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Zeitschrift Militärgeschichte [Heft 04/2002]

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<strong>Heft</strong> 4/<strong>2002</strong><br />

C 21234 ISSN 0940 – 4163<br />

<strong>Militärgeschichte</strong><br />

<strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung<br />

<strong>Militärgeschichte</strong> im Bild: Bundesgrenzschutz<br />

Friedrich Paulus<br />

Der Untergang der 6. Armee<br />

Stalins V-2<br />

Militärgeschichtliches Forschungsamt<br />

MGFA


IMPRESSUM<br />

<strong>Militärgeschichte</strong><br />

<strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung<br />

Herausgegeben<br />

vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt<br />

durch Jörg Duppler und<br />

Hans-Joachim Harder<br />

Redaktion:<br />

Andreas Groh (ag), Clemens Heitmann (ch),<br />

Herbert Kraus (hk), Andreas Kunz (ak)<br />

Anschrift der Redaktion:<br />

Militärgeschichtliches Forschungsamt<br />

Postfach 60 11 22, 14411 Potsdam<br />

Telefon: (0331) 9714-531<br />

Telefax: (0331) 9714-507<br />

www.mgfa.de<br />

Manuskripte für die <strong>Militärgeschichte</strong> werden<br />

an diese Anschrift erbeten. Für unverlangt<br />

eingesandte Manuskripte wird nicht gehaftet.<br />

Durch Annahme eines Manuskriptes<br />

erwirkt der Herausgeber auch das Recht<br />

zur Veröffentlichung, Übersetzung u.s.w.<br />

Honorarabrechnung erfolgt jeweils nach Veröffentlichung.<br />

Die Redaktion behält sich<br />

Kürzungen eingereichter Beiträge vor. Nachdrucke,<br />

auch auszugsweise, fotomechanische<br />

Wiedergabe und Übersetzung sind nur<br />

nach vorheriger schriftlicher Zustimmung<br />

durch die Redaktion und mit Quellenangaben<br />

erlaubt. Dies gilt auch für die Aufnahme<br />

in elektronische Datenbanken und Vervielfältigungen<br />

auf CD-ROM. Die Redaktion hat<br />

keinerlei Einfluss auf die Gestaltung und die<br />

Inhalte derjenigen Seiten, auf die in dieser<br />

<strong>Zeitschrift</strong> durch Angabe eines Link verwiesen<br />

wird. Deshalb übernimmt die Redaktion<br />

keine Verantwortung für die Inhalte<br />

aller durch Angabe einer Linkadresse in<br />

dieser <strong>Zeitschrift</strong> genannten Seiten und<br />

deren Unterseiten. Dieses gilt für alle ausgewählten<br />

und angebotenen Links und für alle<br />

Seiteninhalte, zu denen Links oder Banner<br />

führen.<br />

© <strong>2002</strong> für alle Beiträge beim<br />

Militärgeschichtlichen Forschungsamt<br />

Sollten nicht in allen Fällen die Rechteinhaber ermittelt<br />

worden sein, bitten wir ggfs. um Mitteilung.<br />

Die Nutzung des Namens »<strong>Militärgeschichte</strong><br />

<strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung« erfolgt<br />

mit freundlicher Unterstützung des Verlages<br />

E.S. Mittler & Sohn.<br />

Herstellung:<br />

Militärgeschichtliches Forschungsamt,<br />

Bernd Nogli, Marina Sandig,<br />

Aleksandar-S. Vuletić<br />

Layout:<br />

Militärgeschichtliches Forschungsamt,<br />

Maurice Woynoski<br />

Druck:<br />

SKN Druck und Verlag GmbH & Co., Norden<br />

ISSN 0940-4163<br />

Editorial<br />

Liebe Leserinnen und Leser,<br />

Das Team der »<strong>Militärgeschichte</strong>«: Maurice Woynoski, Clemens Heitmann,<br />

Marina Sandig, Aleksandar-S. Vuletić, Andreas Groh und Herbert Kraus<br />

Ihnen liegt nun das vierte und letzte<br />

<strong>Heft</strong> der »<strong>Militärgeschichte</strong>« in<br />

diesem Jahr vor. Anfang des Jahres<br />

<strong>2002</strong> hatten wir Ihnen unsere neu gestaltete<br />

<strong>Zeitschrift</strong> erstmals vorgestellt. Seitdem<br />

erscheint die »<strong>Militärgeschichte</strong>«<br />

im blauen Einband; inhaltlich haben wir<br />

viele Anregungen unserer Leser – von<br />

innerhalb wie von außerhalb der Bundeswehr<br />

– aufgegriffen und neue Elemente<br />

eingeführt. So bieten wir Ihnen<br />

nun neben unseren bewährten Artikeln<br />

einen ausführlichen Serviceteil rund um<br />

die <strong>Militärgeschichte</strong>. Es ist unserer Auffassung<br />

nach jetzt noch zu früh, um<br />

ein endgültiges Urteil über unsere neue<br />

<strong>Zeitschrift</strong> zu wagen, doch das deutliche<br />

Überwiegen positiver Leserkritiken, die<br />

uns erreicht haben, lässt uns hoffen, auf<br />

dem richtigen Weg zu sein.<br />

Das vorliegende <strong>Heft</strong> 4/<strong>2002</strong> der »<strong>Militärgeschichte</strong>«<br />

hat erstmals einen thematischen<br />

Schwerpunkt. Anlass ist der<br />

sechzigste Jahrestag des Kampfes und<br />

der Niederlage der deutschen Invasionstruppen<br />

in Stalingrad. Der vormalige<br />

Name der heutigen Stadt Wolgograd ist<br />

weltweit und vor allem in Russland und<br />

Deutschland das weit über den an <strong>Militärgeschichte</strong><br />

interessierten Kreis hinaus<br />

bekannte Symbol für das Scheitern des<br />

deutschen Versuchs, Russland zu erobern<br />

und zu kolonialisieren. Gleichgültig, ob<br />

die Schlacht um Stalingrad tatsächlich<br />

die Wende im Zweiten Weltkrieg einleitete,<br />

im Bewusstsein der meisten Russen<br />

und Deutschen steht die Kapitulation<br />

der deutschen 6. Armee genau dafür.<br />

Und obwohl nach der Tragödie von Stalingrad<br />

im weiteren Verlauf des Krieges<br />

die Zahl der zu beklagenden Menschenopfer<br />

noch erschreckendere Ausmaße<br />

annehmen sollte, steht gerade Stalingrad<br />

auch beispielhaft für Kriegsleid und<br />

Kriegstod in beiden Ländern. Dies war<br />

für die Redaktion Grund genug, einen<br />

thematischen Schwerpunkt zu setzen.<br />

Solche »Themenhefte« sind auch in<br />

der Zukunft in einzelnen ausgewählten<br />

Fällen vorgesehen. Das bedeutet allerdings<br />

nicht, daß wir uns künftig auf<br />

einige wenige Themen beschränken<br />

wollen. Ganz im Gegenteil wollen wir<br />

Ihnen auch in Zukunft die gewohnte<br />

Breite an militärhistorischer Information<br />

durch Aufsätze und unseren Serviceteil<br />

bieten.<br />

Einer Anregung aus Ihren Reihen werden<br />

wir jedoch schon 2003 folgen: Der Anteil<br />

von Beiträgen unterschiedlicher Art<br />

zum Themenbereich deutsche <strong>Militärgeschichte</strong><br />

nach 1945, auch zur Geschichte<br />

der Bundeswehr, soll merklich gesteigert<br />

werden.<br />

Die Redaktion wünscht allen Lesern<br />

ein frohes Weihnachtsfest, ein erfolgreiches<br />

Jahr 2003 und genügend Muße,<br />

die <strong>Zeitschrift</strong> »<strong>Militärgeschichte</strong>« auch<br />

künftig mit Gewinn zu lesen.<br />

Die Redaktion


D i e A u t o r e n<br />

Dr. Torsten Diedrich,<br />

geboren 1956 in Berlin,<br />

wiss. Mitarbeiter am<br />

Militärgeschichtlichen<br />

Forschungsamt, Potsdam<br />

Andreas Kunz M.A.,<br />

geboren 1970 in Lüneburg,<br />

Archivreferendar im<br />

Bundesarchiv<br />

Dr. Matthias Uhl,<br />

geboren 1970 in Nordhausen,<br />

wiss. Mitarbeiter am<br />

Institut für Zeitgeschichte,<br />

Außenstelle Berlin<br />

Inhalt<br />

Friedrich Paulus<br />

Ein Soldatenschicksal vor Stalingrad<br />

Vor sechzig Jahren:<br />

Der Untergang der 6. Armee<br />

in Stalingrad<br />

Stalins V-2<br />

Der Transfer der deutschen Raketentechnik<br />

in die UdSSR<br />

Service<br />

Das historische Stichwort: Der deutsche Generalstab<br />

Medien online/digital<br />

Lesetipp<br />

Ausstellungen<br />

Geschichte kompakt<br />

<strong>Militärgeschichte</strong> im Bild<br />

Bundesgrenzschutz<br />

Grundausbildung beim Bundesgrenzschutz<br />

(BGS) in den fünfziger Jahren. Anders als<br />

die Rekruten der neu aufgestellten Bundeswehr<br />

sehen die abgebildeten »Grenzjäger«<br />

des BGS in ihrer Uniform mit dem markanten<br />

Stahlhelm den Soldaten der ehemaligen<br />

Wehrmacht recht ähnlich.<br />

Bild: Privatbesitz F. Schießl sen., Hamburg<br />

4<br />

8<br />

18<br />

22<br />

22<br />

24<br />

26<br />

28<br />

30<br />

31


4<br />

Friedrich Paulus<br />

Friedrich Paulus<br />

Ein Soldatenschicksal<br />

vor Stalingrad<br />

Paulus schwört den Eid als Zeuge gegen die Wehrmachtführung am 11. Februar 1946 vor dem Internationalen Militärtribunal in Nürnberg.<br />

»Ich war Soldat und glaubte damals,<br />

gerade durch Gehorsam meinem Volk<br />

zu dienen!«<br />

Der Mann, der dies angesichts<br />

der totalen Niederlage des<br />

Deutschen Reiches und nie da<br />

gewesener Schrecken und Verbrechen<br />

des Krieges formulierte, war einer der<br />

führenden Generäle der Wehrmacht.<br />

Persönlich belasteten ihn der Untergang<br />

seiner 6. Armee in Stalingrad und<br />

das sinnlose Opfer von etwa 165 000<br />

seiner Soldaten.<br />

Der am 23. September 1890 in Breitenau<br />

im Hessischen geborene Friedrich<br />

Wilhelm Ernst Paulus wurde in einer<br />

kleinbürgerlichen Beamtenfamilie aufgezogen.<br />

Mit anerzogenen Beamtentugenden<br />

und von hoher Intelligenz<br />

schien Paulus für den von ihm erträumten<br />

Offizierberuf wie geschaffen. Nach<br />

bestandenem Abitur in Kassel lehnte<br />

die sich elitär dünkelnde Kaiserliche<br />

Marine Paulus 1909 jedoch ab. Daraufhin<br />

schrieb er sich zum Jura-Studium<br />

in Marburg ein, verließ die Universität<br />

jedoch schon im Februar 1910, um<br />

als Fahnenjunker im 3. Badischen<br />

Infanterie-Regiment (IR) Nr. 111 in<br />

Rastatt seine militärischen Karriereträume<br />

zu verwirklichen. Nach Abschluss<br />

der Kriegsschule Engers erhielt<br />

<strong>Militärgeschichte</strong> · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/<strong>2002</strong><br />

Paulus 1911 das Leutnantspatent. 1912<br />

heiratete der junge Offizier die rumänische<br />

Adlige Elena Constance Rosetti-<br />

Solescu.<br />

Als Adjutant des III. Bataillons des IR<br />

Nr. 111 erlebte Paulus kriegsbegeistert<br />

und kaisertreu den Beginn des Weltkrieges.<br />

Schnell erkannte man seine<br />

Begabungen als Stabsoffizier: Gewissenhaftigkeit,<br />

Organisationstalent, ausgeprägtes<br />

operatives Denken sowie<br />

Gewandtheit und Anpassungsfähigkeit<br />

im Umgang mit Vorgesetzten. Den<br />

Krieg erlebte Paulus fast nur in Stabsstellungen.<br />

Die deutsche Niederlage und der Sturz<br />

der Monarchie in Deutschland trafen<br />

den Monarchisten Paulus tief. Er empfand<br />

als Soldat die Schmach der Niederlage,<br />

seine Stellung zum Militär<br />

blieb jedoch vom Kriegserleben unberührt.<br />

Es gelang Hauptmann Paulus<br />

seine militärische Laufbahn in der<br />

Reichswehr fortzusetzen. Seiner Neigung<br />

entsprechend wurde er nach<br />

diversen Stabsverwendungen 1927 als<br />

Taktiklehrer für »Führergehilfen« –<br />

d.h. Generalsstabsausbildung eingesetzt.<br />

Im Herbst 1931 erfolgte die Versetzung<br />

ins Reichswehrministerium<br />

als Lehrgangsleiter für Taktik und<br />

Kriegsgeschichte. Hier verkörperte der<br />

groß gewachsene, fast steif wirkende<br />

Paulus den Prototypen des Stabsoffiziers<br />

Seecktscher Prägung. Die Fähigkeit<br />

zum operativen Denken verband<br />

sich bei ihm mit der Abneigung zu<br />

jedweder politischen Stellungnahme.<br />

1933 bekam Oberstleutnant Paulus das<br />

Kommando über die Kraftfahr-Abteilung<br />

3 in Wünsdorf/Zossen übertragen.<br />

Unmittelbar in den Aufbau der<br />

neuen Waffengattung »Panzertruppen«<br />

Johannes Friedrich Leopold<br />

von Seeckt<br />

Geb. 22.4.1866, gest. 27.12.1936<br />

Angesichts der chaotischen politischen<br />

Verhältnisse der Weimarer Republik<br />

entwickelte Seeckt als Chef der Heeresleitung<br />

(1920–1926) das Konzept<br />

einer Überparteilichkeit der Reichswehr.<br />

Jede politische Betätigung wurde<br />

dem Soldaten verboten, um eine parteiliche<br />

Ausprägung der Reichswehr auszuschließen.<br />

Seeckt führte die durch den<br />

Versailler Vertrag auf 100000 Mann<br />

Stärke begrenzte Armee aus der innenpolitischen<br />

Frontstellung heraus in eine<br />

Neutralität gegenüber gesellschaftlichen<br />

Gruppierungen und prägte in ihr den<br />

Gedanken einer »unpolitischen Staats-<br />

und Befehlstreue« aus.<br />

Foto: Stadtarchiv Nürnberg


Der junge Hauptmann Paulus<br />

am Ende des Ersten Weltkrieges.<br />

einbezogen, erlebte Paulus Hitlers<br />

»Machtergreifung«. Instinktiv eher<br />

gegen den »Proleten« und dessen<br />

»Volkspartei« eingestellt, fühlte sich<br />

Paulus doch von den Versprechen<br />

Hitlers hinsichtlich der Entwicklung<br />

Deutschlands und der Armee angezogen,<br />

ohne jedoch Nationalsozialist<br />

zu werden. Er blieb der »unpolitische<br />

deutsche Offizier«.<br />

Den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs<br />

mit dem Überfall auf Polen erlebte<br />

Generalmajor Paulus als Chef des<br />

Generalstabes der 10. Armee unter<br />

Generaloberst von Reichenau. Feldzüge<br />

gegen Polen, Belgien und Frankreich<br />

ließen die Kritik der Wehrmachtführung<br />

gegen den »Führer« schnell<br />

verstummen. Auch für Paulus war<br />

die Schmach des Versailler Vertrages<br />

getilgt, der »Erzfeind« besiegt und<br />

Deutschland zu neuer Geltung verholfen.<br />

Innerhalb der 10., später 6. Armee<br />

erwiesen sich Reichenau und Paulus<br />

als ideales Gespann. Der entschlussfreudige,<br />

heißblütige Reichenau fand<br />

in dem wie am Schachbrett wägenden,<br />

alle Möglichkeiten sezierenden Stabschef<br />

das optimale Pendant. Paulus verehrte<br />

Reichenau und nahm von dessen<br />

engen Bindungen an den Nationalsozialismus<br />

kaum Notiz.<br />

In Vorbereitung des Überfalls auf die<br />

UdSSR erkor Generalstabschef Halder<br />

im Spätsommer 1940 den Generalleutnant<br />

Paulus zum Oberquartiermeister<br />

I (OQu I) im Generalstab des Heeres.<br />

Der OQu I fungierte als Stellvertreter<br />

Foto: von Kutschenbach<br />

Der Generalstabschef des Heeres, Generaloberst Halder (dritter von links), und sein Oberquartiermeister<br />

Ia, Generalleutnant Paulus (links), 1941 bei einer Besprechung mit Hitler.<br />

und operativer Berater des Generalstabschefs<br />

des Heeres sowie als Koordinator<br />

der Stabsbereiche und im Sonderauftrag.<br />

Halder brauchte diesen<br />

operativ fähigen und mit der Panzertaktik<br />

vertrauten Mann; Paulus war<br />

damit in die höchsten Führungskreise<br />

der Wehrmacht und in die unmittelbare<br />

Nähe Hitlers gerückt. Er vollendete die<br />

Arbeiten an dem »Barbarossa«-Feldzugsplan<br />

und demonstrierte in zwei<br />

Kriegsspielen vor der Wehrmachtführung<br />

die geplante Zerschlagung des<br />

»Russischen Kolosses auf tönernen<br />

Füßen«. Nach Hitlers Angriffsweisung<br />

gegen die UdSSR kümmerte sich<br />

Paulus um die Vorbereitung der<br />

Verbündeten Rumänien und Ungarn<br />

auf die Eroberungspläne des Dritten<br />

Reichs.<br />

Paulus glaubte an die Notwendigkeit<br />

einer Auseinandersetzung mit dem<br />

bolschewistischen Reich, dessen politisches<br />

System er strikt ablehnte. Er<br />

fragte nicht nach politischer Verantwortung,<br />

konzentrierte sich auf seinen<br />

Auftrag, den er als die persönliche Karrierechance<br />

erkannte. So wurde auch<br />

Paulus, wie so viele führende Militärs,<br />

zu einem willfährigen Werkzeug von<br />

Hitlers Aggressionspolitik.<br />

Mit dem Überfall auf die Sowjetunion<br />

am 22. Juni 1941 erfüllten sich Paulus‘<br />

hochgesteckte Ambitionen als Generalsstabsoffizier,<br />

der vom Kartentisch<br />

aus die Operationen im Osten in großen<br />

Zügen zu leiten hatte. Immer stärker<br />

aber mischte sich Hitler in die mili-<br />

tärische Führung ein, riss diese an<br />

sich. Paulus aber war nicht der Mann,<br />

der opponierte. Er verstand Gehorsam<br />

als seine oberste Pflicht und vertraute<br />

durchaus auf das militärische Können<br />

des »Führers«. Hitler, von den Fähigkeiten<br />

aber auch von dem willigen Verhalten<br />

von Paulus angezogen, erwog<br />

den sich vornehm und exakt gebenden<br />

General in die höchste Führung<br />

des Oberkommandos der Wehrmacht<br />

(OKW) zu holen. Zuvor sollte sich dieser<br />

jedoch als Armeeführer bewähren.<br />

Der General der Panzertruppen erhielt<br />

somit am 16. Januar 1942 das vakant<br />

gewordene Kommando über die 6.<br />

Armee. Umgehend setzte er für die<br />

6. Armee den verbrecherischen Kommissarbefehl<br />

Hitlers außer Kraft und<br />

hob den völkerrechtswidrigen Härte-<br />

Befehl Reichenaus zum Vorgehen<br />

gegen die russische Bevölkerung und<br />

die Juden auf. Beide Befehle entsprachen<br />

nicht seinem Soldatenethos,<br />

an dem er zeitlebens festhielt. Im Verlauf<br />

der Sommeroffensive 1942 bewies<br />

Paulus seine Fähigkeiten beim Führen<br />

eines operativen Truppenkörpers; er<br />

erhielt das Ritterkreuz und befand sich<br />

in hoher Gunst des »Führers«.<br />

Im Kessel von Stalingrad begann<br />

Paulus seine Mitschuld am Tod seiner<br />

Soldaten, aber auch den Verrat der<br />

Menschenleben verachtenden nationalsozialistischen<br />

Führung an seiner<br />

Armee zu begreifen. Zum Opponieren<br />

gegen Hitler nicht fähig, im Unklaren<br />

über die Gesamtlage an der Südfront<br />

<strong>Militärgeschichte</strong> · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/<strong>2002</strong> 5<br />

Foto: von Kutschenbach


6<br />

Friedrich Paulus<br />

»Kommissar-Befehl«<br />

Der im März 1941 erlassene »Kommissar-Befehl«<br />

wies die Wehrmacht an,<br />

die Politkommissare der Roten Armee<br />

nicht als Kriegsgefangene zu behandeln,<br />

sondern zu erschießen. Ebenso wie<br />

der im Mai 1941 ergangene »Barbarossa-Gerichtsbarkeitserlass«,<br />

der Zivilpersonen<br />

in den besetzten Ostgebieten<br />

aus der Rechtsprechung der Kriegsgerichte<br />

nahm und Übergriffe von Wehrmachtangehörigen<br />

gegenüber der Zivilbevölkerung<br />

nicht zwangsläufig unter<br />

Ahndung stellte, gehörte der Kommissar-Befehl<br />

zu Hitlers »Glaubenskrieg<br />

gegen den Bolschewismus«. Beide<br />

widersprachen dem Völkerrecht. Auf<br />

dieser Grundlage gab der Oberbefehlshaber<br />

der 6. Armee, Walter von Reichenau,<br />

am 10. Oktober 1941 seinen<br />

Härte-Befehl: »Verhalten der Truppen<br />

im Ostraum«, der das völkerrechtswidrige<br />

Vorgehen gegen die Bevölkerung<br />

unterstrich.<br />

gelassen und mit einer unterversorgten<br />

Armee auch militärisch nicht in<br />

der Lage, einen eigenständigen Ausbruch<br />

zu wagen, resignierte Paulus.<br />

Am 31. Januar 1943 traf Hitlers Beförderung<br />

zum Generalfeldmarschall einen<br />

in Lethargie gefallen Mann, der unwillig<br />

war, Hitlers Wunsch nach dem Freitod<br />

zu erfüllen, es aber auch nicht<br />

wagte, die längst überfällige Kapitulation<br />

zu befehlen.<br />

Sein Weg in die sowjetische Gefangenschaft<br />

führte Paulus in das Generalslager<br />

Woikowo. Während er in schweren<br />

inneren Auseinandersetzungen seine<br />

Mitschuld am Elend der 6. Armee<br />

begriff, blieb seine Überzeugung, dass<br />

er nur militärische, jedoch keine politische<br />

Verantwortung trage, noch unerschüttert.<br />

Paulus‘ Verhältnis zu der<br />

kommunistisch initiierten »antifaschistischen<br />

Bewegung« war 1943 voller<br />

Argwohn. Bis zum Sommer 1944 hielt<br />

Paulus alles Politische von sich fern.<br />

Am 24. Juli 1944 erfuhren die Gefangenen<br />

des Generalslagers von dem<br />

missglückten Attentat auf Hitler. Viele<br />

der Verschwörer kannte und schätzte<br />

Paulus, so die Generale Beck, Fellgiebel,<br />

Olbricht und Oberst Stauffenberg.<br />

Zugleich suggerierten die Sowjets dem<br />

<strong>Militärgeschichte</strong> · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/<strong>2002</strong><br />

