zur Identifizierung. Das war am 15. Dezember <strong>und</strong> am 19. war dann die<br />

Trauerfeier, Pastor Specht sprach <strong>und</strong> er f<strong>in</strong>g nicht an mit dem Text sondern mit e<strong>in</strong>em Gedicht von<br />

Siegbert Stegemeier <strong>und</strong> das hiess:<br />

"E<strong>in</strong>mal öffnet sich die Tür <strong>und</strong> ich steh nicht mehr im Dunkel, steh <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Saal darüber ohne Zahl<br />

Sterne tausendstrahlig funkeln, e<strong>in</strong>mal ..., e<strong>in</strong>mal wird sich alles wenden, e<strong>in</strong>er hält die ganze Welt so<br />

auch dich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Händen."<br />

Dieser Satz "E<strong>in</strong>mal öffnet sich die Tür...", wir hatten nicht gewusst, dass es e<strong>in</strong>e Autobustür se<strong>in</strong> kann,<br />

die sich öffnet.<br />

Ich habe <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Leben, das jetzt auch über die 70 ist, immer wieder Situationen <strong>und</strong> Stationen<br />

erlebt, an denen e<strong>in</strong> Mensch e<strong>in</strong>en festhält mit e<strong>in</strong>em Satz.<br />

Bei dieser Trauerfeier war es der Satz: "E<strong>in</strong>mal öffnet sich die Tür..." <strong>und</strong> als ich vor 10 Jahren <strong>in</strong><br />

Hamburg im Krankenhaus lag nach e<strong>in</strong>er schweren Operation <strong>und</strong> mir jedenfalls nicht klar war, ob ich<br />

das Krankenhaus noch lebend verlassen könnte, kam e<strong>in</strong>e Karte, e<strong>in</strong>e Postkarte, damals noch mit<br />

ger<strong>in</strong>gerem Porto als heute, <strong>und</strong> auf der stand e<strong>in</strong> Satz: "Lieber <strong>Johannes</strong>, wir können nicht tiefer fallen


als <strong>in</strong> Gottes Hände. De<strong>in</strong> He<strong>in</strong>rich Albertz". He<strong>in</strong>rich Albertz<br />

war Vikar <strong>in</strong> dieser Kirche hier zu Zeiten, da war ich gerade<br />

im K<strong>in</strong>dergottesdienst, ich glaube so 1936/37 , er wurde<br />

später M<strong>in</strong>ister <strong>in</strong> Hannover <strong>und</strong> danach Regierender<br />

Bürgermeister <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>. Er trat zurück nach dem tödlichen<br />

Schuss auf Benno Ohnesorg beim Schah-Besuch <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>,<br />

das war 1968. Das war der Beg<strong>in</strong>n der 68er Revolte <strong>in</strong><br />

Deutschland <strong>in</strong> Amerika, <strong>in</strong> Japan <strong>und</strong> wohl überall.<br />

Jetzt merken Sie, ich b<strong>in</strong> doch <strong>in</strong> der Gefahr mich<br />

wegziehen zu lassen von den anekdotischen Erfahrungen <strong>und</strong> Erlebnissen. Aber das liegt vielleicht nahe,<br />

wenn man an e<strong>in</strong>em Ort kommt wie diesen: die <strong>Gemarke</strong>r Kirche, <strong>in</strong> der wir auch e<strong>in</strong>mal das 50 jährige<br />

Jubiläum der Barmer Erklärung gefeiert haben mit Phillip Potter zusammen, dem damaligen<br />

Generalsekretär des Weltkirchenrates, erst <strong>in</strong> der Stadthalle dann hier <strong>in</strong> <strong>Gemarke</strong>.<br />

Und wer dieses Buch ansieht, von dem ich eben gesprochen habe, der wird sehen es gab die Barmer<br />

Zeitung im Mai 1934, die druckte das Synodengeschehen vollständig ab, es gab noch ke<strong>in</strong>e Pressezenzur<br />

durch den Staat <strong>und</strong> es gab noch e<strong>in</strong>e Kirche, deren Wort hatte Bedeutung <strong>und</strong> wurde gehört.<br />

