Zeitschrift Militärgeschichte [Heft 04/2002]
Zeitschrift Militärgeschichte [Heft 04/2002]
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<strong>Heft</strong> 4/<strong>2002</strong><br />
C 21234 ISSN 0940 – 4163<br />
<strong>Militärgeschichte</strong><br />
<strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung<br />
<strong>Militärgeschichte</strong> im Bild: Bundesgrenzschutz<br />
Friedrich Paulus<br />
Der Untergang der 6. Armee<br />
Stalins V-2<br />
Militärgeschichtliches Forschungsamt<br />
MGFA
IMPRESSUM<br />
<strong>Militärgeschichte</strong><br />
<strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung<br />
Herausgegeben<br />
vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt<br />
durch Jörg Duppler und<br />
Hans-Joachim Harder<br />
Redaktion:<br />
Andreas Groh (ag), Clemens Heitmann (ch),<br />
Herbert Kraus (hk), Andreas Kunz (ak)<br />
Anschrift der Redaktion:<br />
Militärgeschichtliches Forschungsamt<br />
Postfach 60 11 22, 14411 Potsdam<br />
Telefon: (0331) 9714-531<br />
Telefax: (0331) 9714-507<br />
www.mgfa.de<br />
Manuskripte für die <strong>Militärgeschichte</strong> werden<br />
an diese Anschrift erbeten. Für unverlangt<br />
eingesandte Manuskripte wird nicht gehaftet.<br />
Durch Annahme eines Manuskriptes<br />
erwirkt der Herausgeber auch das Recht<br />
zur Veröffentlichung, Übersetzung u.s.w.<br />
Honorarabrechnung erfolgt jeweils nach Veröffentlichung.<br />
Die Redaktion behält sich<br />
Kürzungen eingereichter Beiträge vor. Nachdrucke,<br />
auch auszugsweise, fotomechanische<br />
Wiedergabe und Übersetzung sind nur<br />
nach vorheriger schriftlicher Zustimmung<br />
durch die Redaktion und mit Quellenangaben<br />
erlaubt. Dies gilt auch für die Aufnahme<br />
in elektronische Datenbanken und Vervielfältigungen<br />
auf CD-ROM. Die Redaktion hat<br />
keinerlei Einfluss auf die Gestaltung und die<br />
Inhalte derjenigen Seiten, auf die in dieser<br />
<strong>Zeitschrift</strong> durch Angabe eines Link verwiesen<br />
wird. Deshalb übernimmt die Redaktion<br />
keine Verantwortung für die Inhalte<br />
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dieser <strong>Zeitschrift</strong> genannten Seiten und<br />
deren Unterseiten. Dieses gilt für alle ausgewählten<br />
und angebotenen Links und für alle<br />
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führen.<br />
© <strong>2002</strong> für alle Beiträge beim<br />
Militärgeschichtlichen Forschungsamt<br />
Sollten nicht in allen Fällen die Rechteinhaber ermittelt<br />
worden sein, bitten wir ggfs. um Mitteilung.<br />
Die Nutzung des Namens »<strong>Militärgeschichte</strong><br />
<strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung« erfolgt<br />
mit freundlicher Unterstützung des Verlages<br />
E.S. Mittler & Sohn.<br />
Herstellung:<br />
Militärgeschichtliches Forschungsamt,<br />
Bernd Nogli, Marina Sandig,<br />
Aleksandar-S. Vuletić<br />
Layout:<br />
Militärgeschichtliches Forschungsamt,<br />
Maurice Woynoski<br />
Druck:<br />
SKN Druck und Verlag GmbH & Co., Norden<br />
ISSN 0940-4163<br />
Editorial<br />
Liebe Leserinnen und Leser,<br />
Das Team der »<strong>Militärgeschichte</strong>«: Maurice Woynoski, Clemens Heitmann,<br />
Marina Sandig, Aleksandar-S. Vuletić, Andreas Groh und Herbert Kraus<br />
Ihnen liegt nun das vierte und letzte<br />
<strong>Heft</strong> der »<strong>Militärgeschichte</strong>« in<br />
diesem Jahr vor. Anfang des Jahres<br />
<strong>2002</strong> hatten wir Ihnen unsere neu gestaltete<br />
<strong>Zeitschrift</strong> erstmals vorgestellt. Seitdem<br />
erscheint die »<strong>Militärgeschichte</strong>«<br />
im blauen Einband; inhaltlich haben wir<br />
viele Anregungen unserer Leser – von<br />
innerhalb wie von außerhalb der Bundeswehr<br />
– aufgegriffen und neue Elemente<br />
eingeführt. So bieten wir Ihnen<br />
nun neben unseren bewährten Artikeln<br />
einen ausführlichen Serviceteil rund um<br />
die <strong>Militärgeschichte</strong>. Es ist unserer Auffassung<br />
nach jetzt noch zu früh, um<br />
ein endgültiges Urteil über unsere neue<br />
<strong>Zeitschrift</strong> zu wagen, doch das deutliche<br />
Überwiegen positiver Leserkritiken, die<br />
uns erreicht haben, lässt uns hoffen, auf<br />
dem richtigen Weg zu sein.<br />
Das vorliegende <strong>Heft</strong> 4/<strong>2002</strong> der »<strong>Militärgeschichte</strong>«<br />
hat erstmals einen thematischen<br />
Schwerpunkt. Anlass ist der<br />
sechzigste Jahrestag des Kampfes und<br />
der Niederlage der deutschen Invasionstruppen<br />
in Stalingrad. Der vormalige<br />
Name der heutigen Stadt Wolgograd ist<br />
weltweit und vor allem in Russland und<br />
Deutschland das weit über den an <strong>Militärgeschichte</strong><br />
interessierten Kreis hinaus<br />
bekannte Symbol für das Scheitern des<br />
deutschen Versuchs, Russland zu erobern<br />
und zu kolonialisieren. Gleichgültig, ob<br />
die Schlacht um Stalingrad tatsächlich<br />
die Wende im Zweiten Weltkrieg einleitete,<br />
im Bewusstsein der meisten Russen<br />
und Deutschen steht die Kapitulation<br />
der deutschen 6. Armee genau dafür.<br />
Und obwohl nach der Tragödie von Stalingrad<br />
im weiteren Verlauf des Krieges<br />
die Zahl der zu beklagenden Menschenopfer<br />
noch erschreckendere Ausmaße<br />
annehmen sollte, steht gerade Stalingrad<br />
auch beispielhaft für Kriegsleid und<br />
Kriegstod in beiden Ländern. Dies war<br />
für die Redaktion Grund genug, einen<br />
thematischen Schwerpunkt zu setzen.<br />
Solche »Themenhefte« sind auch in<br />
der Zukunft in einzelnen ausgewählten<br />
Fällen vorgesehen. Das bedeutet allerdings<br />
nicht, daß wir uns künftig auf<br />
einige wenige Themen beschränken<br />
wollen. Ganz im Gegenteil wollen wir<br />
Ihnen auch in Zukunft die gewohnte<br />
Breite an militärhistorischer Information<br />
durch Aufsätze und unseren Serviceteil<br />
bieten.<br />
Einer Anregung aus Ihren Reihen werden<br />
wir jedoch schon 2003 folgen: Der Anteil<br />
von Beiträgen unterschiedlicher Art<br />
zum Themenbereich deutsche <strong>Militärgeschichte</strong><br />
nach 1945, auch zur Geschichte<br />
der Bundeswehr, soll merklich gesteigert<br />
werden.<br />
Die Redaktion wünscht allen Lesern<br />
ein frohes Weihnachtsfest, ein erfolgreiches<br />
Jahr 2003 und genügend Muße,<br />
die <strong>Zeitschrift</strong> »<strong>Militärgeschichte</strong>« auch<br />
künftig mit Gewinn zu lesen.<br />
Die Redaktion
D i e A u t o r e n<br />
Dr. Torsten Diedrich,<br />
geboren 1956 in Berlin,<br />
wiss. Mitarbeiter am<br />
Militärgeschichtlichen<br />
Forschungsamt, Potsdam<br />
Andreas Kunz M.A.,<br />
geboren 1970 in Lüneburg,<br />
Archivreferendar im<br />
Bundesarchiv<br />
Dr. Matthias Uhl,<br />
geboren 1970 in Nordhausen,<br />
wiss. Mitarbeiter am<br />
Institut für Zeitgeschichte,<br />
Außenstelle Berlin<br />
Inhalt<br />
Friedrich Paulus<br />
Ein Soldatenschicksal vor Stalingrad<br />
Vor sechzig Jahren:<br />
Der Untergang der 6. Armee<br />
in Stalingrad<br />
Stalins V-2<br />
Der Transfer der deutschen Raketentechnik<br />
in die UdSSR<br />
Service<br />
Das historische Stichwort: Der deutsche Generalstab<br />
Medien online/digital<br />
Lesetipp<br />
Ausstellungen<br />
Geschichte kompakt<br />
<strong>Militärgeschichte</strong> im Bild<br />
Bundesgrenzschutz<br />
Grundausbildung beim Bundesgrenzschutz<br />
(BGS) in den fünfziger Jahren. Anders als<br />
die Rekruten der neu aufgestellten Bundeswehr<br />
sehen die abgebildeten »Grenzjäger«<br />
des BGS in ihrer Uniform mit dem markanten<br />
Stahlhelm den Soldaten der ehemaligen<br />
Wehrmacht recht ähnlich.<br />
Bild: Privatbesitz F. Schießl sen., Hamburg<br />
4<br />
8<br />
18<br />
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22<br />
24<br />
26<br />
28<br />
30<br />
31
4<br />
Friedrich Paulus<br />
Friedrich Paulus<br />
Ein Soldatenschicksal<br />
vor Stalingrad<br />
Paulus schwört den Eid als Zeuge gegen die Wehrmachtführung am 11. Februar 1946 vor dem Internationalen Militärtribunal in Nürnberg.<br />
»Ich war Soldat und glaubte damals,<br />
gerade durch Gehorsam meinem Volk<br />
zu dienen!«<br />
Der Mann, der dies angesichts<br />
der totalen Niederlage des<br />
Deutschen Reiches und nie da<br />
gewesener Schrecken und Verbrechen<br />
des Krieges formulierte, war einer der<br />
führenden Generäle der Wehrmacht.<br />
Persönlich belasteten ihn der Untergang<br />
seiner 6. Armee in Stalingrad und<br />
das sinnlose Opfer von etwa 165 000<br />
seiner Soldaten.<br />
Der am 23. September 1890 in Breitenau<br />
im Hessischen geborene Friedrich<br />
Wilhelm Ernst Paulus wurde in einer<br />
kleinbürgerlichen Beamtenfamilie aufgezogen.<br />
Mit anerzogenen Beamtentugenden<br />
und von hoher Intelligenz<br />
schien Paulus für den von ihm erträumten<br />
Offizierberuf wie geschaffen. Nach<br />
bestandenem Abitur in Kassel lehnte<br />
die sich elitär dünkelnde Kaiserliche<br />
Marine Paulus 1909 jedoch ab. Daraufhin<br />
schrieb er sich zum Jura-Studium<br />
in Marburg ein, verließ die Universität<br />
jedoch schon im Februar 1910, um<br />
als Fahnenjunker im 3. Badischen<br />
Infanterie-Regiment (IR) Nr. 111 in<br />
Rastatt seine militärischen Karriereträume<br />
zu verwirklichen. Nach Abschluss<br />
der Kriegsschule Engers erhielt<br />
<strong>Militärgeschichte</strong> · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/<strong>2002</strong><br />
Paulus 1911 das Leutnantspatent. 1912<br />
heiratete der junge Offizier die rumänische<br />
Adlige Elena Constance Rosetti-<br />
Solescu.<br />
Als Adjutant des III. Bataillons des IR<br />
Nr. 111 erlebte Paulus kriegsbegeistert<br />
und kaisertreu den Beginn des Weltkrieges.<br />
Schnell erkannte man seine<br />
Begabungen als Stabsoffizier: Gewissenhaftigkeit,<br />
Organisationstalent, ausgeprägtes<br />
operatives Denken sowie<br />
Gewandtheit und Anpassungsfähigkeit<br />
im Umgang mit Vorgesetzten. Den<br />
Krieg erlebte Paulus fast nur in Stabsstellungen.<br />
Die deutsche Niederlage und der Sturz<br />
der Monarchie in Deutschland trafen<br />
den Monarchisten Paulus tief. Er empfand<br />
als Soldat die Schmach der Niederlage,<br />
seine Stellung zum Militär<br />
blieb jedoch vom Kriegserleben unberührt.<br />
Es gelang Hauptmann Paulus<br />
seine militärische Laufbahn in der<br />
Reichswehr fortzusetzen. Seiner Neigung<br />
entsprechend wurde er nach<br />
diversen Stabsverwendungen 1927 als<br />
Taktiklehrer für »Führergehilfen« –<br />
d.h. Generalsstabsausbildung eingesetzt.<br />
Im Herbst 1931 erfolgte die Versetzung<br />
ins Reichswehrministerium<br />
als Lehrgangsleiter für Taktik und<br />
Kriegsgeschichte. Hier verkörperte der<br />
groß gewachsene, fast steif wirkende<br />
Paulus den Prototypen des Stabsoffiziers<br />
Seecktscher Prägung. Die Fähigkeit<br />
zum operativen Denken verband<br />
sich bei ihm mit der Abneigung zu<br />
jedweder politischen Stellungnahme.<br />
1933 bekam Oberstleutnant Paulus das<br />
Kommando über die Kraftfahr-Abteilung<br />
3 in Wünsdorf/Zossen übertragen.<br />
Unmittelbar in den Aufbau der<br />
neuen Waffengattung »Panzertruppen«<br />
Johannes Friedrich Leopold<br />
von Seeckt<br />
Geb. 22.4.1866, gest. 27.12.1936<br />
Angesichts der chaotischen politischen<br />
Verhältnisse der Weimarer Republik<br />
entwickelte Seeckt als Chef der Heeresleitung<br />
(1920–1926) das Konzept<br />
einer Überparteilichkeit der Reichswehr.<br />
Jede politische Betätigung wurde<br />
dem Soldaten verboten, um eine parteiliche<br />
Ausprägung der Reichswehr auszuschließen.<br />
Seeckt führte die durch den<br />
Versailler Vertrag auf 100000 Mann<br />
Stärke begrenzte Armee aus der innenpolitischen<br />
Frontstellung heraus in eine<br />
Neutralität gegenüber gesellschaftlichen<br />
Gruppierungen und prägte in ihr den<br />
Gedanken einer »unpolitischen Staats-<br />
und Befehlstreue« aus.<br />
Foto: Stadtarchiv Nürnberg
Der junge Hauptmann Paulus<br />
am Ende des Ersten Weltkrieges.<br />
einbezogen, erlebte Paulus Hitlers<br />
»Machtergreifung«. Instinktiv eher<br />
gegen den »Proleten« und dessen<br />
»Volkspartei« eingestellt, fühlte sich<br />
Paulus doch von den Versprechen<br />
Hitlers hinsichtlich der Entwicklung<br />
Deutschlands und der Armee angezogen,<br />
ohne jedoch Nationalsozialist<br />
zu werden. Er blieb der »unpolitische<br />
deutsche Offizier«.<br />
Den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs<br />
mit dem Überfall auf Polen erlebte<br />
Generalmajor Paulus als Chef des<br />
Generalstabes der 10. Armee unter<br />
Generaloberst von Reichenau. Feldzüge<br />
gegen Polen, Belgien und Frankreich<br />
ließen die Kritik der Wehrmachtführung<br />
gegen den »Führer« schnell<br />
verstummen. Auch für Paulus war<br />
die Schmach des Versailler Vertrages<br />
getilgt, der »Erzfeind« besiegt und<br />
Deutschland zu neuer Geltung verholfen.<br />
Innerhalb der 10., später 6. Armee<br />
erwiesen sich Reichenau und Paulus<br />
als ideales Gespann. Der entschlussfreudige,<br />
heißblütige Reichenau fand<br />
in dem wie am Schachbrett wägenden,<br />
alle Möglichkeiten sezierenden Stabschef<br />
das optimale Pendant. Paulus verehrte<br />
Reichenau und nahm von dessen<br />
engen Bindungen an den Nationalsozialismus<br />
kaum Notiz.<br />
In Vorbereitung des Überfalls auf die<br />
UdSSR erkor Generalstabschef Halder<br />
im Spätsommer 1940 den Generalleutnant<br />
Paulus zum Oberquartiermeister<br />
I (OQu I) im Generalstab des Heeres.<br />
Der OQu I fungierte als Stellvertreter<br />
Foto: von Kutschenbach<br />
Der Generalstabschef des Heeres, Generaloberst Halder (dritter von links), und sein Oberquartiermeister<br />
Ia, Generalleutnant Paulus (links), 1941 bei einer Besprechung mit Hitler.<br />
und operativer Berater des Generalstabschefs<br />
des Heeres sowie als Koordinator<br />
der Stabsbereiche und im Sonderauftrag.<br />
Halder brauchte diesen<br />
operativ fähigen und mit der Panzertaktik<br />
vertrauten Mann; Paulus war<br />
damit in die höchsten Führungskreise<br />
der Wehrmacht und in die unmittelbare<br />
Nähe Hitlers gerückt. Er vollendete die<br />
Arbeiten an dem »Barbarossa«-Feldzugsplan<br />
und demonstrierte in zwei<br />
Kriegsspielen vor der Wehrmachtführung<br />
die geplante Zerschlagung des<br />
»Russischen Kolosses auf tönernen<br />
Füßen«. Nach Hitlers Angriffsweisung<br />
gegen die UdSSR kümmerte sich<br />
Paulus um die Vorbereitung der<br />
Verbündeten Rumänien und Ungarn<br />
auf die Eroberungspläne des Dritten<br />
Reichs.<br />
Paulus glaubte an die Notwendigkeit<br />
einer Auseinandersetzung mit dem<br />
bolschewistischen Reich, dessen politisches<br />
System er strikt ablehnte. Er<br />
fragte nicht nach politischer Verantwortung,<br />
konzentrierte sich auf seinen<br />
Auftrag, den er als die persönliche Karrierechance<br />
erkannte. So wurde auch<br />
Paulus, wie so viele führende Militärs,<br />
zu einem willfährigen Werkzeug von<br />
Hitlers Aggressionspolitik.<br />
Mit dem Überfall auf die Sowjetunion<br />
am 22. Juni 1941 erfüllten sich Paulus‘<br />
hochgesteckte Ambitionen als Generalsstabsoffizier,<br />
der vom Kartentisch<br />
aus die Operationen im Osten in großen<br />
Zügen zu leiten hatte. Immer stärker<br />
aber mischte sich Hitler in die mili-<br />
tärische Führung ein, riss diese an<br />
sich. Paulus aber war nicht der Mann,<br />
der opponierte. Er verstand Gehorsam<br />
als seine oberste Pflicht und vertraute<br />
durchaus auf das militärische Können<br />
des »Führers«. Hitler, von den Fähigkeiten<br />
aber auch von dem willigen Verhalten<br />
von Paulus angezogen, erwog<br />
den sich vornehm und exakt gebenden<br />
General in die höchste Führung<br />
des Oberkommandos der Wehrmacht<br />
(OKW) zu holen. Zuvor sollte sich dieser<br />
jedoch als Armeeführer bewähren.<br />
Der General der Panzertruppen erhielt<br />
somit am 16. Januar 1942 das vakant<br />
gewordene Kommando über die 6.<br />
Armee. Umgehend setzte er für die<br />
6. Armee den verbrecherischen Kommissarbefehl<br />
Hitlers außer Kraft und<br />
hob den völkerrechtswidrigen Härte-<br />
Befehl Reichenaus zum Vorgehen<br />
gegen die russische Bevölkerung und<br />
die Juden auf. Beide Befehle entsprachen<br />
nicht seinem Soldatenethos,<br />
an dem er zeitlebens festhielt. Im Verlauf<br />
der Sommeroffensive 1942 bewies<br />
Paulus seine Fähigkeiten beim Führen<br />
eines operativen Truppenkörpers; er<br />
erhielt das Ritterkreuz und befand sich<br />
in hoher Gunst des »Führers«.<br />
Im Kessel von Stalingrad begann<br />
Paulus seine Mitschuld am Tod seiner<br />
Soldaten, aber auch den Verrat der<br />
Menschenleben verachtenden nationalsozialistischen<br />
Führung an seiner<br />
Armee zu begreifen. Zum Opponieren<br />
gegen Hitler nicht fähig, im Unklaren<br />
über die Gesamtlage an der Südfront<br />
<strong>Militärgeschichte</strong> · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/<strong>2002</strong> 5<br />
Foto: von Kutschenbach
6<br />
Friedrich Paulus<br />
»Kommissar-Befehl«<br />
Der im März 1941 erlassene »Kommissar-Befehl«<br />
wies die Wehrmacht an,<br />
die Politkommissare der Roten Armee<br />
nicht als Kriegsgefangene zu behandeln,<br />
sondern zu erschießen. Ebenso wie<br />
der im Mai 1941 ergangene »Barbarossa-Gerichtsbarkeitserlass«,<br />
der Zivilpersonen<br />
in den besetzten Ostgebieten<br />
aus der Rechtsprechung der Kriegsgerichte<br />
nahm und Übergriffe von Wehrmachtangehörigen<br />
gegenüber der Zivilbevölkerung<br />
nicht zwangsläufig unter<br />
Ahndung stellte, gehörte der Kommissar-Befehl<br />
zu Hitlers »Glaubenskrieg<br />
gegen den Bolschewismus«. Beide<br />
widersprachen dem Völkerrecht. Auf<br />
dieser Grundlage gab der Oberbefehlshaber<br />
der 6. Armee, Walter von Reichenau,<br />
am 10. Oktober 1941 seinen<br />
Härte-Befehl: »Verhalten der Truppen<br />
im Ostraum«, der das völkerrechtswidrige<br />
Vorgehen gegen die Bevölkerung<br />
unterstrich.<br />
gelassen und mit einer unterversorgten<br />
Armee auch militärisch nicht in<br />
der Lage, einen eigenständigen Ausbruch<br />
zu wagen, resignierte Paulus.<br />
Am 31. Januar 1943 traf Hitlers Beförderung<br />
zum Generalfeldmarschall einen<br />
in Lethargie gefallen Mann, der unwillig<br />
war, Hitlers Wunsch nach dem Freitod<br />
zu erfüllen, es aber auch nicht<br />
wagte, die längst überfällige Kapitulation<br />
zu befehlen.<br />
Sein Weg in die sowjetische Gefangenschaft<br />
führte Paulus in das Generalslager<br />
Woikowo. Während er in schweren<br />
inneren Auseinandersetzungen seine<br />
Mitschuld am Elend der 6. Armee<br />
begriff, blieb seine Überzeugung, dass<br />
er nur militärische, jedoch keine politische<br />
Verantwortung trage, noch unerschüttert.<br />
Paulus‘ Verhältnis zu der<br />
kommunistisch initiierten »antifaschistischen<br />
Bewegung« war 1943 voller<br />
Argwohn. Bis zum Sommer 1944 hielt<br />
Paulus alles Politische von sich fern.<br />
Am 24. Juli 1944 erfuhren die Gefangenen<br />
des Generalslagers von dem<br />
missglückten Attentat auf Hitler. Viele<br />
der Verschwörer kannte und schätzte<br />
Paulus, so die Generale Beck, Fellgiebel,<br />
Olbricht und Oberst Stauffenberg.<br />