Feldmarschall, dass er nach dem Scheitern<br />

der Verschwörung der einzige sei,<br />

der Einfluss auf die Wehrmachtführung<br />

nehmen könne. Paulus begann<br />

die politischen Konsequenzen von NS-<br />

Regime und Krieg für das deutsche<br />

Volk zu erahnen. Am 8. August 1944<br />

unterzeichnete er einen Appell zur<br />

Beendigung des Krieges und wandte<br />

sich im Sender »Freies Deutschland«<br />

gegen Hitler und den Krieg. Der »Bund<br />

Deutscher Offiziere« (BDO) und das<br />

»Nationalkomitee Freies Deutschland«<br />

(NKFD) gewannen eine Galionsfigur<br />

hinzu, als ihre Bedeutung für die Sowjets<br />

bereits zu sinken begann. Paulus<br />

aber hatte seine Neutralität aufgegeben.<br />

Nach Kriegsende erregte der Generalfeldmarschall<br />

mit seinem Auftritt als<br />

Zeuge vor dem Nürnberger Kriegsverbrechertribunal<br />

erneut das Interesse<br />

der Weltöffentlichkeit. »Heute, wo<br />

über die Verbrechen Hitlers und seiner<br />

Helfer Gericht der Völker gehalten<br />

wird, sehe ich mich verpflichtet, alles,<br />

was mir aufgrund meiner Tätigkeit<br />

bekannt ist und als Beweismaterial<br />

für die Schuld der Kriegsverbrecher<br />

im Nürnberger Prozess dienen kann,<br />

der Sowjetregierung zu unterbreiten«,<br />

begründete er diesen Schritt. Mit seinen<br />

Aussagen gegen die Führung der Wehrmacht<br />

schuf er einen tiefen Graben<br />

zu vielen ehemaligen Kameraden, die<br />

seine Haltung als Verrat werteten.<br />

Am 24. Oktober 1953 kehrte Paulus<br />

aus sowjetischer Gefangenschaft nach<br />

Deutschland, in die DDR, zurück.<br />

Beeinflusst wurde diese Entscheidung,<br />

in den östlichen Teil Deutschlands und<br />

nicht in die Bundesrepublik zu gehen,<br />

von dem Tod seiner Frau im Jahre<br />

1949. Denn nach dem Attentat vom<br />

20. Juli 1944 hatte Hitler die Inhaftierung<br />

aller Angehörigen von Offizieren,<br />

die sich aus sowjetischer Gefangenschaft<br />

heraus gegen Nationalsozialismus<br />

und Krieg aussprachen, verfügt.<br />

Paulus‘ Frau war daraufhin u.a. im KZ<br />

Dachau gefangen gehalten worden und<br />

hatte diese »Sippenhaft« nicht lange<br />

überlebt. Gewichtiger für Paulus war<br />

jedoch die Furcht vor der Auseinandersetzung<br />

um seine Person in Westdeutschland<br />

und seine in der sowjetischen<br />

Gefangenschaft entwickelten<br />

Vorbehalte gegen die Politik Adenau-<br />

»Nationalkomitee Freies<br />

Deutschland« und »Bund<br />

Deutscher Offiziere«<br />

Das »Nationalkomitee Freies Deutschland«<br />

(NKFD) wurde am 12./13. Juli<br />

1943 in Krasnogorsk bei Moskau auf<br />

Initiative der UdSSR durch deutsche<br />

Exilkommunisten und Kriegsgefangene<br />

zum Kampf gegen die Hitlerdiktatur<br />

und für die Beendigung des Krieges<br />

gebildet. Da mit dem kommunistisch<br />

geführten NKFD jedoch kaum höhere<br />

Offiziere für den ideologischen Kampf<br />

gegen Hitler gewonnen werden konnten,<br />

entstand am 11./12. September<br />

1943 der »Bund Deutscher Offiziere«<br />

(BDO) in Lunjowo unter der Führung<br />

des Generals der Artillerie Walther von<br />

Seydlitz-Kurzbach und Generalleutnant<br />

Alexander Edler von Daniels. Trotz der<br />

ehrenhaften Ziele zur Beendigung des<br />

Krieges und Schaffung eines demokratischen<br />

Deutschlands blieb der BDO ein<br />

von Moskau abhängiges politisch-ideologisches<br />

Gebilde. NKFD und BDO<br />

verloren im Kriegsverlauf immer mehr<br />

an Bedeutung und wurden, als die<br />

UdSSR die Organisationen nicht mehr<br />

brauchte, Ende 1945 aufgelöst.<br />

31. Januar 1943. Der frisch zum General-<br />

feldmarschall beförderte Paulus trifft als<br />

Gefangener im Stab der sowjetischen<br />

64. Armee in Beketowka ein.<br />

ers zur Wiederaufrüstung und Integration<br />

der Bundesrepublik in ein westeuropäisches<br />

Paktsystem. Paulus war<br />

nicht, wie oft behauptet, als General<br />

beim Aufbau der Kasernierten Volkspolizei<br />

der DDR (KVP) tätig, wurde<br />

aber als ziviler Leiter der Kriegshistorischen<br />

Forschungsabteilung der Hochschule<br />

der KVP in Dresden eingesetzt.<br />

Hier sollte sein Buch über Stalingrad<br />

entstehen.<br />

Foto: Sammlung MGI/MGFA


Foto: Sammlung MGI/MGFA<br />

Exilkommunist Wilhelm Pieck und Feldmarschall Paulus im Sommer<br />

1943 im Park des Hauses der NKFD in Ljunow.<br />

Europäische Verteidigungsgemeinschaft<br />

Aufgrund der nach Ausbruch des Korea-<br />

Krieges 1950 herrschenden Furcht vor<br />

einem kommunistischen Überfall führten<br />

die westeuropäischen Staaten Frankreich,<br />

Italien, die Benelux-Staaten und<br />

die Bundesrepublik Verhandlungen um<br />

den Aufbau einer »Europäischen Verteidigungsgemeinschaft«<br />

(EVG). Das<br />

im Mai 1952 unterzeichnete Vertragswerk<br />

scheiterte im August 1954 am<br />

»Nein« der französischen Nationalversammlung.<br />

Nur zwei Monate später<br />

unterzeichneten die USA, Großbritannien<br />

und Frankreich sowie die Bundesrepublik<br />

die »Pariser Verträge«, mit<br />

denen die Bundesrepublik ein (weitgehend)<br />

souveräner Staat und Mitglied<br />

der NATO wurde.<br />

Paulus war kein Kommunist, ein kommunistisches<br />

Deutschland wünschte<br />

er nicht, aber eine »friedliche Zukunft<br />

eines geeinten demokratischen Deutsch-<br />

lands«. Seine Schuld an der Tragödie<br />

von Stalingrad glaubte er mit dem<br />

Ringen um die Wiedervereinigung<br />

Deutschlands abtragen zu können. Mit<br />

Sensibilität nutzte die DDR Paulus‘<br />

patriotisches Streben. Über Treffen ehemaliger<br />

Kriegsteilnehmer wollte die<br />

DDR ein gesamtdeutsches Bündnis<br />

gegen die Pariser Verträge schaffen.<br />

Paulus trat im Juli auf einer internationalen<br />

Pressekonferenz sowie im<br />

Dezember 1954 in einem Interview mit<br />

dem Deutschland-Sender in der Öffentlichkeit<br />

gegen EVG und Pariser Verträge<br />

auf. 1955 fungierte er als Galionsfigur<br />

der von der SED initiierten Treffen<br />

ehemaliger Wehrmachtoffiziere aus<br />

West- und Ostdeutschland in Ost-Berlin<br />

am 29./30. Januar und 25./26. Juni<br />

1955. Hier vertrat Paulus die Auffassung,<br />

dass die Weltkriegsteilnehmer<br />

eine tiefe Verantwortung für ein demokratisches<br />

Deutschland mittrügen, und<br />

stellte sich gegen eine Armee der Bundesrepublik<br />

unter »fremder Flagge«.<br />

Erneut politisch ausgenutzt, versuchte<br />

Paulus auch jetzt sich selbst treu zu<br />

bleiben und nur für Ziele einzutreten,<br />

die seiner Überzeugung entsprachen.<br />

Dabei negierte er, bewusst oder unbewusst,<br />

die Sowjetisierung und Aufrüstung<br />

in der DDR.<br />

Tief trafen Paulus Briefe ehemaliger<br />

Kameraden, die ihm Verrat an Deutschland<br />

und gemeinsame Sache mit den<br />

Kommunisten vorwarfen, aber auch<br />

jene von Angehörigen, die schmerzlich<br />

nach Soldaten der 6. Armee suchten.<br />

Alles ihm Mögliche tat er, um hier<br />

zu helfen, aber auch im Ringen um<br />

die Freilassung der verbliebenen deutschen<br />

Kriegsgefangenen in der UdSSR.<br />

Das nagte an seiner Gesundheit, vergrößerte<br />

sein seelisches Leiden an der<br />

Verantwortung, die er trug. Schwer<br />

von einer Krankheit gezeichnet, verschwand<br />

Paulus Ende 1955 aus dem<br />

politischen Rampenlicht. Am 1. Februar<br />

1957 starb er in tiefer Depression,<br />

die ihn in den Monaten November bis<br />

Februar stets befiel. Selbst sein Todestag<br />

unmittelbar vierzehn Jahre nach<br />

dem Untergang seiner Armee spiegelte<br />

den tiefen Bruch in seinem Leben wider.<br />

Nach einer Trauerfeier mit staatlicher<br />

Anteilnahme in Dresden wurde Paulus<br />

in der Bundesrepublik in Baden-Baden<br />

neben seiner Frau beigesetzt.<br />

Das Wirken des Generalfeldmarschalls<br />

ist heute weder mit dem Stigma des<br />

Foto: Sammlung MGI/MGFA<br />

Wiedervereinigung als Wiedergutmachung. Ehrlichen Herzens ringt Paulus<br />

um ein einiges demokratisches Deutschland (Intern. Pressekonferenz 1954).<br />

gewissenlos Menschenleben opfernden<br />

Heerführers Paulus noch mit dem des<br />

kommunistischen Saulus zu fassen.<br />

Sein Handeln und sein Schicksal dokumentieren<br />

vielmehr eine die Verantwortung<br />

verdrängende und zum<br />

mechanischen Räderwerk des NS-Staates<br />

verkommene Wehrmachtführungselite.<br />

Dank seiner Intelligenz begriff<br />

Paulus dies und wollte in Gefangenschaft<br />

und in der DDR am deutschen<br />

Volke Wiedergutmachung leisten. Zwischen<br />

Verantwortungslast und politischem<br />

Druck der für ihn nicht vollends<br />

erfassbaren neuen Gesellschaften<br />

in Ost und West nach neuen Idealen<br />

suchend, blieb Paulus, der sich als<br />

»unpolitischer« Soldat verstanden hat-<br />

te, eine hochpolitische Person. Letztlich<br />

wurden seine patriotischen Hoffnungen<br />

auf ein einiges, demokratisches<br />

Deutschland und sein Versuch, hier<br />

sein politisches Gewicht einzubringen,<br />

erneut ideologisch ausgenutzt. Einsam<br />

endete das Leben eines Mannes, der<br />

tragische deutsche Geschichte letztlich<br />

zweimal mitschrieb.<br />

n Torsten Diedrich<br />

Nach 15 Jahren Trennung. Wieder an der Seite<br />

seiner von ihm so geliebten Frau. Beisetzung<br />

1957 im Familiengrab in Baden-Baden.<br />

<strong>Militärgeschichte</strong> · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/<strong>2002</strong> 7<br />

Foto: von Kutschenbach


8<br />

Stalingrad<br />

Der Untergang<br />

der 6. Armee<br />

in Stalingrad<br />

Transportmittel oder Nahrung? Logistik in Stalingrad Ende 1942.<br />

Bundesarchiv Bild 101/218/519/18A<br />

<strong>Militärgeschichte</strong> · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/<strong>2002</strong><br />

Vor sechzig Jahren:


Mit einem knappen Satz be-<br />

gann am 3. Februar 1943 die<br />

im deutschen Rundfunk verlesene<br />

Tagesmeldung des Oberkommandos<br />

der Wehrmacht: »Der Kampf<br />

um Stalingrad ist zu Ende. Ihrem<br />

Fahneneid bis zum letzten Atemzug<br />

getreu«, so erfuhren die gebannt vor<br />

dem Radio sitzenden Menschen, »ist<br />

die 6. Armee unter der vorbildlichen<br />

Führung des Generalfeldmarschalls<br />

Paulus der Übermacht des Feindes<br />

und der Ungunst der Verhältnisse erlegen.«<br />

Die NS-Propaganda versuchte<br />

dem Untergang der mehrere Hunderttausend<br />

Mann starken Armee einen<br />

Sinn zu verleihen: »Das Opfer war<br />

nicht umsonst. Als Bollwerk der historischen<br />

Mission hat sie [die 6. Armee]<br />

viele Wochen hindurch den Ansturm<br />

von sechs sowjetischen Armeen gebrochen.<br />

Vom Feind völlig eingeschlossen,<br />

hielt sie in weiteren Wochen schwersten<br />

Ringens und härtester Entbehrungen<br />

starke Kräfte des Gegners gebunden.<br />

Sie gab damit der deutschen Führung<br />

die Zeit und die Möglichkeit zu<br />

Gegenmaßnahmen, von deren Durchführung<br />

das Schicksal der gesamten<br />

Ostfront abhing.« Bereits vier Tage<br />

zuvor, am 30. Januar, hatte Göring in<br />

einer Rede anlässlich des zehnten Jahrestages<br />

der Machtübernahme Hitlers<br />

den Kampf der 6. Armee als ein Bollwerk<br />

gegen die sogenannte bolschewistische<br />

Bedrohung aus dem Osten<br />

dargestellt. In den Ruinen von Stalingrad<br />

wurden Reden wie diese mittels<br />

noch vorhandener Wehrmachtfunkgeräte<br />

mitgehört. Der damalige Leutnant<br />

und Ordonnanzoffizier in der Abteilung<br />

Feindaufklärung (Ic) beim Stabe<br />

des VIII. Armeekorps, Joachim Wieder,<br />

beschrieb in seinen Erinnerungen seine<br />

und die Empfindungen seiner Kameraden:<br />

»Die widerliche Beweihräucherung des<br />

qualvollen Sterbens unserer Armee<br />

und die verlogene Heroisierung von<br />

Zuständen, die gegen alle Gesetze<br />

der Menschlichkeit verstießen, erfüllten<br />

mich mit Empörung, ja geradezu<br />

mit Ekel.«<br />

Die Propaganda stellte die Realität auf<br />

den Kopf, und noch heute erscheint<br />

die Legende vom Präventivkrieg gegen<br />

die Sowjetunion unausrottbar. Mit dem<br />

deutschen Angriff im Sommer 1941<br />

»Mit der Kaukasus-Bahn nach Stalingrad«<br />

– der Vormarsch. Bundesarchiv Bild 101/217/466/13<br />

hatte Hitler einen historisch beispiellosen<br />

rasseideologischen Eroberungs-,<br />

Raub- und Vernichtungskrieg vom<br />

Zaun gebrochen. Der deutsche Ostfeldzug<br />

war das Ergebnis einer zutiefst<br />

amoralischen und völkerrechtswidrigen<br />

Kriegführung. Weltanschauliche<br />

Enge, Brutalisierung und zunehmende<br />

Unmenschlichkeit prägten die Erfahrungen<br />

der Soldaten auf beiden Seiten.<br />

Lag hier eine der Ursachen dafür, dass<br />

die 6. Armee bis zur Handlungsunfähigkeit<br />

kämpfte?<br />

Die vorhersehbare<br />

Katastrophe<br />

Die Ursachen für das Drama<br />

an der Wolga reichten weit<br />

zurück. Mit dem am 28. Juni<br />

1942 begonnenen Sommerfeldzug hatte<br />

Hitler den erneuten Anlauf genommen,<br />

im Osten die Entscheidung herbeizuführen.<br />

Die Erwartung, dass die<br />

Alliierten im Verlauf des Jahres 1943 im<br />

Westen die sogenannte Zweite Front<br />

errichten würden, hatte die deutschen<br />

Planungen von Beginn an unter Zeitdruck<br />

gesetzt. Trotz beeindruckender<br />

Raumgewinne erlahmte die Stoßkraft<br />

<strong>Militärgeschichte</strong> · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/<strong>2002</strong> 9


Stalingrad<br />

der deutschen Offensive, während es<br />

der Roten Armee gelang, sich allen<br />

Einschließungsversuchen zu entziehen.<br />

Am 23. Juli spaltete Hitler die Offensive<br />

auf: Die Heeresgruppe B erhielt<br />

den Auftrag, den Vorstoß der Heeresgruppe<br />

A zu den strategisch wichtigen<br />

kaukasischen Ölfeldern durch den<br />

Aufbau einer Verteidigung entlang des<br />

Don abzudecken. Darüber hinaus sollte<br />

die Heeresgruppe die Wolga und die<br />

Landbrücke zum Don abriegeln und<br />

die Kräftemassierungen, die die Rote<br />

Armee in der Region von Stalingrad<br />

zusammenzog, zerschlagen.<br />

Die entlang dem inneren Don-Bogen<br />

gegen Kalatsch geführte deutsche<br />

Offensive entwickelte sich zunächst<br />

den Erwartungen entsprechend. Doch<br />

in den letzten Julitagen wurde deutlich,<br />

dass ein Durchbruch der Heeresgruppe<br />

B bis zur Wolga und die Einnahme<br />

Stalingrads nur in langwierigen Kämpfen<br />

gegen einen umfassend vorbereiteten<br />

Gegner möglich sein würden. Die<br />

sowjetische Führung hatte die zentrale<br />

Bedeutung des Stalingrader Raumes<br />

für Industrie und Verkehr rechtzeitig<br />

erkannt und die Zeit konsequent zur<br />

Vorbereitung der Verteidigung genutzt.<br />

Der 6. Armee unter General Paulus<br />

fiel die Aufgabe zu, frontal über den<br />

Don und gegen die Stadt anzugreifen.<br />

Da die zur Verfügung stehenden deutschen<br />

und verbündeten Kräfte nicht<br />

ausreichten, sollte die 4. Panzerarmee<br />

des Generalobersten Hoth mit dem<br />

Gros ihrer Kräfte durch einen zweiten,<br />

südlich des Don geführten Stoß unterstützen.<br />

Wochenlange Sommerhitze lag über<br />

Stalingrad (heute Wolgograd), das<br />

inmitten einer offenen Steppenlandschaft<br />

liegt. Die Stadt erstreckte sich<br />

auf über fünfzig Kilometern Länge auf<br />

dem hügeligen Westufer der Wolga.<br />

Das Stadtbild der verkehrsmäßig günstig<br />

gelegenen Industriemetropole war<br />

10<br />

<strong>Militärgeschichte</strong> · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/<strong>2002</strong><br />