Das Wort, das damals gesagt worden ist, die Barmer Theologische Erklärung mit ihren 6 Thesen die war<br />

weder vollständig noch erfüllte sie alle Forderungen der damaligen Zeit. Von der Verfolgung der Juden<br />

war noch nicht die Rede, obwohl es sie schon gab. Aber diese hier <strong>in</strong> dieser Kirche formulierten sechs<br />

Thesen, die Karl Barth mit Hans Assmussen abschließend formuliert hat <strong>und</strong> die der Abiturient Karl<br />

Immer mit dem Zwei-F<strong>in</strong>ger-Suchsystem <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Adler-Schreibmasch<strong>in</strong>e getippt hat, die hat für<br />

Jahrzehnte das Denken <strong>und</strong> Glauben vieler Menschen <strong>in</strong> Deutschland <strong>und</strong> weit darüber h<strong>in</strong>aus bestimmt.<br />

Darum ist für mich <strong>Gemarke</strong>, Heldenverehrung sei ferne , doch e<strong>in</strong> besonderer Ort des Glaubens, des<br />

Bekenntnisses <strong>und</strong> des Lebens.<br />

Ich muss ihnen noch von Pastor Immer erzählen: Der war e<strong>in</strong> Gegner des Nationalsozialismus <strong>und</strong> war<br />

von Hause aus richtig ‘Deutschnational’. Ich seh ihn noch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Sudierzimmer, da h<strong>in</strong>g die Kirche<br />

von Husum, se<strong>in</strong> Eisernes Kreuz aus dem Ersten Weltkrieg <strong>und</strong> er zeigte mir irgende<strong>in</strong> Gewächs <strong>und</strong><br />

sagte, das sei der deutscheste aller Bäume. Ich weiß noch, wie ich zurückgefragt habe, ob es auch<br />

englische Bäume gäbe. Ich nehme an, es war e<strong>in</strong>e Eiche, aber das weiß ich nicht mehr so genau.<br />

Diesem Pastor Immer schrieb man ans Haus, als er nicht zur Wahl g<strong>in</strong>g, "Hier wohnt der Volksverräter<br />

Immer". Und die HJ <strong>und</strong> das Jungvolk hatten sich vorgenommen: "Den zw<strong>in</strong>gen wir dazu ‘Heil Hitler’ zu<br />

sagen." Und das sage ich jetzt den Jüngeren: Man musste ja die Fahne grüssen, wenn sie durch die<br />

Strasse getragen wurde. Also nahm die HJ die Fahne, stellte sich <strong>in</strong> der Reihe auf stehen mit der Fahne,<br />

<strong>und</strong> wenn sie Pastor Immer sahen, g<strong>in</strong>gen sie auf ihn zu, so dass er nicht ausweichen konnte, reckten die<br />

rechte Hand hoch <strong>und</strong> sagten: "Heil Hitler!"<br />

Er zog den Hut <strong>und</strong> sagte "Immer".<br />

Mir fallen auch Erlebnisse e<strong>in</strong>, die wir als Familie gehabt haben mit Pastor Immer: Nach se<strong>in</strong>er schweren<br />

Krankheit sollte er viel spazieren gehen <strong>und</strong> er langweilte sich im Nordpark <strong>und</strong> dann kam er <strong>in</strong> der<br />

Riescheider Straße vorbei <strong>und</strong> kl<strong>in</strong>gelte, ob jemand mitg<strong>in</strong>ge. Und dann g<strong>in</strong>g der e<strong>in</strong>e oder andere, sehr<br />

oft auch ich mit ihm oben durch den Nordpark <strong>und</strong> dann zurück über die Leonhardstrasse <strong>und</strong> wieder <strong>in</strong><br />

den Kl<strong>in</strong>gelholl.<br />

Wenn ich daran zurückdenke, dann fällt mir das Wort aus dem Hebräerbrief e<strong>in</strong> von der Wolke der<br />

Zeugen denn das ist geme<strong>in</strong>t, Wolke der Zeugen, das ist nicht etwas unbestimmbares, das ist nicht e<strong>in</strong>e<br />