Zugleich suggerierten die Sowjets dem<br />
<strong>Militärgeschichte</strong> · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/<strong>2002</strong><br />
Feldmarschall, dass er nach dem Scheitern<br />
der Verschwörung der einzige sei,<br />
der Einfluss auf die Wehrmachtführung<br />
nehmen könne. Paulus begann<br />
die politischen Konsequenzen von NS-<br />
Regime und Krieg für das deutsche<br />
Volk zu erahnen. Am 8. August 1944<br />
unterzeichnete er einen Appell zur<br />
Beendigung des Krieges und wandte<br />
sich im Sender »Freies Deutschland«<br />
gegen Hitler und den Krieg. Der »Bund<br />
Deutscher Offiziere« (BDO) und das<br />
»Nationalkomitee Freies Deutschland«<br />
(NKFD) gewannen eine Galionsfigur<br />
hinzu, als ihre Bedeutung für die Sowjets<br />
bereits zu sinken begann. Paulus<br />
aber hatte seine Neutralität aufgegeben.<br />
Nach Kriegsende erregte der Generalfeldmarschall<br />
mit seinem Auftritt als<br />
Zeuge vor dem Nürnberger Kriegsverbrechertribunal<br />
erneut das Interesse<br />
der Weltöffentlichkeit. »Heute, wo<br />
über die Verbrechen Hitlers und seiner<br />
Helfer Gericht der Völker gehalten<br />
wird, sehe ich mich verpflichtet, alles,<br />
was mir aufgrund meiner Tätigkeit<br />
bekannt ist und als Beweismaterial<br />
für die Schuld der Kriegsverbrecher<br />
im Nürnberger Prozess dienen kann,<br />
der Sowjetregierung zu unterbreiten«,<br />
begründete er diesen Schritt. Mit seinen<br />
Aussagen gegen die Führung der Wehrmacht<br />
schuf er einen tiefen Graben<br />
zu vielen ehemaligen Kameraden, die<br />
seine Haltung als Verrat werteten.<br />
Am 24. Oktober 1953 kehrte Paulus<br />
aus sowjetischer Gefangenschaft nach<br />
Deutschland, in die DDR, zurück.<br />
Beeinflusst wurde diese Entscheidung,<br />
in den östlichen Teil Deutschlands und<br />
nicht in die Bundesrepublik zu gehen,<br />
von dem Tod seiner Frau im Jahre<br />
1949. Denn nach dem Attentat vom<br />
20. Juli 1944 hatte Hitler die Inhaftierung<br />
aller Angehörigen von Offizieren,<br />
die sich aus sowjetischer Gefangenschaft<br />
heraus gegen Nationalsozialismus<br />
und Krieg aussprachen, verfügt.<br />
Paulus‘ Frau war daraufhin u.a. im KZ<br />
Dachau gefangen gehalten worden und<br />
hatte diese »Sippenhaft« nicht lange<br />
überlebt. Gewichtiger für Paulus war<br />
jedoch die Furcht vor der Auseinandersetzung<br />
um seine Person in Westdeutschland<br />
und seine in der sowjetischen<br />
Gefangenschaft entwickelten<br />
Vorbehalte gegen die Politik Adenau-<br />
»Nationalkomitee Freies<br />
Deutschland« und »Bund<br />
Deutscher Offiziere«<br />
Das »Nationalkomitee Freies Deutschland«<br />
(NKFD) wurde am 12./13. Juli<br />
1943 in Krasnogorsk bei Moskau auf<br />
Initiative der UdSSR durch deutsche<br />
Exilkommunisten und Kriegsgefangene<br />
zum Kampf gegen die Hitlerdiktatur<br />
und für die Beendigung des Krieges<br />
gebildet. Da mit dem kommunistisch<br />
geführten NKFD jedoch kaum höhere<br />
Offiziere für den ideologischen Kampf<br />
gegen Hitler gewonnen werden konnten,<br />
entstand am 11./12. September<br />
1943 der »Bund Deutscher Offiziere«<br />
(BDO) in Lunjowo unter der Führung<br />
des Generals der Artillerie Walther von<br />
Seydlitz-Kurzbach und Generalleutnant<br />
Alexander Edler von Daniels. Trotz der<br />
ehrenhaften Ziele zur Beendigung des<br />
Krieges und Schaffung eines demokratischen<br />
Deutschlands blieb der BDO ein<br />
von Moskau abhängiges politisch-ideologisches<br />
Gebilde. NKFD und BDO<br />
verloren im Kriegsverlauf immer mehr<br />
an Bedeutung und wurden, als die<br />
UdSSR die Organisationen nicht mehr<br />
brauchte, Ende 1945 aufgelöst.<br />
31. Januar 1943. Der frisch zum General-<br />
feldmarschall beförderte Paulus trifft als<br />
Gefangener im Stab der sowjetischen<br />
64. Armee in Beketowka ein.<br />
ers zur Wiederaufrüstung und Integration<br />
der Bundesrepublik in ein westeuropäisches<br />
Paktsystem. Paulus war<br />
nicht, wie oft behauptet, als General<br />
beim Aufbau der Kasernierten Volkspolizei<br />
der DDR (KVP) tätig, wurde<br />
aber als ziviler Leiter der Kriegshistorischen<br />
Forschungsabteilung der Hochschule<br />
der KVP in Dresden eingesetzt.<br />
Hier sollte sein Buch über Stalingrad<br />
entstehen.<br />
Foto: Sammlung MGI/MGFA
Foto: Sammlung MGI/MGFA<br />
Exilkommunist Wilhelm Pieck und Feldmarschall Paulus im Sommer<br />
1943 im Park des Hauses der NKFD in Ljunow.<br />
Europäische Verteidigungsgemeinschaft<br />
Aufgrund der nach Ausbruch des Korea-<br />
Krieges 1950 herrschenden Furcht vor<br />
einem kommunistischen Überfall führten<br />
die westeuropäischen Staaten Frankreich,<br />
Italien, die Benelux-Staaten und<br />
die Bundesrepublik Verhandlungen um<br />
den Aufbau einer »Europäischen Verteidigungsgemeinschaft«<br />
(EVG). Das<br />
im Mai 1952 unterzeichnete Vertragswerk<br />
scheiterte im August 1954 am<br />
»Nein« der französischen Nationalversammlung.<br />
Nur zwei Monate später<br />
unterzeichneten die USA, Großbritannien<br />
und Frankreich sowie die Bundesrepublik<br />
die »Pariser Verträge«, mit<br />
denen die Bundesrepublik ein (weitgehend)<br />
souveräner Staat und Mitglied<br />
der NATO wurde.<br />
Paulus war kein Kommunist, ein kommunistisches<br />
Deutschland wünschte<br />
er nicht, aber eine »friedliche Zukunft<br />
eines geeinten demokratischen Deutsch-<br />
lands«. Seine Schuld an der Tragödie<br />
von Stalingrad glaubte er mit dem<br />
Ringen um die Wiedervereinigung<br />
Deutschlands abtragen zu können. Mit<br />
Sensibilität nutzte die DDR Paulus‘<br />
patriotisches Streben. Über Treffen ehemaliger<br />
Kriegsteilnehmer wollte die<br />
DDR ein gesamtdeutsches Bündnis<br />
gegen die Pariser Verträge schaffen.<br />
Paulus trat im Juli auf einer internationalen<br />
Pressekonferenz sowie im<br />
Dezember 1954 in einem Interview mit<br />
dem Deutschland-Sender in der Öffentlichkeit<br />
gegen EVG und Pariser Verträge<br />
auf. 1955 fungierte er als Galionsfigur<br />
der von der SED initiierten Treffen<br />
ehemaliger Wehrmachtoffiziere aus<br />
West- und Ostdeutschland in Ost-Berlin<br />
am 29./30. Januar und 25./26. Juni<br />
1955. Hier vertrat Paulus die Auffassung,<br />
dass die Weltkriegsteilnehmer<br />
eine tiefe Verantwortung für ein demokratisches<br />
Deutschland mittrügen, und<br />
stellte sich gegen eine Armee der Bundesrepublik<br />
unter »fremder Flagge«.<br />
Erneut politisch ausgenutzt, versuchte<br />
Paulus auch jetzt sich selbst treu zu<br />
bleiben und nur für Ziele einzutreten,<br />
die seiner Überzeugung entsprachen.<br />
Dabei negierte er, bewusst oder unbewusst,<br />
die Sowjetisierung und Aufrüstung<br />
in der DDR.<br />
Tief trafen Paulus Briefe ehemaliger<br />
Kameraden, die ihm Verrat an Deutschland<br />
und gemeinsame Sache mit den<br />
Kommunisten vorwarfen, aber auch<br />
jene von Angehörigen, die schmerzlich<br />
nach Soldaten der 6. Armee suchten.<br />
Alles ihm Mögliche tat er, um hier<br />
zu helfen, aber auch im Ringen um<br />
die Freilassung der verbliebenen deutschen<br />
Kriegsgefangenen in der UdSSR.<br />
Das nagte an seiner Gesundheit, vergrößerte<br />
sein seelisches Leiden an der<br />
Verantwortung, die er trug. Schwer<br />
von einer Krankheit gezeichnet, verschwand<br />
Paulus Ende 1955 aus dem<br />
politischen Rampenlicht. Am 1. Februar<br />
1957 starb er in tiefer Depression,<br />
die ihn in den Monaten November bis<br />
Februar stets befiel. Selbst sein Todestag<br />
unmittelbar vierzehn Jahre nach<br />
dem Untergang seiner Armee spiegelte<br />
den tiefen Bruch in seinem Leben wider.<br />
Nach einer Trauerfeier mit staatlicher<br />
Anteilnahme in Dresden wurde Paulus<br />
in der Bundesrepublik in Baden-Baden<br />
neben seiner Frau beigesetzt.<br />
Das Wirken des Generalfeldmarschalls<br />
ist heute weder mit dem Stigma des<br />
Foto: Sammlung MGI/MGFA<br />
Wiedervereinigung als Wiedergutmachung. Ehrlichen Herzens ringt Paulus<br />
um ein einiges demokratisches Deutschland (Intern. Pressekonferenz 1954).<br />
gewissenlos Menschenleben opfernden<br />
Heerführers Paulus noch mit dem des<br />
kommunistischen Saulus zu fassen.<br />
Sein Handeln und sein Schicksal dokumentieren<br />
vielmehr eine die Verantwortung<br />
verdrängende und zum<br />
mechanischen Räderwerk des NS-Staates<br />
verkommene Wehrmachtführungselite.<br />
Dank seiner Intelligenz begriff<br />
Paulus dies und wollte in Gefangenschaft<br />
und in der DDR am deutschen<br />
Volke Wiedergutmachung leisten. Zwischen<br />
Verantwortungslast und politischem<br />
Druck der für ihn nicht vollends<br />
erfassbaren neuen Gesellschaften<br />
in Ost und West nach neuen Idealen<br />
suchend, blieb Paulus, der sich als<br />
»unpolitischer« Soldat verstanden hat-<br />
te, eine hochpolitische Person. Letztlich<br />
wurden seine patriotischen Hoffnungen<br />
auf ein einiges, demokratisches<br />
Deutschland und sein Versuch, hier<br />
sein politisches Gewicht einzubringen,<br />
erneut ideologisch ausgenutzt. Einsam<br />
endete das Leben eines Mannes, der<br />
tragische deutsche Geschichte letztlich<br />
zweimal mitschrieb.<br />
n Torsten Diedrich<br />
Nach 15 Jahren Trennung. Wieder an der Seite<br />
seiner von ihm so geliebten Frau. Beisetzung<br />
1957 im Familiengrab in Baden-Baden.<br />
<strong>Militärgeschichte</strong> · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/<strong>2002</strong> 7<br />
Foto: von Kutschenbach
8<br />
Stalingrad<br />
Der Untergang<br />
der 6. Armee<br />
in Stalingrad<br />
Transportmittel oder Nahrung? Logistik in Stalingrad Ende 1942.<br />
Bundesarchiv Bild 101/218/519/18A<br />
<strong>Militärgeschichte</strong> · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/<strong>2002</strong><br />
Vor sechzig Jahren:
Mit einem knappen Satz be-<br />
gann am 3. Februar 1943 die<br />
im deutschen Rundfunk verlesene<br />
Tagesmeldung des Oberkommandos<br />
der Wehrmacht: »Der Kampf<br />
um Stalingrad ist zu Ende. Ihrem<br />
Fahneneid bis zum letzten Atemzug<br />
getreu«, so erfuhren die gebannt vor<br />
dem Radio sitzenden Menschen, »ist<br />
die 6. Armee unter der vorbildlichen<br />
Führung des Generalfeldmarschalls<br />
Paulus der Übermacht des Feindes<br />
und der Ungunst der Verhältnisse erlegen.«<br />
Die NS-Propaganda versuchte<br />
dem Untergang der mehrere Hunderttausend<br />
Mann starken Armee einen<br />
Sinn zu verleihen: »Das Opfer war<br />
nicht umsonst. Als Bollwerk der historischen<br />
Mission hat sie [die 6. Armee]<br />
viele Wochen hindurch den Ansturm<br />
von sechs sowjetischen Armeen gebrochen.<br />
Vom Feind völlig eingeschlossen,<br />
hielt sie in weiteren Wochen schwersten<br />
Ringens und härtester Entbehrungen<br />
starke Kräfte des Gegners gebunden.<br />
Sie gab damit der deutschen Führung<br />
die Zeit und die Möglichkeit zu<br />
Gegenmaßnahmen, von deren Durchführung<br />
das Schicksal der gesamten<br />
Ostfront abhing.« Bereits vier Tage<br />
zuvor, am 30. Januar, hatte Göring in<br />
einer Rede anlässlich des zehnten Jahrestages<br />
der Machtübernahme Hitlers<br />
den Kampf der 6. Armee als ein Bollwerk<br />
gegen die sogenannte bolschewistische<br />
Bedrohung aus dem Osten<br />
dargestellt. In den Ruinen von Stalingrad<br />
wurden Reden wie diese mittels<br />
noch vorhandener Wehrmachtfunkgeräte<br />
mitgehört. Der damalige Leutnant<br />
und Ordonnanzoffizier in der Abteilung<br />
Feindaufklärung (Ic) beim Stabe<br />
des VIII. Armeekorps, Joachim Wieder,<br />
beschrieb in seinen Erinnerungen seine<br />
und die Empfindungen seiner Kameraden:<br />
»Die widerliche Beweihräucherung des<br />
qualvollen Sterbens unserer Armee<br />
und die verlogene Heroisierung von<br />
Zuständen, die gegen alle Gesetze<br />
der Menschlichkeit verstießen, erfüllten<br />
mich mit Empörung, ja geradezu<br />
mit Ekel.«<br />
Die Propaganda stellte die Realität auf<br />
den Kopf, und noch heute erscheint<br />
die Legende vom Präventivkrieg gegen<br />
die Sowjetunion unausrottbar. Mit dem<br />
deutschen Angriff im Sommer 1941<br />
»Mit der Kaukasus-Bahn nach Stalingrad«<br />
– der Vormarsch. Bundesarchiv Bild 101/217/466/13<br />
hatte Hitler einen historisch beispiellosen<br />
rasseideologischen Eroberungs-,<br />
Raub- und Vernichtungskrieg vom<br />
Zaun gebrochen. Der deutsche Ostfeldzug<br />
war das Ergebnis einer zutiefst<br />
amoralischen und völkerrechtswidrigen<br />
Kriegführung. Weltanschauliche<br />
Enge, Brutalisierung und zunehmende<br />
Unmenschlichkeit prägten die Erfahrungen<br />
der Soldaten auf beiden Seiten.<br />
Lag hier eine der Ursachen dafür, dass<br />
die 6. Armee bis zur Handlungsunfähigkeit<br />
kämpfte?<br />
Die vorhersehbare<br />
Katastrophe<br />
Die Ursachen für das Drama<br />
an der Wolga reichten weit<br />
zurück. Mit dem am 28. Juni<br />
1942 begonnenen Sommerfeldzug hatte<br />
Hitler den erneuten Anlauf genommen,<br />
im Osten die Entscheidung herbeizuführen.<br />
Die Erwartung, dass die<br />
Alliierten im Verlauf des Jahres 1943 im<br />
Westen die sogenannte Zweite Front<br />
errichten würden, hatte die deutschen<br />
Planungen von Beginn an unter Zeitdruck<br />
gesetzt. Trotz beeindruckender<br />
Raumgewinne erlahmte die Stoßkraft<br />
<strong>Militärgeschichte</strong> · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/<strong>2002</strong> 9
Stalingrad<br />
der deutschen Offensive, während es<br />
der Roten Armee gelang, sich allen<br />
Einschließungsversuchen zu entziehen.<br />
Am 23. Juli spaltete Hitler die Offensive<br />
auf: Die Heeresgruppe B erhielt<br />
den Auftrag, den Vorstoß der Heeresgruppe<br />
A zu den strategisch wichtigen<br />
kaukasischen Ölfeldern durch den<br />
Aufbau einer Verteidigung entlang des<br />
Don abzudecken. Darüber hinaus sollte<br />
die Heeresgruppe die Wolga und die<br />
Landbrücke zum Don abriegeln und<br />
die Kräftemassierungen, die die Rote<br />
Armee in der Region von Stalingrad<br />
zusammenzog, zerschlagen.<br />
Die entlang dem inneren Don-Bogen<br />
gegen Kalatsch geführte deutsche<br />
Offensive entwickelte sich zunächst<br />
den Erwartungen entsprechend. Doch<br />
in den letzten Julitagen wurde deutlich,<br />
dass ein Durchbruch der Heeresgruppe<br />
B bis zur Wolga und die Einnahme<br />
Stalingrads nur in langwierigen Kämpfen<br />
gegen einen umfassend vorbereiteten<br />
Gegner möglich sein würden. Die<br />
sowjetische Führung hatte die zentrale<br />
Bedeutung des Stalingrader Raumes<br />
für Industrie und Verkehr rechtzeitig<br />
erkannt und die Zeit konsequent zur<br />
Vorbereitung der Verteidigung genutzt.<br />
Der 6. Armee unter General Paulus<br />
fiel die Aufgabe zu, frontal über den<br />
Don und gegen die Stadt anzugreifen.<br />
Da die zur Verfügung stehenden deutschen<br />
und verbündeten Kräfte nicht<br />
ausreichten, sollte die 4. Panzerarmee<br />
des Generalobersten Hoth mit dem<br />
Gros ihrer Kräfte durch einen zweiten,<br />
südlich des Don geführten Stoß unterstützen.<br />
Wochenlange Sommerhitze lag über<br />
Stalingrad (heute Wolgograd), das<br />
inmitten einer offenen Steppenlandschaft<br />
liegt. Die Stadt erstreckte sich<br />
auf über fünfzig Kilometern Länge auf<br />
dem hügeligen Westufer der Wolga.<br />
Das Stadtbild der verkehrsmäßig günstig<br />
gelegenen Industriemetropole war<br />
10<br />
<strong>Militärgeschichte</strong> · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/<strong>2002</strong><br />
geprägt von Raffinerien, Stahlwerken<br />
und Maschinenfabriken. Die erbitterten<br />
Kämpfe um die Ruinen ließen die<br />
Namen dieser Industrieanlagen später<br />
berühmt werden: das auf die Fertigung<br />
von Panzerstahl und Artilleriemunition<br />
spezialisierte Elektrostahlwerk<br />
»Roter Oktober«, das auf Panzerproduktion<br />
umgestellte Traktorenwerk<br />
»Dschersinski« oder die Geschützfabrik<br />
»Barrikady«. Der nicht abreißende<br />
Strom von Flüchtlingen hatte<br />
die Einwohnerzahl im Einzugsbereich<br />
der Stadt bis zum Frühjahr auf bis<br />
zu 900000 Menschen ansteigen lassen.<br />
Schwere deutsche Luftangriffe am 23.<br />
und 24. August zerstörten große Teile<br />
Stalingrads und kosteten Tausende von<br />
Opfern unter der noch nicht evakuierten<br />
Zivilbevölkerung. Die Brände der<br />
Brenn- und Rohstofflager der Industriekombinate<br />
und in den aus Holzbauten<br />
bestehenden Vororten ließen die<br />
Stadt nächtelang wie eine riesige Fackel<br />
lodern. Erst Ende August wurden die<br />
letzten 300000 Bewohner und Flüchtlinge<br />
evakuiert.<br />
Am 3. September erreichte das XXXXVIII.<br />
Panzerkorps das Kasernengelände am<br />
Südwestrand Stalingrads. Die Angriffsspitzen<br />
des LI. Armeekorps waren zu<br />
diesem Zeitpunkt noch ganze 8 Kilometer<br />
vom Stadtkern entfernt. Um die<br />
Einnahme der Stadt entwickelten sich<br />
Zeit und Kräfte raubende Orts- und<br />
Häuserkämpfe. Tagelang wurde um<br />
einzelne Gebäude oder Geländepunkte<br />
wie beispielsweise den Mamaew-Hügel<br />
oder den Hauptbahnhof gerungen.<br />
Die Soldaten der Roten Armee, aber<br />
auch Zehntausende bewaffneter Zivilisten,<br />
sowie Angehörige von Arbeitermilizen<br />
und Volkswehrabteilungen<br />
leisteten erbitterten Widerstand. Unter<br />
dem Schutz des westlichen Steilufers<br />
und auf dem Ostufer der Wolga zu-<br />
sammengezogener Artillerie wurden<br />
kontinuierlich Reserven nachgeführt.<br />
Das eigentliche Ziel des deutschen An-<br />
3Infanterie, Sommer 1942, Südabschnitt<br />
der Ostfront. Bundesarchiv Bild 101/217/465/32A<br />
griffs, die Stadt als Rüstungszentrum<br />
und Verkehrsknotenpunkt auszuschalten,<br />
war längst erreicht. Hitlers Befehl<br />
indes, die Stadt vollständig einzunehmen,<br />
erforderte den Einsatz der kampfkräftigsten<br />
Verbände.<br />
Derweil waren die Flanken der Hee-<br />
resgruppe weitgehend entblößt. Geschwächt<br />
war nicht nur die Ostflanke<br />
der 4. Panzerarmee. Die Nordflanke<br />
der Heeresgruppe dehnte sich über<br />
800 Kilometer, weitgehend dem Verlauf<br />
des Don folgend, von der Grenze<br />
zur Heeresgruppe Mitte bis zur Wolga.<br />
Diese Frontlänge wurde gesichert von<br />
der 2. Armee im Nordwesten und<br />
der 6. Armee im Südosten. Dazwischen<br />
eingeschoben waren die ungarische<br />
2. sowie die italienische 8. Armee,<br />
deren Abschnittsbreiten allerdings in<br />
keinem Verhältnis zu ihrer tatsächlichen<br />
Kampfkraft standen und die entgegen<br />
aller deutschen Versprechungen<br />
auf Unterstützung in einem Besorgnis<br />
erregenden Zustand geblieben waren.<br />
Das Gleiche galt für die Verbände der<br />
3. rumänischen Armee, die im Oktober<br />
deutsche Verbände für den Einsatz<br />
gegen Stalingrad abgelöst hatten<br />
und mit unzureichenden Kräften einen<br />
zudem taktisch unvorteilhaft gelegenen<br />
Abschnitt verteidigen sollten. Angesichts<br />
der bevorstehenden Herbst- und<br />
Winterperiode stellte sich die Frage,<br />
ob die 6. Armee unter logistischen<br />
Gesichtspunkten in der Lage war, den<br />
Kampf aus ihrer exponierten Stellung<br />
fortzusetzen. Für einen Verbleib in<br />
Stalingrad sprachen die Schutz- und<br />
Unterbringungsmöglichkeiten, die die<br />