geprägt von Raffinerien, Stahlwerken<br />

und Maschinenfabriken. Die erbitterten<br />

Kämpfe um die Ruinen ließen die<br />

Namen dieser Industrieanlagen später<br />

berühmt werden: das auf die Fertigung<br />

von Panzerstahl und Artilleriemunition<br />

spezialisierte Elektrostahlwerk<br />

»Roter Oktober«, das auf Panzerproduktion<br />

umgestellte Traktorenwerk<br />

»Dschersinski« oder die Geschützfabrik<br />

»Barrikady«. Der nicht abreißende<br />

Strom von Flüchtlingen hatte<br />

die Einwohnerzahl im Einzugsbereich<br />

der Stadt bis zum Frühjahr auf bis<br />

zu 900000 Menschen ansteigen lassen.<br />

Schwere deutsche Luftangriffe am 23.<br />

und 24. August zerstörten große Teile<br />

Stalingrads und kosteten Tausende von<br />

Opfern unter der noch nicht evakuierten<br />

Zivilbevölkerung. Die Brände der<br />

Brenn- und Rohstofflager der Industriekombinate<br />

und in den aus Holzbauten<br />

bestehenden Vororten ließen die<br />

Stadt nächtelang wie eine riesige Fackel<br />

lodern. Erst Ende August wurden die<br />

letzten 300000 Bewohner und Flüchtlinge<br />

evakuiert.<br />

Am 3. September erreichte das XXXXVIII.<br />

Panzerkorps das Kasernengelände am<br />

Südwestrand Stalingrads. Die Angriffsspitzen<br />

des LI. Armeekorps waren zu<br />

diesem Zeitpunkt noch ganze 8 Kilometer<br />

vom Stadtkern entfernt. Um die<br />

Einnahme der Stadt entwickelten sich<br />

Zeit und Kräfte raubende Orts- und<br />

Häuserkämpfe. Tagelang wurde um<br />

einzelne Gebäude oder Geländepunkte<br />

wie beispielsweise den Mamaew-Hügel<br />

oder den Hauptbahnhof gerungen.<br />

Die Soldaten der Roten Armee, aber<br />

auch Zehntausende bewaffneter Zivilisten,<br />

sowie Angehörige von Arbeitermilizen<br />

und Volkswehrabteilungen<br />

leisteten erbitterten Widerstand. Unter<br />

dem Schutz des westlichen Steilufers<br />

und auf dem Ostufer der Wolga zu-<br />

sammengezogener Artillerie wurden<br />

kontinuierlich Reserven nachgeführt.<br />

Das eigentliche Ziel des deutschen An-<br />

3Infanterie, Sommer 1942, Südabschnitt<br />

der Ostfront. Bundesarchiv Bild 101/217/465/32A<br />

griffs, die Stadt als Rüstungszentrum<br />

und Verkehrsknotenpunkt auszuschalten,<br />

war längst erreicht. Hitlers Befehl<br />

indes, die Stadt vollständig einzunehmen,<br />

erforderte den Einsatz der kampfkräftigsten<br />

Verbände.<br />

Derweil waren die Flanken der Hee-<br />

resgruppe weitgehend entblößt. Geschwächt<br />

war nicht nur die Ostflanke<br />

der 4. Panzerarmee. Die Nordflanke<br />

der Heeresgruppe dehnte sich über<br />

800 Kilometer, weitgehend dem Verlauf<br />

des Don folgend, von der Grenze<br />

zur Heeresgruppe Mitte bis zur Wolga.<br />

Diese Frontlänge wurde gesichert von<br />

der 2. Armee im Nordwesten und<br />

der 6. Armee im Südosten. Dazwischen<br />

eingeschoben waren die ungarische<br />

2. sowie die italienische 8. Armee,<br />

deren Abschnittsbreiten allerdings in<br />

keinem Verhältnis zu ihrer tatsächlichen<br />

Kampfkraft standen und die entgegen<br />

aller deutschen Versprechungen<br />

auf Unterstützung in einem Besorgnis<br />

erregenden Zustand geblieben waren.<br />

Das Gleiche galt für die Verbände der<br />

3. rumänischen Armee, die im Oktober<br />

deutsche Verbände für den Einsatz<br />

gegen Stalingrad abgelöst hatten<br />

und mit unzureichenden Kräften einen<br />

zudem taktisch unvorteilhaft gelegenen<br />

Abschnitt verteidigen sollten. Angesichts<br />

der bevorstehenden Herbst- und<br />

Winterperiode stellte sich die Frage,<br />

ob die 6. Armee unter logistischen<br />

Gesichtspunkten in der Lage war, den<br />

Kampf aus ihrer exponierten Stellung<br />

fortzusetzen. Für einen Verbleib in<br />

Stalingrad sprachen die Schutz- und<br />

Unterbringungsmöglichkeiten, die die<br />

Stadt trotz der Zerstörungen im Gegensatz<br />

zur offenen und fast unbesiedelten<br />

Steppe bot. Doch die Armee war<br />

nicht winterfest. Das logistische Debakel<br />

des Vorjahres, als der russische<br />

Winter die sommerbekleidete Wehrmacht<br />

überrascht hatte, sollte sich zwar<br />

nicht wiederholen. Die geringe landwirtschaftliche<br />

Nutzung der russischen<br />

Steppe hatte indes zur Folge, dass<br />

Verpflegung und Nachschub über rie-<br />

sige Entfernungen herangeführt werden<br />

mussten. Der inzwischen notorische<br />

Betriebsstoffmangel hatte bereits<br />

zu Verzögerungen beim Angriff geführt.<br />

Die Schlammperiode musste wei-


tere drastische Einbrüche in der Versorgung<br />

der Truppe befürchten lassen.<br />

Lange vor der Einschließung lebte die<br />

6. Armee buchstäblich von der Hand<br />

in den Mund. Bis Mitte November<br />

hatte weniger als die Hälfte ihrer Soldaten<br />

spezielle Kälteschutzbekleidung<br />

erhalten. Auch der Materialzufluss für<br />

Stellungs- und Unterkunftsbau, insbesondere<br />

Kohle und Holz, geronn<br />

immer spärlicher. Allein unter logistischen<br />

Gesichtspunkten gesehen hätte<br />

die Armee in absehbarer Zeit ihre<br />

Stellungen an der Wolga räumen müssen.<br />

Es waren vor allem nicht-militärische<br />

Gründe, die Hitler aus der Sicht der<br />

Generäle starrhalsig und den Umständen<br />

zum Trotz an der Eroberung Stalingrads<br />

festhalten ließen. Wochenlang<br />

hatte die NS-Propaganda den Fall der<br />

Stadt, die den Namen des personifizierten<br />

Erzfeindes trug, vorweggenommen.<br />

Ein Abbruch der Kämpfe würde<br />

ihn, so musste Hitler befürchten, mit<br />

dem Odium des Verlierers belasten.<br />

Dieser Umstand wog umso schwerer,<br />

als die für die Meinungsforschung<br />

zuständigen Stellen des NS-Staates<br />

seit Monaten Risse im Führermythos,<br />

eine tragende Säule von Hitlers Herrschaft,<br />

registrierten. Aus machtpolitischen<br />

Gründen, aber auch wegen der<br />

Signalwirkung auf die mit dem Reich<br />

Verbündeten, kam ein Abbruch der<br />

Offensive für ihn nicht in Frage.<br />

Indem es ihr gelungen war, den deutschen<br />

Vormarsch zu verlangsamen,<br />

hatte die Rote Armee Zeit für den<br />

Ausbau der Verteidigung gewinnen<br />

und Reserven bilden können. Seit Mitte<br />

Oktober liefen auf sowjetischer Seite<br />

die Planungen für eine Gegenoffensive.<br />

Es konnte wenig überraschen,<br />

dass als Ansatzpunkte die schwächsten<br />

Stellen der deutschen Front, die Verbündeten,<br />

gewählt wurden. In ihren<br />

Planspielen bereitete die sowjetische<br />

Führung eine großräumige Zangenoperation<br />

vor, mit der sie die 6. Armee und<br />

die 4. Panzerarmee einkesseln und vernichten<br />

zu können hoffte. Unter Zuführung<br />

frischer Kräfte sollte die Offensive<br />

bis zur Zerschlagung der deutschen<br />

und verbündeten Truppen am<br />

Mittelauf des Don ausgeweitet werden.<br />

Ein daran anschließender Stoß in Richtung<br />

Rostow zielte schließlich darauf,<br />

Artillerieeinsatz (10,5-cm-leichte Feldhaubitze 18) beim Angriff auf das Stadtgebiet.<br />

Bundesarchiv Bild 101/218/529/6A<br />

<strong>Militärgeschichte</strong> · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/<strong>2002</strong> 11


Stalingrad<br />

der Heeresgruppe A den Rückzug<br />

abzuschneiden und somit den gesamten<br />

Südflügel der deutschen Ostfront<br />

zum Einsturz zu bringen. Der von den<br />

drei für die Operation vorgesehenen<br />

Heeresgruppen besetzte 850 Kilometer<br />

lange Frontabschnitt wies, abgesehen<br />

von einer starken Massierung<br />

an Luftstreitkräften, eine im Vergleich<br />

zur gesamten Ostfront nur leicht überdurchschnittliche<br />

Kräftekonzentration<br />

auf. Die Planungen sahen jedoch eine<br />

konsequente Schwerpunktbildung vor:<br />

Beispielsweise verfügte die sowjetische<br />

Südwestfront bei einer Frontlänge von<br />

250 Kilometer über Verbände in einer<br />

Stärke von insgesamt 25 Divisionen; 12<br />

davon wurden auf einen nur 22 Kilometer<br />

breiten Durchbruchsraum konzentriert.<br />

Die Einschließung<br />

Am frühen Morgen des 19. No-<br />

vember 1942 traten 30 sowjetische<br />

Divisionen aus ihren<br />

Brückenköpfen Kletskaja und Bolschoi<br />

30 zum Angriff gegen die rumänische<br />

3. Armee an, durchbrachen deren Front<br />

und standen am Abend desselben Ta-<br />

ges 35 Kilometer tief in der Flanke<br />

der 6. Armee. 24 Stunden später überwanden<br />

zwei sowjetische Armeen im<br />

Raum südlich von Iwanowka innerhalb<br />

weniger Stunden die Linien des<br />

rumänischen VI. Armeekorps. Der Vormarsch<br />

der gegnerischen Panzerspitzen<br />

schritt so schnell voran, dass das<br />

Oberkommando der 6. Armee seinen<br />

Gefechtsstand in Golubinski fluchtartig<br />

und unter chaotisch anmutenden<br />

12<br />

<strong>Militärgeschichte</strong> · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/<strong>2002</strong><br />

3Der Winter beginnt. Infanterie im Straßenkampf. Bundesarchiv Bild 101/732/129/27<br />

Szenen verlegen musste. In der Nacht<br />

vom 21./22. nahm eine Vorausabteilung<br />

des sowjetischen 26. Panzerkorps<br />

die Don-Brücke bei Kalatsch handstreichartig<br />

in Besitz und bildete einen<br />

Brückenkopf jenseits des Flusses – im<br />

Rücken der 6. Armee. Kurz darauf<br />

wurde die von Rostow nach Stalingrad<br />

führende Bahnlinie, die Lebensader<br />

der 6. Armee, unterbrochen. Am<br />

frühen Nachmittag des 23. trafen die<br />

Angriffskeile bei Sowjetski aufeinander.<br />

Etwa 22 Divisionen und über<br />

160 selbstständige Truppenteile der<br />

6. und Teile der 4. Panzerarmee, aber<br />

auch Rumänen und Zehntausende so-<br />

genannter russischer ›Hilfswilliger‹,<br />

die im Dienste der Wehrmacht standen,<br />

waren eingeschlossen worden. Da<br />

die sowjetische Führung mit sofortigen<br />

Ausbruchsversuchen rechnete, wurde<br />

der äußere Einschließungsring um 150<br />

bis 200 Kilometer nach Westen vorgeschoben.<br />

Die Südwest- und die Woronesch-Front<br />

wurden angewiesen, Stöße<br />

sowohl nach Süden auf Rostow als<br />

auch nach Westen in Richtung Lichaja<br />

gegen die italienische 8. Armee zu<br />

führen. Die Liquidierung des Kessels,<br />

die ursprünglich für den 10. Dezember<br />

vorgesehen war, wurde vorerst verschoben.<br />

Das Risiko, das von der schwachen<br />

Don-Front ausging, war Hitler und<br />

seinen Generälen bekannt gewesen.<br />

Da jedoch aus strategisch-operativen<br />

Gründen eine Schwächung der Heeresgruppe<br />

A oder die Verlegung von<br />

Kräften etwa aus dem Westen nicht<br />

in Betracht kam, hatte sich Hitler statt<br />

Maßnahmen zu ergreifen auf Weisungen<br />

beschränken müssen, die im Kern<br />

den Kampf bis zur letzten Patrone forderten.<br />

In ihrer Feindlagebeurteilung<br />

war die Abteilung Fremde Heere Ost im<br />

Generalstab des Heeres zwar von der<br />

grundsätzlichen Fähigkeit der Roten<br />

Armee zu großräumigen Angriffsoperation<br />

ausgegangen, hatte deren Zielsetzungen<br />

jedoch im Mittel- und Nordabschnitt<br />

vermutet. Die Halbherzigkeit,<br />

mit der in den Folgemonaten<br />

die Don-Verteidigung vorangetrieben<br />

worden war, wird somit plausibel.<br />

Erst um die Monatswende zum<br />

November hatte das Bild der Feindlage<br />

vor der Heeresgruppe schärfere Konturen<br />

angenommen. Doch nicht nur der<br />

Zeitpunkt, sondern auch der tatsäch-<br />

liche operative Schwerpunkt des Gegners<br />

waren den Experten der Feindaufklärung<br />

verborgen geblieben. Klarheit<br />

darüber war erst eine Woche vor dem<br />

Beginn des sowjetischen Angriffs eingetreten.<br />

Die von der Heeresgruppe nun<br />

hektisch eingeleiteten Maßnahmen sollten<br />

sich als der berühmte Tropfen auf<br />

den heißen Stein erweisen. Überhaupt<br />

scheint das Ausmaß der sowjetischen<br />

Offensive jenseits der Vorstellungswelt<br />

der zuständigen deutschen Stellen gelegen<br />

zu haben: Die Möglichkeit einer<br />

doppelt angelegten Einschließungsoperation<br />

war Fremde Heere Ost erst am<br />

18. November zu Bewusstsein gekommen!<br />

Obwohl sofort erkannt wurde, dass der<br />

sowjetische Angriff auf die Einschließung<br />

der 6. Armee zielte, wirkte die<br />

deutsche Führung aus der Rückschau<br />

betrachtet wie gelähmt. Zwar begann<br />

die 6. Armee umgehend damit, sich<br />

angesichts der taktischen und logistischen<br />

Lage »einzuigeln«, bei gleichzeitiger<br />

Vorbereitung eines Ausbruchs nach<br />

Südwesten. Doch alle weiterreichenden<br />

Reaktionen des Armeeoberkommandos<br />

und der Heeresgruppe auf die grundlegende<br />

Lageänderung hingen von den<br />

Weisungen Hitlers und des Oberkommandos<br />

des Heeres (OKH) ab. Paulus‘<br />

Ersuchen um Handlungsfreiheit beantwortete<br />

Hitler zunächst mit inhaltsleeren<br />

Weisungen, die jedoch erkennen<br />

ließen, dass er nicht den Ansatz eines<br />

Ausbruchs zur Lösung der Krise verfolgte.<br />

Hitlers Meinungsbildung wird<br />

sich nicht mehr exakt rekonstruieren<br />

lassen. Sie dürfte nicht nur von politischen<br />

Prestigeerwägungen bestimmt<br />

gewesen sein. Hinzu kam Hitlers dogmatische<br />

Überzeugung, dass Halten<br />

allemal besser sei als Weichen – eine<br />

Auffassung, die sich der Diktator nach<br />

den Erfahrungen des Vorjahreswinters<br />

angeeignet hatte. Schließlich verkannten<br />

Hitler und seine militärischen Berater<br />

die Wucht des sowjetischen Angriffs.<br />

Er überschätzte die eigenen operativen<br />

Möglichkeiten und ging von der irrigen<br />

Annahme aus, dass sich das Beispiel<br />

der fast viermonatigen Luftbrücke nach<br />

Demjansk auf die nun eingetretene Situation<br />

übertragen ließ.<br />

In klarer Kenntnis der bedrohlichen Entwicklung<br />

im Südabschnitt der Ostfront<br />

ernannte Hitler am 20. November Gene-


alfeldmarschall von Manstein zum<br />

Oberbefehlshaber der neu zu bildenden<br />

Heeresgruppe Don. Manstein, der<br />

wegen seiner operativen Erfolge während<br />

des Sommerfeldzuges das besondere<br />

Ansehen Hitlers genoss, wurden<br />

die 4. Panzer- und die 6. Armee sowie<br />

die Reste der beiden rumänischen<br />

Armeen unterstellt. Mansteins Einweisung<br />

im Stab der Heeresgruppe B<br />

erfolgte am 24. November. Im Gegensatz<br />

zu den vor Ort verantwortlichen<br />

Oberbefehlshabern des Heeres und der<br />

Luftwaffe legte Manstein zunächst eine<br />

große Zuversicht hinsichtlich der Versorgungsmöglichkeiten<br />

und des Durchhaltevermögens<br />

der 6. Armee an den<br />

Tag. Dabei war Manstein nicht einmal<br />

über die Gesamtzahl der im Kessel<br />

befindlichen Soldaten genau informiert.<br />

Zu einer ersten Aussprache mit<br />

dem Oberbefehlshaber der zuständigen<br />

Luftflotte 4 fand Manstein erst drei<br />

Tage nach dem Abfassen seiner ersten<br />

Lagebeurteilung die Zeit. Doch genau<br />

die bestärkte fatalerweise Hitler in der<br />

ihm psychologisch genehmen Auffassung,<br />

die 6. Armee in Stalingrad zu<br />

belassen.<br />

Ausbruch oder Entsatz?<br />

Ebenfalls am 24. November verpflichtete<br />

Hitler Paulus zum<br />

Ausharren bis zum Entsatzangriff.<br />

Bis dahin sollte die 6. Armee<br />

aus der Luft versorgt werden. Der<br />

Oberbefehlshaber beurteilte die Leistungsfähigkeit<br />

der Luftwaffe und die<br />

Möglichkeiten zum Schlagen eines Korridors<br />

zur eingeschlossenen Armee<br />

skeptisch. Manstein ermahnte Paulus<br />

zum Gehorsam: »Der Befehl des Füh-<br />

rers entlastet Sie von der Verantwortung,<br />

die über die zweckmäßigste<br />

und willensstärkste Durchführung des<br />

Befehls des Führers hinausgeht. Was<br />

wird, wenn die Armee in Erfüllung des<br />

Befehls des Führers die letzte Patrone<br />

verschossen haben sollte, dafür sind sie<br />

nicht verantwortlich.« Ausgerechnet<br />

Manstein, der im Heer größte Autorität<br />

genoss und dem mitnichten eine naive<br />

Führergläubigkeit unterstellt werden<br />

kann, gab ein Beispiel dafür ab, dass aus<br />

seiner Sicht Hitler nicht nur Oberster<br />

Befehlshaber der Soldaten war. Zumindest<br />

für einen Teil der Wehrmachtgeneralität<br />

war der Diktator auch zur<br />

Stalingrad – Wendepunkt des Zweiten Weltkrieges?<br />

Viele der Zeitgenossen empfanden die<br />

Niederlage an der Wolga als eine<br />

tiefe Zäsur des Krieges. Doch leitete<br />

der Untergang der 6. Armee eine<br />

Wende des Kriegsverlaufs insgesamt<br />

ein? Eine solche Vorstellung gründet<br />

auf der Annahme, dass sich die<br />

Wehrmacht bis dahin auf der Straße<br />

des Sieges befunden habe. Insofern<br />

stellt Stalingrad das Ereignis dar, von<br />

dem ab sich ein dahin vermeintlich<br />

gewinnbarer Krieg nun in einen aussichtslosen<br />

gewandelt habe. Aus der<br />

rückschauenden Perspektive des Historikers<br />

sind an dieser Sichtweise<br />

Zweifel angebracht. Der Lauf der<br />

Geschichte folgt zwar keinen Gesetzmäßigkeiten,<br />

die Entwicklungen und<br />

Ereignisse quasi vorherbestimmen. Es<br />

dürfte für das Deutsche Reich jedoch<br />

kaum eine reale Chance gegeben<br />

haben, den Krieg als Ganzen im<br />

Sinne Hitlers siegreich zu beenden.<br />

Als einige Gründe seien erwähnt: die<br />

Maßlosigkeit der Hitlerschen Ziele,<br />

die frühe Ausweitung zum Weltkrieg,<br />

die personelle und materielle Überlegenheit<br />

der Alliierten, der amerikanische<br />

Vorsprung in der Nuklearwaffenentwicklung<br />

und schließlich die feste<br />

Entschlossenheit der Alliierten, den<br />

ihnen aufgezwungenen Krieg nicht<br />

vor einer deutschen Niederlage zu<br />

beenden (Forderung nach der bedingungslosen<br />

Kapitulation). Betrachtet<br />

man hingegen den Verlauf der Kriegsereignisse<br />

im Osten, so gilt dieser<br />

Befund nur eingeschränkt. Zweimal,<br />

im Herbst 1941 vor Moskau und im<br />

Sommer 1942 im Südabschnitt der<br />

Front, hatte ein Zusammenbruch der<br />

Roten Armee im Bereich des Möglichen<br />

gelegen. Mit der Niederlage<br />

von Stalingrad hatte die Wehrmacht<br />

jedoch endgültig die Fähigkeit verloren,<br />

vergleichbare strategische Entscheidungssituationen<br />

noch einmal<br />

herbeizuführen. Stalingrad markierte,<br />

wie es der Historiker Bernd Wegner<br />

formuliert hat, »den Schlusspunkt<br />

eines Prozesses sich verringernder<br />

Siegesoptionen im Osten«. Seit dem<br />

Frühjahr 1943 begründeten auch operative<br />

Teilerfolge keine Hoffnungen<br />

mehr auf einen Sieg im Osten. Zu<br />

dieser Einsicht kamen auch Hitler und<br />

seine militärischen Berater – entgegen<br />

allen offiziellen ›Endsieg‹-Verlautbarungen.<br />

Es gehört zu den herausragenden<br />

Merkmalen der Kriegführung<br />

des ›Dritten Reiches‹, dass die Einsicht<br />

in die Niederlage keine Wende, sondern<br />

das Gegenteil, die weitere Radikalisierung<br />

der Kriegsanstrengungen,<br />

auslöste. Nach Stalingrad sollte der<br />

Krieg noch weitere zweieinviertel<br />

Jahre dauern. Und es folgten Monate,<br />

in denen mehr deutsche Soldaten<br />

denn Tod fanden als in den Monaten<br />

um die Jahreswende 1942/43.<br />

Lufttransport im Winter. Bei der Versorgung Stalingrads gingen 269 Ju 52 verloren.<br />

Bundesarchiv Bild 101/540/403/9<br />

<strong>Militärgeschichte</strong> · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/<strong>2002</strong> 13


Stalingrad<br />

moralisch höchsten Instanz geworden.<br />

Viele Soldaten betrachteten die Einschließung<br />

nur als vorübergehend und<br />

schenkten der von der Armeeführung<br />

ausgegebenen Parole »Drum haltet aus,<br />

der Führer haut uns raus« zunächst<br />

Glauben. Für den Kommandierenden<br />

General des LI. Korps, General von<br />

Seydlitz-Kurzbach, bedeutete militärische<br />

Verantwortung aber mehr als<br />

deren Verengung auf den reinen Gehorsam.<br />

Dem Grundsatz zu selbständigem<br />

Handeln insbesondere in Krisensituationen<br />

verpflichtet, forderte<br />

er in einer an Paulus gerichteten<br />

Denkschrift: Angesichts der zu erwartenden<br />

»völligen Vernichtung von<br />

200000 Kämpfern und ihrer gesamten<br />

14<br />

<strong>Militärgeschichte</strong> · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/<strong>2002</strong><br />