Wolke die sich ständig verändert, sondern das Bild der Wolke <strong>in</strong> der Bibel, das ist der uns vorherziehende<br />

Gott, der <strong>in</strong> der Wolke ersche<strong>in</strong>t. Der Hebräerbrief sagt: Ihr habt e<strong>in</strong>e Wolke der Zeugen <strong>und</strong> das s<strong>in</strong>d<br />

<strong>Gemarke</strong>r Pastoren aber eben nicht nur <strong>Gemarke</strong>r Pastoren gewesen sondern auch so genannte e<strong>in</strong>fache<br />

Leute.


Wenn es posthum Orden gäbe, dann kriegt Arnold Friel<strong>in</strong>ghaus das B<strong>und</strong>esverdienstkreuz. Das war der<br />

Hausmeister im Kl<strong>in</strong>gelholl <strong>und</strong> was hat der Mann nicht <strong>in</strong> den Jahren 1933-45 die Briefkästen <strong>in</strong><br />

Wuppertal vollgestopft mit Schriften gegen den Nationalsozialismus. Was hat der nicht organisiert, damit<br />

die Bekennende Kirche ihr Leben <strong>in</strong> <strong>Gemarke</strong> führen konnte.<br />

Und jetzt weiß ich, ich b<strong>in</strong> natürlich gegenüber den Wupperfeldern <strong>und</strong> den Wichl<strong>in</strong>ghausern ungerecht,<br />

denn da hat es das ja auch gegeben <strong>und</strong> es waren ja nicht nur die <strong>Gemarke</strong>r Pastoren sondern zum<br />

Glück <strong>in</strong> Wuppertal viele - nicht alle. Die Zwill<strong>in</strong>ge des DC-Pfarrers an der Unterbarmer Hauptkirche<br />

waren me<strong>in</strong>e Klassenkameraden am Dörpfeld-Gymnasium. Es gab auch e<strong>in</strong>en richtig <strong>in</strong>stallierten Pfarrer<br />

der deutschen Christen <strong>in</strong> Wuppertal. Und es gab natürlich die konfessionellen Unterschiede, <strong>und</strong> noch<br />

immer erzählt man davon, dass e<strong>in</strong> bestimmter <strong>Gemarke</strong>r Pfarrer, ich will se<strong>in</strong>en Namen nicht unnütz<br />

führen, wenn der <strong>in</strong> der Zeit der Bekennenden Kirche <strong>in</strong> Elberfeld bei den Lutheranern zu predigen hatte,<br />

feuchtete er zuerst immer die F<strong>in</strong>ger an, weil er die Kerzen auf dem Altar ausmachen musste, weil man<br />

ja <strong>in</strong> reformierten Kirchen elektrisches Licht bevorzugte. Es hat die konfessionelle Spaltung natürlich<br />

gegeben, übrigens seit Jahrh<strong>und</strong>erten, <strong>und</strong> dass sie überw<strong>und</strong>en ist, das ist e<strong>in</strong> großes Geschenk.<br />

Im alten Gesangbuch von Siebzehnh<strong>und</strong>ertsoviel, lutherisch, da steht noch: "Die Reformierten s<strong>in</strong>d vom<br />

Papsttum zwar geschieden, je dennoch leben wir mit ihnen nicht <strong>in</strong> Frieden, denn erstens lehren sie die<br />

Gnadenwahl nicht recht <strong>und</strong> zweitens ist die Lehr vom Abendmahle schlecht." Das sangen die auf die<br />