Stadt trotz der Zerstörungen im Gegensatz<br />
zur offenen und fast unbesiedelten<br />
Steppe bot. Doch die Armee war<br />
nicht winterfest. Das logistische Debakel<br />
des Vorjahres, als der russische<br />
Winter die sommerbekleidete Wehrmacht<br />
überrascht hatte, sollte sich zwar<br />
nicht wiederholen. Die geringe landwirtschaftliche<br />
Nutzung der russischen<br />
Steppe hatte indes zur Folge, dass<br />
Verpflegung und Nachschub über rie-<br />
sige Entfernungen herangeführt werden<br />
mussten. Der inzwischen notorische<br />
Betriebsstoffmangel hatte bereits<br />
zu Verzögerungen beim Angriff geführt.<br />
Die Schlammperiode musste wei-
tere drastische Einbrüche in der Versorgung<br />
der Truppe befürchten lassen.<br />
Lange vor der Einschließung lebte die<br />
6. Armee buchstäblich von der Hand<br />
in den Mund. Bis Mitte November<br />
hatte weniger als die Hälfte ihrer Soldaten<br />
spezielle Kälteschutzbekleidung<br />
erhalten. Auch der Materialzufluss für<br />
Stellungs- und Unterkunftsbau, insbesondere<br />
Kohle und Holz, geronn<br />
immer spärlicher. Allein unter logistischen<br />
Gesichtspunkten gesehen hätte<br />
die Armee in absehbarer Zeit ihre<br />
Stellungen an der Wolga räumen müssen.<br />
Es waren vor allem nicht-militärische<br />
Gründe, die Hitler aus der Sicht der<br />
Generäle starrhalsig und den Umständen<br />
zum Trotz an der Eroberung Stalingrads<br />
festhalten ließen. Wochenlang<br />
hatte die NS-Propaganda den Fall der<br />
Stadt, die den Namen des personifizierten<br />
Erzfeindes trug, vorweggenommen.<br />
Ein Abbruch der Kämpfe würde<br />
ihn, so musste Hitler befürchten, mit<br />
dem Odium des Verlierers belasten.<br />
Dieser Umstand wog umso schwerer,<br />
als die für die Meinungsforschung<br />
zuständigen Stellen des NS-Staates<br />
seit Monaten Risse im Führermythos,<br />
eine tragende Säule von Hitlers Herrschaft,<br />
registrierten. Aus machtpolitischen<br />
Gründen, aber auch wegen der<br />
Signalwirkung auf die mit dem Reich<br />
Verbündeten, kam ein Abbruch der<br />
Offensive für ihn nicht in Frage.<br />
Indem es ihr gelungen war, den deutschen<br />
Vormarsch zu verlangsamen,<br />
hatte die Rote Armee Zeit für den<br />
Ausbau der Verteidigung gewinnen<br />
und Reserven bilden können. Seit Mitte<br />
Oktober liefen auf sowjetischer Seite<br />
die Planungen für eine Gegenoffensive.<br />
Es konnte wenig überraschen,<br />
dass als Ansatzpunkte die schwächsten<br />
Stellen der deutschen Front, die Verbündeten,<br />
gewählt wurden. In ihren<br />
Planspielen bereitete die sowjetische<br />
Führung eine großräumige Zangenoperation<br />
vor, mit der sie die 6. Armee und<br />
die 4. Panzerarmee einkesseln und vernichten<br />
zu können hoffte. Unter Zuführung<br />
frischer Kräfte sollte die Offensive<br />
bis zur Zerschlagung der deutschen<br />
und verbündeten Truppen am<br />
Mittelauf des Don ausgeweitet werden.<br />
Ein daran anschließender Stoß in Richtung<br />
Rostow zielte schließlich darauf,<br />
Artillerieeinsatz (10,5-cm-leichte Feldhaubitze 18) beim Angriff auf das Stadtgebiet.<br />
Bundesarchiv Bild 101/218/529/6A<br />
<strong>Militärgeschichte</strong> · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/<strong>2002</strong> 11
Stalingrad<br />
der Heeresgruppe A den Rückzug<br />
abzuschneiden und somit den gesamten<br />
Südflügel der deutschen Ostfront<br />
zum Einsturz zu bringen. Der von den<br />
drei für die Operation vorgesehenen<br />
Heeresgruppen besetzte 850 Kilometer<br />
lange Frontabschnitt wies, abgesehen<br />
von einer starken Massierung<br />
an Luftstreitkräften, eine im Vergleich<br />
zur gesamten Ostfront nur leicht überdurchschnittliche<br />
Kräftekonzentration<br />
auf. Die Planungen sahen jedoch eine<br />
konsequente Schwerpunktbildung vor:<br />
Beispielsweise verfügte die sowjetische<br />
Südwestfront bei einer Frontlänge von<br />
250 Kilometer über Verbände in einer<br />
Stärke von insgesamt 25 Divisionen; 12<br />
davon wurden auf einen nur 22 Kilometer<br />
breiten Durchbruchsraum konzentriert.<br />
Die Einschließung<br />
Am frühen Morgen des 19. No-<br />
vember 1942 traten 30 sowjetische<br />
Divisionen aus ihren<br />
Brückenköpfen Kletskaja und Bolschoi<br />
30 zum Angriff gegen die rumänische<br />
3. Armee an, durchbrachen deren Front<br />
und standen am Abend desselben Ta-<br />
ges 35 Kilometer tief in der Flanke<br />
der 6. Armee. 24 Stunden später überwanden<br />
zwei sowjetische Armeen im<br />
Raum südlich von Iwanowka innerhalb<br />
weniger Stunden die Linien des<br />
rumänischen VI. Armeekorps. Der Vormarsch<br />
der gegnerischen Panzerspitzen<br />
schritt so schnell voran, dass das<br />
Oberkommando der 6. Armee seinen<br />
Gefechtsstand in Golubinski fluchtartig<br />
und unter chaotisch anmutenden<br />
12<br />
<strong>Militärgeschichte</strong> · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/<strong>2002</strong><br />
3Der Winter beginnt. Infanterie im Straßenkampf. Bundesarchiv Bild 101/732/129/27<br />
Szenen verlegen musste. In der Nacht<br />
vom 21./22. nahm eine Vorausabteilung<br />
des sowjetischen 26. Panzerkorps<br />
die Don-Brücke bei Kalatsch handstreichartig<br />
in Besitz und bildete einen<br />
Brückenkopf jenseits des Flusses – im<br />
Rücken der 6. Armee. Kurz darauf<br />
wurde die von Rostow nach Stalingrad<br />
führende Bahnlinie, die Lebensader<br />
der 6. Armee, unterbrochen. Am<br />
frühen Nachmittag des 23. trafen die<br />
Angriffskeile bei Sowjetski aufeinander.<br />
Etwa 22 Divisionen und über<br />
160 selbstständige Truppenteile der<br />
6. und Teile der 4. Panzerarmee, aber<br />
auch Rumänen und Zehntausende so-<br />
genannter russischer ›Hilfswilliger‹,<br />
die im Dienste der Wehrmacht standen,<br />
waren eingeschlossen worden. Da<br />
die sowjetische Führung mit sofortigen<br />
Ausbruchsversuchen rechnete, wurde<br />
der äußere Einschließungsring um 150<br />
bis 200 Kilometer nach Westen vorgeschoben.<br />
Die Südwest- und die Woronesch-Front<br />
wurden angewiesen, Stöße<br />
sowohl nach Süden auf Rostow als<br />
auch nach Westen in Richtung Lichaja<br />
gegen die italienische 8. Armee zu<br />
führen. Die Liquidierung des Kessels,<br />
die ursprünglich für den 10. Dezember<br />
vorgesehen war, wurde vorerst verschoben.<br />
Das Risiko, das von der schwachen<br />
Don-Front ausging, war Hitler und<br />
seinen Generälen bekannt gewesen.<br />
Da jedoch aus strategisch-operativen<br />
Gründen eine Schwächung der Heeresgruppe<br />
A oder die Verlegung von<br />
Kräften etwa aus dem Westen nicht<br />
in Betracht kam, hatte sich Hitler statt<br />
Maßnahmen zu ergreifen auf Weisungen<br />
beschränken müssen, die im Kern<br />
den Kampf bis zur letzten Patrone forderten.<br />
In ihrer Feindlagebeurteilung<br />
war die Abteilung Fremde Heere Ost im<br />
Generalstab des Heeres zwar von der<br />
grundsätzlichen Fähigkeit der Roten<br />
Armee zu großräumigen Angriffsoperation<br />
ausgegangen, hatte deren Zielsetzungen<br />
jedoch im Mittel- und Nordabschnitt<br />
vermutet. Die Halbherzigkeit,<br />
mit der in den Folgemonaten<br />
die Don-Verteidigung vorangetrieben<br />
worden war, wird somit plausibel.<br />
Erst um die Monatswende zum<br />
November hatte das Bild der Feindlage<br />
vor der Heeresgruppe schärfere Konturen<br />
angenommen. Doch nicht nur der<br />
Zeitpunkt, sondern auch der tatsäch-<br />
liche operative Schwerpunkt des Gegners<br />
waren den Experten der Feindaufklärung<br />
verborgen geblieben. Klarheit<br />
darüber war erst eine Woche vor dem<br />
Beginn des sowjetischen Angriffs eingetreten.<br />
Die von der Heeresgruppe nun<br />
hektisch eingeleiteten Maßnahmen sollten<br />
sich als der berühmte Tropfen auf<br />
den heißen Stein erweisen. Überhaupt<br />
scheint das Ausmaß der sowjetischen<br />
Offensive jenseits der Vorstellungswelt<br />
der zuständigen deutschen Stellen gelegen<br />
zu haben: Die Möglichkeit einer<br />
doppelt angelegten Einschließungsoperation<br />
war Fremde Heere Ost erst am<br />
18. November zu Bewusstsein gekommen!<br />
Obwohl sofort erkannt wurde, dass der<br />
sowjetische Angriff auf die Einschließung<br />
der 6. Armee zielte, wirkte die<br />
deutsche Führung aus der Rückschau<br />
betrachtet wie gelähmt. Zwar begann<br />
die 6. Armee umgehend damit, sich<br />
angesichts der taktischen und logistischen<br />
Lage »einzuigeln«, bei gleichzeitiger<br />
Vorbereitung eines Ausbruchs nach<br />
Südwesten. Doch alle weiterreichenden<br />
Reaktionen des Armeeoberkommandos<br />
und der Heeresgruppe auf die grundlegende<br />
Lageänderung hingen von den<br />
Weisungen Hitlers und des Oberkommandos<br />
des Heeres (OKH) ab. Paulus‘<br />
Ersuchen um Handlungsfreiheit beantwortete<br />
Hitler zunächst mit inhaltsleeren<br />
Weisungen, die jedoch erkennen<br />
ließen, dass er nicht den Ansatz eines<br />
Ausbruchs zur Lösung der Krise verfolgte.<br />
Hitlers Meinungsbildung wird<br />
sich nicht mehr exakt rekonstruieren<br />
lassen. Sie dürfte nicht nur von politischen<br />
Prestigeerwägungen bestimmt<br />
gewesen sein. Hinzu kam Hitlers dogmatische<br />
Überzeugung, dass Halten<br />
allemal besser sei als Weichen – eine<br />
Auffassung, die sich der Diktator nach<br />
den Erfahrungen des Vorjahreswinters<br />
angeeignet hatte. Schließlich verkannten<br />
Hitler und seine militärischen Berater<br />
die Wucht des sowjetischen Angriffs.<br />
Er überschätzte die eigenen operativen<br />
Möglichkeiten und ging von der irrigen<br />
Annahme aus, dass sich das Beispiel<br />
der fast viermonatigen Luftbrücke nach<br />
Demjansk auf die nun eingetretene Situation<br />
übertragen ließ.<br />
In klarer Kenntnis der bedrohlichen Entwicklung<br />
im Südabschnitt der Ostfront<br />
ernannte Hitler am 20. November Gene-
alfeldmarschall von Manstein zum<br />
Oberbefehlshaber der neu zu bildenden<br />
Heeresgruppe Don. Manstein, der<br />
wegen seiner operativen Erfolge während<br />
des Sommerfeldzuges das besondere<br />
Ansehen Hitlers genoss, wurden<br />
die 4. Panzer- und die 6. Armee sowie<br />
die Reste der beiden rumänischen<br />
Armeen unterstellt. Mansteins Einweisung<br />
im Stab der Heeresgruppe B<br />
erfolgte am 24. November. Im Gegensatz<br />
zu den vor Ort verantwortlichen<br />
Oberbefehlshabern des Heeres und der<br />
Luftwaffe legte Manstein zunächst eine<br />
große Zuversicht hinsichtlich der Versorgungsmöglichkeiten<br />
und des Durchhaltevermögens<br />
der 6. Armee an den<br />
Tag. Dabei war Manstein nicht einmal<br />
über die Gesamtzahl der im Kessel<br />
befindlichen Soldaten genau informiert.<br />
Zu einer ersten Aussprache mit<br />
dem Oberbefehlshaber der zuständigen<br />
Luftflotte 4 fand Manstein erst drei<br />
Tage nach dem Abfassen seiner ersten<br />
Lagebeurteilung die Zeit. Doch genau<br />
die bestärkte fatalerweise Hitler in der<br />
ihm psychologisch genehmen Auffassung,<br />
die 6. Armee in Stalingrad zu<br />
belassen.<br />
Ausbruch oder Entsatz?<br />
Ebenfalls am 24. November verpflichtete<br />
Hitler Paulus zum<br />
Ausharren bis zum Entsatzangriff.<br />
Bis dahin sollte die 6. Armee<br />
aus der Luft versorgt werden. Der<br />
Oberbefehlshaber beurteilte die Leistungsfähigkeit<br />
der Luftwaffe und die<br />
Möglichkeiten zum Schlagen eines Korridors<br />
zur eingeschlossenen Armee<br />
skeptisch. Manstein ermahnte Paulus<br />
zum Gehorsam: »Der Befehl des Füh-<br />
rers entlastet Sie von der Verantwortung,<br />
die über die zweckmäßigste<br />
und willensstärkste Durchführung des<br />
Befehls des Führers hinausgeht. Was<br />
wird, wenn die Armee in Erfüllung des<br />
Befehls des Führers die letzte Patrone<br />
verschossen haben sollte, dafür sind sie<br />
nicht verantwortlich.« Ausgerechnet<br />
Manstein, der im Heer größte Autorität<br />
genoss und dem mitnichten eine naive<br />
Führergläubigkeit unterstellt werden<br />
kann, gab ein Beispiel dafür ab, dass aus<br />
seiner Sicht Hitler nicht nur Oberster<br />
Befehlshaber der Soldaten war. Zumindest<br />
für einen Teil der Wehrmachtgeneralität<br />
war der Diktator auch zur<br />
Stalingrad – Wendepunkt des Zweiten Weltkrieges?<br />
Viele der Zeitgenossen empfanden die<br />
Niederlage an der Wolga als eine<br />
tiefe Zäsur des Krieges. Doch leitete<br />
der Untergang der 6. Armee eine<br />
Wende des Kriegsverlaufs insgesamt<br />
ein? Eine solche Vorstellung gründet<br />
auf der Annahme, dass sich die<br />
Wehrmacht bis dahin auf der Straße<br />
des Sieges befunden habe. Insofern<br />
stellt Stalingrad das Ereignis dar, von<br />
dem ab sich ein dahin vermeintlich<br />
gewinnbarer Krieg nun in einen aussichtslosen<br />
gewandelt habe. Aus der<br />
rückschauenden Perspektive des Historikers<br />
sind an dieser Sichtweise<br />
Zweifel angebracht. Der Lauf der<br />
Geschichte folgt zwar keinen Gesetzmäßigkeiten,<br />
die Entwicklungen und<br />
Ereignisse quasi vorherbestimmen. Es<br />
dürfte für das Deutsche Reich jedoch<br />
kaum eine reale Chance gegeben<br />
haben, den Krieg als Ganzen im<br />
Sinne Hitlers siegreich zu beenden.<br />
Als einige Gründe seien erwähnt: die<br />
Maßlosigkeit der Hitlerschen Ziele,<br />
die frühe Ausweitung zum Weltkrieg,<br />
die personelle und materielle Überlegenheit<br />
der Alliierten, der amerikanische<br />
Vorsprung in der Nuklearwaffenentwicklung<br />
und schließlich die feste<br />
Entschlossenheit der Alliierten, den<br />
ihnen aufgezwungenen Krieg nicht<br />
vor einer deutschen Niederlage zu<br />
beenden (Forderung nach der bedingungslosen<br />
Kapitulation). Betrachtet<br />
man hingegen den Verlauf der Kriegsereignisse<br />
im Osten, so gilt dieser<br />
Befund nur eingeschränkt. Zweimal,<br />
im Herbst 1941 vor Moskau und im<br />
Sommer 1942 im Südabschnitt der<br />
Front, hatte ein Zusammenbruch der<br />
Roten Armee im Bereich des Möglichen<br />
gelegen. Mit der Niederlage<br />
von Stalingrad hatte die Wehrmacht<br />
jedoch endgültig die Fähigkeit verloren,<br />
vergleichbare strategische Entscheidungssituationen<br />
noch einmal<br />
herbeizuführen. Stalingrad markierte,<br />
wie es der Historiker Bernd Wegner<br />
formuliert hat, »den Schlusspunkt<br />
eines Prozesses sich verringernder<br />
Siegesoptionen im Osten«. Seit dem<br />
Frühjahr 1943 begründeten auch operative<br />
Teilerfolge keine Hoffnungen<br />
mehr auf einen Sieg im Osten. Zu<br />
dieser Einsicht kamen auch Hitler und<br />
seine militärischen Berater – entgegen<br />
allen offiziellen ›Endsieg‹-Verlautbarungen.<br />
Es gehört zu den herausragenden<br />
Merkmalen der Kriegführung<br />
des ›Dritten Reiches‹, dass die Einsicht<br />
in die Niederlage keine Wende, sondern<br />
das Gegenteil, die weitere Radikalisierung<br />
der Kriegsanstrengungen,<br />
auslöste. Nach Stalingrad sollte der<br />
Krieg noch weitere zweieinviertel<br />
Jahre dauern. Und es folgten Monate,<br />
in denen mehr deutsche Soldaten<br />
denn Tod fanden als in den Monaten<br />
um die Jahreswende 1942/43.<br />
Lufttransport im Winter. Bei der Versorgung Stalingrads gingen 269 Ju 52 verloren.<br />
Bundesarchiv Bild 101/540/403/9<br />
<strong>Militärgeschichte</strong> · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/<strong>2002</strong> 13
Stalingrad<br />
moralisch höchsten Instanz geworden.<br />
Viele Soldaten betrachteten die Einschließung<br />
nur als vorübergehend und<br />
schenkten der von der Armeeführung<br />
ausgegebenen Parole »Drum haltet aus,<br />
der Führer haut uns raus« zunächst<br />
Glauben. Für den Kommandierenden<br />
General des LI. Korps, General von<br />
Seydlitz-Kurzbach, bedeutete militärische<br />
Verantwortung aber mehr als<br />
deren Verengung auf den reinen Gehorsam.<br />
Dem Grundsatz zu selbständigem<br />
Handeln insbesondere in Krisensituationen<br />
verpflichtet, forderte<br />
er in einer an Paulus gerichteten<br />
Denkschrift: Angesichts der zu erwartenden<br />
»völligen Vernichtung von<br />
200000 Kämpfern und ihrer gesamten<br />
14<br />
<strong>Militärgeschichte</strong> · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/<strong>2002</strong><br />
Materialausstattung« gebe es für die<br />
Armee »keine andere Wahl«, als »sich<br />
die durch den bisherigen Befehl verhinderte<br />
Handlungsfreiheit selbst zu<br />
nehmen«! Der Appell blieb wirkungslos;<br />
das Zeitfenster schloss sich. Mit<br />
jedem Tag, der verstrich, verringerten<br />
sich die logistischen Möglichkeiten der<br />
Armee, mit eigener Kraft den Einschließungsring<br />
zu öffnen bzw. aus diesem<br />
auszubrechen.<br />
Am 1. Dezember erteilte Hitler der<br />
Heeresgruppe Don die Weisung, mit<br />
der Masse der Kräfte der 4. Panzerarmee<br />
ostwärts des Don aus dem<br />
Raum Kotelnikowski anzugreifen und<br />
die gegnerischen Kräfte nach Nord-<br />
osten aufzurollen. Mansteins überlieferte<br />
Äußerungen lassen den Eindruck<br />
entstehen, dass dieser selbst nicht von<br />
der Möglichkeit eines durchschlagenden<br />
Erfolges des unter der Bezeichnung<br />
»Wintergewitter« anzusetzenden<br />
Entsatzangriffs überzeugt war. Tatsächlich<br />
stellte sich heraus, dass das Unternehmen<br />
angesichts der vorhandenen<br />
Kräfte und der operativen Lage von<br />
vornherein zum Scheitern verurteilt<br />
war. Am 12. Dezember begann das<br />
LVII. Panzerkorps den Angriff über<br />
die Entfernung von 120 Kilometern.<br />
Am 19. gelang es, zwei Brückenköpfe<br />
über den Fluss Myschkowa zu bilden;<br />
mit letzter Kraft, wie sich kurz darauf<br />
zeigen sollte. Wenig mehr als 50 Kilometer<br />
vom Südrand des Kessels entfernt<br />
blieb der Entsatzangriff liegen.<br />
Das Unmögliche sollte versucht werden<br />
und im Nachhinein erscheint das<br />
Unternehmen wie eine Demonstration,<br />
alles zum Freischlagen der 6.<br />
Armee unternommen zu haben. Vergeblich<br />
versuchte Manstein Hitler dazu<br />
zu bewegen, den Gesamtausbruch der<br />
6. Armee nach Südwesten (»Donnerschlag«)<br />
zu befehlen.<br />
Warum riskierte Paulus nicht spätestens<br />
jetzt, auf dem Höhepunkt der Entsatzoffensive,<br />
eigenmächtig den Aus<br />
bruch? Der Befehlswirrwarr, der sich<br />
zwischen Hitler, dem Generalstab des<br />
Heeres, Manstein und der 6. Armee<br />
entwickelte, dürfte ihn nicht davon<br />
abgehalten haben. Die taktische und<br />
logistische Lage der 6. Armee hatte<br />
»Donnerschlag« längst alle Voraussetzungen<br />
genommen. Betriebsstoff- und<br />
Munitionsmangel schränkten den Wirkungsradius<br />
derart ein, dass bei einem<br />
Ausbruchsversuch schon nach wenigen<br />
Kilometern Panzer, Geschütze, Kraftfahrzeuge<br />
und schweres Gerät hätten<br />
stehen gelassen werden müssen. Das<br />
Absetzen der Armee als Ganze bei allenfalls<br />
kurzfristiger Verbindung mit den<br />
Entsatzkräften bezeichnete Paulus am<br />
21. Dezember als »Katastrophenlösung«.<br />
Paulus, dem die Aussicht vor<br />
Augen stand, dass sich die Truppe<br />
durch die deckungslose Steppe gegen<br />
einen materiell und personell überlegenen<br />
Gegner hätte durchschlagen<br />
und dabei eine große Zahl Verwundeter<br />
hätte zurücklassen müssen, wusste<br />
scheinbar noch nicht, dass »Wintergewitter«<br />
gescheitert war!