Materialausstattung« gebe es für die<br />

Armee »keine andere Wahl«, als »sich<br />

die durch den bisherigen Befehl verhinderte<br />

Handlungsfreiheit selbst zu<br />

nehmen«! Der Appell blieb wirkungslos;<br />

das Zeitfenster schloss sich. Mit<br />

jedem Tag, der verstrich, verringerten<br />

sich die logistischen Möglichkeiten der<br />

Armee, mit eigener Kraft den Einschließungsring<br />

zu öffnen bzw. aus diesem<br />

auszubrechen.<br />

Am 1. Dezember erteilte Hitler der<br />

Heeresgruppe Don die Weisung, mit<br />

der Masse der Kräfte der 4. Panzerarmee<br />

ostwärts des Don aus dem<br />

Raum Kotelnikowski anzugreifen und<br />

die gegnerischen Kräfte nach Nord-<br />

osten aufzurollen. Mansteins überlieferte<br />

Äußerungen lassen den Eindruck<br />

entstehen, dass dieser selbst nicht von<br />

der Möglichkeit eines durchschlagenden<br />

Erfolges des unter der Bezeichnung<br />

»Wintergewitter« anzusetzenden<br />

Entsatzangriffs überzeugt war. Tatsächlich<br />

stellte sich heraus, dass das Unternehmen<br />

angesichts der vorhandenen<br />

Kräfte und der operativen Lage von<br />

vornherein zum Scheitern verurteilt<br />

war. Am 12. Dezember begann das<br />

LVII. Panzerkorps den Angriff über<br />

die Entfernung von 120 Kilometern.<br />

Am 19. gelang es, zwei Brückenköpfe<br />

über den Fluss Myschkowa zu bilden;<br />

mit letzter Kraft, wie sich kurz darauf<br />

zeigen sollte. Wenig mehr als 50 Kilometer<br />

vom Südrand des Kessels entfernt<br />

blieb der Entsatzangriff liegen.<br />

Das Unmögliche sollte versucht werden<br />

und im Nachhinein erscheint das<br />

Unternehmen wie eine Demonstration,<br />

alles zum Freischlagen der 6.<br />

Armee unternommen zu haben. Vergeblich<br />

versuchte Manstein Hitler dazu<br />

zu bewegen, den Gesamtausbruch der<br />

6. Armee nach Südwesten (»Donnerschlag«)<br />

zu befehlen.<br />

Warum riskierte Paulus nicht spätestens<br />

jetzt, auf dem Höhepunkt der Entsatzoffensive,<br />

eigenmächtig den Aus<br />

bruch? Der Befehlswirrwarr, der sich<br />

zwischen Hitler, dem Generalstab des<br />

Heeres, Manstein und der 6. Armee<br />

entwickelte, dürfte ihn nicht davon<br />

abgehalten haben. Die taktische und<br />

logistische Lage der 6. Armee hatte<br />

»Donnerschlag« längst alle Voraussetzungen<br />

genommen. Betriebsstoff- und<br />

Munitionsmangel schränkten den Wirkungsradius<br />

derart ein, dass bei einem<br />

Ausbruchsversuch schon nach wenigen<br />

Kilometern Panzer, Geschütze, Kraftfahrzeuge<br />

und schweres Gerät hätten<br />

stehen gelassen werden müssen. Das<br />

Absetzen der Armee als Ganze bei allenfalls<br />

kurzfristiger Verbindung mit den<br />

Entsatzkräften bezeichnete Paulus am<br />

21. Dezember als »Katastrophenlösung«.<br />

Paulus, dem die Aussicht vor<br />

Augen stand, dass sich die Truppe<br />

durch die deckungslose Steppe gegen<br />

einen materiell und personell überlegenen<br />

Gegner hätte durchschlagen<br />

und dabei eine große Zahl Verwundeter<br />

hätte zurücklassen müssen, wusste<br />

scheinbar noch nicht, dass »Wintergewitter«<br />

gescheitert war!


General Paulus (rechts) und Gen.Major v. Seydlitz-Kurzbach auf einer Beobachtungsstelle<br />

im nördl. Abschnitt Stalingrads. Aufnahme: PK-Berichter Jesse / Bundesarchiv Bild 71/70/73<br />

Der Alternative Kapitulation oder Vernichtung<br />

konnte die 6. Armee zu<br />

diesem Zeitpunkt nicht mehr entrinnen.<br />

Die dramatischen Veränderungen<br />

der operativen Gesamtlage in der letzten<br />

Dezemberdekade zerstörten alle<br />

Illusionen. Am 16. Dezember hatte die<br />

Rote Armee die Front im Bereich der<br />

italienischen 8. Armee durchbrochen,<br />

die mangels eigener Reserven und trotz<br />

großer Verluste den Angriff nicht abriegeln<br />

konnte. Manstein erkannte, dass er<br />

der 6. Armee angesichts der Kräfteverhältnisse<br />

vor der Front seiner Heeresgruppe<br />

und der sich alsbald abzeichnenden<br />

sowjetischen Umfassungsoffensive<br />

gegen seinen linken Flügel<br />

nicht mehr helfen konnte. Am Heiligen<br />

Abend musste die 4. Panzerarmee ihre<br />

Stellungen an der Myschkowa unter<br />

dem Druck weit überlegener Feindkräfte<br />

aufgeben.<br />

Das Sterben der 6. Armee<br />

Hatte man sich bis dahin trügerischen<br />

Hoffnungen, die<br />

durch verzerrte Lagedarstellungen<br />

von außen genährt worden<br />

waren, hingegeben, so setzte in der<br />

Führung der 6. Armee nun Resignation<br />

ein. Über 240000 Mann umfasste<br />

die Armee zu diesem Zeitpunkt noch,<br />

davon allenfalls ein Zehntel Infanteristen.<br />

Die Zahl der auf den Lagekarten<br />

eingetragenen Verbände stand<br />

in keinem realen Verhältnis zu ihrer<br />

tatsächlichen Kampfkraft. Mit den<br />

vorhandenen Kräften würde man, wie<br />

Paulus am 26. Dezember Manstein<br />

meldete, keinem massierten Angriff<br />

der Roten Armee standhalten können.<br />

Und trotzdem: Als am 8. Januar 1943<br />

der Oberbefehlshaber der sowjetischen<br />

Don-Front, Generalleutnant Rokossowski,<br />

die 6. Armee zur Kapitulation<br />

aufforderte, bat Paulus Hitler erneut<br />

um Handlungsfreiheit, hoffte auf Entsatz<br />

und befahl seinen Soldaten die<br />

Fortsetzung des sinnlosen Widerstandes.<br />

Nach heftigem Artillerieeinsatz<br />

begann am 10. Januar der Angriff<br />

gegen die Nordwest- und Südfront des<br />

Kessels. In weniger als einer Woche<br />

wurde dieser auf ungefähr ein Drittel<br />

seines früheren Umfangs eingeengt,<br />

wenngleich Paulus und sein Stab<br />

den Zusammenhalt ihrer zusammenschmelzenden<br />

Verbände wahren und<br />

die Aufspaltung des Kessels verhindern<br />

konnten. Die großenteils unbeweglich<br />

gewordenen schweren Waffen<br />

mussten meist zurückgelassen werden.<br />

Als der Roten Armee am 22. Januar<br />

ein breiter und tiefer Durchbruch der<br />

Südwestfront gelang, fragte Paulus<br />

in einem Funkspruch an das OKH:<br />

»Welche Befehle soll ich den Truppen<br />

geben, die keine Munition mehr haben<br />

und weiter mit starker Artillerie, Panzern<br />

und Infanteriemassen angegriffen<br />

werden? Schnellste Entscheidung<br />

notwendig, da Auflösung an einzelnen<br />

Stellen schon beginnt.« Indirekt stellte<br />

Paulus damit die Frage nach der Einstellung<br />

der Kämpfe. Auch Manstein<br />

regte in einem Ferngespräch mit Hitler<br />

Verhandlungen mit der Roten Armee<br />

an, sofern diese sich zur Einhaltung<br />

der Genfer Konventionen verpflichtete.<br />

Hitlers Reaktion war kurz und bündig:<br />

»Eine Kapitulation der 6. Armee ist<br />

schon vom Standpunkt der Ehre aus<br />

nicht möglich [...]«.<br />

Wochenlang unternahm das VIII. Fliegerkorps,<br />

dessen Kräfte auch andernorts<br />

in die Kämpfe eingreifen mussten,<br />

große Anstrengungen, die 6. Armee aus<br />

der Luft zu versorgen. Die Besatzungen<br />

flogen ohne Rücksicht auf klimatische<br />

Bedingungen und die sowjetische<br />

Luftabwehr. Die Luftwaffe verlor<br />

in den Kämpfen um Stalingrad vom<br />

24. November bis zum 3. Februar über<br />

7200 gefallene und vermisste Soldaten<br />

des nichtfliegenden und etwa 1000 Soldaten<br />

des fliegenden Personals. 168<br />

Flugzeuge wurden total zerstört, 112<br />

galten als vermisst und 215 Maschinen<br />

hatten Bruch gemacht. Doch der Munitions-<br />

und Betriebsstoffverbrauch lag<br />

um ein Vielfaches höher als der eingeflogene<br />

Nachschub. Seit dem 5. Ja-<br />

nuar war die 6. Armee praktisch unbeweglich<br />

und konnte streckenweise<br />

nicht einmal mehr den eigenen Versorgungsbetrieb<br />

aufrechterhalten. Das<br />

mit Abstand schlimmste Problem war<br />

die zusammenbrechende Versorgung<br />

der Soldaten mit Verpflegung. »Seit<br />

Wochen bekommen wir 200g Brot,<br />

15g Fett und 40g Kunsthonig für den<br />

Tag«, hatte ein Soldaten bereits am<br />

19. Dezember nach Hause geschrie-<br />

<strong>Militärgeschichte</strong> · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/<strong>2002</strong><br />

Deutsche Soldaten<br />

im Kessel<br />

von Stalingrad,<br />

Dezember 1942.<br />

Bundesarchiv<br />

15


Stalingrad<br />

ben: »Pferdefleisch ist selten geworden;<br />

außerdem kann man es auch nicht<br />

roh essen; denn mitten in der baumlosen<br />

Steppe gibt es kein Brennholz«.<br />

In den folgenden Wochen trieb der<br />

Hunger die Soldaten zur Verzweiflung:<br />

Augenzeugen berichten, dass<br />

zum Schluss sogar das für den menschlichen<br />

Körper ungenießbare Hartöl aus<br />

der Metallverarbeitung als Delikatesse<br />

gehandelt wurde. Am 28. Januar ordnete<br />

die Armee an, an Verwundete und<br />

Kranke keine Verpflegung mehr auszugeben,<br />

damit, so die Begründung, »die<br />

Kämpfer erhalten blieben«. Die Soldaten<br />

hausten in mehr oder weniger ausgebauten<br />

Stellungen und Erdbunkern.<br />

Unterernährung, fehlendes Heizmaterial<br />

und in vielen Fällen eine unzureichende<br />

Bekleidung ließen die Soldaten<br />

bitterlich frieren. Die durchschnittlichen<br />

Temperaturen, die tagsüber bei<br />

0 bis minus 5 Grad und nachts bei<br />

minus 10 Grad lagen, wurden, auch<br />

wegen des schneidenden Steppenwindes,<br />

noch kälter empfunden als sie<br />

ohnehin schon waren. Katastrophale<br />

hygienische Bedingungen hatten zur<br />

Folge, dass die Armee zunehmend verlauste.<br />

Schon vor der Einschließung<br />

im November waren Fälle von durch<br />

Ungeziefer übertragenem Fleckfieber<br />

und andere Infektionskrankheiten aufgetreten,<br />

die in den Kriegsgefangenenlagern<br />

Zehntausende Opfer fordern<br />

sollten. Der Umstand, dass eine Kompanie<br />

am 23. Januar für den Marschweg<br />

von nur vier Kilometern Luftlinie<br />

von morgens 6 Uhr bis in die Abenddämmerung<br />

benötigte, veranschaulicht<br />

den körperlichen Verfall der Soldaten.<br />

Katastrophal waren die psychologi-<br />

16<br />

<strong>Militärgeschichte</strong> · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/<strong>2002</strong><br />

schen und logistischen Folgen des Verlustes<br />

der Flugplätze. Als sich die Front<br />

dem verbliebenen Flugplatz Gumrak,<br />

in dessen Nähe sich das zentrale Lazarett<br />

des Kessels befand, näherte, spielten<br />

sich apokalyptische Szenen ab:<br />

Abfliegende Maschinen wurden von<br />

Verwundeten gestürmt; nur mit vorgehaltener<br />

Waffe konnte mitunter die<br />

Passagierzahl verringert und dadurch<br />

der Start ermöglicht werden. Ein Arzt<br />

erinnert sich an die Fahrt von Gumrak<br />

in die Stadt: »Auf dem ausgefahrenen,<br />

vereisten Weg nach Stalingrad [...] lagen<br />

an den Straßen überall und in grauenhaftem<br />

Umfang Verwundete, Erfrorene<br />

und Erfrierende, die unseren langsam<br />

fahrenden Wagen den Weg mit<br />

ihren Leibern versperrten, die sich<br />

mitten auf die Fahrbahn gewälzt hat-<br />

ten. Ihre Schreie, sie zu überfahren<br />

oder mitzunehmen, wiederholten sich<br />

in ähnlichen Bildern über die ganze<br />

Strecke.«<br />

Hitlers Kapitulationsverbot löste bei<br />

Paulus und seinem Stab Reaktionen<br />

aus, die rational nur schwer zu begreifen<br />

sind. Eine Zeit lang flüchtete man<br />

sich vielleicht in die Vorstellung, dass<br />

der Kampf feindliche Kräfte band<br />

und auf diese Weise zur Rettung der<br />

Heeresgruppe A und zur Neuformierung<br />

der Abwehrfront im Süden beitrug.<br />

Mit bizarren Treuebekundungen<br />

für »Führer« und Nationalsozialismus<br />

versuchten Armeeoberkommando und<br />

einzelne Truppenführer schließlich<br />

dem Sinnlosen einen Sinn zu vermitteln.<br />

Sie stilisierten den Untergang der<br />

6. Armee zu einem Lehrstück über die<br />

Standhaftigkeit nationalsozialistischen<br />

Soldatentums. Einem Funkspruch vom<br />

25. Januar zufolge wurde die Hakenkreuzfahne<br />

auf dem höchsten Gebäude<br />

des Stalingrader Stadtkernes gehisst,<br />

»um unter diesem Zeichen den Kampf<br />

zu führen«. Tags zuvor hatte die Armee<br />

»grauenhafte Zustände« im Stadtgebiet<br />

von Stalingrad gemeldet: Starkem<br />

feindlichen Artilleriefeuer fast pausenlos<br />

ausgesetzt, suchten »etwa 20000<br />

unversorgte Verwundete« in den Häuserruinen<br />

Schutz; dazwischen »ebenso<br />

viele Ausgehungerte, Frostkranke und<br />

Versprengte meist ohne Waffen«.<br />

Seit der Kessel am 26. Januar aufgespalten<br />

worden war, war an einen koordinierten<br />

Widerstand nicht länger zu<br />

denken. Welche Gedanken beherrschten<br />

die Köpfe der Soldaten, die in den<br />

letzten Januartagen in der Trümmer-<br />

und Schneewüste Stalingrads dahinvegetierten?<br />

In seinen Erinnerungen<br />

beschrieb Joachim Wieder, der bereits<br />

zu Beginn des Beitrages erwähnte<br />

junge Offizier, die unterschiedlichen<br />

Reaktionen auf die Erfahrung, dass<br />

die soldatischen Tugenden der Tapferkeit,<br />

der Hingabe, der Treue und<br />

der Pflichterfüllung schändlich missbraucht<br />

worden waren. Sofern die Soldaten<br />

aufgrund körperlicher und seelischer<br />

Erschöpfung nicht ohnehin der<br />

Gefangennahme apathisch entgegen<br />

dämmerten, habe mancher, so berichtet<br />

Wieder aus eigener Anschauung,<br />

»in seiner Verzweiflung angesichts des<br />

Zusammenbruchs einer ganzen Welt<br />

von Vorstellungen und im Hinblick<br />

auf die Sinnlosigkeit der Katastrophe<br />

zur Pistole gegriffen und seinem Leben<br />

ein Ende gemacht«. Nicht wenige versteckten<br />

ihre innere Angst und geistige<br />

Leere hinter »einer verkrampft soldatischen<br />

Haltung« oder gar hinter<br />

»einer betonten Landsknechtsgesinnung«:<br />

»Wenn sie nun schon einmal<br />

dazu verurteilt seien ›draufzugehen‹«,<br />

erinnerte sich Wieder, »dann wollten<br />

sie wenigstens bis zuletzt ihre Haut<br />

teuer verkaufen und noch möglichst<br />

viele Russen ›mitnehmen‹.« Anderen<br />

wiederum öffneten die grauenvollen<br />

Erlebnisse und Bilder des Unterganges<br />

einer ganzen Armee die Augen für das<br />

von Lüge, Hass, Gewalt, Unrecht und<br />

Unmenschlichkeit bestimmte Regime<br />

Hitlers und seines Krieges. Auch Wieder<br />

erkannte: »Wir hatten Wind gesät,<br />

jetzt mussten wir Sturm ernten.«


Es muss der Spekulation überlassen<br />

bleiben, warum Paulus nicht die moralische<br />

Stärke fand, aus eigenem Entschluss<br />

die Einstellung der Kämpfe zu<br />

befehlen, obwohl er als Armeeoberbefehlshaber<br />

bei anderen Anlässen charakterliche<br />

Integrität bewiesen hatte.<br />

Die Initiative dazu blieb schließlich den<br />

Kommandierenden Generalen, Divisions-<br />

und Regimentskommandeuren<br />

überlassen. Einige Offiziere versuchten,<br />

sich mit kleineren Kampfgruppen<br />

über Hunderte von Kilometern zu<br />

den eigenen Linien durchzuschlagen.<br />

Die Generalkommandos des IV. und<br />

LI. Korps gaben Weisungen aus, die<br />

es ihren Kommandeuren freistellten,<br />

je nach örtlichen Verhältnissen den<br />

Kampf einzustellen. Andere, wie der<br />

Kommandierende General des VIII.<br />

Korps, befahlen noch in den letzten<br />

Tagen, dass jeder, der kapituliere oder<br />

die weiße Fahne zeige, zu erschießen<br />

sei. In Lethargie gefallen, war der Oberbefehlshaber<br />

der 6. Armee weder fähig,<br />

das sinnlose Blutvergießen zu verhindern,<br />

noch Hitlers Forderung nach<br />

Selbstmord nachzukommen. Die hatte<br />

der Hitler subtil in Paulus’ Beförderung<br />

zum Generalfeldmarschall gekleidet.<br />

Der Rest des Stabes der 6. Armee hatte<br />

Unterschlupf bei der 71. Infanteriedivision<br />

gefunden, die ihren Gefechtsstand<br />

in einem ehemaligen Kaufhaus<br />

im Stadtzentrum Stalingrads eingerichtet<br />

hatte. Deren Kommandeur nahm<br />

am 30. Januar Verbindungen mit der<br />

sowjetischen Seite auf. Nach kurzen<br />

Verhandlungen, denen Paulus‘ Chef<br />

des Stabes beiwohnte, an denen der<br />

Oberbefehlshaber jedoch keinen Anteil<br />

hatte, wurden am darauffolgenden Tag<br />

die Kämpfe eingestellt. Formell kapitulierte<br />

die 6. Armee nie, ihr Oberbe-<br />

Marsch in Gefangenschaft und Tod, Stalingrad 1943.<br />

akg-images/sign. 9-1943-1-31-A2-4<br />

fehlshaber begab sich ausdrücklich nur<br />

als Privatperson in sowjetische Kriegsgefangenschaft.<br />

Im Nordkessel kämpften<br />

die Reste des XI. Armeekorps<br />

noch zwei Tage länger einen sinnlosen<br />

Kampf.<br />

Mit letzter Gewissheit wird sich nicht<br />

mehr feststellen lassen, wie viele Soldaten<br />

im Kessel umkamen; zu stark weichen<br />

die amtlichen Unterlagen, so sie<br />

denn noch vorhanden sind, voneinander<br />

ab. Jüngeren Schätzungen zufolge<br />

wurden etwa 195000 deutsche [!] Soldaten<br />

im November 1942 eingeschlossen.<br />

25000 von ihnen wurden im Laufe<br />

der Kämpfe ausgeflogen, vermutlich<br />

60000 starben im Kessel. Von den geschätzten<br />

110 000, die Anfang Februar<br />

den langen Weg in die Gefangenschaft<br />

antraten, kamen schon auf dem Marsch<br />

in die ersten Lager und Lazarette wahrscheinlich<br />

17000 ums Leben. Zehntausende<br />

sollten der körperliche Erschöpfungszustandstand<br />

und Krankheiten<br />

in den Folgemonaten dahinraffen. Nur<br />

etwa 5000 ehemalige Stalingrad-Kämpfer<br />

kehrten Jahre später in ihre Heimat<br />

zurück.<br />

Die Meldungen vom Ende der 6. Armee<br />

lösten im Reich lähmendes Entsetzen<br />

aus. Seit Spätsommer 1942 hatte das<br />

Thema Stalingrad die deutsche Öffentlichkeit<br />

beherrscht. Bis zu diesem Zeitpunkt<br />

hatte man den Menschen vorgegaukelt,<br />

dass der Krieg gewonnen, aber<br />

nur noch nicht beendet sei. Die Angst<br />

vor einem Stimmungsumschwung ließ<br />

Hitler und seine Paladine vor radikalen<br />

Maßnahmen, um die personellen<br />

und materiellen Ressourcen für den<br />

Krieg zu mobilisieren, zurückschrecken.<br />

Goebbels‘ berüchtigte Berliner<br />

Sportpalastrede am 18. Februar und<br />

das hysterische Umjubeln seines »Wollt<br />

Ihr den totalen Krieg?« durch die ausgesuchten<br />

Zuhörer war denn auch nur<br />

ein propagandistischer Budenzauber.<br />

Das Spektakel konnte die tiefgreifende<br />

Vertrauenskrise des Regimes in großen<br />

Teilen der Bevölkerung nicht beseitigen.<br />

Stalingrad bedeutete vor allem<br />

eine psychologische Wende, eine Zäsur<br />

in den Köpfen der Menschen: Die<br />

einen sahen sich durch das Beispiel<br />

der 6. Armee zum Einsatz aller Kräfte<br />

verpflichtet, die anderen erkannten in<br />

dem Ereignis den Anfang vom Ende.<br />

Manche wollten ihre Haut so teuer wie<br />

möglich verkaufen, andere versuchten<br />

das Leben so lange und so gut wie<br />

möglich zu genießen. Die Masse indes<br />

klammerte sich an jeden Hoffnungsschimmer,<br />

um nach weiteren Niederlagen<br />

in Apathie und Resignation zu<br />

verfallen.<br />

n Andreas Kunz<br />

Literatur:<br />

Torsten Diedrich, Friedrich Paulus – Patriot in<br />

zwei Diktaturen, in: Ronald Smelser/Enrico<br />

Syring (Hg.), Die Militärelite des Dritten Reiches.<br />

27 biographische Skizzen, 2. Aufl.,<br />

Berlin 1998, S. 388–405<br />

Jürgen Förster (Hg.), Stalingrad. Ereignis, Wirkung,<br />

Symbol, 2. Aufl., München 1992<br />

Manfred Kehrig, Stalingrad. Analyse und Dokumentation,<br />

3. Aufl., Stuttgart 1979<br />

Bernd Wegner, Der Krieg gegen die Sowjetunion<br />

1942/43, in: Das Deutsche Reich und der<br />

Zweite Weltkrieg. Hg. vom Militärgeschichtlichen<br />

Forschungsamt, Bd 6, Stuttgart 1990,<br />

S. 761-1092<br />

Joachim Wieder, Stalingrad und die Verantwortung<br />

des Soldaten, München 1962<br />

Peter Steinkamp, Generalfeldmarschall Friedrich<br />

Paulus, in: Gerd R. Ueberschär (Hg.), Hitlers<br />

militärische Elite, Bd 2: Vom Kriegsbeginn<br />

bis zum Weltkriegsende, Darmstadt 1998,<br />

S. 161-168<br />

<strong>Militärgeschichte</strong> · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/<strong>2002</strong> 17