Melodie "Oh Gott, du frommer Gott des Zorns"!<br />

Es hat Zeiten gegeben, da war die Kirche flügellahm <strong>und</strong> da wurden auch Gedichte geschrieben. Da<br />

schrieb He<strong>in</strong>rich Vogel, lutherischer Theologe aus Berl<strong>in</strong>, ich weiß nicht, wer noch se<strong>in</strong>e Dokmatik gelesen<br />

hat, der schrieb: "Die Kirche wird Museum, wir werden restauriert, dann zum Jubiläum noch e<strong>in</strong>mal<br />

vorgeführt. Lasst uns die Segel streichen, wir s<strong>in</strong>d vom Kampfe matt <strong>und</strong> sammeln Luthereichen fürs<br />

deutsche Pfarrerblatt." Das hat es auch gegeben.<br />

Warum erzähle ich das? Ich erzähle es, verehrte Fre<strong>und</strong>e, weil me<strong>in</strong> E<strong>in</strong>druck ist, die Kirchen haben zu<br />

wenig erkannt, dass sie M<strong>in</strong>derheiten geworden s<strong>in</strong>d <strong>und</strong> die Kirchen haben zuwenig erkannt, dass es nur<br />

e<strong>in</strong>e Chance gibt, dass die Botschaft, die sie haben, gehört wird. Das ist die Chance, dass sie bei ihrer<br />

Botschaft bleiben.<br />

"Bleibet <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Rede!" Das Bleiben ist <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er flüchtigen Zeit der Beliebigkeit heute oft unerwünscht,<br />

<strong>und</strong> me<strong>in</strong> E<strong>in</strong>druck ist, dass wir zu lange Jahre geübt haben "Kirche <strong>und</strong>...". Kirche <strong>und</strong> Gesellschaft,<br />

Kirche <strong>und</strong> Mediz<strong>in</strong>, Kirche <strong>und</strong>.. Und dass die Kirche oft die Sorge gehabt hat, sie könne nicht mehr<br />

erkannt werden <strong>und</strong> müsse sich anpassen. Das habe ich soeben bei dem von Pastor Jacken zitierten<br />

‘Pastor mit Klampfe’ geme<strong>in</strong>t: Es gibt so e<strong>in</strong>e Art modisch zu werden, <strong>und</strong> es ist hoffentlich nicht nur e<strong>in</strong>e<br />

Altersersche<strong>in</strong>ung dass ich sage: Ich will e<strong>in</strong>e moderne Kirche aber ke<strong>in</strong>e modische. Ich will e<strong>in</strong>e Kirche<br />

der Zeitgenossenschaft aber ke<strong>in</strong>e Kirche des Zeitgeistes.<br />

Denn wer den Zeitgeist heiratet wird früh Witwer!<br />

Darum, wenn ich schon mal <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er alten <strong>Gemarke</strong>r Geme<strong>in</strong>de b<strong>in</strong> sage ich, das ist bei me<strong>in</strong>en K<strong>in</strong>dern<br />

auch nicht leicht <strong>und</strong> wir haben das jetzt auch <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>, übrigens <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Geme<strong>in</strong>de, <strong>in</strong> der früher Pastor<br />

Niemöller Pastor war <strong>und</strong> wo unsere Jüngste schon konfirmiert worden ist, die beiden älteren noch <strong>in</strong><br />

Wuppertal. Das ist nicht leicht, junge Menschen bei der Geme<strong>in</strong>de zu halten, das ist uns auch bisher<br />

nicht richtig gelungen. Bloß me<strong>in</strong>e ich, man dürfe daraus nicht den Schluss ziehen, die Kirchen dürften<br />

beliebig werden.<br />

Diese Sorge habe ich gelegentlich.<br />

Die hatte ich <strong>in</strong> der Diskussion um die Gentechnologie <strong>und</strong> darum habe ich dazu sehr deutliche Worte<br />

gesagt, vielleicht deutlicher als e<strong>in</strong> B<strong>und</strong>espräsident das sonst üblicherweise tut. Darum habe ich das bei<br />

dem Thema ‘Globalisierung’ auszusprechen versucht <strong>und</strong> auch beim Thema ‘Zuwanderung’.<br />

Ne<strong>in</strong>, der B<strong>und</strong>espräsident steht nicht über den Parteien aber jenseits der Parteien <strong>und</strong> mit Wahlkämpfen


hat er nichts zu tun. Er wünschte sich aber, Wahlkämpfe wären wieder stärker Entwürfe für die Zukunft,<br />

damit Menschen wählen können zwischen Zukunftsentwürfen <strong>und</strong> nicht abgeholt werden von<br />