General Paulus (rechts) und Gen.Major v. Seydlitz-Kurzbach auf einer Beobachtungsstelle<br />
im nördl. Abschnitt Stalingrads. Aufnahme: PK-Berichter Jesse / Bundesarchiv Bild 71/70/73<br />
Der Alternative Kapitulation oder Vernichtung<br />
konnte die 6. Armee zu<br />
diesem Zeitpunkt nicht mehr entrinnen.<br />
Die dramatischen Veränderungen<br />
der operativen Gesamtlage in der letzten<br />
Dezemberdekade zerstörten alle<br />
Illusionen. Am 16. Dezember hatte die<br />
Rote Armee die Front im Bereich der<br />
italienischen 8. Armee durchbrochen,<br />
die mangels eigener Reserven und trotz<br />
großer Verluste den Angriff nicht abriegeln<br />
konnte. Manstein erkannte, dass er<br />
der 6. Armee angesichts der Kräfteverhältnisse<br />
vor der Front seiner Heeresgruppe<br />
und der sich alsbald abzeichnenden<br />
sowjetischen Umfassungsoffensive<br />
gegen seinen linken Flügel<br />
nicht mehr helfen konnte. Am Heiligen<br />
Abend musste die 4. Panzerarmee ihre<br />
Stellungen an der Myschkowa unter<br />
dem Druck weit überlegener Feindkräfte<br />
aufgeben.<br />
Das Sterben der 6. Armee<br />
Hatte man sich bis dahin trügerischen<br />
Hoffnungen, die<br />
durch verzerrte Lagedarstellungen<br />
von außen genährt worden<br />
waren, hingegeben, so setzte in der<br />
Führung der 6. Armee nun Resignation<br />
ein. Über 240000 Mann umfasste<br />
die Armee zu diesem Zeitpunkt noch,<br />
davon allenfalls ein Zehntel Infanteristen.<br />
Die Zahl der auf den Lagekarten<br />
eingetragenen Verbände stand<br />
in keinem realen Verhältnis zu ihrer<br />
tatsächlichen Kampfkraft. Mit den<br />
vorhandenen Kräften würde man, wie<br />
Paulus am 26. Dezember Manstein<br />
meldete, keinem massierten Angriff<br />
der Roten Armee standhalten können.<br />
Und trotzdem: Als am 8. Januar 1943<br />
der Oberbefehlshaber der sowjetischen<br />
Don-Front, Generalleutnant Rokossowski,<br />
die 6. Armee zur Kapitulation<br />
aufforderte, bat Paulus Hitler erneut<br />
um Handlungsfreiheit, hoffte auf Entsatz<br />
und befahl seinen Soldaten die<br />
Fortsetzung des sinnlosen Widerstandes.<br />
Nach heftigem Artillerieeinsatz<br />
begann am 10. Januar der Angriff<br />
gegen die Nordwest- und Südfront des<br />
Kessels. In weniger als einer Woche<br />
wurde dieser auf ungefähr ein Drittel<br />
seines früheren Umfangs eingeengt,<br />
wenngleich Paulus und sein Stab<br />
den Zusammenhalt ihrer zusammenschmelzenden<br />
Verbände wahren und<br />
die Aufspaltung des Kessels verhindern<br />
konnten. Die großenteils unbeweglich<br />
gewordenen schweren Waffen<br />
mussten meist zurückgelassen werden.<br />
Als der Roten Armee am 22. Januar<br />
ein breiter und tiefer Durchbruch der<br />
Südwestfront gelang, fragte Paulus<br />
in einem Funkspruch an das OKH:<br />
»Welche Befehle soll ich den Truppen<br />
geben, die keine Munition mehr haben<br />
und weiter mit starker Artillerie, Panzern<br />
und Infanteriemassen angegriffen<br />
werden? Schnellste Entscheidung<br />
notwendig, da Auflösung an einzelnen<br />
Stellen schon beginnt.« Indirekt stellte<br />
Paulus damit die Frage nach der Einstellung<br />
der Kämpfe. Auch Manstein<br />
regte in einem Ferngespräch mit Hitler<br />
Verhandlungen mit der Roten Armee<br />
an, sofern diese sich zur Einhaltung<br />
der Genfer Konventionen verpflichtete.<br />
Hitlers Reaktion war kurz und bündig:<br />
»Eine Kapitulation der 6. Armee ist<br />
schon vom Standpunkt der Ehre aus<br />
nicht möglich [...]«.<br />
Wochenlang unternahm das VIII. Fliegerkorps,<br />
dessen Kräfte auch andernorts<br />
in die Kämpfe eingreifen mussten,<br />
große Anstrengungen, die 6. Armee aus<br />
der Luft zu versorgen. Die Besatzungen<br />
flogen ohne Rücksicht auf klimatische<br />
Bedingungen und die sowjetische<br />
Luftabwehr. Die Luftwaffe verlor<br />
in den Kämpfen um Stalingrad vom<br />
24. November bis zum 3. Februar über<br />
7200 gefallene und vermisste Soldaten<br />
des nichtfliegenden und etwa 1000 Soldaten<br />
des fliegenden Personals. 168<br />
Flugzeuge wurden total zerstört, 112<br />
galten als vermisst und 215 Maschinen<br />
hatten Bruch gemacht. Doch der Munitions-<br />
und Betriebsstoffverbrauch lag<br />
um ein Vielfaches höher als der eingeflogene<br />
Nachschub. Seit dem 5. Ja-<br />
nuar war die 6. Armee praktisch unbeweglich<br />
und konnte streckenweise<br />
nicht einmal mehr den eigenen Versorgungsbetrieb<br />
aufrechterhalten. Das<br />
mit Abstand schlimmste Problem war<br />
die zusammenbrechende Versorgung<br />
der Soldaten mit Verpflegung. »Seit<br />
Wochen bekommen wir 200g Brot,<br />
15g Fett und 40g Kunsthonig für den<br />
Tag«, hatte ein Soldaten bereits am<br />
19. Dezember nach Hause geschrie-<br />
<strong>Militärgeschichte</strong> · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/<strong>2002</strong><br />
Deutsche Soldaten<br />
im Kessel<br />
von Stalingrad,<br />
Dezember 1942.<br />
Bundesarchiv<br />
15
Stalingrad<br />
ben: »Pferdefleisch ist selten geworden;<br />
außerdem kann man es auch nicht<br />
roh essen; denn mitten in der baumlosen<br />
Steppe gibt es kein Brennholz«.<br />
In den folgenden Wochen trieb der<br />
Hunger die Soldaten zur Verzweiflung:<br />
Augenzeugen berichten, dass<br />
zum Schluss sogar das für den menschlichen<br />
Körper ungenießbare Hartöl aus<br />
der Metallverarbeitung als Delikatesse<br />
gehandelt wurde. Am 28. Januar ordnete<br />
die Armee an, an Verwundete und<br />
Kranke keine Verpflegung mehr auszugeben,<br />
damit, so die Begründung, »die<br />
Kämpfer erhalten blieben«. Die Soldaten<br />
hausten in mehr oder weniger ausgebauten<br />
Stellungen und Erdbunkern.<br />
Unterernährung, fehlendes Heizmaterial<br />
und in vielen Fällen eine unzureichende<br />
Bekleidung ließen die Soldaten<br />
bitterlich frieren. Die durchschnittlichen<br />
Temperaturen, die tagsüber bei<br />
0 bis minus 5 Grad und nachts bei<br />
minus 10 Grad lagen, wurden, auch<br />
wegen des schneidenden Steppenwindes,<br />
noch kälter empfunden als sie<br />
ohnehin schon waren. Katastrophale<br />
hygienische Bedingungen hatten zur<br />
Folge, dass die Armee zunehmend verlauste.<br />
Schon vor der Einschließung<br />
im November waren Fälle von durch<br />
Ungeziefer übertragenem Fleckfieber<br />
und andere Infektionskrankheiten aufgetreten,<br />
die in den Kriegsgefangenenlagern<br />
Zehntausende Opfer fordern<br />
sollten. Der Umstand, dass eine Kompanie<br />
am 23. Januar für den Marschweg<br />
von nur vier Kilometern Luftlinie<br />
von morgens 6 Uhr bis in die Abenddämmerung<br />
benötigte, veranschaulicht<br />
den körperlichen Verfall der Soldaten.<br />
Katastrophal waren die psychologi-<br />
16<br />
<strong>Militärgeschichte</strong> · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/<strong>2002</strong><br />
schen und logistischen Folgen des Verlustes<br />
der Flugplätze. Als sich die Front<br />
dem verbliebenen Flugplatz Gumrak,<br />
in dessen Nähe sich das zentrale Lazarett<br />
des Kessels befand, näherte, spielten<br />
sich apokalyptische Szenen ab:<br />
Abfliegende Maschinen wurden von<br />
Verwundeten gestürmt; nur mit vorgehaltener<br />
Waffe konnte mitunter die<br />
Passagierzahl verringert und dadurch<br />
der Start ermöglicht werden. Ein Arzt<br />
erinnert sich an die Fahrt von Gumrak<br />
in die Stadt: »Auf dem ausgefahrenen,<br />
vereisten Weg nach Stalingrad [...] lagen<br />
an den Straßen überall und in grauenhaftem<br />
Umfang Verwundete, Erfrorene<br />
und Erfrierende, die unseren langsam<br />
fahrenden Wagen den Weg mit<br />
ihren Leibern versperrten, die sich<br />
mitten auf die Fahrbahn gewälzt hat-<br />
ten. Ihre Schreie, sie zu überfahren<br />
oder mitzunehmen, wiederholten sich<br />
in ähnlichen Bildern über die ganze<br />
Strecke.«<br />
Hitlers Kapitulationsverbot löste bei<br />
Paulus und seinem Stab Reaktionen<br />
aus, die rational nur schwer zu begreifen<br />
sind. Eine Zeit lang flüchtete man<br />
sich vielleicht in die Vorstellung, dass<br />
der Kampf feindliche Kräfte band<br />
und auf diese Weise zur Rettung der<br />
Heeresgruppe A und zur Neuformierung<br />
der Abwehrfront im Süden beitrug.<br />
Mit bizarren Treuebekundungen<br />
für »Führer« und Nationalsozialismus<br />
versuchten Armeeoberkommando und<br />
einzelne Truppenführer schließlich<br />
dem Sinnlosen einen Sinn zu vermitteln.<br />
Sie stilisierten den Untergang der<br />
6. Armee zu einem Lehrstück über die<br />
Standhaftigkeit nationalsozialistischen<br />
Soldatentums. Einem Funkspruch vom<br />
25. Januar zufolge wurde die Hakenkreuzfahne<br />
auf dem höchsten Gebäude<br />
des Stalingrader Stadtkernes gehisst,<br />
»um unter diesem Zeichen den Kampf<br />
zu führen«. Tags zuvor hatte die Armee<br />
»grauenhafte Zustände« im Stadtgebiet<br />
von Stalingrad gemeldet: Starkem<br />
feindlichen Artilleriefeuer fast pausenlos<br />
ausgesetzt, suchten »etwa 20000<br />
unversorgte Verwundete« in den Häuserruinen<br />
Schutz; dazwischen »ebenso<br />
viele Ausgehungerte, Frostkranke und<br />
Versprengte meist ohne Waffen«.<br />
Seit der Kessel am 26. Januar aufgespalten<br />
worden war, war an einen koordinierten<br />
Widerstand nicht länger zu<br />
denken. Welche Gedanken beherrschten<br />
die Köpfe der Soldaten, die in den<br />
letzten Januartagen in der Trümmer-<br />
und Schneewüste Stalingrads dahinvegetierten?<br />
In seinen Erinnerungen<br />
beschrieb Joachim Wieder, der bereits<br />
zu Beginn des Beitrages erwähnte<br />
junge Offizier, die unterschiedlichen<br />
Reaktionen auf die Erfahrung, dass<br />
die soldatischen Tugenden der Tapferkeit,<br />
der Hingabe, der Treue und<br />
der Pflichterfüllung schändlich missbraucht<br />
worden waren. Sofern die Soldaten<br />
aufgrund körperlicher und seelischer<br />
Erschöpfung nicht ohnehin der<br />
Gefangennahme apathisch entgegen<br />
dämmerten, habe mancher, so berichtet<br />
Wieder aus eigener Anschauung,<br />
»in seiner Verzweiflung angesichts des<br />
Zusammenbruchs einer ganzen Welt<br />
von Vorstellungen und im Hinblick<br />
auf die Sinnlosigkeit der Katastrophe<br />
zur Pistole gegriffen und seinem Leben<br />
ein Ende gemacht«. Nicht wenige versteckten<br />
ihre innere Angst und geistige<br />
Leere hinter »einer verkrampft soldatischen<br />
Haltung« oder gar hinter<br />
»einer betonten Landsknechtsgesinnung«:<br />
»Wenn sie nun schon einmal<br />
dazu verurteilt seien ›draufzugehen‹«,<br />
erinnerte sich Wieder, »dann wollten<br />
sie wenigstens bis zuletzt ihre Haut<br />
teuer verkaufen und noch möglichst<br />
viele Russen ›mitnehmen‹.« Anderen<br />
wiederum öffneten die grauenvollen<br />
Erlebnisse und Bilder des Unterganges<br />
einer ganzen Armee die Augen für das<br />
von Lüge, Hass, Gewalt, Unrecht und<br />
Unmenschlichkeit bestimmte Regime<br />
Hitlers und seines Krieges. Auch Wieder<br />
erkannte: »Wir hatten Wind gesät,<br />
jetzt mussten wir Sturm ernten.«
Es muss der Spekulation überlassen<br />
bleiben, warum Paulus nicht die moralische<br />
Stärke fand, aus eigenem Entschluss<br />
die Einstellung der Kämpfe zu<br />
befehlen, obwohl er als Armeeoberbefehlshaber<br />
bei anderen Anlässen charakterliche<br />
Integrität bewiesen hatte.<br />
Die Initiative dazu blieb schließlich den<br />
Kommandierenden Generalen, Divisions-<br />
und Regimentskommandeuren<br />
überlassen. Einige Offiziere versuchten,<br />
sich mit kleineren Kampfgruppen<br />
über Hunderte von Kilometern zu<br />
den eigenen Linien durchzuschlagen.<br />
Die Generalkommandos des IV. und<br />
LI. Korps gaben Weisungen aus, die<br />
es ihren Kommandeuren freistellten,<br />
je nach örtlichen Verhältnissen den<br />
Kampf einzustellen. Andere, wie der<br />
Kommandierende General des VIII.<br />
Korps, befahlen noch in den letzten<br />
Tagen, dass jeder, der kapituliere oder<br />
die weiße Fahne zeige, zu erschießen<br />
sei. In Lethargie gefallen, war der Oberbefehlshaber<br />
der 6. Armee weder fähig,<br />
das sinnlose Blutvergießen zu verhindern,<br />
noch Hitlers Forderung nach<br />
Selbstmord nachzukommen. Die hatte<br />
der Hitler subtil in Paulus’ Beförderung<br />
zum Generalfeldmarschall gekleidet.<br />
Der Rest des Stabes der 6. Armee hatte<br />
Unterschlupf bei der 71. Infanteriedivision<br />
gefunden, die ihren Gefechtsstand<br />
in einem ehemaligen Kaufhaus<br />
im Stadtzentrum Stalingrads eingerichtet<br />
hatte. Deren Kommandeur nahm<br />
am 30. Januar Verbindungen mit der<br />
sowjetischen Seite auf. Nach kurzen<br />
Verhandlungen, denen Paulus‘ Chef<br />
des Stabes beiwohnte, an denen der<br />
Oberbefehlshaber jedoch keinen Anteil<br />
hatte, wurden am darauffolgenden Tag<br />
die Kämpfe eingestellt. Formell kapitulierte<br />
die 6. Armee nie, ihr Oberbe-<br />
Marsch in Gefangenschaft und Tod, Stalingrad 1943.<br />
akg-images/sign. 9-1943-1-31-A2-4<br />
fehlshaber begab sich ausdrücklich nur<br />
als Privatperson in sowjetische Kriegsgefangenschaft.<br />
Im Nordkessel kämpften<br />
die Reste des XI. Armeekorps<br />
noch zwei Tage länger einen sinnlosen<br />
Kampf.<br />
Mit letzter Gewissheit wird sich nicht<br />
mehr feststellen lassen, wie viele Soldaten<br />
im Kessel umkamen; zu stark weichen<br />
die amtlichen Unterlagen, so sie<br />
denn noch vorhanden sind, voneinander<br />
ab. Jüngeren Schätzungen zufolge<br />
wurden etwa 195000 deutsche [!] Soldaten<br />
im November 1942 eingeschlossen.<br />
25000 von ihnen wurden im Laufe<br />
der Kämpfe ausgeflogen, vermutlich<br />
60000 starben im Kessel. Von den geschätzten<br />
110 000, die Anfang Februar<br />
den langen Weg in die Gefangenschaft<br />
antraten, kamen schon auf dem Marsch<br />
in die ersten Lager und Lazarette wahrscheinlich<br />
17000 ums Leben. Zehntausende<br />
sollten der körperliche Erschöpfungszustandstand<br />
und Krankheiten<br />
in den Folgemonaten dahinraffen. Nur<br />
etwa 5000 ehemalige Stalingrad-Kämpfer<br />
kehrten Jahre später in ihre Heimat<br />
zurück.<br />
Die Meldungen vom Ende der 6. Armee<br />
lösten im Reich lähmendes Entsetzen<br />
aus. Seit Spätsommer 1942 hatte das<br />
Thema Stalingrad die deutsche Öffentlichkeit<br />
beherrscht. Bis zu diesem Zeitpunkt<br />
hatte man den Menschen vorgegaukelt,<br />
dass der Krieg gewonnen, aber<br />
nur noch nicht beendet sei. Die Angst<br />
vor einem Stimmungsumschwung ließ<br />
Hitler und seine Paladine vor radikalen<br />
Maßnahmen, um die personellen<br />
und materiellen Ressourcen für den<br />
Krieg zu mobilisieren, zurückschrecken.<br />
Goebbels‘ berüchtigte Berliner<br />
Sportpalastrede am 18. Februar und<br />
das hysterische Umjubeln seines »Wollt<br />
Ihr den totalen Krieg?« durch die ausgesuchten<br />
Zuhörer war denn auch nur<br />
ein propagandistischer Budenzauber.<br />
Das Spektakel konnte die tiefgreifende<br />
Vertrauenskrise des Regimes in großen<br />
Teilen der Bevölkerung nicht beseitigen.<br />
Stalingrad bedeutete vor allem<br />
eine psychologische Wende, eine Zäsur<br />
in den Köpfen der Menschen: Die<br />
einen sahen sich durch das Beispiel<br />
der 6. Armee zum Einsatz aller Kräfte<br />
verpflichtet, die anderen erkannten in<br />
dem Ereignis den Anfang vom Ende.<br />
Manche wollten ihre Haut so teuer wie<br />
möglich verkaufen, andere versuchten<br />
das Leben so lange und so gut wie<br />
möglich zu genießen. Die Masse indes<br />
klammerte sich an jeden Hoffnungsschimmer,<br />
um nach weiteren Niederlagen<br />
in Apathie und Resignation zu<br />
verfallen.<br />
n Andreas Kunz<br />
Literatur:<br />
Torsten Diedrich, Friedrich Paulus – Patriot in<br />
zwei Diktaturen, in: Ronald Smelser/Enrico<br />
Syring (Hg.), Die Militärelite des Dritten Reiches.<br />
27 biographische Skizzen, 2. Aufl.,<br />
Berlin 1998, S. 388–405<br />
Jürgen Förster (Hg.), Stalingrad. Ereignis, Wirkung,<br />
Symbol, 2. Aufl., München 1992<br />
Manfred Kehrig, Stalingrad. Analyse und Dokumentation,<br />
3. Aufl., Stuttgart 1979<br />
Bernd Wegner, Der Krieg gegen die Sowjetunion<br />
1942/43, in: Das Deutsche Reich und der<br />
Zweite Weltkrieg. Hg. vom Militärgeschichtlichen<br />
Forschungsamt, Bd 6, Stuttgart 1990,<br />
S. 761-1092<br />
Joachim Wieder, Stalingrad und die Verantwortung<br />
des Soldaten, München 1962<br />
Peter Steinkamp, Generalfeldmarschall Friedrich<br />
Paulus, in: Gerd R. Ueberschär (Hg.), Hitlers<br />
militärische Elite, Bd 2: Vom Kriegsbeginn<br />
bis zum Weltkriegsende, Darmstadt 1998,<br />
S. 161-168<br />
<strong>Militärgeschichte</strong> · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/<strong>2002</strong> 17
Grafik: Der Spiegel 3/2000, S. 42<br />
18<br />
Stalins V-2<br />
Stalins V-2<br />
Ende Januar 1959 vermeldete<br />
V-Mann Nr. 9771 Folgendes an<br />
seinen BND-Führungsoffizier:<br />
Auf der Bahnstrecke Lychen-Fürstenberg,<br />
80 Kilometer nördlich von Berlin,<br />
entlud eine sowjetische Einheit auf<br />
freier Strecke »sehr große Bomben«.<br />
Der Agent hatte einen bis heute wenig<br />
bekannten Vorgang beobachtet. Zur<br />
Jahreswende 1958/59 ließ die UdSSR<br />
erstmals weitreichende Atomraketen<br />
außerhalb ihres Territoriums stationieren.<br />
Zu diesem Zweck befahl der sowjetische<br />
Generalstab die Verlegung der<br />
72. Raketenbrigade in den Großraum<br />