Grafik: Der Spiegel 3/2000, S. 42<br />

18<br />

Stalins V-2<br />

Stalins V-2<br />

Ende Januar 1959 vermeldete<br />

V-Mann Nr. 9771 Folgendes an<br />

seinen BND-Führungsoffizier:<br />

Auf der Bahnstrecke Lychen-Fürstenberg,<br />

80 Kilometer nördlich von Berlin,<br />

entlud eine sowjetische Einheit auf<br />

freier Strecke »sehr große Bomben«.<br />

Der Agent hatte einen bis heute wenig<br />

bekannten Vorgang beobachtet. Zur<br />

Jahreswende 1958/59 ließ die UdSSR<br />

erstmals weitreichende Atomraketen<br />

außerhalb ihres Territoriums stationieren.<br />

Zu diesem Zweck befahl der sowjetische<br />

Generalstab die Verlegung der<br />

72. Raketenbrigade in den Großraum<br />

Berlin. Die 635. Raketenabteilung der<br />

Brigade bezog mit zwei Abschussrampen<br />

und sechs Raketen des Typs<br />

R-5M (NATO-Code »SS-3 Shyster«)<br />

bei Fürstenberg/Havel Stellung. Im 20<br />

Kilometer entfernten Vogelsang lag die<br />

638. Raketenabteilung mit ebensoviel<br />

Fernkampfgeschossen. Jede der zwölf<br />

Raketen war in der Lage, einen nuklearen<br />

Gefechtskopf mit einer Sprengkraft<br />

von 300 Kilotonnen TNT über<br />

eine Reichweite von 1200 Kilometern<br />

zu befördern. Mit diesem atomaren<br />

Potential konnte die UdSSR erstmals<br />

Bonn, Brüssel, Paris und London real<br />

mit nuklearen Schlägen bedrohen.<br />

Die Abbildung illustriert die Reichweite der<br />

sowjetischen R-5M. Die NATO bezeichnete<br />

die Waffe mit dem Code »SS-3 Shyster«.<br />

<strong>Militärgeschichte</strong> · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/<strong>2002</strong><br />

Mit den 1959 in der DDR stationierten R-5M<br />

konnte die UdSSR erstmals strategische Ziele<br />

in Europa wie London, Paris und Brüssel ins<br />

Visier nehmen.<br />

Die für die Militäraktion ausgewählte<br />

Truppe verfügte bereits über Deutschlanderfahrung.<br />

Die 72. Raketenbrigade<br />

war im Sommer 1946 auf Befehl<br />

Stalins im thüringischen Berka aufgestellt<br />

worden. Hier sollte sie den<br />

Abschuss des Ausgangsmodells aller<br />

sowjetischen Fernkampfraketen, der<br />

deutschen V-2, erproben. Die hierfür<br />

übergebenen Raketen stammten aus<br />

dem Werk Nr. 3 in Kleinbodungen,<br />

einer kleinen Ortschaft in Nordthüringen<br />

unweit der Grenze zwischen<br />

der sowjetischen und amerikanischen<br />

Besatzungszone. Hier und in zahlreichen<br />

anderen Orten der Sowjetischen<br />

Besatzungszone (SBZ) arbeiteten seit<br />

Juli 1945 deutsche und sowjetische<br />

Spezialisten intensiv an der Wiederherstellung<br />

und Weiterentwicklung der<br />

Raketentechnologie des untergegangenen<br />

Deutschen Reiches.<br />

Im Oktober 1946 verließen die sowjetischen<br />

Wissenschaftler zusammen mit<br />

308 Deutschen überraschend Deutschland<br />

in Richtung Moskau. Als 1952<br />

die ersten deutschen Techniker in ihre<br />

Heimat zurückkehrten, existierte in<br />

der UdSSR bereits eine funktionieren-<br />

de Serienfertigung der R-1, der sowjetischen<br />

Kopie der V-2. Sie war die<br />

Der Transfer<br />

der deutschen<br />

Raketentechnik<br />

in die UdSSR<br />

Grundlage für alle weiteren sowjetischen<br />

Raketenentwicklungen.<br />

Mit der R-5M gelang der UdSSR 1956<br />

der Einstieg in ein qualitativ neues<br />

Waffensystem. Diese Atomrakete revolutionierte<br />

nicht nur die Militärstrategie<br />

und -technik nach 1945 – sie veränderte<br />

auch die Politik des Kalten<br />

Krieges. Die UdSSR und USA erwarben<br />

durch nukleare Raketenwaffen die<br />

Fähigkeit, bei der Durchsetzung ihrer<br />

weltweiten politischen Interessen auf<br />

direkte militärisch-konventionelle Konfrontation<br />

zu verzichten. An ihre Stelle<br />

trat das Kalkül mit der Drohung der<br />

Vernichtung der jeweils anderen Seite.<br />

Das Grundmuster für ein »Gleichgewicht<br />

des Schreckens« war geboren.<br />

Die Sowjets auf den Spuren der<br />

deutschen V-2<br />

Die Staatsführung der UdSSR<br />

war seit Mitte der 30er Jahre<br />

kontinuierlich über die deutschen<br />

Arbeiten zur Raketentechnik<br />

informiert. Daran hatte der sowjetische<br />

Geheimdienst NKWD einen nicht<br />

geringen Anteil. Ihm war es bereits<br />

1929 gelungen, Willy Lehmann, später<br />

SS-Hauptsturmführer und Mitarbeiter<br />

des RSHA anzuwerben. Agent »Breitenbach«<br />

erhielt seit 1935 auch Zugang<br />

zu Informationen über das deutsche<br />

Raketenprogramm, die er unverzüglich<br />

nach Moskau weiterleitete.<br />

Nach der Enttarnung der »Roten Kapelle«<br />

wurde Lehmann im Dezember<br />

1942 verhaftet und auf Befehl Himmlers<br />

erschossen. Doch Gerüchte über<br />

deutsche »Wunderwaffen« erreichten<br />

weiterhin die UdSSR. Deshalb wies<br />

Stalin 1943 seine Geheimdienste an,<br />

genauere Angaben über die V-2 zu<br />

beschaffen. Anfang August 1944 stießen<br />

schließlich sowjetische Truppen<br />

auf das geräumte Raketentestgelände<br />

Debice in Polen vor. Hier erbeuteten<br />

sowjetische Experten erstmals Bauteile


Lehmann, Willy<br />

(1884-1942)<br />

SS-Hauptsturmführer/Kriminalinspektor<br />

alias Agent »A-201«/ »Breitenbach«. Vor<br />

und während des Zweiten Weltkrieges war<br />

Lehmann eine der wertvollsten Quellen<br />

des sowjetischen Geheimdienstes NKWD<br />

in Deutschland. 1911 wurde Lehmann in<br />

den Berliner Polizeidienst übernommen,<br />

dort war er ab 1920 stellv. Abteilungsleiter<br />

der Spionageabwehr und wurde 1929<br />

von der Auslandsaufklärung des NKWD<br />

angeworben. 1933 erfolgte seine Übernahme<br />

in die Gestapo, dort war er Leiter<br />

der Abteilung »Kampf gegen kommunistische<br />

Spionage«. Dank seiner Informationen<br />

gelang es dem NKWD u.a.,<br />

die geplante Verhaftung des sowjetischen<br />

Agenten Arnold Deutsch zu verhindern.<br />

1934 trat Lehmann in die SS ein, gleichzeitig<br />

wechselte er zum Amt IV des<br />

RSHA. Dort war er für Spionageabwehr<br />

innerhalb der deutschen Rüstungsindustrie<br />

zuständig. Diese Tätigkeit ermöglichte<br />

es »Breitenbach«, das NKWD mit<br />

zahlreichen Informationen über deutsche<br />

Rüstungsvorhaben zu versorgen. Im<br />

Dezember 1942 wurde Lehmann enttarnt<br />

und verhaftet, wenig später auf Befehl<br />

von Himmler erschossen, der gleichzeitig<br />

anordnete, den Fall zu vertuschen.<br />

V-2/A-4<br />

(Vergeltungswaffe 2/Aggregat 4)<br />

Erste militärisch einsetzbare Fernkampfrakete,<br />

entwickelt von 1936 bis 1943 in<br />

Peenemünde. Die 14 Meter lange Rakete<br />

hatte einen Durchmesser von 1,65 Metern<br />

und eine Startmasse von 12 Tonnen. Das<br />

auf der Basis von Flüssigsauerstoff und<br />

75% Alkohol arbeitende Triebwerk entwickelte<br />

einen Schub von bis zu 30<br />

Tonnen. Dies reichte aus, um 975 Kilogramm<br />

Sprengstoff über eine Reichweite<br />

von bis zu 340 Kilometern zu befördern.<br />

Ihre geringe Treffgenauigkeit ließ jedoch<br />

nur den Beschuss von großflächigen<br />

Zielen, wie Paris, London, Brüssel und<br />

Antwerpen zu. Von September 1944 bis<br />

März 1945 wurden 3280 V-2 im militärischen<br />

Einsatz verschossen, sie kosteten<br />

mehr als 5000 Menschen das Leben.<br />

Nach dem Krieg wurde die V-2 in den<br />

USA zur »Redstone« weiterentwickelt,<br />

während die UdSSR auf der Grundlage<br />

der V-2 die Raketen R-1 und R-2 baute.<br />

der V-2. Die in Polen ausfindig gemachten<br />

Raketenteile wurde unverzüglich<br />

nach Moskau abtransportiert.<br />

In nur fünf Tagen sollten der Sowjetführung<br />

Angaben über Größe, Leistungsvermögen,<br />

Konstruktionsaufbau und<br />

die taktischen Daten der V-2 gemacht<br />

werden. Bereits nach den ersten Auswertungen<br />

stand für die sowjetischen<br />

Wissenschaftler fest, dass sie hier die<br />

Überreste einer Waffe gefunden hatten,<br />

die nach ihren Vorstellungen eigentlich<br />

gar nicht existieren durfte. Im Frühjahr<br />

1945 wurden alle vorhandenen<br />

Erkenntnisse über die deutsche V-2 in<br />

einem Untersuchungsbericht für die<br />

Partei- und Staatsführung der UdSSR<br />

zusammengefasst. Darin kamen die<br />

sowjetischen Experten zu folgendem<br />

Schluss: »Die Fernkampfrakete erweist<br />

sich als gewaltige wissenschaftlichtechnische<br />

Errungenschaft, die den<br />

Grundstein für eine neue Art der Fernartillerie<br />

legt. [...] In naher Zukunft<br />

werden analoge Raketen, bei Verbesserung<br />

ihrer Zielgenauigkeit, Reichweite<br />

und Sprengkraft als selbständige Gattung<br />

einer mächtigen reaktiven Fernartillerie,<br />

zur Bewaffnung der großen<br />

Staaten gehören.«<br />

Noch bevor die Endfassung des Berichts<br />

Stalin vorgelegt wurde, befahl<br />

dieser, die Entwicklung von eigenen<br />

Raketen voranzutreiben. Währenddessen<br />

näherten sich sowjetische Truppen<br />

der Insel Usedom. Von der Besetzung<br />

der dort befindlichen Heeresversuchsanstalt<br />

versprach sich die UdSSR einen<br />

bedeutenden Erkenntniszuwachs über<br />

die deutsche Raketentechnik.<br />

Am 5. Mai 1945 trafen erste Raketenspezialisten<br />

in Peenemünde ein, um die<br />

verbliebenen Reste der Forschungsanlagen<br />

zu untersuchen. Bei ihren Nachforschungen<br />

stellten die Fachleute fest,<br />

dass die meisten Prüfstände, Werkstätten,<br />

Fertigungsanlagen und Labors<br />

weit weniger zerstört waren als angenommen.<br />

Hier noch vorhandene 150<br />

Triebwerke für die V-2, Teile der Funksteuerung<br />

der Rakete, 25 Prüfstände<br />

und anderes Material wurden unverzüglich<br />

in die UdSSR abtransportiert.<br />

Doch nicht nur in Peenemünde stießen<br />

die sowjetischen Kommandos auf die<br />

Reste der deutschen Raketenproduktion.<br />

Auch an anderen Orten fanden<br />

Peenemünde<br />

Gemeinde im Nordwesten der Insel<br />

Usedom. Seit 1936 Sitz der Heeresversuchsanstalt,<br />

die hier unter der Leitung<br />

von Wernher von Braun die ballistische<br />

Fernkampfrakete A-4 (V-2) entwickeln<br />

und erproben ließ. Ab 1938 befand sich<br />

hier auch eine Erprobungsstelle der Luftwaffe,<br />

die vor allem Flugbomben des<br />

Typs Fi-103 (V-1) testete. Am 17. August<br />

1943 wurde Peenemünde durch englische<br />

Bomber angegriffen. Im Februar 1945<br />

wurde das Gelände der Heeresversuchsanstalt<br />

geräumt und Anfang Mai 1945<br />

von sowjetischen Truppen besetzt. Diese<br />

demontierten die noch vorhandenen Testanlagen<br />

und transportierten sie in die<br />

UdSSR. Danach war Peenemünde sowje-<br />

tischer Marine- und Luftwaffenstützpunkt<br />

bis 1952, als es an die DDR übergeben<br />

wurde. Ab den 60er Jahren war Peene-<br />

münde Stützpunkt für die 1. Flottille<br />

und des Jagdgeschwaders 9 der NVA.<br />

1993 erfolgte die Auflösung des dortigen<br />

Truppenstandortes.<br />

Im Oktober 1944 untersuchten sowjetische<br />

Experten des NII-1 erstmals wesentliche Teile<br />

einer V-2 Rakete. Nach Aussage des Raketenspezialisten<br />

Boris Čertok stand nach den<br />

ersten Analysen fest, dass man hier Überreste<br />

einer Waffe gefunden hatte, die nach<br />

den Vorstellungen der sowjetischen Techniker<br />

eigentlich gar nicht existieren durfte.<br />

Quelle: RGAE<br />

<strong>Militärgeschichte</strong> · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/<strong>2002</strong> 19


20<br />

KZ Mittelbau-Dora<br />

Stalins V-2<br />

Am 28. August 1943 bei Nordhausen<br />

geschaffenes Konzentrationslager. Im an-<br />

gegliederten unterirdischen Mittelwerk<br />

erfolgte ab 1944 die Serienfertigung der<br />

sogenannten V-Waffen. Bis Kriegsende<br />

bauten die Häftlinge des KZ Mittelbau-<br />

Dora mehr als 5700 V-2 und 6300<br />

V-1. Am 1. Oktober 1944 erhielt das<br />

KZ Mittelbau-Dora als letztes deutsches<br />

Konzentrationslager den Status eines eigenständigen<br />

Lagerkomplexes. Von den<br />

60000 Häftlingen, die nach Mittelbau-<br />

Dora kamen, überlebten 20000 nicht.<br />

Anfang April 1945 wurde das Lager durch<br />

US-Truppen befreit und dann im Juli<br />

1945 an sowjetische Truppen übergeben.<br />

Zunächst wurde es als Repatriierungs-,<br />

dann als Umsiedlerlager verwendet. Die<br />

Einrichtungen des Mittelwerks wurden<br />

durch die Sowjets demontiert und die<br />

unterirdischen Anlagen 1947 gesprengt.<br />

Seit 1966 befindet sich auf dem Gelände<br />

des ehemaligen KZ eine Gedenkstätte.<br />

Suchkommandos der Roten Armee Fertigungsanlagen<br />

und Bauteile für die<br />

V-2. Trotzdem schienen die Ergebnisse<br />

der Suchkommandos die sowjetische<br />

Führung nicht zu befriedigen. Es sollte<br />

bis Juli 1945 dauern, als endlich substantielle<br />

Fortschritte erzielt werden<br />

konnten. Anfang dieses Monats räumten<br />

amerikanische Truppen das bisher<br />

von ihnen besetzte Südharzgebiet. Hier<br />

befand sich in der Nähe von Nordhausen<br />

das ehemalige Mittelwerk. Dort<br />

hatten seit August 1943 Häftlinge des<br />

Konzentrationslagers Mittelbau-Dora<br />

die V-2 in Serie produziert. Nach<br />

dem Rückzug der westlichen Alliierten<br />

sollte dieses größte und wichtigste<br />

Rüstungswerk Mitteldeutschlands in<br />

die Hände der Sowjets fallen. Mit der<br />

Inbesitznahme der Mittelwerke erhielt<br />

die UdSSR schließlich den Schlüssel zur<br />

erfolgreichen Übernahme des Knowhows<br />

der deutschen Raketentechnik.<br />

Besetzung und Demontage der<br />

Produktionsstätten<br />

Ende 1947 wurde Stalin ein Film<br />

vorgeführt, der die Entwicklung<br />

der ersten sowjetischen Fernrakete<br />

dokumentierte. Die sowjetischen<br />

Filmemacher zeichneten dabei ein Bild,<br />

das sich bis heute tief in das Bewusst-<br />

<strong>Militärgeschichte</strong> · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/<strong>2002</strong><br />