Werbeagenturen.<br />

Wuppertal, um über Barmen <strong>und</strong> <strong>Gemarke</strong> h<strong>in</strong>auszugehen, ist ja nicht nur <strong>Gemarke</strong> <strong>und</strong> Wupperfeld oder<br />

Wichl<strong>in</strong>ghausen. In Wichl<strong>in</strong>ghausen habe ich übrigens als Reformierter im Chor gesungen als auch Geige<br />

im Orchester gespielt, bis die Lärmschutzverordnung e<strong>in</strong>geführt wurde. Und wenn ich heute lese, was<br />

Menschen über Wuppertal schreiben, z.B Jung-Still<strong>in</strong>g, der berühmte, er war schrecklich erschrocken<br />

über die Wuppertaler Pietisten <strong>und</strong> trotzdem hat er hier sieben Jahre als Augenarzt durchgehalten<br />

Goethe fands ganz schrecklich, das Wuppertal, das war das e<strong>in</strong>zige wor<strong>in</strong> er mit Jung-Still<strong>in</strong>g<br />

übere<strong>in</strong>kam.<br />

Und das, was Jung-Still<strong>in</strong>g beschreibt, ist übrigens auch bemerkenswert traurig, denn er beschreibt den<br />

Pietismus als e<strong>in</strong>e freudlose Sache.<br />

Me<strong>in</strong> Vater war Pietist, viel stärker als ich das b<strong>in</strong>, aber der fand Leute, die nicht lachen konnten zum<br />

we<strong>in</strong>en. Und ich wünschte mir, daß das alte Nietsche-Wort uns wieder <strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerung kommt, der gesagt<br />

hat: "Die Christen müssten mir erlöster aussehen, wenn ich an ihren Erlöser glauben soll." Das heisst,<br />

man muss es merken, man muss es spüren <strong>und</strong> darum steht glaube ich im Psalm 41 oder 31, dass der<br />

Herr e<strong>in</strong> neues Lied <strong>in</strong> me<strong>in</strong>en M<strong>und</strong> gegeben hat <strong>und</strong> dann steht da nicht, das werden viele hören,<br />

sondern das werden viele sehen. Und ich glaube, dass dieser Widerspruch über das Lied, das man sehen<br />

kann, etwas aussagt über das Antlitz des Menschen dem man abspüren soll, dass er nicht ist wie die, die<br />

ke<strong>in</strong>e Hoffnung haben. Und das steht, glaube ich, im Katechismus oder <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em der Psalmen.<br />

Wenn das gelänge, dass Kirchen, reformierte, lutherische, unierte, römisch-katholische, griechisch- oder<br />

russisch-orthodoxe wieder Stätten wären bei denen man weiß <strong>und</strong> wissen könnte: Da s<strong>in</strong>d Hoffnung <strong>und</strong><br />

Zuversicht, da ist Hilfe <strong>und</strong> Zuhören, nicht: es predigt... sondern: es hört zu... <strong>und</strong>: es geht mit e<strong>in</strong><br />

Stück... , dann, behaupte ich, brauchten wir uns unserer M<strong>in</strong>derheitensituation nicht zu schämen.<br />

Wenn ich e<strong>in</strong>e wichtige Rede halte, manchmal hält man Reden, die s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>fach wegen des Gegenstandes<br />

wichtig. Das war die Rede vor den 200.000 <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> nach dem 11.September, aber das war auch die<br />

Rede <strong>in</strong> Erfurt, als da der Schüler um sich geschossen hat. Und dann kriegt man als B<strong>und</strong>espräsident<br />

Stapel von Briefen <strong>und</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Sorte steht: Sie als B<strong>und</strong>espräsident sollten sich endlich deutlicher als<br />

bekennender Christ erweisen <strong>und</strong> das auch sagen. Warum haben sie die Rede <strong>in</strong> Erfurt nicht mit e<strong>in</strong>em<br />