Berlin. Die 635. Raketenabteilung der<br />
Brigade bezog mit zwei Abschussrampen<br />
und sechs Raketen des Typs<br />
R-5M (NATO-Code »SS-3 Shyster«)<br />
bei Fürstenberg/Havel Stellung. Im 20<br />
Kilometer entfernten Vogelsang lag die<br />
638. Raketenabteilung mit ebensoviel<br />
Fernkampfgeschossen. Jede der zwölf<br />
Raketen war in der Lage, einen nuklearen<br />
Gefechtskopf mit einer Sprengkraft<br />
von 300 Kilotonnen TNT über<br />
eine Reichweite von 1200 Kilometern<br />
zu befördern. Mit diesem atomaren<br />
Potential konnte die UdSSR erstmals<br />
Bonn, Brüssel, Paris und London real<br />
mit nuklearen Schlägen bedrohen.<br />
Die Abbildung illustriert die Reichweite der<br />
sowjetischen R-5M. Die NATO bezeichnete<br />
die Waffe mit dem Code »SS-3 Shyster«.<br />
<strong>Militärgeschichte</strong> · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/<strong>2002</strong><br />
Mit den 1959 in der DDR stationierten R-5M<br />
konnte die UdSSR erstmals strategische Ziele<br />
in Europa wie London, Paris und Brüssel ins<br />
Visier nehmen.<br />
Die für die Militäraktion ausgewählte<br />
Truppe verfügte bereits über Deutschlanderfahrung.<br />
Die 72. Raketenbrigade<br />
war im Sommer 1946 auf Befehl<br />
Stalins im thüringischen Berka aufgestellt<br />
worden. Hier sollte sie den<br />
Abschuss des Ausgangsmodells aller<br />
sowjetischen Fernkampfraketen, der<br />
deutschen V-2, erproben. Die hierfür<br />
übergebenen Raketen stammten aus<br />
dem Werk Nr. 3 in Kleinbodungen,<br />
einer kleinen Ortschaft in Nordthüringen<br />
unweit der Grenze zwischen<br />
der sowjetischen und amerikanischen<br />
Besatzungszone. Hier und in zahlreichen<br />
anderen Orten der Sowjetischen<br />
Besatzungszone (SBZ) arbeiteten seit<br />
Juli 1945 deutsche und sowjetische<br />
Spezialisten intensiv an der Wiederherstellung<br />
und Weiterentwicklung der<br />
Raketentechnologie des untergegangenen<br />
Deutschen Reiches.<br />
Im Oktober 1946 verließen die sowjetischen<br />
Wissenschaftler zusammen mit<br />
308 Deutschen überraschend Deutschland<br />
in Richtung Moskau. Als 1952<br />
die ersten deutschen Techniker in ihre<br />
Heimat zurückkehrten, existierte in<br />
der UdSSR bereits eine funktionieren-<br />
de Serienfertigung der R-1, der sowjetischen<br />
Kopie der V-2. Sie war die<br />
Der Transfer<br />
der deutschen<br />
Raketentechnik<br />
in die UdSSR<br />
Grundlage für alle weiteren sowjetischen<br />
Raketenentwicklungen.<br />
Mit der R-5M gelang der UdSSR 1956<br />
der Einstieg in ein qualitativ neues<br />
Waffensystem. Diese Atomrakete revolutionierte<br />
nicht nur die Militärstrategie<br />
und -technik nach 1945 – sie veränderte<br />
auch die Politik des Kalten<br />
Krieges. Die UdSSR und USA erwarben<br />
durch nukleare Raketenwaffen die<br />
Fähigkeit, bei der Durchsetzung ihrer<br />
weltweiten politischen Interessen auf<br />
direkte militärisch-konventionelle Konfrontation<br />
zu verzichten. An ihre Stelle<br />
trat das Kalkül mit der Drohung der<br />
Vernichtung der jeweils anderen Seite.<br />
Das Grundmuster für ein »Gleichgewicht<br />
des Schreckens« war geboren.<br />
Die Sowjets auf den Spuren der<br />
deutschen V-2<br />
Die Staatsführung der UdSSR<br />
war seit Mitte der 30er Jahre<br />
kontinuierlich über die deutschen<br />
Arbeiten zur Raketentechnik<br />
informiert. Daran hatte der sowjetische<br />
Geheimdienst NKWD einen nicht<br />
geringen Anteil. Ihm war es bereits<br />
1929 gelungen, Willy Lehmann, später<br />
SS-Hauptsturmführer und Mitarbeiter<br />
des RSHA anzuwerben. Agent »Breitenbach«<br />
erhielt seit 1935 auch Zugang<br />
zu Informationen über das deutsche<br />
Raketenprogramm, die er unverzüglich<br />
nach Moskau weiterleitete.<br />
Nach der Enttarnung der »Roten Kapelle«<br />
wurde Lehmann im Dezember<br />
1942 verhaftet und auf Befehl Himmlers<br />
erschossen. Doch Gerüchte über<br />
deutsche »Wunderwaffen« erreichten<br />
weiterhin die UdSSR. Deshalb wies<br />
Stalin 1943 seine Geheimdienste an,<br />
genauere Angaben über die V-2 zu<br />
beschaffen. Anfang August 1944 stießen<br />
schließlich sowjetische Truppen<br />
auf das geräumte Raketentestgelände<br />
Debice in Polen vor. Hier erbeuteten<br />
sowjetische Experten erstmals Bauteile
Lehmann, Willy<br />
(1884-1942)<br />
SS-Hauptsturmführer/Kriminalinspektor<br />
alias Agent »A-201«/ »Breitenbach«. Vor<br />
und während des Zweiten Weltkrieges war<br />
Lehmann eine der wertvollsten Quellen<br />
des sowjetischen Geheimdienstes NKWD<br />
in Deutschland. 1911 wurde Lehmann in<br />
den Berliner Polizeidienst übernommen,<br />
dort war er ab 1920 stellv. Abteilungsleiter<br />
der Spionageabwehr und wurde 1929<br />
von der Auslandsaufklärung des NKWD<br />
angeworben. 1933 erfolgte seine Übernahme<br />
in die Gestapo, dort war er Leiter<br />
der Abteilung »Kampf gegen kommunistische<br />
Spionage«. Dank seiner Informationen<br />
gelang es dem NKWD u.a.,<br />
die geplante Verhaftung des sowjetischen<br />
Agenten Arnold Deutsch zu verhindern.<br />
1934 trat Lehmann in die SS ein, gleichzeitig<br />
wechselte er zum Amt IV des<br />
RSHA. Dort war er für Spionageabwehr<br />
innerhalb der deutschen Rüstungsindustrie<br />
zuständig. Diese Tätigkeit ermöglichte<br />
es »Breitenbach«, das NKWD mit<br />
zahlreichen Informationen über deutsche<br />
Rüstungsvorhaben zu versorgen. Im<br />
Dezember 1942 wurde Lehmann enttarnt<br />
und verhaftet, wenig später auf Befehl<br />
von Himmler erschossen, der gleichzeitig<br />
anordnete, den Fall zu vertuschen.<br />
V-2/A-4<br />
(Vergeltungswaffe 2/Aggregat 4)<br />
Erste militärisch einsetzbare Fernkampfrakete,<br />
entwickelt von 1936 bis 1943 in<br />
Peenemünde. Die 14 Meter lange Rakete<br />
hatte einen Durchmesser von 1,65 Metern<br />
und eine Startmasse von 12 Tonnen. Das<br />
auf der Basis von Flüssigsauerstoff und<br />
75% Alkohol arbeitende Triebwerk entwickelte<br />
einen Schub von bis zu 30<br />
Tonnen. Dies reichte aus, um 975 Kilogramm<br />
Sprengstoff über eine Reichweite<br />
von bis zu 340 Kilometern zu befördern.<br />
Ihre geringe Treffgenauigkeit ließ jedoch<br />
nur den Beschuss von großflächigen<br />
Zielen, wie Paris, London, Brüssel und<br />
Antwerpen zu. Von September 1944 bis<br />
März 1945 wurden 3280 V-2 im militärischen<br />
Einsatz verschossen, sie kosteten<br />
mehr als 5000 Menschen das Leben.<br />
Nach dem Krieg wurde die V-2 in den<br />
USA zur »Redstone« weiterentwickelt,<br />
während die UdSSR auf der Grundlage<br />
der V-2 die Raketen R-1 und R-2 baute.<br />
der V-2. Die in Polen ausfindig gemachten<br />
Raketenteile wurde unverzüglich<br />
nach Moskau abtransportiert.<br />
In nur fünf Tagen sollten der Sowjetführung<br />
Angaben über Größe, Leistungsvermögen,<br />
Konstruktionsaufbau und<br />
die taktischen Daten der V-2 gemacht<br />
werden. Bereits nach den ersten Auswertungen<br />
stand für die sowjetischen<br />
Wissenschaftler fest, dass sie hier die<br />
Überreste einer Waffe gefunden hatten,<br />
die nach ihren Vorstellungen eigentlich<br />
gar nicht existieren durfte. Im Frühjahr<br />
1945 wurden alle vorhandenen<br />
Erkenntnisse über die deutsche V-2 in<br />
einem Untersuchungsbericht für die<br />
Partei- und Staatsführung der UdSSR<br />
zusammengefasst. Darin kamen die<br />
sowjetischen Experten zu folgendem<br />
Schluss: »Die Fernkampfrakete erweist<br />
sich als gewaltige wissenschaftlichtechnische<br />
Errungenschaft, die den<br />
Grundstein für eine neue Art der Fernartillerie<br />
legt. [...] In naher Zukunft<br />
werden analoge Raketen, bei Verbesserung<br />
ihrer Zielgenauigkeit, Reichweite<br />
und Sprengkraft als selbständige Gattung<br />
einer mächtigen reaktiven Fernartillerie,<br />
zur Bewaffnung der großen<br />
Staaten gehören.«<br />
Noch bevor die Endfassung des Berichts<br />
Stalin vorgelegt wurde, befahl<br />
dieser, die Entwicklung von eigenen<br />
Raketen voranzutreiben. Währenddessen<br />
näherten sich sowjetische Truppen<br />
der Insel Usedom. Von der Besetzung<br />
der dort befindlichen Heeresversuchsanstalt<br />
versprach sich die UdSSR einen<br />
bedeutenden Erkenntniszuwachs über<br />
die deutsche Raketentechnik.<br />
Am 5. Mai 1945 trafen erste Raketenspezialisten<br />
in Peenemünde ein, um die<br />
verbliebenen Reste der Forschungsanlagen<br />
zu untersuchen. Bei ihren Nachforschungen<br />
stellten die Fachleute fest,<br />
dass die meisten Prüfstände, Werkstätten,<br />
Fertigungsanlagen und Labors<br />
weit weniger zerstört waren als angenommen.<br />
Hier noch vorhandene 150<br />
Triebwerke für die V-2, Teile der Funksteuerung<br />
der Rakete, 25 Prüfstände<br />
und anderes Material wurden unverzüglich<br />
in die UdSSR abtransportiert.<br />
Doch nicht nur in Peenemünde stießen<br />
die sowjetischen Kommandos auf die<br />
Reste der deutschen Raketenproduktion.<br />
Auch an anderen Orten fanden<br />
Peenemünde<br />
Gemeinde im Nordwesten der Insel<br />
Usedom. Seit 1936 Sitz der Heeresversuchsanstalt,<br />
die hier unter der Leitung<br />
von Wernher von Braun die ballistische<br />
Fernkampfrakete A-4 (V-2) entwickeln<br />
und erproben ließ. Ab 1938 befand sich<br />
hier auch eine Erprobungsstelle der Luftwaffe,<br />
die vor allem Flugbomben des<br />
Typs Fi-103 (V-1) testete. Am 17. August<br />
1943 wurde Peenemünde durch englische<br />
Bomber angegriffen. Im Februar 1945<br />
wurde das Gelände der Heeresversuchsanstalt<br />
geräumt und Anfang Mai 1945<br />
von sowjetischen Truppen besetzt. Diese<br />
demontierten die noch vorhandenen Testanlagen<br />
und transportierten sie in die<br />
UdSSR. Danach war Peenemünde sowje-<br />
tischer Marine- und Luftwaffenstützpunkt<br />
bis 1952, als es an die DDR übergeben<br />
wurde. Ab den 60er Jahren war Peene-<br />
münde Stützpunkt für die 1. Flottille<br />
und des Jagdgeschwaders 9 der NVA.<br />
1993 erfolgte die Auflösung des dortigen<br />
Truppenstandortes.<br />
Im Oktober 1944 untersuchten sowjetische<br />
Experten des NII-1 erstmals wesentliche Teile<br />
einer V-2 Rakete. Nach Aussage des Raketenspezialisten<br />
Boris Čertok stand nach den<br />
ersten Analysen fest, dass man hier Überreste<br />
einer Waffe gefunden hatte, die nach<br />
den Vorstellungen der sowjetischen Techniker<br />
eigentlich gar nicht existieren durfte.<br />
Quelle: RGAE<br />
<strong>Militärgeschichte</strong> · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/<strong>2002</strong> 19
20<br />
KZ Mittelbau-Dora<br />
Stalins V-2<br />
Am 28. August 1943 bei Nordhausen<br />
geschaffenes Konzentrationslager. Im an-<br />
gegliederten unterirdischen Mittelwerk<br />
erfolgte ab 1944 die Serienfertigung der<br />
sogenannten V-Waffen. Bis Kriegsende<br />
bauten die Häftlinge des KZ Mittelbau-<br />
Dora mehr als 5700 V-2 und 6300<br />
V-1. Am 1. Oktober 1944 erhielt das<br />
KZ Mittelbau-Dora als letztes deutsches<br />
Konzentrationslager den Status eines eigenständigen<br />
Lagerkomplexes. Von den<br />
60000 Häftlingen, die nach Mittelbau-<br />
Dora kamen, überlebten 20000 nicht.<br />
Anfang April 1945 wurde das Lager durch<br />
US-Truppen befreit und dann im Juli<br />
1945 an sowjetische Truppen übergeben.<br />
Zunächst wurde es als Repatriierungs-,<br />
dann als Umsiedlerlager verwendet. Die<br />
Einrichtungen des Mittelwerks wurden<br />
durch die Sowjets demontiert und die<br />
unterirdischen Anlagen 1947 gesprengt.<br />
Seit 1966 befindet sich auf dem Gelände<br />
des ehemaligen KZ eine Gedenkstätte.<br />
Suchkommandos der Roten Armee Fertigungsanlagen<br />
und Bauteile für die<br />
V-2. Trotzdem schienen die Ergebnisse<br />
der Suchkommandos die sowjetische<br />
Führung nicht zu befriedigen. Es sollte<br />
bis Juli 1945 dauern, als endlich substantielle<br />
Fortschritte erzielt werden<br />
konnten. Anfang dieses Monats räumten<br />
amerikanische Truppen das bisher<br />
von ihnen besetzte Südharzgebiet. Hier<br />
befand sich in der Nähe von Nordhausen<br />
das ehemalige Mittelwerk. Dort<br />
hatten seit August 1943 Häftlinge des<br />
Konzentrationslagers Mittelbau-Dora<br />
die V-2 in Serie produziert. Nach<br />
dem Rückzug der westlichen Alliierten<br />
sollte dieses größte und wichtigste<br />
Rüstungswerk Mitteldeutschlands in<br />
die Hände der Sowjets fallen. Mit der<br />
Inbesitznahme der Mittelwerke erhielt<br />
die UdSSR schließlich den Schlüssel zur<br />
erfolgreichen Übernahme des Knowhows<br />
der deutschen Raketentechnik.<br />
Besetzung und Demontage der<br />
Produktionsstätten<br />
Ende 1947 wurde Stalin ein Film<br />
vorgeführt, der die Entwicklung<br />
der ersten sowjetischen Fernrakete<br />
dokumentierte. Die sowjetischen<br />
Filmemacher zeichneten dabei ein Bild,<br />
das sich bis heute tief in das Bewusst-<br />
<strong>Militärgeschichte</strong> · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/<strong>2002</strong><br />
sein der Öffentlichkeit eingeprägt hat:<br />
Aufnahmen von geplünderten und<br />
zerstörten Anlagen wurden wie folgt<br />
kommentiert: »Die Region Nordhausen<br />
wurde zuerst von den Amerikanern<br />
besetzt. Die Amerikaner haben alles<br />
Wertvolle der Raketentechnik fortgeschafft:<br />
Fertige Raketen, Dokumentationen,<br />
Laboratorien und deutsche Spezialisten.<br />
Was übrig blieb wurde zerstört.<br />
An den Produktionsstätten der<br />
V-2 trafen sowjetische Spezialisten ein.<br />
Sie fanden nur Trümmerberge vor«.<br />
Dem Diktator sollte damit der Eindruck<br />
vermittelt werden, dass die Amerikaner<br />
der UdSSR nur kümmerliche Reste<br />
der deutschen Raketentechnik überlassen<br />
hätten. Zugleich wollten die sowjetischen<br />
Raketentechniker durch die<br />
bewusste Irreführung Stalins zugleich<br />
ihren eigenen Anteil an der weiteren<br />
Raketenentwicklung hervorheben und<br />
den vorhandenen deutschen Einfluss<br />
herunterspielen.<br />
Tatsächlich aber hatten sowjetische<br />
Sonderkommandos am 5. Juli 1945 eine<br />
unterirdische Raketenfabrik in Besitz<br />
genommen, die im Wesentlichen noch<br />
intakt war. Obwohl die Amerikaner<br />
hier eine große Anzahl von Raketenteilen<br />
erbeutet hatten, waren noch Tausende<br />
von Maschinen und Geräten zur<br />
Raketenproduktion sowie zahlreiche<br />
Bauteile für die V-2 in den unterirdischen<br />
Hallen des Mittelwerks vorhanden.<br />
Noch bevor aus Moskau Befehle<br />
zur weiteren Verwendung der Anlagen<br />
eintrafen, setzten die sowjetischen<br />
Raketenspezialisten Teile der unterirdischen<br />
Produktionsanlagen wieder in<br />
Betrieb. Bereits wenige Tage nach der<br />
sowjetischen Besetzung des Raketenwerkes<br />
montierten deutsche Ingenieure<br />
und Techniker in einem der Stollen,<br />
unter sowjetischer Aufsicht, erste<br />
Raketenteile. Zwischen August und<br />
September 1945 wurde die Montage<br />
dann in das »Werk Nr. 3« verlegt.<br />
Im Mittelwerk hatten unterdessen erste<br />
Demontagetrupps Einzug gehalten.<br />
Innerhalb kürzester Zeit transportierten<br />
»Trophäenkommandos« der Roten<br />
Armee mit 717 Waggonladungen 5647<br />
Tonnen Maschinen, Ausrüstungen und<br />
Raketenbauteile in Richtung Osten. Bis<br />
Anfang 1947 ließ das für Raketentechnik<br />
zuständige Sonderkomitee Nr. 2<br />
aus der SBZ weitere 2270 Waggons,<br />
beladen mit mehr als 14258 Tonnen<br />
Raketenbaugruppen, Halbfabrikaten,<br />
Spezialmaschinen und zahlreichem an-<br />
deren technischen Gerät, in die UdSSR<br />
bringen. Zum Vergleich: 1945 hatten<br />
die US-Amerikaner aus dem Mittelwerk<br />
ca. 400 Tonnen Raketenmaterial<br />
abtransportiert und zum amerikanischen<br />
Raketentestgelände bei White<br />
Sands in New Mexico geschafft.<br />
Weil die UdSSR nach dem Ende des<br />
Zweiten Weltkrieges eben nicht nur<br />
deutsche Technologie und Wissenschaftler<br />
in ihre Dienste stellte, sondern<br />
in bisher nicht gekanntem Maße<br />
die Entwaffnung des ehemaligen deutschen<br />
Gegners nutzte, um das eigene<br />
rüstungswirtschaftliche Potential zu<br />
vergrößern, gelang ihr nicht nur der<br />
Erwerb ausländischer Technologie,<br />
sondern auch deren Weiterentwicklung.<br />
Festzuhalten bleibt: ohne die<br />
völlige Demontage der deutschen<br />
Raketenindustrie wäre der erfolgreiche<br />
Transfer der deutschen Raketentechnik<br />
in die Sowjetunion nicht geglückt.<br />
Er war eine der bestimmenden Voraussetzungen<br />
für den technologischen<br />
Sprung der sowjetischen Rüstungswirtschaft<br />
nach 1945.<br />
Weiterentwicklungen in der<br />
Sowjetunion<br />
Insgesamt wurde durch die mehr<br />
als 11⁄2 jährige gemeinsame Arbeit<br />
der ca. 7000 deutschen und mehr<br />
als 1500 sowjetischen Raketenexperten<br />
in der SBZ der Grundstock für<br />
eine erfolgreiche und schnelle Umsetzung<br />
des Fernlenkwaffenprogramms<br />
der UdSSR gelegt. Damit hatte sich<br />
die taktische Entscheidung der sowjetischen<br />
Führung als richtig erwiesen, zur<br />
Aneignung der deutschen Raketentechnologie<br />
zunächst auf das in Deutschland<br />
vorhandene wissenschaftliche und<br />
technologische Potential zurückzugreifen.<br />
Dies war besonders wichtig, da<br />
bis Ende 1946 in der Sowjetunion<br />
keine Forschungs- und Infrastruktur<br />
für eine eigene Fernlenkwaffenentwicklung<br />
vorhanden war.<br />