sein der Öffentlichkeit eingeprägt hat:<br />

Aufnahmen von geplünderten und<br />

zerstörten Anlagen wurden wie folgt<br />

kommentiert: »Die Region Nordhausen<br />

wurde zuerst von den Amerikanern<br />

besetzt. Die Amerikaner haben alles<br />

Wertvolle der Raketentechnik fortgeschafft:<br />

Fertige Raketen, Dokumentationen,<br />

Laboratorien und deutsche Spezialisten.<br />

Was übrig blieb wurde zerstört.<br />

An den Produktionsstätten der<br />

V-2 trafen sowjetische Spezialisten ein.<br />

Sie fanden nur Trümmerberge vor«.<br />

Dem Diktator sollte damit der Eindruck<br />

vermittelt werden, dass die Amerikaner<br />

der UdSSR nur kümmerliche Reste<br />

der deutschen Raketentechnik überlassen<br />

hätten. Zugleich wollten die sowjetischen<br />

Raketentechniker durch die<br />

bewusste Irreführung Stalins zugleich<br />

ihren eigenen Anteil an der weiteren<br />

Raketenentwicklung hervorheben und<br />

den vorhandenen deutschen Einfluss<br />

herunterspielen.<br />

Tatsächlich aber hatten sowjetische<br />

Sonderkommandos am 5. Juli 1945 eine<br />

unterirdische Raketenfabrik in Besitz<br />

genommen, die im Wesentlichen noch<br />

intakt war. Obwohl die Amerikaner<br />

hier eine große Anzahl von Raketenteilen<br />

erbeutet hatten, waren noch Tausende<br />

von Maschinen und Geräten zur<br />

Raketenproduktion sowie zahlreiche<br />

Bauteile für die V-2 in den unterirdischen<br />

Hallen des Mittelwerks vorhanden.<br />

Noch bevor aus Moskau Befehle<br />

zur weiteren Verwendung der Anlagen<br />

eintrafen, setzten die sowjetischen<br />

Raketenspezialisten Teile der unterirdischen<br />

Produktionsanlagen wieder in<br />

Betrieb. Bereits wenige Tage nach der<br />

sowjetischen Besetzung des Raketenwerkes<br />

montierten deutsche Ingenieure<br />

und Techniker in einem der Stollen,<br />

unter sowjetischer Aufsicht, erste<br />

Raketenteile. Zwischen August und<br />

September 1945 wurde die Montage<br />

dann in das »Werk Nr. 3« verlegt.<br />

Im Mittelwerk hatten unterdessen erste<br />

Demontagetrupps Einzug gehalten.<br />

Innerhalb kürzester Zeit transportierten<br />

»Trophäenkommandos« der Roten<br />

Armee mit 717 Waggonladungen 5647<br />

Tonnen Maschinen, Ausrüstungen und<br />

Raketenbauteile in Richtung Osten. Bis<br />

Anfang 1947 ließ das für Raketentechnik<br />

zuständige Sonderkomitee Nr. 2<br />

aus der SBZ weitere 2270 Waggons,<br />

beladen mit mehr als 14258 Tonnen<br />

Raketenbaugruppen, Halbfabrikaten,<br />

Spezialmaschinen und zahlreichem an-<br />

deren technischen Gerät, in die UdSSR<br />

bringen. Zum Vergleich: 1945 hatten<br />

die US-Amerikaner aus dem Mittelwerk<br />

ca. 400 Tonnen Raketenmaterial<br />

abtransportiert und zum amerikanischen<br />

Raketentestgelände bei White<br />

Sands in New Mexico geschafft.<br />

Weil die UdSSR nach dem Ende des<br />

Zweiten Weltkrieges eben nicht nur<br />

deutsche Technologie und Wissenschaftler<br />

in ihre Dienste stellte, sondern<br />

in bisher nicht gekanntem Maße<br />

die Entwaffnung des ehemaligen deutschen<br />

Gegners nutzte, um das eigene<br />

rüstungswirtschaftliche Potential zu<br />

vergrößern, gelang ihr nicht nur der<br />

Erwerb ausländischer Technologie,<br />

sondern auch deren Weiterentwicklung.<br />

Festzuhalten bleibt: ohne die<br />

völlige Demontage der deutschen<br />

Raketenindustrie wäre der erfolgreiche<br />

Transfer der deutschen Raketentechnik<br />

in die Sowjetunion nicht geglückt.<br />

Er war eine der bestimmenden Voraussetzungen<br />

für den technologischen<br />

Sprung der sowjetischen Rüstungswirtschaft<br />

nach 1945.<br />

Weiterentwicklungen in der<br />

Sowjetunion<br />

Insgesamt wurde durch die mehr<br />

als 11⁄2 jährige gemeinsame Arbeit<br />

der ca. 7000 deutschen und mehr<br />

als 1500 sowjetischen Raketenexperten<br />

in der SBZ der Grundstock für<br />

eine erfolgreiche und schnelle Umsetzung<br />

des Fernlenkwaffenprogramms<br />

der UdSSR gelegt. Damit hatte sich<br />

die taktische Entscheidung der sowjetischen<br />

Führung als richtig erwiesen, zur<br />

Aneignung der deutschen Raketentechnologie<br />

zunächst auf das in Deutschland<br />

vorhandene wissenschaftliche und<br />

technologische Potential zurückzugreifen.<br />

Dies war besonders wichtig, da<br />

bis Ende 1946 in der Sowjetunion<br />

keine Forschungs- und Infrastruktur<br />

für eine eigene Fernlenkwaffenentwicklung<br />

vorhanden war.<br />

Nachdem im Oktober 1946 die 308<br />

wichtigsten deutschen Raketentechniker<br />

in die UdSSR abtransportiert<br />

wurden, modifizierte die Sowjetunion<br />

das bisher angewendete Konzept des


Die R-1 war eine<br />

vereinfachte Kopie<br />

der deutschen<br />

V-2 und sollte die<br />

sowjetischen<br />

Ingenieure und<br />

Techniker mit den<br />

erforderlichen<br />

Technologien zum<br />

Bau von Fernlenk-<br />

waffen vertraut<br />

machen.<br />

Quelle: RKK Energija<br />

Technologietransfers. Obwohl die UdSSR<br />

weiter höchstes Interesse an der Fernlenkwaffentechnologie<br />

des Dritten Reiches<br />

zeigte, dachte sie nie an eine langfristige<br />

Verwendung der deutschen<br />

Forschungskapazitäten. Die für Russland<br />

und die Sowjetunion typische<br />

Vorgehensweise beim Erwerb ausländischer<br />

Technologie, die auf nachholenden<br />

Kompetenzerwerb ausgerichtet<br />

war, verhinderte, im Gegensatz zu den<br />

USA, eine weitgehende Integration der<br />

deutschen Wissenschaftler und Technikspezialisten<br />

in die sowjetische Forschungsstruktur.<br />

1947 hatten die in die<br />

UdSSR verbrachten Spezialisten aus<br />

der SBZ noch wesentlichen Anteil an<br />

den erfolgreichen Tests der sowjetischen<br />

V-2. Danach nahmen die sowjetischen<br />

Behörden die Deutschen aus<br />

den jeweiligen Forschungsprogrammen.<br />

Spätestens ab Ende 1948 dienten<br />

die deutschen Spezialisten in der Sowjetunion<br />

lediglich als Ideengeber für<br />

theoretische Projekte, die von der praktischen<br />

Umsetzung ihrer Arbeitsergebnisse<br />

ausgeschlossen blieben. Daran<br />

sollte sich bis zum Ende ihrer Tätigkeit<br />

im sowjetischen Fernlenkwaffenprogramm<br />

1953 nichts mehr ändern.<br />

Die wichtigste Hinterlassenschaft der<br />

Deutschen im sowjetischen Raketenbau<br />

war ohne Zweifel die bereits bei<br />

ihrer Rückkehr nach Deutschland funktionierende<br />

Serienproduktion der R-1.<br />

Diese sowjetische »Kopie« der deutschen<br />

V-2 kann als einzige raketentechnische<br />

Entwicklung der Sowjetunion<br />

gelten, an der die deutschen Fach-<br />

leute aus der SBZ allumfassend beteiligt<br />

waren. Bereits bei ihrer Weiterentwicklung,<br />

der R-2, betraute das Sonderkomitee<br />

Nr. 2 die deutschen Spezialisten<br />

nur noch mit sehr begrenzten Teilaufgaben.<br />

Das militärische Nachfolgemodell<br />

der R-2, die R-5, war die erste<br />

vollständige sowjetische Eigenkonstruktion.<br />

Sie wurde ohne jede direkte<br />

deutsche Beteiligung entwickelt. Diese<br />

Rakete hatte bereits eine Reichweite<br />

von 1200 Kilometern und beförderte<br />

einen herkömmlichen Sprengkopf mit<br />

einem Gewicht von 1,42 Tonnen. Aus<br />

ihr wurde kurze Zeit später die R-5M,<br />

die erste Atomrakete der UdSSR entwickelt.<br />

Damit hatten die deutschen Wissenschaftler<br />

und Techniker einen nicht zu<br />

unterschätzenden Anteil an der Entwicklung<br />

der 1. Generation militärischer<br />

Fernkampfraketen in der UdSSR.<br />

Zudem arbeiteten deutsche Fachleute<br />

auch aktiv an der Entwicklung von<br />

Flugabwehr-Raketen sowie Luft-Schiff-<br />

Flugkörpern für die sowjetischen Streitkräfte.<br />

Insgesamt waren deutsche Wissenschaftler<br />

und Techniker während<br />

ihres Aufenthalts in der UdSSR an der<br />

Entwicklung und am Bau von mindestens<br />

fünf verschiedenen Raketenmustern<br />

beteiligt, die später in die Bewaffnung<br />

der sowjetischen Streitkräfte aufgenommen<br />

wurden. Dies waren neben<br />

den Fernkampfraketen der Typen R-1<br />

und R-2 auch die Fla-Rakete S-25<br />

»Berkut« (Adler), die Luft-Schiff-Lenkwaffe<br />

»Kometa« (Komet) und die reaktive<br />

Panzerbüchse RPG-1. Deutsche<br />

Technologie floss mit hoher Wahrscheinlichkeit<br />

auch in die Entwicklung<br />

der ersten sowjetischen Panzerabwehrlenkrakete<br />

PUR-61 »Schmel«<br />

(Hummel) und der ersten gelenkten<br />

Luft-Luft-Rakete K-5 ein. Demnach<br />

beruhten die ersten militärisch einsetzbaren<br />

Fernlenkwaffen der UdSSR nach<br />

dem Zweiten Weltkrieg zum großen<br />

Teil auf der Technologiebasis des untergegangenen<br />

Dritten Reiches und der<br />

Arbeit der deutschen Spezialisten in der<br />

Sowjetunion. Wegen der erfolgreichen<br />

Umsetzung des Konzepts des nachholenden<br />

Technologietransfers waren<br />

jedoch bereits an der Entwicklung der<br />

zweiten Baureihe von Fernlenkwaffen<br />

der 1. Generation keine deutschen Spezialisten<br />

mehr direkt beteiligt.<br />

Die UdSSR beschränkte sich aber nicht<br />

nur auf den Bau der Raketen. Gleichzeitig<br />

beschäftigten sich ihre Politiker<br />

und Militärs intensiv mit den Fragen<br />

des Einsatzes für diese neuen Waffen.<br />

Noch unter der Herrschaft Stalins kam<br />

es zu einem umfassenden Ausbau der<br />

Raketentruppen. Der Diktator unternahm<br />

nicht nur erhebliche Anstrengungen,<br />

um endlich Atomwaffen in die<br />

Hand zu bekommen, sondern er versuchte<br />

in Zusammenarbeit mit seinen<br />

Militärs auch, ein mögliches Einsatzkonzept<br />

für sie zu skizzieren. Stalin<br />

war bestrebt, wirkungsvolle militärische<br />

und politische Pläne für den Einsatz<br />

von Nuklearwaffen mit Hilfe von<br />

Raketen zu entwickeln. Das dies zu<br />

seinen Lebzeiten in letzter Konsequenz<br />

nicht gelang, war dem damaligen technischen<br />

Entwicklungsstand der sowjetischen<br />

Kernwaffen- und Raketentechnik<br />

geschuldet. Weil einsatzbereite<br />

Atomraketen nicht zur Verfügung standen,<br />

fehlte eine umfassende Militärdoktrin<br />

für ihre Verwendung. Dennoch,<br />

und das zeigen auch die umfassenden<br />

Fortschritte nach Stalins Tod,<br />

wurden während seiner Herrschaft in<br />

der UdSSR die entscheidenden Grundlagen<br />

für den militärischen Einsatz von<br />

Raketentruppen geschaffen.<br />

Es blieb Stalins Amtsnachfolger<br />

Chruschtschow vorbehalten, die mit<br />

Atomwaffen ausgestatteten Verbände<br />

der Raketentruppen als eigenständiges<br />

Machtmittel der sowjetischen Außenpolitik<br />

zu etablieren. 1959 ordnete er im<br />

Rahmen der zweiten Berlin-Krise erstmals<br />

ihre militärische Verwendung an.<br />

Die Drohung mit dem Einsatz von atomaren<br />

Raketenwaffen wurde damit zu<br />

einem bestimmenden Handlungsmuster<br />

der sowjetischen Außenpolitik in<br />

der »heißen Phase« des Kalten Krieges.<br />

Fotos: S.18, 19, 21 in: Matthias Uhl, Stalins V-2<br />

n Matthias Uhl<br />

Matthias Uhl,<br />

Stalins V-2,<br />

Der Technologietransfer<br />

der deutschen Fernlenkwaffentechnik<br />

in die<br />

UdSSR und der Aufbau<br />

der sowjetischen<br />

Raketenindustrie<br />

1945 bis 1959,<br />

Bonn 2001<br />

<strong>Militärgeschichte</strong> · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/<strong>2002</strong> 21


22<br />

Service Das historische Stichwort<br />

Der deutsche<br />

Generalstab<br />

Am 26. August dieses Jahres<br />

wurde durch den Bundesminister<br />

der Verteidigung der<br />

Generalinspekteur der Bundeswehr,<br />

General Wolfgang Schneiderhan, mit<br />

erweiterten und nun umfassenden<br />

Befehlsbefugnissen für die Planung,<br />

Vorbereitung und Führung aller im<br />

Einsatz befindlichen Verbände der Bundeswehr<br />

ausgestattet.<br />

Historisch betrachtet ist diese Befehlsgewalt<br />

für den höchsten deutschen Soldaten<br />

jedoch keineswegs neu. Nach<br />

der Niederlage der preußischen Armee<br />

gegen das napoleonische Frankreich<br />

schuf der preußische Generalquartiermeister<br />

Gerhard von Scharnhorst im<br />

Zuge der allgemeinen Heeresreform ein<br />

damals neuartiges militärisches Führungsorgan,<br />

das nach dem Ende der<br />

Befreiungskriege 1813/14 offiziell den<br />

Namen »Generalstab« erhielt. Dessen<br />

Aufgabe bestand zunächst darin, zur<br />

Steigerung der Führungsleistung hoher<br />

und höchster Truppenführer wissenschaftlich<br />

gebildete und in systematischer<br />

Stabsarbeit besonders geschulte<br />

<strong>Militärgeschichte</strong> · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/<strong>2002</strong><br />

Kaiser Wilhelm II., Hindenburg und Ludendorff vor einer Generalstabskarte im Jahre<br />

1914. Farbige Postkarte, bpk<br />

Generalstabsoffiziere auszubilden. Die-<br />

se sollten sowohl operative als auch<br />

logistische Aufgaben übernehmen und<br />

so den Truppenführer entlasten und<br />

beraten.<br />

Nach der Ernennung des späteren<br />

Generalfeldmarschalls Helmuth Graf<br />

von Moltke zum Chef des preußischen<br />

Generalstabs im Jahre 1857 entwickelte<br />

sich der preußische Generalstab<br />

zur höchsten militärischen Autorität<br />

in Preußen und nach den Einigungskriegen<br />

im Deutschen Reich insgesamt.<br />

Die von Moltke im Deutsch-Französi-<br />

Generalmajor Henning von Tresckow. Seit 1941 im Generalstab der Heeresgruppe Mitte. bpk<br />

schen Krieg von 1870/71 entwickelten<br />

Verfahren der Stabsarbeit wurden für<br />

die Arbeit in den Großverbänden bis<br />

zum Ersten Weltkrieg und sogar bis<br />

in die Gegenwart zum Vorbild. Insbesondere<br />

das Prinzip des »Führens mit<br />

Auftrag« (Auftragstaktik) wird bis in<br />

die Gegenwart hinein als erfolgreiches<br />

Führungsverfahren angesehen. Im Verlauf<br />

des Ersten Weltkriegs entwickelte<br />

sich der Generalstab zur politisch-militärischen<br />

Führungsinstanz im Deutschen<br />

Reich und bildete zusammen<br />

mit anderen Bestandteilen des Großen<br />

Hauptquartiers den Hauptbestandteil<br />

der Obersten Heeresleitung. Seit 1916<br />

wurde der Generalstab von Generalfeldmarschall<br />

Paul von Hindenburg<br />

und seinem Ersten Generalquartiermeister<br />

General Erich Ludendorff<br />

geführt. Der Generalstab beeinflusste<br />

nun zunehmend auch den politischen<br />

und wirtschaftlichen Bereich der<br />

Reichsleitung und dominierte bis 1918<br />

alle Bereiche des Staatswesens. Das<br />

Reich befand sich schließlich weitgehend<br />

in der Hand des Militärs.<br />

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde dem<br />

Deutschen Reich durch die Bestimmungen<br />

des Versailler Vertrags die Beibehaltung<br />

des Generalstabs verboten.<br />

Dieses Verbot umging die Reichswehrführung<br />

durch die Schaffung eines<br />

»Truppenamts«, das Ausbildungs- und<br />

Führungsfunktionen eines Generalstabes<br />

wahrnahm und damit die Voraussetzungen<br />

für den späteren Aufwuchs<br />

eines deutschen Generalstabes


schuf. Nach der Machtübernahme<br />

durch die Nationalsozialisten im Jahre<br />

1933 wurden dann ungeachtet des Versailler<br />

Verbots ab 1935 ganz offen das<br />

Oberkommando der Wehrmacht und<br />

drei Führungsstäbe der Teilstreitkräfte<br />

Heer, Luftwaffe und Marine geschaffen,<br />

die allesamt Generalstabsaufgaben<br />

wahrnahmen. Obwohl einerseits<br />

zahlreiche Generalstabsoffiziere maßgeblich<br />

an der operativen Planung und<br />

Umsetzung der deutschen Kriegsvorbereitungen<br />

Anteil hatten, waren es<br />

andererseits vor allem Generalstabsoffiziere<br />

des Heeres wie etwa Generaloberst<br />

Ludwig Beck, Generalmajor<br />

Henning von Tresckow oder Oberst<br />

i.G. Claus Schenk Graf von Stauffenberg,<br />

die sich zu koordiniertem militärischen<br />

Widerstand gegen das NS-<br />

Regime entschlossen.<br />

Mit der bedingungslosen Kapitulation<br />

der deutschen Wehrmacht und dem<br />

Untergang des Dritten Reichs im Mai<br />

1945 endete zugleich auch die mehr als<br />

einhundertdreißigjährige Geschichte<br />

des deutschen Generalstabs. Dieser<br />

war von Hitler während des Zweiten<br />

Die Ausbildung zum<br />

Generalstabs-/Admiral-<br />

stabsoffizier an der<br />

Führungsakademie der<br />

Bundeswehr in Hamburg<br />

findet heute regelmäßig<br />

mit breiter internationaler<br />

Beteiligung statt.<br />

Fotos: FüAkBw<br />

Weltkriegs zwar zunehmend entmachtet<br />

worden, wurde aber dennoch 1946<br />

im »Nürnberger Prozeß« als verbrecherische<br />

Organisation angeklagt und<br />

verboten, als Führungsgremium durch<br />

den Internationalen Militärgerichtshof<br />

aber freigesprochen.<br />

Die Bundeswehr hält seit ihrer Gründung<br />

an der Ausbildung besonders<br />

befähigter und ausgewählter Offiziere<br />

zu Generalstabsoffizieren fest. In der<br />

Nationalen Volksarmee der DDR gab<br />

es mit dem »Hauptstab« sogar ein zentrales,<br />

Generalstabsaufgaben wahrnehmendes<br />

Planungs- und Führungsorgan,<br />

dessen Umbenennung in »Generalstab«<br />

1982/83 nur am Veto der<br />

Sowjetunion scheiterte. Die Bundeswehr<br />

verfügt heute mit dem Einsatzführungskommando,<br />

dem Heeresführungskommando<br />

und dem neu<br />

geschaffenen, als Entscheidungsgremium<br />

unter Vorsitz des Generalinspekteurs<br />

tagenden Einsatzrat über<br />

Strukturelemente, die dem klassischen<br />

Generalstab zumindest recht nahe<br />

kommen.<br />

Falko Heinz/ag/ch<br />

Truppenamt<br />

Der »Große Generalstab« und die Kriegsakademie<br />

waren im Versailler Vertrag<br />

verboten worden. Dieses Manko glich<br />

General Hans von Seeckt, 1919/20 Chef<br />

des Truppenamtes und danach Chef der<br />

Heeresleitung, dadurch aus, da er im<br />

neu geschaffenen Truppenamt für die<br />

Siegermächte weitgehend unbemerkt<br />

Generalstabsaufgaben wahrnehmen ließ.<br />

Im Einzelnen handelte es sich hier um<br />

Operationsplanung und Truppenführung.<br />

Generaloberst von Seeckt<br />

Zudem wurden einzelne Abteilungen des<br />

ehemaligen Großen Generalstabs in den<br />

zivilen Bereich ausgegliedert, so die Eisenbahnabteilung<br />

ins Verkehrsministerium<br />

oder die kriegsgeschichtliche Abteilung ins<br />

Reichsarchiv. Dort konnten die Generalstabsoffiziere<br />

nun, als Zivilisten getarnt,<br />

weiterhin ihrer Arbeit nachgehen.<br />

Gleichwohl blieb dieser verdeckte Generalstab<br />

in der Reichswehr hinter seiner<br />

Machtstellung im Kaiserreich zurück: An<br />

der Spitze der Armee stand nun der<br />

Reichswehrminister, der Chef des Truppenamts<br />

rangierte dagegen noch hinter<br />

dem Chef der Heeresleitung.<br />

In der Ausbildung neuer Generalstabsoffiziere<br />

zwang das Fehlen der Kriegsakademie<br />

Seeckt zu einem Kunstgriff: In<br />

»Wehrkreisprüfungen«, einem Auswahlverfahren,<br />

dessen Schwerpunkt die Taktik auf<br />

der Ebene des Infanterieregiments bildete,<br />

wurden befähigte Offiziere für eine zweijährige<br />

Ausbildung bei den Gruppenkommandos<br />

ausersehen. Nur die besten dieser<br />

Ausgewählten (ca. 15 von 70) konnten dann<br />

noch ein drittes Jahr an einem zentralen<br />

Lehrgang in Berlin teilnehmen. Am Ende<br />

des Lehrgangs beendeten in der Regel nur<br />

acht bis zehn Offiziere erfolgreich diese<br />

anspruchsvolle Ausbildung.<br />

<strong>Militärgeschichte</strong> · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/<strong>2002</strong> 23<br />

Bundesarchiv Bild 146/76/26/2A


24<br />

Service Medien online/digital<br />

Unsere Themen<br />

im Internet<br />

n line<br />

Ein Klassiker unter den<br />

Geschichtsnachschlagewerken<br />

und für jeden Geschichtsinteressierten<br />

eine schier unerschöpfliche<br />

Fundgrube ist »Der Ploetz«. In Buchform<br />

hat »Der Große Ploetz« einen<br />

Umfang von über 2000 Seiten, was<br />

eine schnelle Benutzung behindert und<br />

auch die kleinere, bebilderte Version<br />

(der »Farbige Ploetz«) ist mittlerweile<br />

annähernd 1000 Seiten stark.<br />

Nun gibt es beide Bücher auch als<br />

CD-ROM, als Vorlage diente dabei die<br />

jeweils aktuelle Buchausgabe. Die CD<br />

funktioniert unabhängig von der jeweiligen<br />

PC-Plattform und kann auf allen<br />

Systemen, die über einen Acrobat-Reader<br />

ab Version 5.05 verfügen, genutzt<br />

werden (alle Microsoft Betriebssysteme<br />

ab Windows 95, Apple Mac ab OS<br />

8.6 sowie Linux und Unix Workstations).<br />

Allerdings ist das verwendete<br />

Adobe Acrobat-Format recht langsam<br />

bei Suchfunktionen und Seitenaufbau.<br />

Insgesamt nutzt das Programm die<br />

digitalen Möglichkeiten nicht voll aus.<br />

So gibt es nur wenige Verknüpfungen<br />

(Hyperlinks) von Textstellen innerhalb<br />

der eigentlichen Seiten, statt dessen<br />

blättert man durch die digitale Version<br />

Seite für Seite wie bei einem Buch. Die<br />

Exportfunktionen sind eingeschränkt<br />

und funktionieren nicht immer fehlerfrei.<br />

Das Menü für Suchfunktionen auf<br />

der Nutzeroberfläche ist gewöhnungsbedürftig<br />

und auch das Inhaltsverzeichnis<br />

ist unübersichtlich und wenig<br />

bedienfreundlich. Immerhin kann der<br />

Nutzer über die Werkzeuge vom Acrobat<br />

Reader die Darstellungsgröße individuell<br />

anpassen, was besonders bei<br />

Tabellen, Grafiken und Landkarten<br />

nützlich ist.<br />

Neben den erwähnten Schwierigkeiten<br />

bietet der Ploetz auf CD-ROM aber<br />

eine Reihe von Vorzügen. Eine gezielte<br />

Suche nach einem Namen (z.B. General<br />

<strong>Militärgeschichte</strong> · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/<strong>2002</strong><br />