Gebet geschlossen? Dann versuche ich den Menschen deutlich zu machen: Der B<strong>und</strong>espräsident, das ist<br />

e<strong>in</strong> Amt für alle. Für Christen <strong>und</strong> Nichtchristen, für Bekehrte <strong>und</strong> Unbekehrbare, für Junge <strong>und</strong> Alte, für<br />

Muslime, Deutsche <strong>und</strong> Ausländer - er ist für alle da <strong>und</strong> er darf nicht spalten, <strong>und</strong> sobald er <strong>in</strong> se<strong>in</strong> Amt<br />

se<strong>in</strong> Bekenntnis aufnähme, entstünde die Tendenz zur Spaltung, jedenfalls wenn er offiziell e<strong>in</strong>e Rede<br />

hält. Aber das ist natürlich e<strong>in</strong>e schmale Gratwanderung <strong>und</strong> ich versuche sie zu gehen so gut ich das<br />

kann <strong>und</strong> ich kriege dann von anderen die Briefe, <strong>in</strong> denen steht: "Ich b<strong>in</strong> das jetzt leid, dass Sie ständig<br />

ihren christlichen Glauben betonen, dass Sie <strong>in</strong> <strong>Gemarke</strong> auf der Kanzel stehen. Ich gehöre zu Ihren<br />

Bürgern, die Sie vertreten, ich b<strong>in</strong> aber ganz anderer Me<strong>in</strong>ung <strong>und</strong> ich wünsche dass sie das se<strong>in</strong><br />

lassen."<br />

Also muss man <strong>in</strong>dividuell zu antworten versuchen <strong>und</strong> sagen: Auch e<strong>in</strong> B<strong>und</strong>espräsident ist ke<strong>in</strong><br />

Neutrum. Auch e<strong>in</strong> B<strong>und</strong>espräsident hat e<strong>in</strong> Bekenntnis, hat e<strong>in</strong>e Geschichte, hat e<strong>in</strong>e Biographie, hat e<strong>in</strong><br />

Stück Zukunft, so hofft er, <strong>und</strong> er möchte dem gerecht werden, was Menschen brauchen - nicht nur was<br />

sie hören wollen. Denn das ist e<strong>in</strong> Stück die Aufgabe, die Schwierigkeit <strong>und</strong> der Spannungsbogen, dass<br />

man für die Mehrheit spricht <strong>und</strong> die M<strong>in</strong>derheit <strong>in</strong> die Mitte holt.<br />

Und das geht nur wenn man B<strong>und</strong>eswehrsoldaten <strong>und</strong> Zivildienstleistende besucht.<br />

Das geht nur, wenn man Hochbegabtenförderung betreibt <strong>und</strong> zu geistig oder körperlich Beh<strong>in</strong>derten


kommen!"<br />

text: werner jacken nach tonbandprotokoll<br />

geht <strong>und</strong> sich um deren Lebenssituation kümmert. Und so könnte<br />

man die ganze Bandbreite des politischen Lebens, des<br />

gesellschaftlichen Lebens abklopfen <strong>und</strong> wird immer feststellen:<br />

Manchmal ist der B<strong>und</strong>espräsident ziemlich überflüssig, dann soll er<br />

sich raushalten. Manchmal ist se<strong>in</strong> Wort richtig <strong>und</strong> nötig, manchmal<br />

muss es gesagt werden. Manchmal muss es auch gesagt werden,<br />

wenns manche ärgert oder stört. Und dann wird e<strong>in</strong>em vorgeworfen,<br />

man sei Parteigänger oder man solle <strong>in</strong> Zukunft Ruhe geben. Auch<br />

solche Briefe gibts.<br />

Aber die schönsten Briefe kommen aus Wuppertal <strong>und</strong> <strong>in</strong> denen steht:<br />

"Wir lassen dich nicht los, du bist e<strong>in</strong>er von uns." Und das Gefühl habe<br />

ich auch, dass der Jung-Still<strong>in</strong>g recht hat, als er die Seligpreisungen <strong>in</strong><br />

Matthäus 5 um e<strong>in</strong>e verlängert hat:<br />

"Selig s<strong>in</strong>d, die da Heimweh haben, denn sie sollen nach Hause

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