Nachdem im Oktober 1946 die 308<br />
wichtigsten deutschen Raketentechniker<br />
in die UdSSR abtransportiert<br />
wurden, modifizierte die Sowjetunion<br />
das bisher angewendete Konzept des
Die R-1 war eine<br />
vereinfachte Kopie<br />
der deutschen<br />
V-2 und sollte die<br />
sowjetischen<br />
Ingenieure und<br />
Techniker mit den<br />
erforderlichen<br />
Technologien zum<br />
Bau von Fernlenk-<br />
waffen vertraut<br />
machen.<br />
Quelle: RKK Energija<br />
Technologietransfers. Obwohl die UdSSR<br />
weiter höchstes Interesse an der Fernlenkwaffentechnologie<br />
des Dritten Reiches<br />
zeigte, dachte sie nie an eine langfristige<br />
Verwendung der deutschen<br />
Forschungskapazitäten. Die für Russland<br />
und die Sowjetunion typische<br />
Vorgehensweise beim Erwerb ausländischer<br />
Technologie, die auf nachholenden<br />
Kompetenzerwerb ausgerichtet<br />
war, verhinderte, im Gegensatz zu den<br />
USA, eine weitgehende Integration der<br />
deutschen Wissenschaftler und Technikspezialisten<br />
in die sowjetische Forschungsstruktur.<br />
1947 hatten die in die<br />
UdSSR verbrachten Spezialisten aus<br />
der SBZ noch wesentlichen Anteil an<br />
den erfolgreichen Tests der sowjetischen<br />
V-2. Danach nahmen die sowjetischen<br />
Behörden die Deutschen aus<br />
den jeweiligen Forschungsprogrammen.<br />
Spätestens ab Ende 1948 dienten<br />
die deutschen Spezialisten in der Sowjetunion<br />
lediglich als Ideengeber für<br />
theoretische Projekte, die von der praktischen<br />
Umsetzung ihrer Arbeitsergebnisse<br />
ausgeschlossen blieben. Daran<br />
sollte sich bis zum Ende ihrer Tätigkeit<br />
im sowjetischen Fernlenkwaffenprogramm<br />
1953 nichts mehr ändern.<br />
Die wichtigste Hinterlassenschaft der<br />
Deutschen im sowjetischen Raketenbau<br />
war ohne Zweifel die bereits bei<br />
ihrer Rückkehr nach Deutschland funktionierende<br />
Serienproduktion der R-1.<br />
Diese sowjetische »Kopie« der deutschen<br />
V-2 kann als einzige raketentechnische<br />
Entwicklung der Sowjetunion<br />
gelten, an der die deutschen Fach-<br />
leute aus der SBZ allumfassend beteiligt<br />
waren. Bereits bei ihrer Weiterentwicklung,<br />
der R-2, betraute das Sonderkomitee<br />
Nr. 2 die deutschen Spezialisten<br />
nur noch mit sehr begrenzten Teilaufgaben.<br />
Das militärische Nachfolgemodell<br />
der R-2, die R-5, war die erste<br />
vollständige sowjetische Eigenkonstruktion.<br />
Sie wurde ohne jede direkte<br />
deutsche Beteiligung entwickelt. Diese<br />
Rakete hatte bereits eine Reichweite<br />
von 1200 Kilometern und beförderte<br />
einen herkömmlichen Sprengkopf mit<br />
einem Gewicht von 1,42 Tonnen. Aus<br />
ihr wurde kurze Zeit später die R-5M,<br />
die erste Atomrakete der UdSSR entwickelt.<br />
Damit hatten die deutschen Wissenschaftler<br />
und Techniker einen nicht zu<br />
unterschätzenden Anteil an der Entwicklung<br />
der 1. Generation militärischer<br />
Fernkampfraketen in der UdSSR.<br />
Zudem arbeiteten deutsche Fachleute<br />
auch aktiv an der Entwicklung von<br />
Flugabwehr-Raketen sowie Luft-Schiff-<br />
Flugkörpern für die sowjetischen Streitkräfte.<br />
Insgesamt waren deutsche Wissenschaftler<br />
und Techniker während<br />
ihres Aufenthalts in der UdSSR an der<br />
Entwicklung und am Bau von mindestens<br />
fünf verschiedenen Raketenmustern<br />
beteiligt, die später in die Bewaffnung<br />
der sowjetischen Streitkräfte aufgenommen<br />
wurden. Dies waren neben<br />
den Fernkampfraketen der Typen R-1<br />
und R-2 auch die Fla-Rakete S-25<br />
»Berkut« (Adler), die Luft-Schiff-Lenkwaffe<br />
»Kometa« (Komet) und die reaktive<br />
Panzerbüchse RPG-1. Deutsche<br />
Technologie floss mit hoher Wahrscheinlichkeit<br />
auch in die Entwicklung<br />
der ersten sowjetischen Panzerabwehrlenkrakete<br />
PUR-61 »Schmel«<br />
(Hummel) und der ersten gelenkten<br />
Luft-Luft-Rakete K-5 ein. Demnach<br />
beruhten die ersten militärisch einsetzbaren<br />
Fernlenkwaffen der UdSSR nach<br />
dem Zweiten Weltkrieg zum großen<br />
Teil auf der Technologiebasis des untergegangenen<br />
Dritten Reiches und der<br />
Arbeit der deutschen Spezialisten in der<br />
Sowjetunion. Wegen der erfolgreichen<br />
Umsetzung des Konzepts des nachholenden<br />
Technologietransfers waren<br />
jedoch bereits an der Entwicklung der<br />
zweiten Baureihe von Fernlenkwaffen<br />
der 1. Generation keine deutschen Spezialisten<br />
mehr direkt beteiligt.<br />
Die UdSSR beschränkte sich aber nicht<br />
nur auf den Bau der Raketen. Gleichzeitig<br />
beschäftigten sich ihre Politiker<br />
und Militärs intensiv mit den Fragen<br />
des Einsatzes für diese neuen Waffen.<br />
Noch unter der Herrschaft Stalins kam<br />
es zu einem umfassenden Ausbau der<br />
Raketentruppen. Der Diktator unternahm<br />
nicht nur erhebliche Anstrengungen,<br />
um endlich Atomwaffen in die<br />
Hand zu bekommen, sondern er versuchte<br />
in Zusammenarbeit mit seinen<br />
Militärs auch, ein mögliches Einsatzkonzept<br />
für sie zu skizzieren. Stalin<br />
war bestrebt, wirkungsvolle militärische<br />
und politische Pläne für den Einsatz<br />
von Nuklearwaffen mit Hilfe von<br />
Raketen zu entwickeln. Das dies zu<br />
seinen Lebzeiten in letzter Konsequenz<br />
nicht gelang, war dem damaligen technischen<br />
Entwicklungsstand der sowjetischen<br />
Kernwaffen- und Raketentechnik<br />
geschuldet. Weil einsatzbereite<br />
Atomraketen nicht zur Verfügung standen,<br />
fehlte eine umfassende Militärdoktrin<br />
für ihre Verwendung. Dennoch,<br />
und das zeigen auch die umfassenden<br />
Fortschritte nach Stalins Tod,<br />
wurden während seiner Herrschaft in<br />
der UdSSR die entscheidenden Grundlagen<br />
für den militärischen Einsatz von<br />
Raketentruppen geschaffen.<br />
Es blieb Stalins Amtsnachfolger<br />
Chruschtschow vorbehalten, die mit<br />
Atomwaffen ausgestatteten Verbände<br />
der Raketentruppen als eigenständiges<br />
Machtmittel der sowjetischen Außenpolitik<br />
zu etablieren. 1959 ordnete er im<br />
Rahmen der zweiten Berlin-Krise erstmals<br />
ihre militärische Verwendung an.<br />
Die Drohung mit dem Einsatz von atomaren<br />
Raketenwaffen wurde damit zu<br />
einem bestimmenden Handlungsmuster<br />
der sowjetischen Außenpolitik in<br />
der »heißen Phase« des Kalten Krieges.<br />
Fotos: S.18, 19, 21 in: Matthias Uhl, Stalins V-2<br />
n Matthias Uhl<br />
Matthias Uhl,<br />
Stalins V-2,<br />
Der Technologietransfer<br />
der deutschen Fernlenkwaffentechnik<br />
in die<br />
UdSSR und der Aufbau<br />
der sowjetischen<br />
Raketenindustrie<br />
1945 bis 1959,<br />
Bonn 2001<br />
<strong>Militärgeschichte</strong> · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/<strong>2002</strong> 21
22<br />
Service Das historische Stichwort<br />
Der deutsche<br />
Generalstab<br />
Am 26. August dieses Jahres<br />
wurde durch den Bundesminister<br />
der Verteidigung der<br />
Generalinspekteur der Bundeswehr,<br />
General Wolfgang Schneiderhan, mit<br />
erweiterten und nun umfassenden<br />
Befehlsbefugnissen für die Planung,<br />
Vorbereitung und Führung aller im<br />
Einsatz befindlichen Verbände der Bundeswehr<br />
ausgestattet.<br />
Historisch betrachtet ist diese Befehlsgewalt<br />
für den höchsten deutschen Soldaten<br />
jedoch keineswegs neu. Nach<br />
der Niederlage der preußischen Armee<br />
gegen das napoleonische Frankreich<br />
schuf der preußische Generalquartiermeister<br />
Gerhard von Scharnhorst im<br />
Zuge der allgemeinen Heeresreform ein<br />
damals neuartiges militärisches Führungsorgan,<br />
das nach dem Ende der<br />
Befreiungskriege 1813/14 offiziell den<br />
Namen »Generalstab« erhielt. Dessen<br />
Aufgabe bestand zunächst darin, zur<br />
Steigerung der Führungsleistung hoher<br />
und höchster Truppenführer wissenschaftlich<br />
gebildete und in systematischer<br />
Stabsarbeit besonders geschulte<br />
<strong>Militärgeschichte</strong> · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/<strong>2002</strong><br />
Kaiser Wilhelm II., Hindenburg und Ludendorff vor einer Generalstabskarte im Jahre<br />
1914. Farbige Postkarte, bpk<br />
Generalstabsoffiziere auszubilden. Die-<br />
se sollten sowohl operative als auch<br />
logistische Aufgaben übernehmen und<br />
so den Truppenführer entlasten und<br />
beraten.<br />
Nach der Ernennung des späteren<br />
Generalfeldmarschalls Helmuth Graf<br />
von Moltke zum Chef des preußischen<br />
Generalstabs im Jahre 1857 entwickelte<br />
sich der preußische Generalstab<br />
zur höchsten militärischen Autorität<br />
in Preußen und nach den Einigungskriegen<br />
im Deutschen Reich insgesamt.<br />
Die von Moltke im Deutsch-Französi-<br />
Generalmajor Henning von Tresckow. Seit 1941 im Generalstab der Heeresgruppe Mitte. bpk<br />
schen Krieg von 1870/71 entwickelten<br />
Verfahren der Stabsarbeit wurden für<br />
die Arbeit in den Großverbänden bis<br />
zum Ersten Weltkrieg und sogar bis<br />
in die Gegenwart zum Vorbild. Insbesondere<br />
das Prinzip des »Führens mit<br />
Auftrag« (Auftragstaktik) wird bis in<br />
die Gegenwart hinein als erfolgreiches<br />
Führungsverfahren angesehen. Im Verlauf<br />
des Ersten Weltkriegs entwickelte<br />
sich der Generalstab zur politisch-militärischen<br />
Führungsinstanz im Deutschen<br />
Reich und bildete zusammen<br />
mit anderen Bestandteilen des Großen<br />
Hauptquartiers den Hauptbestandteil<br />
der Obersten Heeresleitung. Seit 1916<br />
wurde der Generalstab von Generalfeldmarschall<br />
Paul von Hindenburg<br />
und seinem Ersten Generalquartiermeister<br />
General Erich Ludendorff<br />
geführt. Der Generalstab beeinflusste<br />
nun zunehmend auch den politischen<br />
und wirtschaftlichen Bereich der<br />
Reichsleitung und dominierte bis 1918<br />
alle Bereiche des Staatswesens. Das<br />
Reich befand sich schließlich weitgehend<br />
in der Hand des Militärs.<br />
Nach dem Ersten Weltkrieg wurde dem<br />
Deutschen Reich durch die Bestimmungen<br />
des Versailler Vertrags die Beibehaltung<br />
des Generalstabs verboten.<br />
Dieses Verbot umging die Reichswehrführung<br />
durch die Schaffung eines<br />
»Truppenamts«, das Ausbildungs- und<br />
Führungsfunktionen eines Generalstabes<br />
wahrnahm und damit die Voraussetzungen<br />
für den späteren Aufwuchs<br />
eines deutschen Generalstabes
schuf. Nach der Machtübernahme<br />
durch die Nationalsozialisten im Jahre<br />
1933 wurden dann ungeachtet des Versailler<br />
Verbots ab 1935 ganz offen das<br />
Oberkommando der Wehrmacht und<br />
drei Führungsstäbe der Teilstreitkräfte<br />
Heer, Luftwaffe und Marine geschaffen,<br />
die allesamt Generalstabsaufgaben<br />
wahrnahmen. Obwohl einerseits<br />
zahlreiche Generalstabsoffiziere maßgeblich<br />
an der operativen Planung und<br />
Umsetzung der deutschen Kriegsvorbereitungen<br />
Anteil hatten, waren es<br />
andererseits vor allem Generalstabsoffiziere<br />
des Heeres wie etwa Generaloberst<br />
Ludwig Beck, Generalmajor<br />
Henning von Tresckow oder Oberst<br />
i.G. Claus Schenk Graf von Stauffenberg,<br />
die sich zu koordiniertem militärischen<br />
Widerstand gegen das NS-<br />
Regime entschlossen.<br />
Mit der bedingungslosen Kapitulation<br />
der deutschen Wehrmacht und dem<br />
Untergang des Dritten Reichs im Mai<br />
1945 endete zugleich auch die mehr als<br />
einhundertdreißigjährige Geschichte<br />
des deutschen Generalstabs. Dieser<br />
war von Hitler während des Zweiten<br />
Die Ausbildung zum<br />
Generalstabs-/Admiral-<br />
stabsoffizier an der<br />
Führungsakademie der<br />
Bundeswehr in Hamburg<br />
findet heute regelmäßig<br />
mit breiter internationaler<br />
Beteiligung statt.<br />
Fotos: FüAkBw<br />
Weltkriegs zwar zunehmend entmachtet<br />
worden, wurde aber dennoch 1946<br />
im »Nürnberger Prozeß« als verbrecherische<br />
Organisation angeklagt und<br />
verboten, als Führungsgremium durch<br />
den Internationalen Militärgerichtshof<br />
aber freigesprochen.<br />
Die Bundeswehr hält seit ihrer Gründung<br />
an der Ausbildung besonders<br />
befähigter und ausgewählter Offiziere<br />
zu Generalstabsoffizieren fest. In der<br />
Nationalen Volksarmee der DDR gab<br />
es mit dem »Hauptstab« sogar ein zentrales,<br />
Generalstabsaufgaben wahrnehmendes<br />
Planungs- und Führungsorgan,<br />
dessen Umbenennung in »Generalstab«<br />
1982/83 nur am Veto der<br />
Sowjetunion scheiterte. Die Bundeswehr<br />
verfügt heute mit dem Einsatzführungskommando,<br />
dem Heeresführungskommando<br />
und dem neu<br />
geschaffenen, als Entscheidungsgremium<br />
unter Vorsitz des Generalinspekteurs<br />
tagenden Einsatzrat über<br />
Strukturelemente, die dem klassischen<br />
Generalstab zumindest recht nahe<br />
kommen.<br />
Falko Heinz/ag/ch<br />
Truppenamt<br />
Der »Große Generalstab« und die Kriegsakademie<br />
waren im Versailler Vertrag<br />
verboten worden. Dieses Manko glich<br />
General Hans von Seeckt, 1919/20 Chef<br />
des Truppenamtes und danach Chef der<br />
Heeresleitung, dadurch aus, da er im<br />
neu geschaffenen Truppenamt für die<br />
Siegermächte weitgehend unbemerkt<br />
Generalstabsaufgaben wahrnehmen ließ.<br />
Im Einzelnen handelte es sich hier um<br />
Operationsplanung und Truppenführung.<br />
Generaloberst von Seeckt<br />
Zudem wurden einzelne Abteilungen des<br />
ehemaligen Großen Generalstabs in den<br />
zivilen Bereich ausgegliedert, so die Eisenbahnabteilung<br />
ins Verkehrsministerium<br />
oder die kriegsgeschichtliche Abteilung ins<br />
Reichsarchiv. Dort konnten die Generalstabsoffiziere<br />
nun, als Zivilisten getarnt,<br />
weiterhin ihrer Arbeit nachgehen.<br />
Gleichwohl blieb dieser verdeckte Generalstab<br />
in der Reichswehr hinter seiner<br />
Machtstellung im Kaiserreich zurück: An<br />
der Spitze der Armee stand nun der<br />
Reichswehrminister, der Chef des Truppenamts<br />
rangierte dagegen noch hinter<br />
dem Chef der Heeresleitung.<br />
In der Ausbildung neuer Generalstabsoffiziere<br />
zwang das Fehlen der Kriegsakademie<br />
Seeckt zu einem Kunstgriff: In<br />
»Wehrkreisprüfungen«, einem Auswahlverfahren,<br />
dessen Schwerpunkt die Taktik auf<br />
der Ebene des Infanterieregiments bildete,<br />
wurden befähigte Offiziere für eine zweijährige<br />
Ausbildung bei den Gruppenkommandos<br />
ausersehen. Nur die besten dieser<br />
Ausgewählten (ca. 15 von 70) konnten dann<br />
noch ein drittes Jahr an einem zentralen<br />
Lehrgang in Berlin teilnehmen. Am Ende<br />
des Lehrgangs beendeten in der Regel nur<br />
acht bis zehn Offiziere erfolgreich diese<br />
anspruchsvolle Ausbildung.<br />
<strong>Militärgeschichte</strong> · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/<strong>2002</strong> 23<br />
Bundesarchiv Bild 146/76/26/2A
24<br />
Service Medien online/digital<br />
Unsere Themen<br />
im Internet<br />
n line<br />
Ein Klassiker unter den<br />
Geschichtsnachschlagewerken<br />
und für jeden Geschichtsinteressierten<br />
eine schier unerschöpfliche<br />
Fundgrube ist »Der Ploetz«. In Buchform<br />
hat »Der Große Ploetz« einen<br />
Umfang von über 2000 Seiten, was<br />
eine schnelle Benutzung behindert und<br />
auch die kleinere, bebilderte Version<br />
(der »Farbige Ploetz«) ist mittlerweile<br />
annähernd 1000 Seiten stark.<br />
Nun gibt es beide Bücher auch als<br />
CD-ROM, als Vorlage diente dabei die<br />
jeweils aktuelle Buchausgabe. Die CD<br />
funktioniert unabhängig von der jeweiligen<br />
PC-Plattform und kann auf allen<br />
Systemen, die über einen Acrobat-Reader<br />
ab Version 5.05 verfügen, genutzt<br />
werden (alle Microsoft Betriebssysteme<br />
ab Windows 95, Apple Mac ab OS<br />
8.6 sowie Linux und Unix Workstations).<br />
Allerdings ist das verwendete<br />
Adobe Acrobat-Format recht langsam<br />
bei Suchfunktionen und Seitenaufbau.<br />
Insgesamt nutzt das Programm die<br />
digitalen Möglichkeiten nicht voll aus.<br />
So gibt es nur wenige Verknüpfungen<br />
(Hyperlinks) von Textstellen innerhalb<br />
der eigentlichen Seiten, statt dessen<br />
blättert man durch die digitale Version<br />
Seite für Seite wie bei einem Buch. Die<br />
Exportfunktionen sind eingeschränkt<br />
und funktionieren nicht immer fehlerfrei.<br />
Das Menü für Suchfunktionen auf<br />
der Nutzeroberfläche ist gewöhnungsbedürftig<br />
und auch das Inhaltsverzeichnis<br />
ist unübersichtlich und wenig<br />
bedienfreundlich. Immerhin kann der<br />
Nutzer über die Werkzeuge vom Acrobat<br />
Reader die Darstellungsgröße individuell<br />
anpassen, was besonders bei<br />
Tabellen, Grafiken und Landkarten<br />
nützlich ist.<br />
Neben den erwähnten Schwierigkeiten<br />
bietet der Ploetz auf CD-ROM aber<br />
eine Reihe von Vorzügen. Eine gezielte<br />
Suche nach einem Namen (z.B. General<br />
<strong>Militärgeschichte</strong> · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/<strong>2002</strong><br />
@<br />
Der Farbige Ploetz,<br />
Düsseldorf <strong>2002</strong>.<br />
ISBN 3-8155-9486-3;<br />
1 CD-ROM,<br />
19,90 €<br />
Der Grosse Ploetz,<br />
Düsseldorf 2001.<br />
ISBN 3-8155-9484-7;<br />
1 CD-ROM,<br />
39,95 €<br />
Friedrich Paulus), einem Datum (z.B.<br />
30. Januar 1943) oder einem Ort (z.B.<br />
Stalingrad) führt mit der CD-Version<br />
schneller und einfacher zum Erfolg als<br />