@<br />

Der Farbige Ploetz,<br />

Düsseldorf <strong>2002</strong>.<br />

ISBN 3-8155-9486-3;<br />

1 CD-ROM,<br />

19,90 €<br />

Der Grosse Ploetz,<br />

Düsseldorf 2001.<br />

ISBN 3-8155-9484-7;<br />

1 CD-ROM,<br />

39,95 €<br />

Friedrich Paulus), einem Datum (z.B.<br />

30. Januar 1943) oder einem Ort (z.B.<br />

Stalingrad) führt mit der CD-Version<br />

schneller und einfacher zum Erfolg als<br />

mit dem überdicken Großen Ploetz.<br />

Für Lehrende an Schulen oder anderen<br />

Einrichtungen ist vor allem der<br />

Farbige Ploetz besonders geeignet. Die<br />

vielen Tabellen, Grafiken Landkarten<br />

und Artikel sind sehr ansprechend<br />

gestaltet und eignen sich für Unterricht<br />

und Ausbildung z.B., wenn es um den<br />

Überblick zu einer Epoche geht. Der<br />

Große Ploetz ist kaum bebildert, dafür<br />

sind aber die Artikel deutlich umfangreicher<br />

und bieten mehr Informationen.<br />

Mit dem Printmedium gemeinsam<br />

hat der Ploetz auf CD-ROM, dass man<br />

ihn als gutes Nachschlagewerk sowohl<br />

für die Vorbereitung auf den Unterricht<br />

als auch für den schnellen Überblick<br />

zu einem Thema nutzen kann.<br />

Fazit: Sowohl der Große als auch der<br />

Farbige Ploetz bleiben hinter den technischen<br />

Möglichkeiten zurück. Ansonsten<br />

stellen beide eine Alternative zum<br />

Printmedium dar, weil das Nachschlagen<br />

recht einfach und schnell geht, speziell<br />

über die Suchfunktion lassen sich<br />

Artikel leichter und schneller finden als<br />

über den Index des gedruckten Werkes.<br />

Wer aber schon einen Ploetz als Buch<br />

hat, braucht die digitale Version nicht –<br />

manchmal ist weniger auch mehr.<br />

Texte, sei es in Buchform oder als digitale<br />

Version, können oftmals nicht die<br />

Informationen vermitteln, die Bilder,<br />

Grafiken oder Tabellen beinhalten.<br />

Aber auch Landkarten enthalten viele<br />

Angaben und machen Zusammenhänge<br />

erst deutlich, die ein geschriebener<br />

Text nur sehr schwer beschreiben<br />

kann. Daher haben viele historisch Interessierte<br />

in ihrem Bücherregal einen<br />

speziellen Geschichts-Atlas stehen.<br />

Klassiker wie der »Bayerische Schulatlas«<br />

oder der »Putzger« sind zwar sehr<br />

bewährt, haben allerdings auch ihren<br />

Preis.<br />

Eine preisgünstige und faszinierende<br />

Alternative bietet auch hier das Internet.<br />

Wer Ansichten über die politische<br />

oder wirtschaftliche Entwicklung deutscher<br />

Länder, einzelner Regionen oder<br />

Europas sucht, findet unter<br />

www.ieg-maps.uni mainz.de<br />

die passende Karte. Die farbigen übersichtlichen,<br />

klaren und teilweise sogar<br />

animierten Landkarten, die das Ins-


titut für Europäische Geschichte in<br />

Mainz präsentiert, sind nicht nur wunderschöön<br />

anzuschauen, sondern auch<br />

hochinteressant. So kann man auf ihnen<br />

erkennen, wie einzelne Staaten sich<br />

territorial ausdehnten, welche Gebiete<br />

z.B. nach Kriegen den Besitzer wechselten,<br />

ja sogar, wann welche Stadtteile<br />

einzelnen Großstädten eingemeindet<br />

wurden. Diese Seite ist für alle diejenigen<br />

ein Muss, die über die in den letzten<br />

Jahren vielfältigen Veränderungen<br />

auf der politischen Landkarte Europas<br />

informiert sein wollen.<br />

3www.ieg-maps.uni mainz.de<br />

3 Waldemar Grosch,<br />

Geschichte im Internet.<br />

Tipps, Tricks und Adressen,<br />

Schwalbach/Ts. <strong>2002</strong>.<br />

ISBN 3-87920-065-3;<br />

167S.,<br />

10,-€<br />

Geschichte im Internet ist längst nichts<br />

Neues mehr, auch zu Geschichtsthemen<br />

haben sich die Angebote vervielfacht<br />

– wer soll da den Überblick<br />

behalten? Ein kleines Taschenbuch leistet<br />

neuerdings nützliche Hilfe. Wer sich<br />

die zeitintensive und häufig auch nervenaufreibende<br />

Suche im Netz sparen<br />

möchte (von Kosten für Verbindungsentgelte<br />

ganz zu schweigen), kann nun<br />

ganz in Ruhe auf 160 Buchseiten das<br />

gewünschte Angebot finden. Ein klar<br />

gegliedertes Inhaltsverzeichnis und<br />

eine Bewertung aller Seiten hilft frei<br />

von Werbung beim Suchen und erspart<br />

dem Suchenden so manche sinnlose<br />

Seite im www. Von Antike und Mittelalter<br />

bis zum 20. Jahrhundert; Archive<br />

und Bibliotheken; Preußen, Deutschland<br />

und Europa und Erster und Zweiter<br />

Weltkrieg, Vietnam-, Kalter- und<br />

Atomkrieg – Geschichte im Internet<br />

bietet für jeden etwas!<br />

<strong>Militärgeschichte</strong> · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/<strong>2002</strong> 25<br />

ch


Stalingrad<br />

Antony Beevor,<br />

Stalingrad,<br />

München <strong>2002</strong>.<br />

ISBN 3-442-15101-5;<br />

544 S.,<br />

12,45 €<br />

26<br />

Service Lesetipp<br />

Selten waren sich Forscher und Zeitzeugen<br />

so einig: Die Schlacht um Stalingrad<br />

gilt nach wie vor als eine der<br />

bedeutendsten des Unternehmens »Barbarossa«,<br />

jenes verbrecherischen Vernichtungskrieges<br />

gegen die Sowjetunion, der<br />

am 22. Juni 1941 mit dem Überfall der<br />

deutschen Wehrmacht auf die Rote Armee<br />

seinen Anfang genommen hatte. Der ehemalige<br />

britische Berufsoffizier Antony<br />

Beevor hält sie sogar für kriegsentscheidend.<br />

Stalingrad markiert nicht nur den<br />

Wendepunkt des Krieges im Osten. Das<br />

Wort Stalingrad wirkt auch heute noch, 60<br />

Jahre nach dem Untergang der 6. Armee,<br />

als Fanal. Die Stadt, die den Namen des<br />

feindlichen Diktators trug, wurde zum<br />

Synonym für die Grausamkeit und die<br />

Sinnlosigkeit des Krieges schlechthin.<br />

Beevor erzählt spannend und eindringlich<br />

die Geschichte dieser Schlacht. Seine<br />

Darstellung stützt sich auf die Befragung<br />

von Zeitzeugen und das Studium<br />

unzähliger Dokumente sowie Briefe und<br />

Tagebücher von Soldaten, aber auch bislang<br />

unter Verschluss gehaltener Geheimdienstunterlagen.<br />

Beevor schildert nicht<br />

nur anschaulich den mörderischen Häuserkampf<br />

in der Stadt aus deutscher und<br />

sowjetischer Sicht. Er beleuchtet auch<br />

ausführlich die Vor- und Nachgeschichte<br />

der Schlacht. Zahlreiche Fotos und ein<br />

ausführlicher Anhang über die beteiligten<br />

Truppenverbände runden das Werk<br />

ab. Ausführliche Personen- und Ortsregister<br />

machen das Buch zudem zu einem<br />

idealen Nachschlagewerk für denjenigen,<br />

der sich gezielt über Einzelheiten<br />

informieren will. Ein Wermutstropfen ist<br />

die ungewöhnlich hohe Zahl von Druckfehlern,<br />

die aber den Inhalt nicht berühren<br />

und den hervorragenden Gesamteindruck<br />

des Werkes nicht trüben können.<br />

Christian Kerper<br />

Das größere Europa<br />

<strong>Militärgeschichte</strong> · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 3/<strong>2002</strong><br />

Im November des Jahres <strong>2002</strong> wurde<br />

eine Anzahl mittlerer und kleiner<br />

Länder von den NATO-Mitgliedsstaaten<br />

eingeladen, der Allianz beizutreten.<br />

Wenngleich die neuen Mitglieder keine<br />

großen Armeen in das Bündnis einbringen<br />

werden, so wird doch das Territorium<br />

der NATO erheblich ausgeweitet:<br />

Von der Nordostspitze der Ostsee bis<br />

zum Schwarzen Meer wird demnächst<br />

Manfred Scheuch,<br />

Das größere Europa. Polen, Ungarn,<br />

Tschechien, Slowakei, Slowenien und die<br />

Baltischen Staaten in Geschichte und<br />

Gegenwart, Wien <strong>2002</strong>.<br />

ISBN 3-85498-169-4,<br />

200 S. mit 235 Farb- und Schwarzweiß-Abb.,<br />

49,90 €<br />

das Nordatlantische Bündnis den militärischen<br />

Schutz seiner Mitglieder gewährleisten.<br />

Damit haben die nord- und süd-<br />

osteuropäischen Staaten Europas einen<br />

Transformationsprozess abgeschlossen,<br />

der beeindruckt: Aus den ehemaligen<br />

sowjetischen Teilrepubliken bzw. Warschauer-Pakt-Staaten<br />

werden nun Mitglieder<br />

des westlichen Bündnisses. Doch<br />

was wissen wir über die Staaten Estland,<br />

Lettland und Litauen im Nordosten oder<br />

Slowenien im Südosten? Nach dem<br />

Zusammenbruch der sowjetischen Herrschaft<br />

wurde Europa erstmals nicht nur<br />

ein geographischer, sondern ein politischer<br />

Begriff. Seit 1989/90 haben die<br />

bis dahin durch den Eisernen Vorhang<br />

isolierten Staaten sich Schritt für Schritt<br />

an den Westen angenähert; Polen, Ungarn<br />

und die Tschechische Republik sind<br />

bereits seit einigen Jahren Mitglieder<br />

der NATO. Nun soll die zweite Welle<br />

der Beitritte erfolgen. Manfred Scheuch<br />

beschreibt dieses »größere Europa« in<br />

seinem Buch und stellt die Länder Polen,<br />

Ungarn, Tschechien, Slowakei, Slowe-<br />

nien, Litauen, Lettland und Estland in<br />

historischen Kurzporträts vor. Der<br />

Schwerpunkt liegt auf der jüngeren<br />

Geschichte dieser Länder, d.h. etwa ab<br />

dem Beginn des 19. Jahrhunderts. Ausführlich<br />

wird die Gründung von Nationalstaaten<br />

infolge des Ersten Weltkrieges<br />

dargestellt und die politischen und gesellschaftlichen<br />

Verhältnisse in den Ländern<br />

in der Zeit zwischen den Weltkriegen<br />

beschrieben. Es folgt die Darstellung der<br />

Kriegszeit wie auch der anschließenden<br />

– für die dortige Bevölkerung teilweise<br />

bis heute traumatischen – sowjetischen<br />

Besetzung sowie des Kampfes der Länder<br />

um Eigenstaatlichkeit und Unabhängigkeit<br />

bis zum Anfang der neunziger Jahre.<br />

Viele eindrucksvolle Bilder, einige ausgewählte<br />

Daten über Landesgröße, Bevölkerung<br />

und Geschichte sowie sehr hilfreiche<br />

historische Landkarten und Schaubilder<br />

bringen dem Leser die bald nicht mehr<br />

ganz so fernen Länder jenseits des früheren<br />

Eisernen Vorhangs näher und vermitteln<br />

einen Eindruck vom »größeren<br />

Europa«. ch<br />

Raketenspuren in Peenemünde<br />

Bevor die Oder sich in die Ostsee<br />

ergießt, liegt zwischen dem Fluss und<br />

dem offenen Meer noch eine lang gezogene<br />

Insel: Usedom. Heute wie früher<br />

liegt die Urlaubsinsel weit abgelegen von<br />

großen Siedlungen und von menschlicher<br />

Hektik, hier ist die See das beherrschende<br />

Element. Doch am 3. Oktober<br />

1942 wird diese Stille jäh durchbrochen.<br />

Im dicht bewaldeten Gelände der »Hee-<br />

Volkhard Bode und<br />

Gerhard Kaiser,<br />

Raketenspuren.<br />

Peenemünde<br />

1936–2000,<br />

4. Aufl.,<br />

Berlin <strong>2002</strong>.<br />

ISBN 3-86153-239-5;<br />

211 S. mit 275 Fotos<br />

und Abb.,<br />

15,50 €<br />

resversuchsanstalt« geschieht an diesem<br />

Tag etwas Sensationelles: Zum ersten Mal<br />

gelingt der Start einer Rakete, die mit<br />

doppelter Schallgeschwindigkeit in Richtung<br />

Weltraum aufsteigt und anschließend<br />

– nach gerade einmal fünf Minuten<br />

Flugzeit – kontrolliert auf die Ostsee aufschlägt<br />

und dort versinkt.


Was dort in der Nähe des kleinen Fischerdorfes<br />

Peenemünde geschieht, ist allerdings<br />

alles andere als die Geburtsstunde<br />

der zivilen Raumfahrt. Vielmehr ist es<br />

der Beginn einer völlig neuen Waffenart,<br />

der Fernkampfrakete, die dort seit Mitte<br />

der dreißiger Jahre in Peenemünde von<br />

einem Heer deutscher Wissenschaftler<br />

entwickelt wurde. Auf Grundlage der<br />

dort hergestellten Muster werden nach<br />

dem Krieg die Interkontinentalraketen<br />

der Supermächte entwickelt, die mit ihren<br />

Atomsprengköpfen die Grundlage der<br />

nuklearen Abschreckung bilden.<br />

Peenemünde ist zum Symbol der deutschen<br />

»Vergeltungswaffen« geworden,<br />

mit denen die nationalsozialistische Führung<br />

hoffte, noch eine Wende in dem verlorenen<br />

Krieg herbeiführen zu können.<br />

Zwischen Juni und September 1944<br />

werden fast zehntausend »V-2-Raketen«<br />

auf London, später auch auf andere Ziele<br />

in England und Holland abgeschossen,<br />

richten dort verheerenden Schaden an,<br />

kosten tausende Menschenleben und verbreiten<br />

Angst und Schrecken unter der<br />

wehrlosen Zivilbevölkerung. Doch auch<br />

in Deutschland sind die V-Waffen und<br />

ihre Konstrukteure Inbegriff des Terrors.<br />

Die weitläufigen Anlagen in Peenemünde<br />

werden von Zwangsarbeitern errichtet,<br />

nach alliierten Bombenangriffen auf die<br />

Insel im August 1943 werden die Fertigungsanlagen<br />

verlegt, zunächst nach<br />

Polen, dann in unterirdische Fabriken im<br />

Harz. Gefangene aus Konzentrationslagern<br />

müssen in diesen Stollen die V-2<br />

montieren; im Konzentrationslager Mittelbau-Dora<br />

sterben Tausende an Misshandlungen<br />

und den Folgen der Haft.<br />

Nach dem Krieg werden die Produktionsanlagen<br />

zur begehrten Beute bei Amerikanern<br />

und Sowjets, der Wettlauf um<br />

die technologische Hinterlassenschaft in<br />

Peenemünde hat nun begonnen. Seit den<br />

fünfziger Jahren bestimmt dann das Militär<br />

der DDR im Ort; Volksmarine und<br />

Luftwaffe unterhalten hier große Garnisonen,<br />

bis diese mit der Auflösung der<br />

NVA schließlich geschlossen werden.<br />

Das Buch »Raketenspuren« berichtet von<br />

der Geschichte eines kleinen Ortes, der<br />

sechzig Jahre lang Symbol für militärische<br />

Geheimhaltung war. Heute kann<br />

man mit Hilfe des Buches in Peenemünde<br />

die Hinterlassenschaft des Weltkrieges<br />

und des Kalten Krieges auf der schönen<br />

Urlaubsinsel Usedom erfahren. ch<br />

Die Wurzeln des<br />

alliierten Sieges<br />

Warum gewannen die Alliierten den<br />

Zweiten Weltkrieg? Auf diese<br />

Frage gibt es zahlreiche Antworten, und<br />

manche würden sie gar für überflüssig<br />

erklären, so eindeutig ist schließlich die<br />

Niederlage des Deutschen Reichs und<br />

seiner Verbündeten ausgefallen. Warum<br />

also ein Buch zu einer solchen Frage? Die<br />

Antwort könnte lauten, dass Overy in<br />

typisch britischer Art ein Buch geschrieben<br />

hat, das nicht von Fußnoten strotzt<br />

und trotzdem (oder gerade deshalb) eine<br />

große Detailfülle mit einer angenehmen<br />

Lesbarkeit verbindet. Sicherlich ist die<br />

eine oder andere These dieses Londoner<br />

Professors diskussionswürdig, aber er<br />

zeichnet insgesamt ein vielfältiges Bild<br />

der Ursachen des alliierten Sieges, das<br />

manchmal vertretene monokausale Erklärungen<br />

wie wirtschaftliche Dominanz<br />

oder Luftüberlegenheit souverän als zu<br />

kurz greifend entlarvt. Vor allem betont<br />

Overy, dass die Alliierten den Sieg nicht<br />

geschenkt bekamen, sondern dafür große<br />

Opfer bringen mussten - was angesichts<br />

der Verlustzahlen eindrucksvoll belegt<br />

ist, oft aber vergessen wird.<br />

Richard Overy,<br />

Die Wurzeln des Sieges.<br />

Warum die Alliierten den<br />

Zweiten Weltkrieg<br />

gewannen,<br />

Hamburg <strong>2002</strong><br />

(Taschenbuch).<br />

ISBN 3-499-61314;<br />

496 S.,<br />

12,90 €<br />

Von Luftherrschaft und Bombenkrieg<br />

über operative und taktische Verbesserungen,<br />

die ganz zentrale Bedeutung der<br />

Logistik bei den Alliierten (bzw. ihre<br />

sträfliche Vernachlässigung seitens der<br />

Wehrmacht) bis hin zur unterschiedlichen<br />

Koordination ziviler und militärischer<br />

Organe werden einzelne Punkte<br />

beleuchtet und mit großer Erzählfreude<br />

ausgeschmückt.<br />

Insgesamt ein schwungvoll geschriebenes<br />

Buch, dessen Lektüre jedem am Zweiten<br />

Weltkrieg Interessierten empfohlen<br />

werden kann. ag<br />

Berliner Mauer-Radweg<br />

o stand eigentlich die Mauer?«<br />

»W fragen Berlin-Besucher immer<br />

wieder. Und selbst Berliner haben heute,<br />

gerade mal zehn Jahre nach dem Ende<br />

der DDR und dem Abriss ihres Beton<br />

gewordenen Synonyms Probleme, diese<br />

Frage präzise zu beantworten. Vorbei<br />

sind die Zeiten, als man am Potsdamer<br />

Platz nach drüben schauen oder mit<br />

der West-Berliner U-Bahn durch Geisterbahnhöfe<br />

unterhalb des Ostteils der<br />

Stadt fahren konnte. Nach 1989/90 wollten<br />

die meisten Berliner, dass die Mauer<br />

möglichst schnell aus dem Stadtbild verschwindet.<br />

Zu den wenigen, die sich<br />

dafür einsetzten, dass Teile der Mauer<br />

unter Denkmalschutz gestellt werden,<br />

gehörte der ehemalige Berliner Regierende<br />

Bürgermeister und Bundeskanzler<br />

Willy Brandt. Bereits am 10. November<br />

1989 forderte er öffentlich, ein Stück von<br />

jenem scheußlichen Bauwerk als Erinnerung<br />

an ein historisches Monstrum<br />

stehen zu lassen.<br />

Wer heute den Verlauf der ehemals fast<br />

300 Kilometer befestigter Grenze rund um<br />

West-Berlin nachvollziehen möchte, kann<br />

sich nun mit Hilfe eines speziellen Stadtplanes<br />

auf die Suche machen.<br />

37 detaillierte Karten führen den<br />

Leser durch die geteilte Stadt<br />

und das Umland, historische und<br />

aktuelle Aufnahmen des Gebietes<br />

werden gegenübergestellt<br />

und die (Mauer-)Geschichte der<br />

Orte erzählt. Erstaunt stellt man<br />

fest, dass kaum noch etwas<br />

stehen geblieben ist von der<br />

Grenzlinie des Kalten Krieges.<br />

An einigen wenigen Stellen findet man<br />

noch ein paar Betonelemente, einen alten<br />

Wachturm oder einen Kolonnenweg der<br />

DDR-Grenztruppen. An der Bernauer<br />

Straße in der Berliner Innenstadt sind<br />

sogar hundert Meter der Mauer originalgetreu<br />

wieder aufgebaut worden –<br />

als Gedenkstätte und Touristenattraktion.<br />

Das Radtourenbuch eignet sich hervorragend<br />

für Berliner wie auch für Auswärtige,<br />

die zu Fuß, mit dem Fahrrad<br />

oder mit Bus und Bahn dieses besondere<br />

Kapitel der Berliner wie auch der Weltgeschichte<br />

selber »erfahren« wollen. ch<br />

Michael Cramer, Berliner Mauer-Radweg. Eine<br />

Reise durch die Geschichte Berlins, 2. überarb.<br />

und erw. Aufl., Rodingersdorf (Österreich)<br />

<strong>2002</strong>. ISBN 3-85000-074-5; 131 S., 9,90 €<br />

<strong>Militärgeschichte</strong> · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 3/<strong>2002</strong> 27