mit dem überdicken Großen Ploetz.<br />
Für Lehrende an Schulen oder anderen<br />
Einrichtungen ist vor allem der<br />
Farbige Ploetz besonders geeignet. Die<br />
vielen Tabellen, Grafiken Landkarten<br />
und Artikel sind sehr ansprechend<br />
gestaltet und eignen sich für Unterricht<br />
und Ausbildung z.B., wenn es um den<br />
Überblick zu einer Epoche geht. Der<br />
Große Ploetz ist kaum bebildert, dafür<br />
sind aber die Artikel deutlich umfangreicher<br />
und bieten mehr Informationen.<br />
Mit dem Printmedium gemeinsam<br />
hat der Ploetz auf CD-ROM, dass man<br />
ihn als gutes Nachschlagewerk sowohl<br />
für die Vorbereitung auf den Unterricht<br />
als auch für den schnellen Überblick<br />
zu einem Thema nutzen kann.<br />
Fazit: Sowohl der Große als auch der<br />
Farbige Ploetz bleiben hinter den technischen<br />
Möglichkeiten zurück. Ansonsten<br />
stellen beide eine Alternative zum<br />
Printmedium dar, weil das Nachschlagen<br />
recht einfach und schnell geht, speziell<br />
über die Suchfunktion lassen sich<br />
Artikel leichter und schneller finden als<br />
über den Index des gedruckten Werkes.<br />
Wer aber schon einen Ploetz als Buch<br />
hat, braucht die digitale Version nicht –<br />
manchmal ist weniger auch mehr.<br />
Texte, sei es in Buchform oder als digitale<br />
Version, können oftmals nicht die<br />
Informationen vermitteln, die Bilder,<br />
Grafiken oder Tabellen beinhalten.<br />
Aber auch Landkarten enthalten viele<br />
Angaben und machen Zusammenhänge<br />
erst deutlich, die ein geschriebener<br />
Text nur sehr schwer beschreiben<br />
kann. Daher haben viele historisch Interessierte<br />
in ihrem Bücherregal einen<br />
speziellen Geschichts-Atlas stehen.<br />
Klassiker wie der »Bayerische Schulatlas«<br />
oder der »Putzger« sind zwar sehr<br />
bewährt, haben allerdings auch ihren<br />
Preis.<br />
Eine preisgünstige und faszinierende<br />
Alternative bietet auch hier das Internet.<br />
Wer Ansichten über die politische<br />
oder wirtschaftliche Entwicklung deutscher<br />
Länder, einzelner Regionen oder<br />
Europas sucht, findet unter<br />
www.ieg-maps.uni mainz.de<br />
die passende Karte. Die farbigen übersichtlichen,<br />
klaren und teilweise sogar<br />
animierten Landkarten, die das Ins-
titut für Europäische Geschichte in<br />
Mainz präsentiert, sind nicht nur wunderschöön<br />
anzuschauen, sondern auch<br />
hochinteressant. So kann man auf ihnen<br />
erkennen, wie einzelne Staaten sich<br />
territorial ausdehnten, welche Gebiete<br />
z.B. nach Kriegen den Besitzer wechselten,<br />
ja sogar, wann welche Stadtteile<br />
einzelnen Großstädten eingemeindet<br />
wurden. Diese Seite ist für alle diejenigen<br />
ein Muss, die über die in den letzten<br />
Jahren vielfältigen Veränderungen<br />
auf der politischen Landkarte Europas<br />
informiert sein wollen.<br />
3www.ieg-maps.uni mainz.de<br />
3 Waldemar Grosch,<br />
Geschichte im Internet.<br />
Tipps, Tricks und Adressen,<br />
Schwalbach/Ts. <strong>2002</strong>.<br />
ISBN 3-87920-065-3;<br />
167S.,<br />
10,-€<br />
Geschichte im Internet ist längst nichts<br />
Neues mehr, auch zu Geschichtsthemen<br />
haben sich die Angebote vervielfacht<br />
– wer soll da den Überblick<br />
behalten? Ein kleines Taschenbuch leistet<br />
neuerdings nützliche Hilfe. Wer sich<br />
die zeitintensive und häufig auch nervenaufreibende<br />
Suche im Netz sparen<br />
möchte (von Kosten für Verbindungsentgelte<br />
ganz zu schweigen), kann nun<br />
ganz in Ruhe auf 160 Buchseiten das<br />
gewünschte Angebot finden. Ein klar<br />
gegliedertes Inhaltsverzeichnis und<br />
eine Bewertung aller Seiten hilft frei<br />
von Werbung beim Suchen und erspart<br />
dem Suchenden so manche sinnlose<br />
Seite im www. Von Antike und Mittelalter<br />
bis zum 20. Jahrhundert; Archive<br />
und Bibliotheken; Preußen, Deutschland<br />
und Europa und Erster und Zweiter<br />
Weltkrieg, Vietnam-, Kalter- und<br />
Atomkrieg – Geschichte im Internet<br />
bietet für jeden etwas!<br />
<strong>Militärgeschichte</strong> · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/<strong>2002</strong> 25<br />
ch
Stalingrad<br />
Antony Beevor,<br />
Stalingrad,<br />
München <strong>2002</strong>.<br />
ISBN 3-442-15101-5;<br />
544 S.,<br />
12,45 €<br />
26<br />
Service Lesetipp<br />
Selten waren sich Forscher und Zeitzeugen<br />
so einig: Die Schlacht um Stalingrad<br />
gilt nach wie vor als eine der<br />
bedeutendsten des Unternehmens »Barbarossa«,<br />
jenes verbrecherischen Vernichtungskrieges<br />
gegen die Sowjetunion, der<br />
am 22. Juni 1941 mit dem Überfall der<br />
deutschen Wehrmacht auf die Rote Armee<br />
seinen Anfang genommen hatte. Der ehemalige<br />
britische Berufsoffizier Antony<br />
Beevor hält sie sogar für kriegsentscheidend.<br />
Stalingrad markiert nicht nur den<br />
Wendepunkt des Krieges im Osten. Das<br />
Wort Stalingrad wirkt auch heute noch, 60<br />
Jahre nach dem Untergang der 6. Armee,<br />
als Fanal. Die Stadt, die den Namen des<br />
feindlichen Diktators trug, wurde zum<br />
Synonym für die Grausamkeit und die<br />
Sinnlosigkeit des Krieges schlechthin.<br />
Beevor erzählt spannend und eindringlich<br />
die Geschichte dieser Schlacht. Seine<br />
Darstellung stützt sich auf die Befragung<br />
von Zeitzeugen und das Studium<br />
unzähliger Dokumente sowie Briefe und<br />
Tagebücher von Soldaten, aber auch bislang<br />
unter Verschluss gehaltener Geheimdienstunterlagen.<br />
Beevor schildert nicht<br />
nur anschaulich den mörderischen Häuserkampf<br />
in der Stadt aus deutscher und<br />
sowjetischer Sicht. Er beleuchtet auch<br />
ausführlich die Vor- und Nachgeschichte<br />
der Schlacht. Zahlreiche Fotos und ein<br />
ausführlicher Anhang über die beteiligten<br />
Truppenverbände runden das Werk<br />
ab. Ausführliche Personen- und Ortsregister<br />
machen das Buch zudem zu einem<br />
idealen Nachschlagewerk für denjenigen,<br />
der sich gezielt über Einzelheiten<br />
informieren will. Ein Wermutstropfen ist<br />
die ungewöhnlich hohe Zahl von Druckfehlern,<br />
die aber den Inhalt nicht berühren<br />
und den hervorragenden Gesamteindruck<br />
des Werkes nicht trüben können.<br />
Christian Kerper<br />
Das größere Europa<br />
<strong>Militärgeschichte</strong> · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 3/<strong>2002</strong><br />
Im November des Jahres <strong>2002</strong> wurde<br />
eine Anzahl mittlerer und kleiner<br />
Länder von den NATO-Mitgliedsstaaten<br />
eingeladen, der Allianz beizutreten.<br />
Wenngleich die neuen Mitglieder keine<br />
großen Armeen in das Bündnis einbringen<br />
werden, so wird doch das Territorium<br />
der NATO erheblich ausgeweitet:<br />
Von der Nordostspitze der Ostsee bis<br />
zum Schwarzen Meer wird demnächst<br />
Manfred Scheuch,<br />
Das größere Europa. Polen, Ungarn,<br />
Tschechien, Slowakei, Slowenien und die<br />
Baltischen Staaten in Geschichte und<br />
Gegenwart, Wien <strong>2002</strong>.<br />
ISBN 3-85498-169-4,<br />
200 S. mit 235 Farb- und Schwarzweiß-Abb.,<br />
49,90 €<br />
das Nordatlantische Bündnis den militärischen<br />
Schutz seiner Mitglieder gewährleisten.<br />
Damit haben die nord- und süd-<br />
osteuropäischen Staaten Europas einen<br />
Transformationsprozess abgeschlossen,<br />
der beeindruckt: Aus den ehemaligen<br />
sowjetischen Teilrepubliken bzw. Warschauer-Pakt-Staaten<br />
werden nun Mitglieder<br />
des westlichen Bündnisses. Doch<br />
was wissen wir über die Staaten Estland,<br />
Lettland und Litauen im Nordosten oder<br />
Slowenien im Südosten? Nach dem<br />
Zusammenbruch der sowjetischen Herrschaft<br />
wurde Europa erstmals nicht nur<br />
ein geographischer, sondern ein politischer<br />
Begriff. Seit 1989/90 haben die<br />
bis dahin durch den Eisernen Vorhang<br />
isolierten Staaten sich Schritt für Schritt<br />
an den Westen angenähert; Polen, Ungarn<br />
und die Tschechische Republik sind<br />
bereits seit einigen Jahren Mitglieder<br />
der NATO. Nun soll die zweite Welle<br />
der Beitritte erfolgen. Manfred Scheuch<br />
beschreibt dieses »größere Europa« in<br />
seinem Buch und stellt die Länder Polen,<br />
Ungarn, Tschechien, Slowakei, Slowe-<br />
nien, Litauen, Lettland und Estland in<br />
historischen Kurzporträts vor. Der<br />
Schwerpunkt liegt auf der jüngeren<br />
Geschichte dieser Länder, d.h. etwa ab<br />
dem Beginn des 19. Jahrhunderts. Ausführlich<br />
wird die Gründung von Nationalstaaten<br />
infolge des Ersten Weltkrieges<br />
dargestellt und die politischen und gesellschaftlichen<br />
Verhältnisse in den Ländern<br />
in der Zeit zwischen den Weltkriegen<br />
beschrieben. Es folgt die Darstellung der<br />
Kriegszeit wie auch der anschließenden<br />
– für die dortige Bevölkerung teilweise<br />
bis heute traumatischen – sowjetischen<br />
Besetzung sowie des Kampfes der Länder<br />
um Eigenstaatlichkeit und Unabhängigkeit<br />
bis zum Anfang der neunziger Jahre.<br />
Viele eindrucksvolle Bilder, einige ausgewählte<br />
Daten über Landesgröße, Bevölkerung<br />
und Geschichte sowie sehr hilfreiche<br />
historische Landkarten und Schaubilder<br />
bringen dem Leser die bald nicht mehr<br />
ganz so fernen Länder jenseits des früheren<br />
Eisernen Vorhangs näher und vermitteln<br />
einen Eindruck vom »größeren<br />
Europa«. ch<br />
Raketenspuren in Peenemünde<br />
Bevor die Oder sich in die Ostsee<br />
ergießt, liegt zwischen dem Fluss und<br />
dem offenen Meer noch eine lang gezogene<br />
Insel: Usedom. Heute wie früher<br />
liegt die Urlaubsinsel weit abgelegen von<br />
großen Siedlungen und von menschlicher<br />
Hektik, hier ist die See das beherrschende<br />
Element. Doch am 3. Oktober<br />
1942 wird diese Stille jäh durchbrochen.<br />
Im dicht bewaldeten Gelände der »Hee-<br />
Volkhard Bode und<br />
Gerhard Kaiser,<br />
Raketenspuren.<br />
Peenemünde<br />
1936–2000,<br />
4. Aufl.,<br />
Berlin <strong>2002</strong>.<br />
ISBN 3-86153-239-5;<br />
211 S. mit 275 Fotos<br />
und Abb.,<br />
15,50 €<br />
resversuchsanstalt« geschieht an diesem<br />
Tag etwas Sensationelles: Zum ersten Mal<br />
gelingt der Start einer Rakete, die mit<br />
doppelter Schallgeschwindigkeit in Richtung<br />
Weltraum aufsteigt und anschließend<br />
– nach gerade einmal fünf Minuten<br />
Flugzeit – kontrolliert auf die Ostsee aufschlägt<br />
und dort versinkt.
Was dort in der Nähe des kleinen Fischerdorfes<br />
Peenemünde geschieht, ist allerdings<br />
alles andere als die Geburtsstunde<br />
der zivilen Raumfahrt. Vielmehr ist es<br />
der Beginn einer völlig neuen Waffenart,<br />
der Fernkampfrakete, die dort seit Mitte<br />
der dreißiger Jahre in Peenemünde von<br />
einem Heer deutscher Wissenschaftler<br />
entwickelt wurde. Auf Grundlage der<br />
dort hergestellten Muster werden nach<br />
dem Krieg die Interkontinentalraketen<br />
der Supermächte entwickelt, die mit ihren<br />
Atomsprengköpfen die Grundlage der<br />
nuklearen Abschreckung bilden.<br />
Peenemünde ist zum Symbol der deutschen<br />
»Vergeltungswaffen« geworden,<br />
mit denen die nationalsozialistische Führung<br />
hoffte, noch eine Wende in dem verlorenen<br />
Krieg herbeiführen zu können.<br />
Zwischen Juni und September 1944<br />
werden fast zehntausend »V-2-Raketen«<br />
auf London, später auch auf andere Ziele<br />
in England und Holland abgeschossen,<br />
richten dort verheerenden Schaden an,<br />
kosten tausende Menschenleben und verbreiten<br />
Angst und Schrecken unter der<br />
wehrlosen Zivilbevölkerung. Doch auch<br />
in Deutschland sind die V-Waffen und<br />
ihre Konstrukteure Inbegriff des Terrors.<br />
Die weitläufigen Anlagen in Peenemünde<br />
werden von Zwangsarbeitern errichtet,<br />
nach alliierten Bombenangriffen auf die<br />
Insel im August 1943 werden die Fertigungsanlagen<br />
verlegt, zunächst nach<br />
Polen, dann in unterirdische Fabriken im<br />
Harz. Gefangene aus Konzentrationslagern<br />
müssen in diesen Stollen die V-2<br />
montieren; im Konzentrationslager Mittelbau-Dora<br />
sterben Tausende an Misshandlungen<br />
und den Folgen der Haft.<br />
Nach dem Krieg werden die Produktionsanlagen<br />
zur begehrten Beute bei Amerikanern<br />
und Sowjets, der Wettlauf um<br />
die technologische Hinterlassenschaft in<br />
Peenemünde hat nun begonnen. Seit den<br />
fünfziger Jahren bestimmt dann das Militär<br />
der DDR im Ort; Volksmarine und<br />
Luftwaffe unterhalten hier große Garnisonen,<br />
bis diese mit der Auflösung der<br />
NVA schließlich geschlossen werden.<br />
Das Buch »Raketenspuren« berichtet von<br />
der Geschichte eines kleinen Ortes, der<br />
sechzig Jahre lang Symbol für militärische<br />
Geheimhaltung war. Heute kann<br />
man mit Hilfe des Buches in Peenemünde<br />
die Hinterlassenschaft des Weltkrieges<br />
und des Kalten Krieges auf der schönen<br />
Urlaubsinsel Usedom erfahren. ch<br />
Die Wurzeln des<br />
alliierten Sieges<br />
Warum gewannen die Alliierten den<br />
Zweiten Weltkrieg? Auf diese<br />
Frage gibt es zahlreiche Antworten, und<br />
manche würden sie gar für überflüssig<br />
erklären, so eindeutig ist schließlich die<br />
Niederlage des Deutschen Reichs und<br />
seiner Verbündeten ausgefallen. Warum<br />
also ein Buch zu einer solchen Frage? Die<br />
Antwort könnte lauten, dass Overy in<br />
typisch britischer Art ein Buch geschrieben<br />
hat, das nicht von Fußnoten strotzt<br />
und trotzdem (oder gerade deshalb) eine<br />
große Detailfülle mit einer angenehmen<br />
Lesbarkeit verbindet. Sicherlich ist die<br />
eine oder andere These dieses Londoner<br />
Professors diskussionswürdig, aber er<br />
zeichnet insgesamt ein vielfältiges Bild<br />
der Ursachen des alliierten Sieges, das<br />
manchmal vertretene monokausale Erklärungen<br />
wie wirtschaftliche Dominanz<br />
oder Luftüberlegenheit souverän als zu<br />
kurz greifend entlarvt. Vor allem betont<br />
Overy, dass die Alliierten den Sieg nicht<br />
geschenkt bekamen, sondern dafür große<br />
Opfer bringen mussten - was angesichts<br />
der Verlustzahlen eindrucksvoll belegt<br />
ist, oft aber vergessen wird.<br />
Richard Overy,<br />
Die Wurzeln des Sieges.<br />
Warum die Alliierten den<br />
Zweiten Weltkrieg<br />
gewannen,<br />
Hamburg <strong>2002</strong><br />
(Taschenbuch).<br />
ISBN 3-499-61314;<br />
496 S.,<br />
12,90 €<br />
Von Luftherrschaft und Bombenkrieg<br />
über operative und taktische Verbesserungen,<br />
die ganz zentrale Bedeutung der<br />
Logistik bei den Alliierten (bzw. ihre<br />
sträfliche Vernachlässigung seitens der<br />
Wehrmacht) bis hin zur unterschiedlichen<br />
Koordination ziviler und militärischer<br />
Organe werden einzelne Punkte<br />
beleuchtet und mit großer Erzählfreude<br />
ausgeschmückt.<br />
Insgesamt ein schwungvoll geschriebenes<br />
Buch, dessen Lektüre jedem am Zweiten<br />
Weltkrieg Interessierten empfohlen<br />
werden kann. ag<br />
Berliner Mauer-Radweg<br />
o stand eigentlich die Mauer?«<br />
»W fragen Berlin-Besucher immer<br />
wieder. Und selbst Berliner haben heute,<br />
gerade mal zehn Jahre nach dem Ende<br />
der DDR und dem Abriss ihres Beton<br />
gewordenen Synonyms Probleme, diese<br />
Frage präzise zu beantworten. Vorbei<br />
sind die Zeiten, als man am Potsdamer<br />
Platz nach drüben schauen oder mit<br />
der West-Berliner U-Bahn durch Geisterbahnhöfe<br />
unterhalb des Ostteils der<br />
Stadt fahren konnte. Nach 1989/90 wollten<br />
die meisten Berliner, dass die Mauer<br />
möglichst schnell aus dem Stadtbild verschwindet.<br />
Zu den wenigen, die sich<br />
dafür einsetzten, dass Teile der Mauer<br />
unter Denkmalschutz gestellt werden,<br />
gehörte der ehemalige Berliner Regierende<br />
Bürgermeister und Bundeskanzler<br />
Willy Brandt. Bereits am 10. November<br />
1989 forderte er öffentlich, ein Stück von<br />
jenem scheußlichen Bauwerk als Erinnerung<br />
an ein historisches Monstrum<br />
stehen zu lassen.<br />
Wer heute den Verlauf der ehemals fast<br />
300 Kilometer befestigter Grenze rund um<br />
West-Berlin nachvollziehen möchte, kann<br />
sich nun mit Hilfe eines speziellen Stadtplanes<br />
auf die Suche machen.<br />
37 detaillierte Karten führen den<br />
Leser durch die geteilte Stadt<br />
und das Umland, historische und<br />
aktuelle Aufnahmen des Gebietes<br />
werden gegenübergestellt<br />
und die (Mauer-)Geschichte der<br />
Orte erzählt. Erstaunt stellt man<br />
fest, dass kaum noch etwas<br />
stehen geblieben ist von der<br />
Grenzlinie des Kalten Krieges.<br />
An einigen wenigen Stellen findet man<br />
noch ein paar Betonelemente, einen alten<br />
Wachturm oder einen Kolonnenweg der<br />
DDR-Grenztruppen. An der Bernauer<br />
Straße in der Berliner Innenstadt sind<br />
sogar hundert Meter der Mauer originalgetreu<br />
wieder aufgebaut worden –<br />
als Gedenkstätte und Touristenattraktion.<br />
Das Radtourenbuch eignet sich hervorragend<br />
für Berliner wie auch für Auswärtige,<br />
die zu Fuß, mit dem Fahrrad<br />
oder mit Bus und Bahn dieses besondere<br />
Kapitel der Berliner wie auch der Weltgeschichte<br />
selber »erfahren« wollen. ch<br />
Michael Cramer, Berliner Mauer-Radweg. Eine<br />
Reise durch die Geschichte Berlins, 2. überarb.<br />
und erw. Aufl., Rodingersdorf (Österreich)<br />