• B e r l i n<br />

Die Giganten. Aus der<br />

Geschichte der deutschen<br />

Grossflugzeuge.<br />

Luftwaffenmuseum der<br />

Bundeswehr<br />

Groß-Glienicker Weg<br />

14089 Berlin-Gatow<br />

Telefon: (030) 36 87 – 26 01<br />

Telefax: (030) 36 87 – 26 10<br />

www.luftwaffenmuseum.de<br />

Dienstag bis Sonntag<br />

9.00 bis 17.00 Uhr<br />

5. Dezember <strong>2002</strong><br />

bis 17. März 2003<br />

Verkehrsanbindungen:<br />

Buslinien 134, 334 und 638<br />

• B o r d e s h o l m<br />

Deutsche Jüdische<br />

Soldaten. Von der Epoche<br />

der Emanzipation bis zum<br />

Zeitalter der Weltkriege<br />

Verwaltungsschule/<br />

Verwaltungsakademie<br />

Bordesholm<br />

Heitzestrasse 13<br />

24582 Bordesholm<br />

18. Dezember <strong>2002</strong><br />

bis 25. Februar 2003<br />

Ansprechpartner:<br />

Herr Bautz (<strong>04</strong>322) 693 – 5<strong>04</strong><br />

• C h e m n i t z<br />

Verbrechen der<br />

Wehrmacht. Dimensionen<br />

des Vernichtungskriegs<br />

1941–1944<br />

Schloßbergmuseum<br />

Chemnitz<br />

Schloßberg 12<br />

09113 Chemnitz<br />

Telefon: (03 71) 48 84 52 0<br />

Telefax: (03 71) 48 84 59 9<br />

28<br />

Service Ausstellungen<br />

www.schlossbergmuseum.de<br />

Dienstag bis Freitag<br />

11.00 bis 16.00 Uhr<br />

Samstag, Sonn- und<br />

Feiertag<br />

11.00 bis 17.00 Uhr<br />

ab Februar <strong>2002</strong><br />

Verkehrsanbindungen:<br />

ÖPNV: ab »Hauptbahnhof<br />

Chemnitz« Buslinie 41<br />

Richtung »Heinersdorf« bis<br />

Haltestelle »Nordstraße«.<br />

Fußweg: ab Hauptbahnhof<br />

etwa 20 Minuten.<br />

Pkw: Autobahnen A 4 oder<br />

A 72 bis zur Abfahrt<br />

»Chemnitz-Nord«, dann auf<br />

der B 95 (Leipziger Straße)<br />

Richtung Zentrum und weiter<br />

auf der B 169 + 173 (Richtung<br />

Hainichen bzw. Freiberg)<br />

• H i l d e s h e i m<br />

Napoleon Bonaparte –<br />

Zar Alexander I.<br />

Epoche zweier Kaiser<br />

Roemer- und Pelizaeus-<br />

Museum Hildesheim<br />

Am Steine 1–2<br />

31134 Hildesheim<br />

Telefon: (05121) 9369-0<br />

Telefax: (05121) 352 83<br />

www.rpmuseum.de<br />

Montag bis Sonntag<br />

10.00 bis 18.00 Uhr<br />

<strong>Militärgeschichte</strong> · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/<strong>2002</strong><br />

Verkehrsanbindungen:<br />

Pkw: Autobahn A7 bis<br />

Abfahrten »Hildesheim« und<br />

»Hildesheim-Drispenstedt«,<br />

Parkplatz gegenüber dem<br />

Museum<br />

Fußweg: ab Hauptbahnhof<br />

»Hildesheim« durch die Fußgängerzone<br />

bis zur Kreuzung<br />

»Schuhstraße«, dann nach<br />

rechts bis zum Museum<br />

• I n g o l s t a d t<br />

Die Festungsstadt<br />

Ingolstadt im<br />

15.–19. Jahrhundert<br />

Reduit Tilly<br />

Bayerisches Armeemuseum<br />

Paradeplatz 4<br />

85<strong>04</strong>9 Ingolstadt<br />

Telefon: (08 41) 93 77 0<br />

Telefax: (08 41) 93 77 200<br />

e-mail: sekretariat@<br />

bayerisches-armeemuseum.de<br />

Dienstag bis Sonntag<br />

8.45 bis 16.30 Uhr<br />

bis 30. September 2003<br />

Verkehrsanbindungen:<br />

Ab Hauptbahnhof bis<br />

Bushaltestelle<br />

»Roßmühlstraße/<br />

Paradeplatz«<br />

Preußen und Bayern.<br />

Zeugnisse preußischer<br />

<strong>Militärgeschichte</strong> aus<br />

dem Bayerischen<br />

Armeemuseum<br />

Bayerisches Armeemuseum<br />

Paradeplatz 4<br />

85<strong>04</strong>9 Ingolstadt<br />

Telefon: (08 41) 93 77 0<br />

Telefax: (08 41) 93 77 200<br />

www.bayerischesarmeemuseum.de<br />

Dienstag bis Sonntag<br />

8.00 bis 16.00 Uhr<br />

bis 30. März 2003<br />

Verkehrsanbindungen:<br />

Ab Hauptbahnhof bis<br />

Bushaltestelle<br />

»Roßmühlstraße/<br />

Paradeplatz«<br />

• N e u m ü n s t e r<br />

Verbrechen der<br />

Wehrmacht.<br />

Dimensionen des<br />

Vernichtungskrieges<br />

1941–1944<br />

Kiek In<br />

Gartenstraße 32<br />

24534 Neumünster<br />

Telefon: (<strong>04</strong>321) 4 19 96 97<br />

Telefax: (<strong>04</strong>321) 4 19 96 99<br />

www.ausstellung@<br />

neumuenster.de<br />

www.kiek-in-nms.de<br />

www.verbrechen-derwehrmacht.de<br />

täglich<br />

10.00 bis 18.00 Uhr<br />

Donnerstag<br />

10.00 bis 20.00 Uhr<br />

4. April bis<br />

18. Mai 2003<br />

• N o r d h a u s e n<br />

KZ-Gedenkstätte<br />

Mittelbau-Dora<br />

Kohnsteinweg 20<br />

99734 Nordhausen<br />

Telefon: (03631) 4 95 80<br />

Telefax: (03631) 49 58 13<br />

www.thueringen.de/de/<br />

museen/nordhausen/dora<br />

Dienstag bis Sonntag<br />

10.00 bis 16.00 Uhr<br />

1. Oktober <strong>2002</strong><br />

bis 31. März 2003


• P e e n e m ü n d e<br />

Historisch-Technisches<br />

Informationszentrum<br />

Im Kraftwerk<br />

17449 Peenemünde<br />

Tel.: (038371) 50 50<br />

Fax: (038371) 505 111<br />

www.all-in-all.com/1171.htm<br />

Dienstag bis Sonntag<br />

10.00 bis 16.00 Uhr<br />

November <strong>2002</strong><br />

bis März 2003<br />

• S t r a u s b e r g<br />

Wege zur Freundschaft.<br />

Ausgewählte Zeugnisse der<br />

deutsch-amerikanischen<br />

Beziehungen<br />

Akademie der Bundeswehr<br />

für Information und<br />

Kommunikation/Stätte der<br />

Begegnung<br />

Proetzeler Chaussee 20<br />

15344 Strausberg<br />

19. Februar bis 2. März 2003<br />

Verkehrsanbindungen:<br />

S-Bahnlinie 5 bis<br />

»Strausberg-Nord«<br />

• S u h l<br />

Kalaschnikow.<br />

Mythos und Fluch<br />

einer Waffe.<br />

Waffenmuseum Suhl.<br />

Spezialmuseum zur<br />

Geschichte der<br />

Handfeuerwaffen<br />

Friedrich-König-Straße 19<br />

98527 Suhl<br />

Telefon: (0 36 81) 72 06 98<br />

Telefax: (0 36 81) 72 13 08<br />

www.waffenmuseumsuhl.de<br />

info@waffenmuseumsuhl.de<br />

bis 28. Februar 2003<br />

Dienstag bis Samstag<br />

9.00 bis 16.00 Uhr,<br />

Sonn- und Feiertags<br />

10.00 bis 16.00 Uhr<br />

Verkehrsanbindungen:<br />

Sie finden das<br />

Waffenmuseum direkt<br />

im Stadtzentrum,<br />

gegenüber des Herrenteiches,<br />

zwischen dem Congress<br />

Centrum Suhl und dem<br />

Lauterbogencenter.<br />

• W i l h e l m s h a v e n<br />

Aufstand des Gewissens.<br />

Militärischer<br />

Widerstand gegen<br />

Hitler und das<br />

NS-Regime<br />

1933–1945<br />

Foyer des Stadttheaters<br />

Wilhelmshaven<br />

Virchowstrasse 42–44<br />

20. April bis 15. Juni 2003<br />

• W u s t r a u<br />

Preußische Kadetten<br />

Brandenburg-Preußen<br />

Museum Wustrau<br />

Eichenallee 7A<br />

16818 Wustrau<br />

Telefon: (03 39 25) 70798<br />

Telefax: (03 39 25) 70799<br />

www.brandenburgpreussen-museum.de<br />

Dienstag bis Sonntag<br />

10.00 bis 16.00 Uhr<br />

bis 30. März 2003<br />

Verkehrsanbindungen:<br />

Ab DB-Bahnhof<br />

»Wustrau-Radensleben« Bus<br />

bis »Wustrau-Hauptstraße«.<br />

Autobahn A 24, Abfahrt<br />

»Neuruppin-Süd«<br />

Wie<br />

finde<br />

ich<br />

Ausstellungen?<br />

Interessante Ausstellungen zu Themen Ihrer Wahl und in<br />

Ihrer Nähe können sie ganz gezielt und bequem im Internet<br />

suchen: www.damals.de oder www.webmuseen.de<br />

<strong>Militärgeschichte</strong> · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 2/<strong>2002</strong> 29


3. Februar 1933<br />

30<br />

Service Geschichte kompakt<br />

»Der Tod als der letzte Verbündete Hitlers«.<br />

Fotomontage von Marinus Jacob Kjelgaard (1884–1964), Foto: akg-images<br />

Ansprache Adolf Hitlers vor Befehlshabern<br />

des Heeres und der Marine<br />

<strong>Militärgeschichte</strong> · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/<strong>2002</strong><br />

Bereits wenige Tage nach seiner<br />

»Machtergreifung«, am 3. Februar<br />

1933, sprach Adolf Hitler vor den<br />

Spitzen von Heer und Marine. Die<br />

Ansprache ist nach handschriftlichen<br />

Aufzeichnungen des anwesenden Ge-<br />

neralleutnants Liebmann erhalten.<br />

Hitler kündigte hier verhältnismäßig<br />

offen seine Ziele für die nächsten<br />

Jahre an: Im Innern beabsichtigte<br />

er ein »scharfes Vorgehen« gegen diejenigen, die sich ihm entgegenstellen würden.<br />

Militärpolitisch war für die Zuhörer vor allem die Aussicht auf allgemeine Wehrpflicht<br />

und zügigen Aufbau der Armee bedeutsam. Diese sollte beim angeblich notwendigen<br />

Kampf des deutschen Volkes um »Lebensraum« die entscheidende Rolle spielen, vom<br />

Kampf im Innern sollte sie jedoch entlastet werden, was die anwesenden Offiziere allgemein<br />

positiv aufnahmen.<br />

Noch ungleich bedeutsamer ist jedoch, dass Hitler die Eroberung neuen »Lebensraums im<br />

Osten« und dessen »rücksichtslose Germanisierung« in Aussicht stellte. Er hat hier seine<br />

Ziele sehr deutlich ausgesprochen. Seine Zuhörer unterschätzten allerdings, wie ernst<br />

Hitler es meinte, und waren sich eher darin einig, dass »die Rede kecker als die Tat« sein<br />

werde und mit der Umsetzung solch radikaler Vorstellungen wohl nicht zu rechnen sei.<br />

Insgesamt wurden die Absichten Hitlers aber durchaus positiv aufgenommen; die Offiziere<br />

hörten das heraus, was in ihrem Sinne zu sein schien.<br />

Aus der heutigen Sicht ist diese Rede ein Dokument, das die Einbeziehung der deutschen<br />

Streitkräfte in die nationalsozialistische Kriegführung, den ideologisch motivierten Raub-<br />

und Vernichtungskrieg im Osten, zu einem ganz frühen Zeitpunkt eindrucksvoll belegt.<br />

Gewusst haben also alle führenden Militärs von den Vorstellungen Hitlers über die künftige<br />

Kriegführung und die Kriegsziele, die meisten haben sie allerdings wohl eher nicht<br />

ganz ernst genommen. Gleichwohl hatte der »Führer« an diesem Tag gedanklich vorweggenommen,<br />

was nur gut sechs Jahre später Realität werden sollte. ag<br />

2. Februar 1978<br />

ADN<br />

Rücktritt des Verteidigungsministers<br />

Georg Leber<br />

Am 2. Februar 1978 trat der damalige Verteidigungsminister<br />

Georg Leber von seinem Amt zurück. Den Anlass für den<br />

Sturz des in der Truppe durchaus populären Ministers, dem<br />

die historische Aussöhnung der Streitkräfte mit den Gewerkschaften<br />

gelungen war, bildete dabei eine Abhör-Affäre des<br />

MAD, für die er die Verantwortung übernahm. Hintergrund<br />

des Rücktritts war aber auch ein innerparteilicher Richtungskampf<br />

in der SPD über die Frage, wie weit man beim Kampf<br />

gegen Terrorismus und Spionage gehen dürfe. Mit dem Rücktritt<br />

Lebers konnte sich die Parteilinke in der SPD durchsetzen,<br />

dem Minister wurde ein sensibilisiertes Rechtsbewusstsein zum Verhängnis.<br />

Der MAD hatte 1974 ohne Lebers Wissen dessen Sekretärin in deren Wohnung abgehört,<br />

da sie der Zusammenarbeit mit der DDR-Spionage verdächtigt wurde. Dies stellte<br />

sich nachher jedoch als grundlos heraus. Der Minister erfuhr Anfang 1978 von der illegalen<br />

Abhöraktion, teilte dies aber dem Parlament erst mit, nachdem am 26. Januar 1978<br />

die Illustrierte »Quick« einen entsprechenden Artikel veröffentlicht hatte. Er verschwieg<br />

jedoch die illegale Abhörung des »Kommunistischen Bundes Westdeutschlands« – von<br />

der er nach eigenen Angaben erst im Nachhinein erfahren hatte –, weil er sie für rechtmäßig<br />

gehalten hatte. Erst eine »von ihm angeordnete gründliche juristische Untersuchung«<br />

ergab das Gegenteil – damit war Leber als Minister kaum noch tragbar. Mit seinem Rücktritt<br />

zog er die Konsequenzen für das Handeln des ihm unterstellten Dienstes. ag<br />

<strong>Heft</strong> 1/2003<br />

<strong>Militärgeschichte</strong><br />

<strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung<br />

Ü Vorschau<br />

Die Niederschlagung des sogenannten Boxeraufstandes<br />

in China im Jahr 1900 war ein seltenes<br />

Beispiel von Einmütigkeit unter den ansonsten<br />

in Rivalität und Feindschaft zueinander stehenden<br />

imperialistischen Mächten. Auch Soldaten des<br />

Deutschen Reiches beteiligten sich an dieser internationalen<br />

Intervention. Sie sollte den gewaltsamen<br />

Versuch von Teilen der chinesischen Bevölkerung,<br />

Eigenständigkeit durch Abwehr aller Beeinflussung<br />

von außen zu gewinnen, mit militärischer<br />

Macht niederringen. Dabei wurden nicht nur für<br />

die deutsche politisch interessierte Öffentlichkeit<br />

Begriffe geprägt und Bilder gezeichnet, die jahrzehntelang<br />

Bestand haben sollten.<br />

»The Germans to the front« lautet der Titel des<br />

Gemäldes von Carl Röchling aus dem Jahr 1902<br />

und bezieht sich dabei auf den Befehl von Admiral<br />

Lord Seymour zum Vorrücken deutscher Truppen<br />

unter Korvettenkapitän Buchholz im Juni 1900 in<br />

einer für die Alliierten kritischen Situation. Für die<br />

deutsche Öffentlichkeit standen diese Szene und<br />

dieser Satz symbolhaft für den Aufstieg des Reiches<br />

zur Weltgeltung, da der Vertreter der ersten Weltmacht<br />

– Großbritannien – den deutschen Beitrag<br />

zur Sicherung der Weltordnung einforderte und<br />

benötigte.<br />

Die Rolle des deutschen Kanonenbootes »Iltis« bei<br />

der Bezwingung der Taku-Forts an der chinesischen<br />

Küste am 17. Juni 1900 stand beispielhaft<br />

für den Anteil der Kaiserlichen Marine beim Versuch<br />

des jungen Reiches, eine führende Rolle bei<br />

der globalen Mitgestaltung durchzusetzen.<br />

Als das deutsche Expeditionskorps im Juli 1900<br />

zur zweiten Interventionsaktion nach China verabschiedet<br />

wurde, hielt Wilhelm II. eine Ansprache,<br />

die als »Hunnenrede« in die Geschichte eingehen<br />

sollte. Die Aufforderung, die deutschen Soldaten<br />

sollten es in China den Hunnen im Mittelalter<br />

gleich tun, wurde auch international aufmerksam<br />

verfolgt und sollte den Ententemächten im Ersten<br />

Weltkrieg ein willkommenes Bild für ihre antideutsche<br />

Propaganda liefern. Dabei stand die<br />

Gewalttätigkeit der kaiserlichen Diktion in keinem<br />

Verhältnis zur tatsächlichen militärischen Wirkung<br />

der deutschen Truppen. hk


Übernahme von fast 10000<br />

Grenzschutzbeamten in die<br />

Bundeswehr am 1. Juli 1956<br />

Dass die Aufstellung der Bundeswehr<br />

eine Aufgabe war,<br />

die vor allem personell nicht<br />

von heute auf morgen gelöst werden<br />

konnte, leuchtet auch bei einer vordergründigen<br />

Betrachtung schnell ein.<br />

Schließlich hatte es in Deutschland seit<br />

1945 keine Streitkräfte mehr gegeben,<br />

erst seit 1949 gab es überhaupt die Bundesrepublik,<br />

und die Vorläufer des Verteidigungsministeriums<br />

(im Wesentlichen<br />

das »Amt Blank«) waren noch<br />

jünger. Der erste Verteidigungsminister<br />

Theodor Blank hatte daher schon<br />

vor seiner Ernennung zum Minister,<br />

noch als Leiter der nach ihm benannten<br />

Dienststelle, Personalsorgen. Diese<br />

waren in den 50er Jahren nicht leicht<br />

zu lösen. Die allgemeine Stimmung<br />

in der Bundesrepublik war nach der<br />

Katastrophe des Zweiten Weltkriegs<br />

nicht gerade militärbegeistert. Auch<br />

absorbierte der enorme Wirtschaftsaufschwung,<br />

das »Wirtschaftswunder«,<br />

zahlreiche Arbeitskräfte. Ehemalige<br />

Soldaten hatten sich inzwischen häufig<br />

in zivilen Berufen zurechtgefunden<br />

und überhaupt gab es keine Parallele in<br />

der deutschen Geschichte, eine Armee<br />

quasi aus dem Nichts zu schaffen.<br />

In dieser Situation bot sich Blank<br />

wenigstens eine kleine Entlastungsmöglichkeit.<br />

Schließlich gab es schon<br />

seit 1951 den Bundesgrenzschutz<br />

(BGS), der vornehmlich die innerdeutsche<br />

Grenze (damals noch »Zonengrenze«<br />

genannt) zu sichern hatte. Hier<br />

waren bereits »Grenzjäger« ausgebildet<br />

worden, die von ihrer Ausbildung<br />

und ihrem Tätigkeitsfeld her dem Militär<br />

sehr nahe standen (unser Titelbild)<br />

– viele hatten auch schon in der Wehrmacht<br />

gedient.<br />

Die Debatte um eine Übernahme des<br />

BGS als »Keimzelle« in die neue Bundeswehr<br />

(in der Tagespresse oft noch<br />

als »neue Wehrmacht« bezeichnet) war<br />

<strong>Militärgeschichte</strong> im Bild<br />

Bundesgrenzschutz<br />

3<br />

Theodor Blank bei einer Rede<br />

anlässlich der Übernahme<br />

von BGS-Angehörigen in die<br />

Bundeswehr<br />

Keystone Pressedienst<br />

6WELT am SONNTAG 1955–1956<br />

gleichwohl heftig, am Ende setzten sich<br />

aber die militärischen und sicherheitspolitischen<br />

Vorteile durch. Die Grenzschutzbeamten<br />

durften wählen, ob sie<br />

in die Bundeswehr eintraten, immerhin<br />

gut die Hälfte (knapp 10000 von ca.<br />

17000) entschied sich für den Dienst<br />

in der neuen Armee und wurde am 1.<br />

Juli 1956 formell und acht Tage später<br />

mit einem Großen Zapfenstreich in<br />

die Bundeswehr übernommen. Der<br />

Verteidigungsminister hatte also nun<br />

Soldaten, die schon laufen konnten<br />

(siehe Karikatur), und einige von ihnen<br />

wurden später sogar 4-Sterne-Generale<br />

wie Hans-Joachim Mack, Günter Kießling<br />

und Dieter Clauss.<br />

ag<br />

<strong>Militärgeschichte</strong> · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/<strong>2002</strong> 31


P U B L I K A T I O N E N<br />

des Militärgeschichtlichen<br />

Forschungsamtes<br />

Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes<br />

herausgegeben von Bruno Thoß und Hans-Erich Volkmann,<br />

Paderborn u.a.: Verlag Ferdinand Schöningh <strong>2002</strong>,<br />

45,-€,<br />

ISBN 3-506-79161-3<br />

Erster Weltkrieg –<br />

Zweiter Weltkrieg:<br />

Ein Vergleich<br />

Krieg, Kriegserlebnis,<br />

Kriegserfahrung<br />

in Deutschland

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