<strong>2002</strong>. ISBN 3-85000-074-5; 131 S., 9,90 €<br />
<strong>Militärgeschichte</strong> · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 3/<strong>2002</strong> 27
• B e r l i n<br />
Die Giganten. Aus der<br />
Geschichte der deutschen<br />
Grossflugzeuge.<br />
Luftwaffenmuseum der<br />
Bundeswehr<br />
Groß-Glienicker Weg<br />
14089 Berlin-Gatow<br />
Telefon: (030) 36 87 – 26 01<br />
Telefax: (030) 36 87 – 26 10<br />
www.luftwaffenmuseum.de<br />
Dienstag bis Sonntag<br />
9.00 bis 17.00 Uhr<br />
5. Dezember <strong>2002</strong><br />
bis 17. März 2003<br />
Verkehrsanbindungen:<br />
Buslinien 134, 334 und 638<br />
• B o r d e s h o l m<br />
Deutsche Jüdische<br />
Soldaten. Von der Epoche<br />
der Emanzipation bis zum<br />
Zeitalter der Weltkriege<br />
Verwaltungsschule/<br />
Verwaltungsakademie<br />
Bordesholm<br />
Heitzestrasse 13<br />
24582 Bordesholm<br />
18. Dezember <strong>2002</strong><br />
bis 25. Februar 2003<br />
Ansprechpartner:<br />
Herr Bautz (<strong>04</strong>322) 693 – 5<strong>04</strong><br />
• C h e m n i t z<br />
Verbrechen der<br />
Wehrmacht. Dimensionen<br />
des Vernichtungskriegs<br />
1941–1944<br />
Schloßbergmuseum<br />
Chemnitz<br />
Schloßberg 12<br />
09113 Chemnitz<br />
Telefon: (03 71) 48 84 52 0<br />
Telefax: (03 71) 48 84 59 9<br />
28<br />
Service Ausstellungen<br />
www.schlossbergmuseum.de<br />
Dienstag bis Freitag<br />
11.00 bis 16.00 Uhr<br />
Samstag, Sonn- und<br />
Feiertag<br />
11.00 bis 17.00 Uhr<br />
ab Februar <strong>2002</strong><br />
Verkehrsanbindungen:<br />
ÖPNV: ab »Hauptbahnhof<br />
Chemnitz« Buslinie 41<br />
Richtung »Heinersdorf« bis<br />
Haltestelle »Nordstraße«.<br />
Fußweg: ab Hauptbahnhof<br />
etwa 20 Minuten.<br />
Pkw: Autobahnen A 4 oder<br />
A 72 bis zur Abfahrt<br />
»Chemnitz-Nord«, dann auf<br />
der B 95 (Leipziger Straße)<br />
Richtung Zentrum und weiter<br />
auf der B 169 + 173 (Richtung<br />
Hainichen bzw. Freiberg)<br />
• H i l d e s h e i m<br />
Napoleon Bonaparte –<br />
Zar Alexander I.<br />
Epoche zweier Kaiser<br />
Roemer- und Pelizaeus-<br />
Museum Hildesheim<br />
Am Steine 1–2<br />
31134 Hildesheim<br />
Telefon: (05121) 9369-0<br />
Telefax: (05121) 352 83<br />
www.rpmuseum.de<br />
Montag bis Sonntag<br />
10.00 bis 18.00 Uhr<br />
<strong>Militärgeschichte</strong> · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/<strong>2002</strong><br />
Verkehrsanbindungen:<br />
Pkw: Autobahn A7 bis<br />
Abfahrten »Hildesheim« und<br />
»Hildesheim-Drispenstedt«,<br />
Parkplatz gegenüber dem<br />
Museum<br />
Fußweg: ab Hauptbahnhof<br />
»Hildesheim« durch die Fußgängerzone<br />
bis zur Kreuzung<br />
»Schuhstraße«, dann nach<br />
rechts bis zum Museum<br />
• I n g o l s t a d t<br />
Die Festungsstadt<br />
Ingolstadt im<br />
15.–19. Jahrhundert<br />
Reduit Tilly<br />
Bayerisches Armeemuseum<br />
Paradeplatz 4<br />
85<strong>04</strong>9 Ingolstadt<br />
Telefon: (08 41) 93 77 0<br />
Telefax: (08 41) 93 77 200<br />
e-mail: sekretariat@<br />
bayerisches-armeemuseum.de<br />
Dienstag bis Sonntag<br />
8.45 bis 16.30 Uhr<br />
bis 30. September 2003<br />
Verkehrsanbindungen:<br />
Ab Hauptbahnhof bis<br />
Bushaltestelle<br />
»Roßmühlstraße/<br />
Paradeplatz«<br />
Preußen und Bayern.<br />
Zeugnisse preußischer<br />
<strong>Militärgeschichte</strong> aus<br />
dem Bayerischen<br />
Armeemuseum<br />
Bayerisches Armeemuseum<br />
Paradeplatz 4<br />
85<strong>04</strong>9 Ingolstadt<br />
Telefon: (08 41) 93 77 0<br />
Telefax: (08 41) 93 77 200<br />
www.bayerischesarmeemuseum.de<br />
Dienstag bis Sonntag<br />
8.00 bis 16.00 Uhr<br />
bis 30. März 2003<br />
Verkehrsanbindungen:<br />
Ab Hauptbahnhof bis<br />
Bushaltestelle<br />
»Roßmühlstraße/<br />
Paradeplatz«<br />
• N e u m ü n s t e r<br />
Verbrechen der<br />
Wehrmacht.<br />
Dimensionen des<br />
Vernichtungskrieges<br />
1941–1944<br />
Kiek In<br />
Gartenstraße 32<br />
24534 Neumünster<br />
Telefon: (<strong>04</strong>321) 4 19 96 97<br />
Telefax: (<strong>04</strong>321) 4 19 96 99<br />
www.ausstellung@<br />
neumuenster.de<br />
www.kiek-in-nms.de<br />
www.verbrechen-derwehrmacht.de<br />
täglich<br />
10.00 bis 18.00 Uhr<br />
Donnerstag<br />
10.00 bis 20.00 Uhr<br />
4. April bis<br />
18. Mai 2003<br />
• N o r d h a u s e n<br />
KZ-Gedenkstätte<br />
Mittelbau-Dora<br />
Kohnsteinweg 20<br />
99734 Nordhausen<br />
Telefon: (03631) 4 95 80<br />
Telefax: (03631) 49 58 13<br />
www.thueringen.de/de/<br />
museen/nordhausen/dora<br />
Dienstag bis Sonntag<br />
10.00 bis 16.00 Uhr<br />
1. Oktober <strong>2002</strong><br />
bis 31. März 2003
• P e e n e m ü n d e<br />
Historisch-Technisches<br />
Informationszentrum<br />
Im Kraftwerk<br />
17449 Peenemünde<br />
Tel.: (038371) 50 50<br />
Fax: (038371) 505 111<br />
www.all-in-all.com/1171.htm<br />
Dienstag bis Sonntag<br />
10.00 bis 16.00 Uhr<br />
November <strong>2002</strong><br />
bis März 2003<br />
• S t r a u s b e r g<br />
Wege zur Freundschaft.<br />
Ausgewählte Zeugnisse der<br />
deutsch-amerikanischen<br />
Beziehungen<br />
Akademie der Bundeswehr<br />
für Information und<br />
Kommunikation/Stätte der<br />
Begegnung<br />
Proetzeler Chaussee 20<br />
15344 Strausberg<br />
19. Februar bis 2. März 2003<br />
Verkehrsanbindungen:<br />
S-Bahnlinie 5 bis<br />
»Strausberg-Nord«<br />
• S u h l<br />
Kalaschnikow.<br />
Mythos und Fluch<br />
einer Waffe.<br />
Waffenmuseum Suhl.<br />
Spezialmuseum zur<br />
Geschichte der<br />
Handfeuerwaffen<br />
Friedrich-König-Straße 19<br />
98527 Suhl<br />
Telefon: (0 36 81) 72 06 98<br />
Telefax: (0 36 81) 72 13 08<br />
www.waffenmuseumsuhl.de<br />
info@waffenmuseumsuhl.de<br />
bis 28. Februar 2003<br />
Dienstag bis Samstag<br />
9.00 bis 16.00 Uhr,<br />
Sonn- und Feiertags<br />
10.00 bis 16.00 Uhr<br />
Verkehrsanbindungen:<br />
Sie finden das<br />
Waffenmuseum direkt<br />
im Stadtzentrum,<br />
gegenüber des Herrenteiches,<br />
zwischen dem Congress<br />
Centrum Suhl und dem<br />
Lauterbogencenter.<br />
• W i l h e l m s h a v e n<br />
Aufstand des Gewissens.<br />
Militärischer<br />
Widerstand gegen<br />
Hitler und das<br />
NS-Regime<br />
1933–1945<br />
Foyer des Stadttheaters<br />
Wilhelmshaven<br />
Virchowstrasse 42–44<br />
20. April bis 15. Juni 2003<br />
• W u s t r a u<br />
Preußische Kadetten<br />
Brandenburg-Preußen<br />
Museum Wustrau<br />
Eichenallee 7A<br />
16818 Wustrau<br />
Telefon: (03 39 25) 70798<br />
Telefax: (03 39 25) 70799<br />
www.brandenburgpreussen-museum.de<br />
Dienstag bis Sonntag<br />
10.00 bis 16.00 Uhr<br />
bis 30. März 2003<br />
Verkehrsanbindungen:<br />
Ab DB-Bahnhof<br />
»Wustrau-Radensleben« Bus<br />
bis »Wustrau-Hauptstraße«.<br />
Autobahn A 24, Abfahrt<br />
»Neuruppin-Süd«<br />
Wie<br />
finde<br />
ich<br />
Ausstellungen?<br />
Interessante Ausstellungen zu Themen Ihrer Wahl und in<br />
Ihrer Nähe können sie ganz gezielt und bequem im Internet<br />
suchen: www.damals.de oder www.webmuseen.de<br />
<strong>Militärgeschichte</strong> · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 2/<strong>2002</strong> 29
3. Februar 1933<br />
30<br />
Service Geschichte kompakt<br />
»Der Tod als der letzte Verbündete Hitlers«.<br />
Fotomontage von Marinus Jacob Kjelgaard (1884–1964), Foto: akg-images<br />
Ansprache Adolf Hitlers vor Befehlshabern<br />
des Heeres und der Marine<br />
<strong>Militärgeschichte</strong> · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/<strong>2002</strong><br />
Bereits wenige Tage nach seiner<br />
»Machtergreifung«, am 3. Februar<br />
1933, sprach Adolf Hitler vor den<br />
Spitzen von Heer und Marine. Die<br />
Ansprache ist nach handschriftlichen<br />
Aufzeichnungen des anwesenden Ge-<br />
neralleutnants Liebmann erhalten.<br />
Hitler kündigte hier verhältnismäßig<br />
offen seine Ziele für die nächsten<br />
Jahre an: Im Innern beabsichtigte<br />
er ein »scharfes Vorgehen« gegen diejenigen, die sich ihm entgegenstellen würden.<br />
Militärpolitisch war für die Zuhörer vor allem die Aussicht auf allgemeine Wehrpflicht<br />
und zügigen Aufbau der Armee bedeutsam. Diese sollte beim angeblich notwendigen<br />
Kampf des deutschen Volkes um »Lebensraum« die entscheidende Rolle spielen, vom<br />
Kampf im Innern sollte sie jedoch entlastet werden, was die anwesenden Offiziere allgemein<br />
positiv aufnahmen.<br />
Noch ungleich bedeutsamer ist jedoch, dass Hitler die Eroberung neuen »Lebensraums im<br />
Osten« und dessen »rücksichtslose Germanisierung« in Aussicht stellte. Er hat hier seine<br />
Ziele sehr deutlich ausgesprochen. Seine Zuhörer unterschätzten allerdings, wie ernst<br />
Hitler es meinte, und waren sich eher darin einig, dass »die Rede kecker als die Tat« sein<br />
werde und mit der Umsetzung solch radikaler Vorstellungen wohl nicht zu rechnen sei.<br />
Insgesamt wurden die Absichten Hitlers aber durchaus positiv aufgenommen; die Offiziere<br />
hörten das heraus, was in ihrem Sinne zu sein schien.<br />
Aus der heutigen Sicht ist diese Rede ein Dokument, das die Einbeziehung der deutschen<br />
Streitkräfte in die nationalsozialistische Kriegführung, den ideologisch motivierten Raub-<br />
und Vernichtungskrieg im Osten, zu einem ganz frühen Zeitpunkt eindrucksvoll belegt.<br />
Gewusst haben also alle führenden Militärs von den Vorstellungen Hitlers über die künftige<br />
Kriegführung und die Kriegsziele, die meisten haben sie allerdings wohl eher nicht<br />
ganz ernst genommen. Gleichwohl hatte der »Führer« an diesem Tag gedanklich vorweggenommen,<br />
was nur gut sechs Jahre später Realität werden sollte. ag<br />
2. Februar 1978<br />
ADN<br />
Rücktritt des Verteidigungsministers<br />
Georg Leber<br />
Am 2. Februar 1978 trat der damalige Verteidigungsminister<br />
Georg Leber von seinem Amt zurück. Den Anlass für den<br />
Sturz des in der Truppe durchaus populären Ministers, dem<br />
die historische Aussöhnung der Streitkräfte mit den Gewerkschaften<br />
gelungen war, bildete dabei eine Abhör-Affäre des<br />
MAD, für die er die Verantwortung übernahm. Hintergrund<br />
des Rücktritts war aber auch ein innerparteilicher Richtungskampf<br />
in der SPD über die Frage, wie weit man beim Kampf<br />
gegen Terrorismus und Spionage gehen dürfe. Mit dem Rücktritt<br />
Lebers konnte sich die Parteilinke in der SPD durchsetzen,<br />
dem Minister wurde ein sensibilisiertes Rechtsbewusstsein zum Verhängnis.<br />
Der MAD hatte 1974 ohne Lebers Wissen dessen Sekretärin in deren Wohnung abgehört,<br />
da sie der Zusammenarbeit mit der DDR-Spionage verdächtigt wurde. Dies stellte<br />
sich nachher jedoch als grundlos heraus. Der Minister erfuhr Anfang 1978 von der illegalen<br />
Abhöraktion, teilte dies aber dem Parlament erst mit, nachdem am 26. Januar 1978<br />
die Illustrierte »Quick« einen entsprechenden Artikel veröffentlicht hatte. Er verschwieg<br />
jedoch die illegale Abhörung des »Kommunistischen Bundes Westdeutschlands« – von<br />
der er nach eigenen Angaben erst im Nachhinein erfahren hatte –, weil er sie für rechtmäßig<br />
gehalten hatte. Erst eine »von ihm angeordnete gründliche juristische Untersuchung«<br />
ergab das Gegenteil – damit war Leber als Minister kaum noch tragbar. Mit seinem Rücktritt<br />
zog er die Konsequenzen für das Handeln des ihm unterstellten Dienstes. ag<br />
<strong>Heft</strong> 1/2003<br />
<strong>Militärgeschichte</strong><br />
<strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung<br />
Ü Vorschau<br />
Die Niederschlagung des sogenannten Boxeraufstandes<br />
in China im Jahr 1900 war ein seltenes<br />
Beispiel von Einmütigkeit unter den ansonsten<br />
in Rivalität und Feindschaft zueinander stehenden<br />
imperialistischen Mächten. Auch Soldaten des<br />
Deutschen Reiches beteiligten sich an dieser internationalen<br />
Intervention. Sie sollte den gewaltsamen<br />
Versuch von Teilen der chinesischen Bevölkerung,<br />
Eigenständigkeit durch Abwehr aller Beeinflussung<br />
von außen zu gewinnen, mit militärischer<br />
Macht niederringen. Dabei wurden nicht nur für<br />
die deutsche politisch interessierte Öffentlichkeit<br />
Begriffe geprägt und Bilder gezeichnet, die jahrzehntelang<br />
Bestand haben sollten.<br />
»The Germans to the front« lautet der Titel des<br />
Gemäldes von Carl Röchling aus dem Jahr 1902<br />
und bezieht sich dabei auf den Befehl von Admiral<br />
Lord Seymour zum Vorrücken deutscher Truppen<br />
unter Korvettenkapitän Buchholz im Juni 1900 in<br />
einer für die Alliierten kritischen Situation. Für die<br />
deutsche Öffentlichkeit standen diese Szene und<br />
dieser Satz symbolhaft für den Aufstieg des Reiches<br />
zur Weltgeltung, da der Vertreter der ersten Weltmacht<br />
– Großbritannien – den deutschen Beitrag<br />
zur Sicherung der Weltordnung einforderte und<br />
benötigte.<br />
Die Rolle des deutschen Kanonenbootes »Iltis« bei<br />
der Bezwingung der Taku-Forts an der chinesischen<br />
Küste am 17. Juni 1900 stand beispielhaft<br />
für den Anteil der Kaiserlichen Marine beim Versuch<br />
des jungen Reiches, eine führende Rolle bei<br />
der globalen Mitgestaltung durchzusetzen.<br />
Als das deutsche Expeditionskorps im Juli 1900<br />
zur zweiten Interventionsaktion nach China verabschiedet<br />
wurde, hielt Wilhelm II. eine Ansprache,<br />
die als »Hunnenrede« in die Geschichte eingehen<br />
sollte. Die Aufforderung, die deutschen Soldaten<br />
sollten es in China den Hunnen im Mittelalter<br />
gleich tun, wurde auch international aufmerksam<br />
verfolgt und sollte den Ententemächten im Ersten<br />
Weltkrieg ein willkommenes Bild für ihre antideutsche<br />
Propaganda liefern. Dabei stand die<br />
Gewalttätigkeit der kaiserlichen Diktion in keinem<br />
Verhältnis zur tatsächlichen militärischen Wirkung<br />
der deutschen Truppen. hk
Übernahme von fast 10000<br />
Grenzschutzbeamten in die<br />
Bundeswehr am 1. Juli 1956<br />
Dass die Aufstellung der Bundeswehr<br />
eine Aufgabe war,<br />
die vor allem personell nicht<br />
von heute auf morgen gelöst werden<br />
konnte, leuchtet auch bei einer vordergründigen<br />
Betrachtung schnell ein.<br />
Schließlich hatte es in Deutschland seit<br />
1945 keine Streitkräfte mehr gegeben,<br />
erst seit 1949 gab es überhaupt die Bundesrepublik,<br />
und die Vorläufer des Verteidigungsministeriums<br />
(im Wesentlichen<br />
das »Amt Blank«) waren noch<br />
jünger. Der erste Verteidigungsminister<br />
Theodor Blank hatte daher schon<br />
vor seiner Ernennung zum Minister,<br />
noch als Leiter der nach ihm benannten<br />
Dienststelle, Personalsorgen. Diese<br />
waren in den 50er Jahren nicht leicht<br />
zu lösen. Die allgemeine Stimmung<br />
in der Bundesrepublik war nach der<br />
Katastrophe des Zweiten Weltkriegs<br />
nicht gerade militärbegeistert. Auch<br />
absorbierte der enorme Wirtschaftsaufschwung,<br />
das »Wirtschaftswunder«,<br />
zahlreiche Arbeitskräfte. Ehemalige<br />
Soldaten hatten sich inzwischen häufig<br />
in zivilen Berufen zurechtgefunden<br />
und überhaupt gab es keine Parallele in<br />
der deutschen Geschichte, eine Armee<br />
quasi aus dem Nichts zu schaffen.<br />
In dieser Situation bot sich Blank<br />
wenigstens eine kleine Entlastungsmöglichkeit.<br />
Schließlich gab es schon<br />
seit 1951 den Bundesgrenzschutz<br />
(BGS), der vornehmlich die innerdeutsche<br />
Grenze (damals noch »Zonengrenze«<br />
genannt) zu sichern hatte. Hier<br />
waren bereits »Grenzjäger« ausgebildet<br />
worden, die von ihrer Ausbildung<br />
und ihrem Tätigkeitsfeld her dem Militär<br />
sehr nahe standen (unser Titelbild)<br />
– viele hatten auch schon in der Wehrmacht<br />
gedient.<br />
Die Debatte um eine Übernahme des<br />
BGS als »Keimzelle« in die neue Bundeswehr<br />
(in der Tagespresse oft noch<br />
als »neue Wehrmacht« bezeichnet) war<br />
<strong>Militärgeschichte</strong> im Bild<br />
Bundesgrenzschutz<br />
3<br />
Theodor Blank bei einer Rede<br />
anlässlich der Übernahme<br />
von BGS-Angehörigen in die<br />
Bundeswehr<br />
Keystone Pressedienst<br />
6WELT am SONNTAG 1955–1956<br />
gleichwohl heftig, am Ende setzten sich<br />
aber die militärischen und sicherheitspolitischen<br />
Vorteile durch. Die Grenzschutzbeamten<br />
durften wählen, ob sie<br />
in die Bundeswehr eintraten, immerhin<br />
gut die Hälfte (knapp 10000 von ca.<br />
17000) entschied sich für den Dienst<br />
in der neuen Armee und wurde am 1.<br />
Juli 1956 formell und acht Tage später<br />
mit einem Großen Zapfenstreich in<br />
die Bundeswehr übernommen. Der<br />
Verteidigungsminister hatte also nun<br />
Soldaten, die schon laufen konnten<br />
(siehe Karikatur), und einige von ihnen<br />
wurden später sogar 4-Sterne-Generale<br />
wie Hans-Joachim Mack, Günter Kießling<br />
und Dieter Clauss.<br />
ag<br />
<strong>Militärgeschichte</strong> · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/<strong>2002</strong> 31
P U B L I K A T I O N E N<br />
des Militärgeschichtlichen<br />
Forschungsamtes<br />
Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes<br />
herausgegeben von Bruno Thoß und Hans-Erich Volkmann,<br />
Paderborn u.a.: Verlag Ferdinand Schöningh <strong>2002</strong>,<br />
45,-€,<br />
ISBN 3-506-79161-3<br />
Erster Weltkrieg –<br />
Zweiter Weltkrieg:<br />
Ein Vergleich<br />
Krieg, Kriegserlebnis,<br />
Kriegserfahrung<br />
in Deutschland